TE Bvwg Erkenntnis 2021/9/17 W216 2116473-2

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 17.09.2021
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Entscheidungsdatum

17.09.2021

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28

Spruch


W216 2116473-2/15E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Marion STEINER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch den MigrantInnenverein St.Marx, Pulverturmgasse 4/2/R01, 1090 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 12.08.2019, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 24.02.2021, zu Recht erkannt:

A)

I. Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für die Dauer eines Jahres erteilt.

IV. Die Spruchpunkte III. bis VI. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer stellte am 29.12.2014 einen ersten Asylantrag in Österreich, welcher mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: BFA) vom 17.09.2015 in allen Spruchpunkten negativ entschieden wurde. Mit Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 16.09.2017 wurde die Entscheidung des BFA bestätigt. In weiterer Folge erkannte der Verfassungsgerichtshof der Entscheidung am 01.11.2017 die aufschiebende Wirkung zu, lehnte aber letztlich am 27.06.2018 die Behandlung der Beschwerde ab. Am 13.08.2018 wurde der Beschwerdeführer nach Afghanistan abgeschoben.

2. Am 03.02.2019 stellte der Beschwerdeführer den vorliegenden zweiten Antrag auf internationalen Schutz in Österreich und wurde am 04.02.2019 hiezu erstbefragt. Dabei gab er zu den neuerlichen Gründen seiner Asylantragstellung an, dass die Taliban von seiner Rückkehr nach Afghanistan erfahren und ihm einen Abfall vom Glauben vorgeworfen hätten. Den Beschwerdeführer hätte demnach eine Bestrafung nach islamischem Recht erwartet, weshalb er letztlich erneut aus Afghanistan geflohen sei. Zu seiner Person gab der Beschwerdeführer an, afghanischer Staatsangehöriger zu sein und der Volksgruppe der Paschtunen sunnitisch-muslimischen Glaubens anzugehören.

3. Anlässlich der am 11.02.2019 sowie am 05.08.2019 durchgeführten Einvernahmen vor dem BFA wiederholte bzw. präzisierte der Beschwerdeführer seine Angaben betreffend seinen Fluchtgrund und gab ergänzende Angaben zu seinem Privat- und Familienleben in Österreich. So meinte er, dass sein Vater nach der Rückkehr des Beschwerdeführers nach Afghanistan einen Anruf von den Taliban erhalten hätte, im Zuge dessen man ihm vorgeworfen hätte, dass sein Sohn vom islamischen Glauben abgefallen wäre, Alkohol getrunken habe und nach wie vor trinke. Sein Vater sei aufgefordert worden, den Beschwerdeführer an die Taliban zu übergeben, damit dieser von den Taliban bestraft werde. Weiters gab der Beschwerdeführer an, seit 2015 eine Beziehung mit einer Österreicherin zu führen. Der Beschwerdeführer habe ein gemeinsames Kind mit seiner Freundin, habe jedoch die Vaterschaft zum Kind nicht anerkannt. Seine Freundin wolle das nicht; sie habe noch vier weitere Kinder und Angst, der Beschwerdeführer könne das Kind nach einem Vaterschaftsanerkenntnis nach Afghanistan mitnehmen. Eine Heirat sei aber geplant.

Im Rahmen der Einvernahmen legte der Beschwerdeführer einige identitätsbezeugende Unterlagen vor.

4. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid des BFA vom 12.08.2019 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung nach § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan gemäß 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt V.). Schließlich wurde ausgesprochen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 2 Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt (Spruchpunkt VI.).

5. Dagegen brachte der Beschwerdeführer – fristgerecht – das Rechtsmittel der Beschwerde ein, worin er nochmals seine bisherigen Fluchtgründe zusammenfasste und ausführte, im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan nach wie vor einer Verfolgungssituation durch die Taliban ausgesetzt zu sein, wobei der afghanische Staat weder in der Lage noch willens sei, ihm ausreichend Schutz davor zu bieten. Weiters führte der Beschwerdeführer die schlechte Lage in Afghanistan ins Treffen.

6. Am 24.02.2021 führte das Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an welcher der Beschwerdeführer und sein Rechtsvertreter teilnahmen und der eine Dolmetscherin für die Sprachen Dari, Farsi und Paschtu beigezogen wurde. Ein Vertreter der belangten Behörde nahm (entschuldigt) nicht teil. Der Beschwerdeführer wurde vom erkennenden Gericht eingehend zu seiner Identität, Herkunft, zu den persönlichen Lebensumständen, zu seinen Fluchtgründen sowie zu seinem Privat- und Familienleben in Österreich befragt.

In Hinblick auf die Länderberichte zu Afghanistan wurde dem rechtsfreundlich vertretenen Beschwerdeführer eine siebentägige Frist für eine schriftliche Stellungnahme eingeräumt.

Im Rahmen der mündlichen Verhandlung wurden Empfehlungsschreiben für den Beschwerdeführer vorgelegt.

7. Mit Eingabe vom 01.03.2021 erfolgte eine Stellungnahme zur sich verschlechternden Lage in Afghanistan sowie zur Situation des Beschwerdeführers. Es wurde mitunter auf seine Probleme mit den Taliban wie auch seine westliche Einstellung verwiesen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Im vorliegenden Fall wurde Beweis erhoben durch Einsichtnahme in den Inhalt des vorliegenden Verwaltungsaktes des Beschwerdeführers; durch Einsichtnahme in die im Verlauf des Verfahrens vorgelegten Unterlagen, in aktuelle Auszüge aus Strafregister, GVS und ZMR sowie durch Einsichtnahme in die in das Verfahren eingebrachten Informationen zum Herkunftsstaat. Weiters herangezogen wurden die Angaben des Beschwerdeführers in der Erstbefragung vom 04.02.2019, den Einvernahmen vor dem BFA am 11.02.2019 sowie am 05.08.2019 und in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 24.02.2021. Demnach steht folgender Sachverhalt fest:

1. Feststellungen (Sachverhalt):

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer hat am 29.12.2014 einen ersten Asylantrag in Österreich gestellt, welcher mit Bescheid des BFA vom 17.09.2015 in allen Spruchpunkten negativ entschieden wurde. Mit Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 16.09.2017 wurde die Entscheidung des BFA bestätigt. In weiterer Folge erkannte der Verfassungsgerichtshof der Entscheidung am 01.11.2017 die aufschiebende Wirkung zu, lehnte aber letztlich am 27.06.2018 die Behandlung der Beschwerde ab. Am 13.08.2018 wurde der Beschwerdeführer nach Afghanistan abgeschoben.

Am 03.02.2019 stellte der Beschwerdeführer den vorliegenden zweiten Antrag auf internationalen Schutz.

Der Beschwerdeführer führt den im Spruch genannten Namen, ist Staatsangehöriger Afghanistans und Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen sunnitischen Glaubens.

Die Muttersprache des Beschwerdeführers ist Paschtu. Der Beschwerdeführer hat aber auch Sprachkenntnisse in Dari und Deutsch.

Der Beschwerdeführer wurde in der Provinz Nangarhar, Distrikt XXXX , Dorf XXXX geboren und lebte dort bis zu seiner ersten Ausreise, welcher die erste Asylantragstellung in Österreich im Dezember 2014 folgte. Nach seiner Abschiebung im Jahr 2018 von Österreich nach Afghanistan hat er sich neuerlich für fünf oder sechs Monate in seinem Heimatdorf aufgehalten.

Der Beschwerdeführer besuchte in Afghanistan 9 Jahre lang die Schule und kann lesen und schreiben.

Der Beschwerdeführer hat in Afghanistan keine Berufsausbildung erhalten.

Zum Zeitpunkt des Verlassens der Heimat waren die Eltern, eine Schwester und zwei Brüder sowie weitere Verwandte des Beschwerdeführers (Onkel und Tanten) in Afghanistan aufhältig bzw. lebten alle in der Provinz Nangarhar, teilweise in der Stadt XXXX , teilweise in nicht näher feststellbaren Dörfern.

Der Beschwerdeführer ist gesund. Der von ihm angeführte Stress, derentwegen er bei Bedarf ein Schlafmittel einnimmt, ist nicht lebensbedrohlich. Zudem gibt es keine medizinisch belegte Diagnose über allfällige Krankheitsbilder beim Beschwerdeführer.

Am Rande wird festgestellt, dass die aktuell vorherrschende Pandemie aufgrund des Corona-Virus kein Rückkehrhindernis für ganz Afghanistan darstellt. Zudem gehört der Beschwerdeführer mit Blick auf sein Alter und das Fehlen physischer (chronischer) Vorerkrankungen keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 an.

Der Beschwerdeführer ist ledig und hat keine Kinder. In Österreich wohnt ein Cousin als subsidiär Schutzberechtigter, zu welchem der Beschwerdeführer telefonischen Kontakt hält. Der Beschwerdeführer ist Mitglied in einem Kickbox-Verein und verbringt seine Freizeit mit sportlichen Aktivitäten und Freunden. Derzeit bezieht der Beschwerdeführer keine Leistungen aus der Grundversorgung.

Der Beschwerdeführer ist bereits gerichtlich vorbestraft. So wurde er mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 25.07.2017 wegen §§ 27 Abs. 1 Z 1 8. Fall, 27 Abs. 2a 2. Fall, 27 Abs. 3 SMG, § 15 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 8 Monaten, davon 7 Monate bedingt nachgesehen für eine Probezeit von drei Jahren, rechtskräftig verurteilt.

1.2. Zu den geltend gemachten Fluchtgründen:

Der Beschwerdeführer war im Herkunftsstaat weder einer individuellen gegen ihn gerichteten Verfolgung (durch die Taliban) ausgesetzt noch wäre er im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan einer solchen ausgesetzt.

Der Beschwerdeführer ist in Afghanistan weder vorbestraft noch wurde er dort jemals inhaftiert. Der Beschwerdeführer war nie politisch tätig und gehörte nie einer politischen Partei an.

Weiters kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer ohne Hinzutreten weiterer wesentlicher individueller Merkmale mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine gegen ihn gerichtete Verfolgung oder Bedrohung durch staatliche Organe oder (von staatlichen Organen geduldet:) durch Private, sei es vor dem Hintergrund seiner ethnischen Zugehörigkeit (Paschtune), seiner Religion (sunnitischer Islam), Nationalität (Afghanistan), Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Gesinnung zu erwarten hätte.

Es kann auch nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer aufgrund der Tatsache, dass er sich nunmehr (im Zuge der zweiten Asylantragstellung) erneut seit Februar 2019 in Europa aufhält, im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan psychischer und/oder physischer Gewalt oder anderen erheblichen Eingriffen ausgesetzt wäre. Er hat keine "westliche Lebenseinstellung" angenommen, welche im Widerspruch zur Gesellschaftsordnung in Afghanistan steht.

1.3. Zur Rückkehrsituation des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:

Dem Beschwerdeführer würde bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund des jüngst erfolgten Regierungsumsturzes durch die Taliban und der derzeit vorherrschenden schlechten Sicherheitslage zum Entscheidungszeitpunkt ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen. Es kann somit eine Verletzung der körperlichen Unversehrtheit des Beschwerdeführers aufgrund der instabilen Sicherheitslage und der damit einhergehenden willkürlichen Gewalt in Afghanistan nicht ausgeschlossen werden.

Der Beschwerdeführer kann weder an seinen Heimatort zurückkehren, nachdem bereits die Provinzhauptstadt seiner Heimatprovinz kampflos von den Taliban eingenommen wurde noch ist es ihm möglich bzw. zumutbar, sich im Rückkehrfall in einer der bisher als sicher geltenden Großstädte Afghanistans niederzulassen, insbesondere nicht, nachdem die Städte Herat, Mazar-e Sharif und Kabul, neben vielen Provinzhauptstädten, nun ebenfalls von den Taliban eingenommen wurden.

Im Falle einer Verbringung des Beschwerdeführers in seinen Herkunftsstaat droht diesem ein reales Risiko einer Verletzung der Art. 2 oder 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 210/1958 (in der Folge EMRK).

1.4. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Betreffend die allgemeine Lage in Afghanistan werden die im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan vom 11.06.2021 samt den neuen Kurzinformationen vom 19.07.2021, vom 02.08.2021, der Sonderkurzinformation vom 17.08.2021 und der Kurzinformation vom 20.08.2021, die in den UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des Internationalen Schutzbedarfs Afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 sowie die in Berichten von EASO – EASO Country Guidance Afghanistan von Dezember 2020, EASO Afghanistan Security Situation von Juni 2019, EASO Country of Origin Information Report Afghanistan Key socio-economic indicators Focus on Kabul City, Mazar-e Sharif and Herat City von August 2020 – enthaltenen Informationen wie folgt auszugsweise festgestellt:

Kurzinformation der Staatendokumentation vom 19.07.2021: Entwicklung der Sicherheitslage in Afghanistan

"[...] Kommentar: [...] Quellenbeschreibung ACLED und LWJ

ACLED erfasst sicherheitsrelevante Vorfälle und Todesopfer mittels Medienbeobachtung, d.h. es werden online verfügbare Nachrichtenberichte über sicherheitsrelevante Vorfälle gesammelt und die relevanten Ereignisse anhand eines vorgegebenen Codierschemas in den Vorfallsdatensatz aufgenommen (ACLED 3.2020). ACLED empfiehlt mit Stand Februar 2021, die Daten zur Gewalt bzw. zu den Todesopfern in Afghanistan in den Jahren 2019 und 2020 nicht miteinander zu vergleichen, da ein Wandel in der Berichtspraxis der Taliban (bzw. von Voice of Jihad) und der afghanischen Regierung (bzw. dem afghanischen Verteidigungsministerium) zum Anschein einer Gewaltreduktion beigetragen haben könnte. ACLED überprüft derzeit Veränderungen in der Berichterstattung und ergänzt die Daten durch weitere Quellen (ACLED o.D.).

Long War Journal (LWJ) erstellt anhand von frei zugänglichen Informationen, wie z. B. Presseberichten und Informationen von Regierungsbehörden und den Taliban, Karten zur Gebietskontrolle in Afghanistan, welche laufend aktualisiert werden. LWJ definiert einen Distrikt als unter Talibankontrolle stehend, wenn: 1.) die Taliban einen Distrikt offen verwalten, Dienstleistungen und Sicherheit bereitstellen und auch die örtlichen Gerichte leiten, 2.) wenn das Distriktzentrum häufig den Besitzer wechselt und/oder die Regierung nur einige wenige Gebäude oder Dörfer im Distrikt kontrolliert. Als „umkämpft“ gilt ein Distrikt, wenn: 1.) die Regierung das Distriktzentrum, Gebäude innerhalb des Distriktzentrums oder einen Stützpunkt, aber wenig anderes kontrolliert, während die Taliban große Gebiete oder alle Gebiete außerhalb des Distriktzentrums kontrollieren, oder 2.) die Taliban mehrere Dörfer, Minen und andere Ressourcen kontrollieren, Gefängnisse im Distrikt betreiben oder Bereiche des Distrikts verwalten (LWJ 13.07.2021).

Sicherheitslage und Gebietskontrolle durch die Taliban

Seit dem Beginn des Abzugs der US-Truppen und anderer Koalitionskräfte am 01.05.2021 kam es zu mehr Kampfhandlungen als in den Monaten zuvor (s. Abb., Anm.; ACLED o.D.)

[...]

Quelle: ACLED o.D.

Nach Einschätzung des LWJ vom 13.07.2021 kontrollieren die Taliban 223 der 407 Distrikte in Afghanistan. Am 03.06.2021 waren es noch 90 Distrikte (LWJ 13.07.2021). Das Afghan Analysts Network schätzt, dass sich mit Stand 16.07.2021 229 Distriktzentren in den Händen der Taliban befinden. Nur in vier Provinzen sind die Distriktzentren noch vollständig in Regierungshand: Kabul, Panjshir, Kunar und Daikundi. Einige Gebiete konnten von der Regierung zurückerobert werden (AAN 16.07.2021; vgl. REU 08.07.2021)

Abb. Gebietskontrolle Taliban: Entwicklung im Zeitraum 03.06.2021 – 13.07.2021 (Daten und Darstellung von Long War Journal) Wien, 19.07.2021 [...]

Quelle: Long War Journal 13.7.2021

Wichtige Grenzübergänge zu Turkmenistan und Iran, beide in der Provinz Herat (BBC 10.07.2021; vgl. DW 14.07.2021, TN 13.07.2021) sowie zu Usbekistan in der Provinz Balkh (AJ 15.07.2021; vgl. AP 15.07.2021) wurden im Juli [2021] durch die Taliban erobert. Berichten zufolge haben die Taliban außerdem die Kontrolle über den afghanisch-pakistanischen Grenzort Spin Boldak (Dawn 180.7.2021; vgl. France 24 17.07.2021).

Anfang Juli [2021] flohen mehr als 1.000 afghanische Sicherheitskräfte über die Grenze nach Tadschikistan, als sie von den Taliban attackiert wurden (BBC 10.07.2021; vgl. RFE/RL 07.07.2021). Turkmenistan hat Anfang Juli [2021] begonnen, schwere Waffen, Hubschrauber und andere Flugzeuge näher an die Grenze zu Afghanistan zu verlegen, und in der Hauptstadt werden Reservisten in Alarmbereitschaft versetzt (RFE/RL 11.07.2021).

Truppenabzug

Nach Angaben von US-Präsident Biden wird der Truppenabzug am 31.08.2021 abgeschlossen sein. Er verpflichtete sich, Tausende von afghanischen Übersetzern und ihre Familien, die an der Seite der USA arbeiteten, schnell zu evakuieren, und sagte, dass der Zeitplan für die Bearbeitung spezieller Einwanderungsvisa „dramatisch beschleunigt“ worden sei. Und er sagte, die USA würden weiterhin zivile und humanitäre Hilfe leisten und sich auch für die Rechte von Frauen und Mädchen einsetzen (WH 19.07.2021).

Anfang Juli wurde die Bagram-Airbase in der Provinz Parwan an die afghanischen Sicherheitskräfte übergeben (RFE/RL 11.07.2021, BBC 10.07.2021, AJ 02.07.2021).

Angriff auf Zivilisten / gezielte Tötungen

Es kommt weiterhin zu Angriffen auf und gezielten Tötungen von Zivilisten. Seit dem Beginn der Friedensgespräche in Doha im vergangenen Jahr [2020] sind vor allem Mitarbeiter des Gesundheitswesens, humanitäre Organisationen, Menschenrechtsverteidiger und Journalisten Ziel einer Welle von gezielten Tötungen gewesen (AI 16.06.2021). So wurden beispielsweise im Juni fünf Mitarbeiter eines Polio-Impf-Teams (APN 15.06.2021; vgl. VOA 15.06.2021) und zehn Minenräumer getötet (AI 16.06.2021; vgl. AJ 16.06.2021). Laut Berichten war der Juni 2021 der tödlichste Monat mit den meisten militärischen und zivilen Opfern seit 20 Jahren in Afghanistan (TN 02.07.2021; vgl. AJ 02.07.2021)

COVID-19

Die Delta-Variante treibt Beobachtern zufolge die Covid-19-Infektionen in Afghanistan in die Höhe, wobei die Dunkelziffer an Fällen weiterhin als sehr hoch geschätzt wird. Krankenhäuser kommen weiterhin an ihre Belastungsgrenze und es sind nicht genug Betten vorhanden um neue Covid-19 Patienten zu behandeln (DW 17.06.2021; vgl. USAID 11.06.2021) Gesundheitseinrichtungen berichten auch von Engpässen bei medizinischem Material und Sauerstoff (USAID 11.06.2021). Schulen und Universitäten sind weiterhin geschlossen (DW 17.06.2021; vgl. VOA 13.07.2021), und es gibt Berichte, wonach sich Menschen nicht streng an die Vorgaben halten und häufig keine Masken tragen (DW 17.06.2021; vgl. VOA 13.07.2021).

Anfang Juli erreichten mehr als 1,4 Millionen Impfdosen des Herstellers Johnson & Johnson Afghanistan. Die Impfraten in Afghanistan sind nach wie vor extrem niedrig, weniger als 4% der Bevölkerung sind geimpft (UNICEF 09.07.2021). [...]“

Kurzinformation der Staatendokumentation vom 02.08.2021: Entwicklung der Sicherheitslage in Afghanistan

"[...] Kommentar: [...] Quellenbeschreibung ACLED und LWJ

ACLED erfasst sicherheitsrelevante Vorfälle und Todesopfer mittels Medienbeobachtung, d.h. es werden online verfügbare Nachrichtenberichte über sicherheitsrelevante Vorfälle gesammelt und die relevanten Ereignisse anhand eines vorgegebenen Codierschemas in den Vorfallsdatensatz aufgenommen (ACLED 3.2020). ACLED empfiehlt mit Stand Februar 2021, die Daten zur Gewalt bzw. zu den Todesopfern in Afghanistan in den Jahren 2019 und 2020 nicht miteinander zu vergleichen, da ein Wandel in der Berichtspraxis der Taliban (bzw. von Voice of Jihad) und der afghanischen Regierung (bzw. dem afghanischen Verteidigungsministerium) zum Anschein einer Gewaltreduktion beigetragen haben könnte. ACLED überprüft derzeit Veränderungen in der Berichterstattung und ergänzt die Daten durch weitere Quellen (ACLED o.D.).

Long War Journal (LWJ) erstellt anhand von frei zugänglichen Informationen, wie z. B. Presseberichten und Informationen von Regierungsbehörden und den Taliban, Karten zur Gebietskontrolle in Afghanistan, welche laufend aktualisiert werden. LWJ definiert einen Distrikt als unter Talibankontrolle stehend, wenn: 1.) die Taliban einen Distrikt offen verwalten, Dienstleistungen und Sicherheit bereitstellen und auch die örtlichen Gerichte leiten, 2.) wenn das Distriktzentrum häufig den Besitzer wechselt und/oder die Regierung nur einige wenige Gebäude oder Dörfer im Distrikt kontrolliert. Als „umkämpft“ gilt ein Distrikt, wenn: 1.) die Regierung das Distriktzentrum, Gebäude innerhalb des Distriktzentrums oder einen Stützpunkt, aber wenig anderes kontrolliert, während die Taliban große Gebiete oder alle Gebiete außerhalb des Distriktzentrums kontrollieren, oder 2.) die Taliban mehrere Dörfer, Minen und andere Ressourcen kontrollieren, Gefängnisse im Distrikt betreiben oder Bereiche des Distrikts verwalten (LWJ 13.07.2021).

Sicherheitslage und Gebietskontrolle

In Afghanistan ist die Zahl der konfliktbedingten Todesopfer derzeit so hoch wie nie zuvor seit Beginn der Aufzeichnungen durch UNHCR, mit durchschnittlich 500-600 Sicherheitsvorfällen pro Woche. Berichten zufolge liegt die Gebietskontrolle der Regierung auf dem niedrigsten Stand seit 2001 (UNHCR 20.7.2021). [...]

Nach Angaben des Long War Journals (LWJ) kontrollieren die Taliban 223 der 407 Distrikte Afghanistan.

Die Regierungstruppen kämpfen aktuell (Ende Juli/Anfang August 2021) gegen Angriffe der Taliban auf größere Städte, darunter Herat, Lashkar Gah und Kandahar, dessen Flughafen von den Taliban bombardiert wurde. Seit 01.08.2021 gibt es keine Flüge mehr zu und von dem Flughafen (AJ 01.08.2021).

Von den 17 Distrikten Herats sind nur Guzara und die Stadt Herat unter Kontrolle der Regierung. Die übrigen Bezirke werden von den Taliban gehalten, die versuchen, in das Zentrum der Stadt vorzudringen (TN 31.07.2021; vgl. ANI 02.08.2021). Die afghanische Regierung entsendet mehr Truppen nach Herat, da die Kämpfe mit den Taliban zunehmen (ANI 02.08.2021; vgl. AJ 01.08.2021).

Zivile Opfer und Fluchtbewegungen

Zwischen 01.01.2021 und 30.06.2021 dokumentierte UNAMA 5.183 zivile Opfer und fast eine Verdreifachung der zivilen Opfer durch den Einsatz von improvisierten Sprengsätzen (IEDs) durch regierungsfeindliche Kräfte. Zwischen Mai und Juni 2021 gab es nach Angaben von UNAMA fast so viele zivile Opfer wie in den vier Monate davor (UNAMA 26.07.2021). Nach Angaben von Human Rights Watch (HRW) halten die Taliban hunderte Einwohner der Provinz Kandarhar fest, denen sie vorwerfen, mit der Regierung in Verbindung zu stehen. Berichten zufolge haben die Taliban einige Gefangene getötet, darunter Angehörige von Beamten der Provinzregierung sowie Mitglieder der Polizei und der Armee (HRW 23.07.2021). UNOCHA zufolge wurden zwischen 01.01.2021 und 18.07.2021 294.703 Menschen in Afghanistan durch den Konflikt vertrieben (UNOCHA 22.07.2021). Noch kann keine Massenflucht afghanischer Staatsbürger in den Iran festgestellt werden, jedoch hat die Zahl der Neuankömmlinge zugenommen. Der Notstandsplan wurde bislang noch nicht aktiviert. Sollte er aktiviert werden, rechnet die iranische Regierung mit einem Zustrom vom 500.000 Menschen innerhalb von sechs Monaten, wobei davon ausgegangen wird, dass ihr Aufenthalt nur vorübergehend sein wird. UNHCR rechnet mit 150.000 Menschen innerhalb von drei Monaten (UNHCR 20.07.2021).

Weitere Entwicklungen

Die Taliban haben im Juli 2021 erklärt, dass sie der afghanischen Regierung im August ihren Friedensplan vorlegen wollen und dass die Friedensgespräche beschleunigt werden sollen (UNHCR 20.07.2021).

Die afghanische Regierung hat am 25.07.2021 eine einmonatige Ausgangssperre über fast das gesamte Land verhängt, um ein Eindringen der Taliban in die Städte zu verhindern. Ausnahmen sind die Provinzen Kabul, Panjshir und Nangarhar. Die Ausgangssperre verbietet alle Bewegungen zwischen 22:00 und 04:00 [Uhr] (BBC 25.07.2021; vgl. TG 24.07.2021). In den von den Taliban eroberten Gebieten im Norden dürften Frauen laut Meldung vom 14.07.2021 nur vollverschleiert und mit männlicher Begleitung auf die Straße gehen (BAMF 20.07.2021; vgl. VOA 09.07.2021).

Aufgrund von COVID-19 waren alle Schulen und Universitäten bis zum 23.07.2021 geschlossen (BAMF 19.07.2021; AAN 25.07.2021). Nach Angaben der für das Gesundheits- und Bildungswesen zuständigen Beamten soll die Wiedereröffnung in den Provinzen schrittweise erfolgen, je nach Ausbreitung von COVID-19 (AAN 25.07.2021). Mit 02.08.2021 werden die Flughäfen von Kabul und Mazar-e Sharif weiterhin national und international angeflogen. Der Flughafen von Herat ist national erreichbar (F 24 02.08.2021). [...]“

Sonderkurzinformation der Staatendokumentation vom 17.08.2021 zur aktuellen Lage in Afghanistan:

„ … Der afghanische Präsident Ashraf Ghani ist angesichts des Vormarsches der Taliban auf Kabul außer Landes geflohen. Laut al-Jazeera soll das Ziel Taschkent in Usbekistan sein. Inzwischen haben die Taliban die Kontrolle über den Präsidentenpalast in Kabul übernommen. Suhail Schahin, ein Unterhändler der Taliban bei den Gesprächen mit der afghanischen Regierung in Katar, versicherte den Menschen in Kabul eine friedliche Machtübernahme, und keine Racheakte an irgendjemandem zu begehen (tagesschau.de 15.08.2021).

Am 15.08.2021 haben die Taliban mit der größtenteils friedlichen Einnahme Kabuls und der Besetzung der Regierungsgebäude und aller Checkpoints in der Stadt den Krieg für beendet erklärt und das Islamische Emirat Afghanistan ausgerufen. Man wünsche sich friedliche Beziehungen mit der internationalen Gemeinschaft. Die erste Nacht unter der Herrschaft der Taliban im Land sei ruhig verlaufen. Chaotische Szenen hätten sich nur am Flughafen in Kabul abgespielt, von welchem sowohl diplomatisches Personal verschiedener westlicher Länder evakuiert wurde als auch viele Afghanen versuchten, außer Landes zu gelangen. Den Taliban war es zuvor gelungen, innerhalb kürzester Zeit fast alle Provinzen sowie alle strategisch wichtigen Provinzhauptstädte wie z.B. Kandahar, Herat, Mazar-e Sharif, Jalalabad und Kunduz einzunehmen. In einigen der Städte seien Gefängnisse gestürmt und Insaßen befreit worden (BAMF 16.08.2021; vgl. bbc.com o.D., orf.at 16.08.2021).

Die Taliban zeigten sich am Sonntag gegenüber dem Ausland unerwartet diplomatisch. „Der Krieg im Land ist vorbei“, sagte Taliban-Sprecher Mohammed Naim am Sonntagabend dem Sender al-Jazeera. Bald werde klar sein, wie das Land künftig regiert werde. Rechte von Wien, Frauen und Minderheiten sowie die Meinungsfreiheit würden respektiert, wenn sie der Scharia entsprächen. Man werde sich nicht in Dinge anderer einmischen und Einmischung in eigene Angelegenheiten nicht zulassen (orf.at 16.08.2021a).

Schätzungen zufolge wurden seit Anfang 2021 über 550.000 Afghanen durch den Konflikt innerhalb des Landes vertrieben, darunter 126.000 neue Binnenvertriebene zwischen dem 07.07.2021 und dem 09.08.2021. Es gibt zwar noch keine genauen Zahlen über die Zahl der Afghanen, die aufgrund der Feindseligkeiten und Menschenrechtsverletzungen aus dem Land geflohen sind, es deuten aber Quellen darauf hin, dass Zehntausende von Afghanen in den letzten Wochen internationale Grenzen überquert haben (UNHCR 8.2021).

Der Iran richtete angesichts des Eroberungszugs der militant-islamistischen Taliban im Nachbarland Pufferzonen für Geflüchtete aus dem Krisenstaat ein. Die drei Pufferzonen an den Grenzübergängen im Nord- sowie Südosten des Landes sollen afghanischen Geflüchteten vorerst Schutz und Sicherheit bieten. Indes schloss Pakistan am Sonntag einen wichtigen Grenzübergang zu seinem Nachbarland. Innenminister Sheikh Rashid verkündete die Schließung des Grenzübergangs Torkham im Nordwesten Pakistans am Sonntag, ohne einen Termin für die Wiedereröffnung zu nennen. Tausende Menschen säßen auf beiden Seiten der Grenze fest (orf.at 16.08.2021b).

Mittlerweile baut die Türkei an der Grenze zum Iran weiter an einer Mauer. Damit will die Türkei die erwartete Ankunft von afghanischen Flüchtlingen verhindern (Die Presse 17.08.2021).

Medienberichten zufolge haben die Taliban in Afghanistan Checkpoints im Land errichtet, und sie kontrollieren auch die internationalen Grenzübergänge (bisherige Ausnahme: Flughafen Kabul). Seit Besetzung der strategischen Stadt Jalalabad durch die Taliban wurde eine Fluchtbewegung in den Osten (Richtung Pakistan) deutlich erschwert. Die Wahrscheinlichkeit, dass Afghanen aus dem westlichen Teil des Landes oder aus Kabul nach Pakistan gelangen, ist gegenwärtig eher gering einzuschätzen. Es ist naheliegender, dass Fluchtrouten ins Ausland über den Iran verlaufen. Es ist jedoch auch denkbar, dass die mehrheitlich sunnitische Bevölkerung Afghanistans (statt einer Route über den schiitisch dominierten Iran) stattdessen die nördliche, alternative Route über Tadschikistan oder auch Turkmenistan wählt. Bereits vor zwei Monaten kam es laut EU-Kollegen zu einem Anstieg von Ankünften afghanischer Staatsbürger in die Türkei. Insofern ist davon auszugehen, dass eine erste Migrationsbewegung bereits stattgefunden hat. Pakistan gibt laut Medienberichten an, dass der Grenzzaun an der afghanisch-pakistanischen Grenze halte (laut offiziellen Angaben sind etwa 90 Prozent fertiggestellt) (VB 17.08.2021).

Laut Treffen mit Frontex kann zur Türkei derzeit noch keine Veränderung der Migrationsströme festgestellt werden. Es finden täglich nach Schätzungen ca. max. 500 Personen ihren Weg (geschleust) vom Iran in die Türkei. Dies ist aber keine außergewöhnlich hohe Zahl, sondern eher der Durchschnitt. Der Ausbau der Sicherung der Grenze zum Iran mit Mauer und Türmen schreitet immer weiter voran, und nach einstimmiger Meinung von Mig VB und anderen Experten kann die Türkei mit ihrem Militär (hauptverantwortlich für die Grenzsicherung) und Organisationen (Jandarma, DCMM) jederzeit, je nach Bedarf, die illegale Einreise von Flüchtlingen aus dem Iran kontrollieren. Die Türkei ist jedoch - was Afghanistan angeht - mit sehr hohem Interesse engagiert. Auch die Türkei möchte keine neunen massiven Flüchtlingsströme über den Iran in die Türkei (VB 17.08.2021a).

IOM muss aufgrund der aktuellen Sicherheitslage in Afghanistan die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr und Reintegration mit sofortiger Wirkung weltweit aussetzen. Die Aussetzung der freiwilligen Rückkehr erfolgt bis auf Widerruf (IOM 16.08.2021).

Während die radikalislamischen Taliban ihren Feldzug durch Afghanistan vorantreiben, gehören Frauen und Mädchen zu den am meisten gefährdeten Gruppen. Schon in der letzten Regierungszeit der Taliban (1996–2001) herrschten in Afghanistan extreme patriarchale Strukturen, Misshandlungen, Zwangsverheiratungen sowie strukturelle Gewalt und Hinrichtungen von Frauen. Die Angst vor einer Wiederkehr dieser Gräueltaten ist groß. Eifrig sorgten Kaufleute in Afghanistans Hauptstadt Kabul seit dem Wochenende bereits dafür, Plakate, die unverschleierte Frauen zeigten, aus ihren Schaufenstern zu entfernen oder zu übermalen – ein Sinnbild des Gehorsams und der Furcht vor dem Terror der Taliban (orf.at 17.08.2021).“

Kurzinformation vom 20.08.2021 zu aktuellen Entwicklungen und Informationen in Afghanistan:

„Aktuelle Lage

Die Spitzenpolitiker der Taliban sind aus Katar, wo viele von ihnen im Exil lebten, nach Afghanistan zurückgekehrt. Frauen werden Rechte gemäß der Scharia [islamisches Recht] genießen, so der Sprecher der Taliban. Nach Angaben des Weißen Hauses haben die Taliban versprochen, dass Zivilisten sicher zum Flughafen von Kabul reisen können. Berichten zufolge wurden Afghanen auf dem Weg dorthin von Taliban-Wachen verprügelt. Lokalen Berichten zufolge sind die Straßen von Kabul ruhig. Die Militanten sind in der ganzen Stadt unterwegs und besetzen Kontrollpunkte (bbc.com o.D.a). Die internationalen Evakuierungsmissionen von Ausländerinnen und Ausländern sowie Ortskräften aus Afghanistan gehen weiter, immer wieder gibt es dabei Probleme. Die Angaben darüber, wie viele Menschen bereits in Sicherheit gebracht werden konnten, gehen auseinander, die Rede ist von 2.000 bis 4.000, hauptsächlich ausländisches Botschaftspersonal. Es mehren sich aktuell Zweifel, dass auch der Großteil der Ortskräfte aus dem Land gebracht werden kann. Bei Protesten gegen die Taliban in Jalalabad wurden unterdessen laut Augenzeugen drei Menschen getötet (orf.at o.D.a).

Jalalabad wurde kampflos von den Taliban eingenommen. Mit ihrer Einnahme sicherte sich die Gruppe wichtige Verbindungsstraßen zwischen Afghanistan und Pakistan. Am Mittwoch (18.08.2021) wurden jedoch Menschen in der Gegend dabei gefilmt, wie sie zur Unterstützung der alten afghanischen Flagge marschierten, bevor Berichten zufolge in der Nähe Schüsse abgefeuert wurden, um die Menschenmenge zu zerstreuen. Das von den Taliban neu ausgerufene Islamische Emirat Afghanistan hat bisher eine weiße Flagge mit einer schwarzen Schahada (Glaubensbekenntnis) verwendet. Die schwarz-rot-grüne Trikolore, die heute von den Demonstranten verwendet wurde, gilt als Symbol für die abgesetzte Regierung. Der Sprecher der Taliban erklärte, dass derzeit Gespräche über die künftige Nationalflagge geführt werden, wobei eine Entscheidung von der neuen Regierung getroffen werden soll (bbc.com o.D.b).

Während auf dem Flughafen der afghanischen Hauptstadt Kabul weiter der Ausnahmezustand herrscht, hat es bei einer Kundgebung in einer Provinzhauptstadt erneut Tote gegeben. In der Stadt Asadabad in der Provinz Kunar wurden nach Angaben eines Augenzeugen mehrere Teilnehmer einer Kundgebung zum afghanischen Nationalfeiertag getötet. Widerstand bildete sich auch im Panjshirtal, eine Hochburg der Tadschiken nordöstlich von Kabul. In der „Washington Post“ forderte ihr Anführer Ahmad Massoud, Chef der Nationalen Widerstandsfront Afghanistans, Waffen für den Kampf gegen die Taliban. Er wolle den Kampf für eine freiheitliche Gesellschaft fortsetzen (orf.at o.D.c).

Einem Geheimdienstbericht für die UN zufolge verstärken die Taliban die Suche nach „Kollaborateuren“. In mehreren Städten kam es zu weiteren Anti-Taliban-Protesten. Nach Angaben eines Taliban-Beamten wurden seit Sonntag mindestens zwölf Menschen auf dem Flughafen von Kabul getötet. Westliche Länder evakuieren weiterhin Staatsangehörige und Afghanen, die für sie arbeiten. Der IWF erklärt, dass Afghanistan keinen Zugang mehr zu seinen Geldern haben wird (bbc.com o.D.d). Vor den Taliban in Afghanistan flüchtende Menschen sind in wachsender medizinischer Not. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) berichtete, dass in Kliniken in Kabul und anderen afghanischen Städten immer mehr Fälle von Durchfallerkrankungen, Mangelernährung, Bluthochdruck und Corona-Symptomen aufträten. Dazu kämen vermehrt Schwangerschaftskomplikationen. Die WHO habe zwei mobile Gesundheitsteams bereitgestellt, aber der Einsatz müsse wegen der Sicherheitslage immer wieder unterbrochen werden (zdf.de 18.08.2021).

Priorität für die VN hat derzeit, dass die UNAMA-Mission in Kabul bleibe. Derzeit befindet sich ein Teil des VN-Personals am Flughafen, um einen anderen Standort (unklar ob in AF) aufzusuchen und von dort die Tätigkeit fortzuführen. Oberste Priorität der VN sei es, die Präsenz im Land sicherzustellen. Zwecks Sicherstellung der humanitären Hilfe werde auch mit den Taliban verhandelt (£ Anerkennung). Ein Schlüsselelement dabei ist die VN-SR- Verlängerung des UNAMA-Mandats am 17.09.2021 (VN 18.08.2021).

Exkurs:

Die Anführer der Taliban

Mit der Eroberung Kabuls haben die Taliban 20 Jahre nach ihrem Sturz wieder die Macht in Afghanistan übernommen. Dass sie sich in ersten öffentlichen Statements gemäßigter zeigen, wird von internationalen Beobachtern mit viel Skepsis beurteilt. Grund dafür ist unter anderem auch, dass an der Spitze der Miliz vor allem jene Männer stehen, die in den vergangenen Jahrzehnten für Terrorangriffe und Gräueltaten im Namen des Islam verantwortlich gemacht werden. Geheimdienstkreisen zufolge führen die Taliban derzeit Gespräche, wie ihre Regierung aussehen wird, welchen Namen und Struktur sie haben soll und wer sie führen wird. Demzufolge könnte Abdul Ghani Baradar einen Posten ähnlich einem Ministerpräsidenten erhalten („Sadar-e Asam“) und allen Ministern vorstehen. Er trat in den vergangenen Jahren als Verhandler und Führungsfigur als einer der wenigen Taliban-Führer auch nach außen auf.

Wesentlich weniger international im Rampenlicht steht der eigentliche Taliban-Chef und „Anführer der Gläubigen“ (arabisch: amir al-mu‘minin), Haibatullah Akhundzada. Er soll die endgültigen Entscheidungen über politische, religiöse und militärische Angelegenheiten der Taliban treffen. Der religiöse Hardliner gehört ebenfalls zur Gründergeneration der Miliz, während der ersten Taliban-Herrschaft fungierte er als oberster Richter des Scharia-Gerichts, das für unzählige Todesurteile verantwortlich gemacht wird. Der Oberste Rat der Taliban ernannte 2016 zugleich Mohammad Yaqoob und Sirajuddin Haqqani zu Akhundzadas Stellvertretern. Letzterer ist zugleich Anführer des für seinen Einsatz von Selbstmordattentätern bekannten Haqqani-Netzwerks, das von den USA als Terrororganisation eingestuft wird. Es soll für einige der größten Anschläge der vergangenen Jahre in Kabul verantwortlich sein, mehrere ranghohe afghanische Regierungsbeamte ermordet und etliche westliche Bürger entführt haben. Vermutet wird, dass es die Taliban-Einsätze im gebirgigen Osten des Landes steuert und großen Einfluss in den Führungsgremien der Taliban besitzt. Der etwa 45-jährige Haqqani wird von den USA mit einem siebenstelligen Kopfgeld gesucht.

Zur alten Führungsriege gehört weiters Sher Mohammad Abbas Stanikzai. In der Taliban-Regierung bis 2001 war er stellvertretender Außen- und Gesundheitsminister. 2015 wurde er unter Mansoor Akhtar Büroleiter der Taliban. Als Chefunterhändler führte er später die Taliban-Delegationen bei den Verhandlungen mit den USA und der afghanischen Regierung an.

Ein weiterer offenkundig hochrangiger Taliban ist der bereits seit Jahren als Sprecher der Miliz bekannte Zabihullah Mujahid. In einer ersten Pressekonferenz nach der Machtübernahme schlug er, im Gegensatz zu seinen früheren Aussagen, versöhnliche Töne gegenüber der afghanischen Bevölkerung und der internationalen Gemeinschaft an (orf.at o.D.b; vgl. bbc.com o.D.c).

Stärke der Taliban-Kampftruppen

Obwohl in den vergangenen Jahren 100.000 ausländische Soldaten im Land waren, konnten die Taliban-Führer eine offenkundig von ausländischen Geheimdiensten unterschätzte Kampftruppe zusammenstellen. Laut BBC geht man derzeit von rund 60.000 Kämpfern aus, mit Unterstützern aus anderen Milizen sollen fast 200.000 Männer aufseiten der Taliban den Sturz der Regierung ermöglicht haben. Völlig unklar ist noch, wie viele Soldaten aus der Armee übergelaufen sind (orf.at o.D.b). [...]“

Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt. Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 2.9.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet. Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert.

Die fortgesetzte Ausbreitung der Krankheit in den letzten Wochen des Jahres 2020 hat zu einem Anstieg der Krankenhauseinweisungen geführt, wobei jene Einrichtungen die als COVID-19-Krankenhäuser in den Provinzen Herat, Kandahar und Nangarhar gelten, nach Angaben von Hilfsorganisationen seit Ende Dezember voll ausgelastet sind. Gesundheitseinrichtungen sehen sich auch zu Beginn des Jahres 2021 großen Herausforderungen bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung ihrer Kapazitäten zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung grundlegender Gesundheitsdienste gegenüber, insbesondere, wenn sie in Konfliktgebieten liegen.

Die WHO äußerte ihre Besorgnis über die Gefahr der Verbreitung mutierter Viren in Afghanistan. In Pakistan ist bereits ein deutlicher Anstieg der Infektionen mit einer neuen Variante, die potenziell ansteckender ist und die jüngere Bevölkerung trifft, festgestellt worden. Das afghanische Gesundheitsministerium bereite sich auf eine potenzielle dritte Welle vor. Die Überwachung an der Grenze soll ausgeweitet und Tests verbessert werden. Angesichts weiterer Berichte über unzureichende Testkapazitäten im Land bleibt die Wirkung der geplanten Maßnahmen abzuwarten.

Laut Meldungen von Ende Mai 2021 haben afghanische Ärzte Befürchtungen geäußert, dass sich die erstmals in Indien entdeckte COVID-19-Variante nun auch in Afghanistan verbreiten könnte. Viele der schwerkranken Fälle im zentralen Krankenhaus für COVID-Fälle in Kabul, wo alle 100 Betten belegt seien, seien erst kürzlich aus Indien zurückgekehrte Personen.

Seit Ende des Ramadans und einige Woche nach den Festlichkeiten zu Eid al-Fitr konnte wieder ein Anstieg der COVID-19 Fälle verzeichnet werden. Es wird vom Beginn einer dritten Welle gesprochen. Waren die [Anm.: offiziellen] Zahlen zwischen Februar und März relativ niedrig, so stieg die Anzahl zunächst mit April und dann mit Ende Mai deutlich an. Es gibt in Afghanistan keine landeseigenen Einrichtungen, um auf die aus Indien stammende Variante zu testen.

Mit Stand 3.6.2021 wurden der WHO offiziell 75.119 Fälle von COVID-19 gemeldet, wobei die tatsächliche Zahl der positiven Fälle um ein Vielfaches höher eingeschätzt wird.

Maßnahmen der Regierung und der Taliban

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. "Rapid Response Teams" (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte "Fix-Teams" sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind. Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden. Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19.

Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden. Auch wenn der Lockdown offiziell nie beendet wurde, endete dieser faktisch mit Juli bzw. August 2020 und wurden in weiterer Folge keine weiteren Ausgangsperren erlassen.

Laut IOM sind Hotels, Teehäuser und andere Unterkunftsmöglichkeiten derzeit [Anm.: März 2021] nur für Geschäftsreisende geöffnet. Für eine Person, die unter der Schirmherrschaft der IOM nach Afghanistan zurückkehrt und eine vorübergehende Unterkunft benötigt, kann IOM ein Hotel buchen. Personen, die ohne IOM nach Afghanistan zurückkehren, können nur in einer Unterkunftseinrichtung übernachten, wenn sie fälschlicherweise angeben, ein Geschäftsreisender zu sein. Da die Hotels bzw. Teehäuser die Gäste benötigen, um wirtschaftlich überleben zu können, fragen sie nicht genau nach. Wird dies durch die Exekutive überprüft, kann diese - wenn der Aufenthalt auf der Angabe von falschen Gründen basiert - diesen jederzeit beenden. Die betreffenden Unterkunftnehmer landen auf der Straße und der Unterkunftsbetreiber muss mit einer Verwaltungsstrafe rechnen. Laut einer anderen Quelle gibt es jedoch aktuell [Anm.: März 2021] keine Einschränkungen bei der Buchung eines Hotels oder der Unterbringung in einem Teehaus und es ist möglich, dass Rückkehrer und Tagelöhner die Unterbringungsmöglichkeiten nutzen.

Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China.

Die Taliban erlauben den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. Guardian 2.5.2020) und gaben im Januar 2020 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Millionen Dollar unterstützt wird. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion "unterstützen und erleichtern", wenn der Impfstoff in Abstimmung mit ihrer Gesundheitskommission und in Übereinstimmung mit deren Grundsätzen eingesetzt wird (NH 7.4.2021). Offizielle Stellen glauben, dass die Aufständischen die Impfteams nicht angreifen würden, da sie nicht von Tür zu Tür gehen würden.

Bei der Bekanntgabe der Finanzierung sagte ein afghanischer Gesundheitsbeamter, dass das COVAX-Programm 20% der 38 Millionen Einwohner des Landes abdecken würde. Das Gesundheitsministerium plant 2.200 Einrichtungen im ganzen Land, um Impfstoffe zu verabreichen, und die Zusammenarbeit mit Hilfsorganisationen, die in Taliban-Gebieten arbeiten. Die Weltbank und die asiatische Entwicklungsbank gaben laut einer Sprecherin des afghanischen Gesundheitsministeriums an, dass sie bis Ende 2022 Impfstoffe für weitere 20% der Bevölkerung finanzieren würden. Um dies zu erreichen, müssen sich die Gesundheitsbehörden sowohl auf lokale als auch internationale humanitäre Gruppen verlassen, die dorthin gehen, wo die Regierung nicht hinkommt.

Im Februar 2021 hat Afghanistan mit seiner COVID-19-Impfkampagne begonnen, bei der zunächst Mitglieder der Sicherheitskräfte, Mitarbeiter des Gesundheitswesens und Journalisten geimpft werden. Die Regierung kündigte an, 60% der Bevölkerung zu impfen, als die ersten 500.000 Dosen COVID-19-Impfstoff aus Indien in Kabul eintrafen. Es wurde angekündigt, dass zuerst 150.000 Mitarbeiter des Gesundheitswesens geimpft werden sollten, gefolgt von Erwachsenen mit gesundheitlichen Problemen. Die Impfungen haben in Afghanistan am 23.2.2021 begonnen. Wochen nach Beginn der ersten Phase der Einführung des Impfstoffs gegen COVID-19 zeigen sich in einige Distrikten die immensen Schwierigkeiten, die das Gesundheitspersonal, die Regierung und die Hilfsorganisationen überwinden müssen, um das gesamte Land zu erreichen, sobald die Impfstoffe in größerem Umfang verfügbar sind. Hilfsorganisationen sagen, dass 120 von Afghanistans rund 400 Distrikten - mehr als ein Viertel - als "schwer erreichbar" gelten, weil sie abgelegen sind, ein aktiver Konflikt herrscht oder mehrere bewaffnete Gruppen um die Kontrolle kämpfen. Ob eine Impfkampagne erfolgreich ist oder scheitert, hängt oft von den Beziehungen zu den lokalen Befehlshabern ab, die von Distrikt zu Distrikt sehr unterschiedlich sein können.

Mit Stand 2.6.2021 wurden insgesamt 626.290 Impfdosen verabreicht. Etwa 11% der Geimpften haben beide Dosen des COVID-19-Impfstoffs erhalten. Insgesamt gibt es nach wie vor große Bedenken hinsichtlich des gerechten Zugangs zu Impfstoffen für Afghanen, insbesondere für gefährdete Gruppen wie Binnenvertriebene, Rückkehrer und nomadische Bevölkerungsgruppen sowie Menschen, die in schwer zugänglichen Gebieten leben.

Gesundheitssystem und medizinische Versorgung

COVID-19-Patienten können in öffentlichen Krankenhäusern stationär diagnostiziert und behandelt werden (bis die Kapazitäten für COVID-Patienten ausgeschöpft sind). Staatlich geführte Krankenhäuser bieten eine kostenlose Grundversorgung im Zusammenhang mit COVID-19 an, darunter auch einen molekularbiologischen COVID-19-Test (PCR-Test). In den privaten Krankenhäusern, die von der Regierung autorisiert wurden, COVID-19-infizierte Patienten zu behandeln, werden die Leistungen in Rechnung gestellt. Ein PCR-Test auf COVID-19 kostet 3.500 Afghani (AFN).

Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19. Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen. Mit Mai 2021 wird vor allem von einem starken Mangel an Sauerstoff berichtet.

Während öffentliche Krankenhäuser im März 2021 weiterhin unter einem Mangel an ausreichenden Testkapazitäten für die gesamte Bevölkerung leiden, können stationäre Patienten während ihres Krankenhausaufenthalts kostenfreie PCR-Tests erhalten. Generell sind die Tests seit Februar 2021 leichter zugänglich geworden, da mehr Krankenhäuser von der Regierung die Genehmigung erhalten haben, COVID-19-Tests durchzuführen. In Kabul werden die Tests beispielsweise im Afghan-Japan Hospital, im Ali Jennah Hospital, im City Hospital, im Alfalah-Labor oder in der deutschen Klinik durchgeführt. Seit Mai 2021 sind 28 Labore in Afghanistan in Betrieb - mit Plänen zur Ausweitung auf mindestens ein Labor pro Provinz. Die nationalen Labore testen 7.500 Proben pro Tag. Die WHO berichtet, dass die Labore die Kapazität haben, bis zu 8.500 Proben zu testen, aber die geringe Nachfrage bedeutet, dass die Techniker derzeit reduzierte Arbeitszeiten haben.

In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult. UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt.

Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert. Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben.

Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt

COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei. Die kürzlich veröffentlichte IPC-Analyse schätzt, dass sich im April 2021 12,2 Millionen Menschen - mehr als ein Drittel der Bevölkerung - in einem Krisen- oder Notfall-Niveau der Ernährungsunsicherheit befinden. In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben, wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um 18-31% gestiegen sind. Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark.

Die Lebensmittelpreise haben sich mit Stand März 2021 auf einem hohen Niveau stabilisiert: Nach Angaben des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht waren die Preise für Weizenmehl von November bis Dezember 2020 stabil, blieben aber auf einem Niveau, das 11 %, über dem des Vorjahres und 27 % über dem Dreijahresdurchschnitt lag. Insgesamt blieben die Lebensmittelpreise auf den wichtigsten Märkten im Dezember 2020 überdurchschnittlich hoch, was hauptsächlich auf höhere Preise für importierte Lebensmittel zurückzuführen ist.

Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst.

Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes. Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.9.2020). Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind.

Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch lang anhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten.

Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2021 um mehr als 5% geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019.

Nach einer Einschätzung des Afghanistan Center for Excellence sind die am stärksten von der COVID-19-Krise betroffenen Sektoren die verarbeitende Industrie (Non-Food), das Kunsthandwerk und die Bekleidungsindustrie, die Agrar- und Lebensmittelverarbeitung, der Fitnessbereich und das Gesundheitswesen sowie die NGOs.

Nach Erkenntnissen der WHO steht Afghanistan [Anm.: mit März 2021] vor einer schleppenden wirtschaftlichen Erholung inmitten anhaltender politischer Unsicherheiten und einem möglichen Rückgang der internationalen Hilfe. Das solide Wachstum in der Landwirtschaft hat die afghanische Wirtschaft teilweise gestützt, die im Jahr 2020 um etwa zwei Prozent schrumpfte, deutlich weniger als ursprünglich geschätzt. Schwer getroffen wurden aber der Dienstleistungs- und Industriesektor, wodurch sich die Arbeitslosigkeit in den Städten erhöhte. Aufgrund des schnellen Bevölkerungswachstums ist nicht zu erwarten, dass sich das Pro-Kopf-Einkommen bis 2025 wieder auf das Niveau von vor der COVID-19-Pandemie erholt.

Bewegungsfreiheit

Im Zuge der COVID-19 Pandemie waren verschiedene Grenzübergänge und Straßen vorübergehend gesperrt, wobei später alle Grenzübergänge geöffnet wurden. Seit dem 29.4.2021 hat die iranische Regierung eine unbefristete Abriegelung mit Grenzschließungen verhängt. Die Grenze bleibt nur für den kommerziellen Verkehr und die Bewegung von dokumentierten Staatsangehörigen, die nach Afghanistan zurückkehren, offen. Die Grenze zu Pakistan wurde am 20.5.2021 nach einer zweiwöchigen Abriegelung durch Pakistan wieder geöffnet.

Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen statt. Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit.

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr und Teilnahme an Reintegrationsprogrammen. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an. Von 1.1.2020 bis 22.9.2020 wurden 70 Teilnahmen an dem Reintegrationsprojekt Restart III akzeptiert und sind 47 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt. Mit Stand 18.3.2021 wurden insgesamt 105 Teilnahmen im Rahmen von Restart III akzeptiert und sind 8

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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