Entscheidungsdatum
20.09.2021Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W157 2204225-1/23E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Margret KRONEGGER über die Beschwerde des XXXX (alias XXXX ), geb. XXXX (alias XXXX alias XXXX alias XXXX ), StA. Afghanistan, vertreten durch XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird Folge gegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.
III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für die Dauer eines Jahres erteilt.
IV. Die Spruchpunkte III. bis VI. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang
1. XXXX (im Folgenden: „Beschwerdeführer“), ein afghanischer Staatsangehöriger der Volksgruppe der Paschtunen, reiste in die Republik Österreich ein und stellte am XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz.
2. Bei der am selben Tag durchgeführten Erstbefragung gab der Beschwerdeführer im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Paschtu zum fluchtauslösenden Ereignis an, dass die Taliban nicht gewollt hätten, dass man sich weiterbilde und zur Schule gehe. Junge Männer seien zwangsrekrutiert worden und die Sicherheitslage sei schlecht gewesen. Der Beschwerdeführer habe Angst vor einer Zwangsrekrutierung bzw. um sein Leben.
3. Am XXXX wurde der Beschwerdeführer vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: „belangte Behörde“) im Beisein seiner Rechtsvertreterin, einer Vertrauensperson und eines Dolmetschers für die Sprache Paschtu niederschriftlich einvernommen. Dieser führte zum Fluchtgrund zusammengefasst aus, dass seine Onkel mütterlicherseits mit den Taliban zusammengearbeitet hätten. Einen Monat vor der Ausreise habe der ältere Onkel der Schwester des Beschwerdeführers nach fünf Jahren verboten, die Schule weiter zu besuchen; diese habe jedoch nicht auf ihn gehört, weshalb sie, der Vater des Beschwerdeführers und der Beschwerdeführer selbst geschlagen worden seien. Zwei Tage danach habe der Onkel der Mutter des Beschwerdeführers mitgeteilt, dass er diesen auf eine Koranschule in Pakistan für fünf oder sechs Monate schicken wolle. Weil die Eltern des Beschwerdeführers dagegen gewesen seien, habe der Onkel weitere zwei Tage später vorgeschlagen, den Beschwerdeführer für drei Tage zu einer Religionsschule in XXXX mitzunehmen. Dort habe der Beschwerdeführer eine Art Trainingslager der Taliban besucht, sei jedoch nach zwei Tagen von seinem Onkel wieder nachhause geschickt worden. Dort hätten die Mutter und ein Cousin des Vaters aus XXXX bereits seine Ausreise vorbereitet gehabt.
4. Vom Beschwerdeführer langte am XXXX eine Stellungnahme zu den Länderinformationen ein. Darin wurde auf Berichte zu Zwangsrekrutierungen von Kindern durch die Taliban, zur volatilen Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan, insbesondere in der Heimatprovinz des Beschwerdeführers, und zur Situation von Minderjährigen hingewiesen. Explizit wurde auch die individuelle Lage des Beschwerdeführers (keine Anknüpfungspunkte außerhalb seiner Heimatprovinz, Minderjährigkeit, Analphabet und psychischer Gesundheitszustand) hervorgehoben.
5. Mit dem nunmehr angefochtenem Bescheid vom XXXX wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz zur Gänze ab (Spruchpunkte I. und II.). Es wurde dem Beschwerdeführer kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt, eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkte III. bis V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Entscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).
Begründend führte die belangte Behörde aus, dass der Beschwerdeführer seine Fluchtgründe für das Verlassen des Heimatlandes nicht habe glaubhaft machen können. Es drohe dem Beschwerdeführer auch keine Gefahr, die die Erteilung eines subsidiären Schutzes rechtfertigen würde. Er könne eine innerstaatliche Fluchtalternative in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif in Anspruch nehmen. Die vorgebrachten Angstzustände und Schlafschwierigkeiten könnten nicht als Rückkehrhindernis erachtet werden, weil es eine entsprechende Behandlung gebe und die verschriebenen Medikamente erhältlich seien. Der Beschwerdeführer verfüge in Österreich zudem über kein schützenswertes Privat- und Familienleben, das einer Rückkehrentscheidung entgegenstehen würde.
6. Hiegegen wurde innerhalb offener Frist am XXXX Beschwerde erhoben. Der Beschwerdeführer brachte im Wesentlichen vor, dass er Angst vor seinem Onkel mütterlicherseits habe und die Taliban ihn umbringen würden, weil er sich einer Rekrutierung durch seine Flucht nach Europa entzogen habe. Weiters sei der Beschwerdeführer kinderspezifischen Gefahren ausgesetzt und würde er als westlicher Rückkehrer angesehen werden. In Afghanistan, insbesondere auch in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif, herrsche überdies eine prekäre Sicherheits- und Versorgungslage und befinde sich der Beschwerdeführer mangels Anknüpfungspunkte außerhalb der Herkunftsprovinz sowie aufgrund seiner Minderjährigkeit, seiner fehlenden Schul- und Berufsausbildung (Analphabet) und seiner komplexen posttraumatischen Belastungsstörung (Retraumatisierung bei einer Rückkehr) in einer aussichtslosen Situation, weshalb keine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung stehe. Darüber hinaus habe dieser ein schützenswertes Privatleben etabliert.
7. Die Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt langten am XXXX beim Bundesverwaltungsgericht ein.
8. Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses des Bundesverwaltungsgerichtes wurden die Rechtssachen am XXXX der Gerichtsabteilung W157 zugewiesen.
9. Der Beschwerdeführer brachte am XXXX eine weitere Stellungnahme ein, in der er bekannt gab, dass sein jüngerer Bruder XXXX von den Taliban mitgenommen sowie ausgebildet worden sei und ihm vorwerfe, ungläubig geworden zu sein. Des Weiteren verwies er auf seinen Gesundheitszustand und seine Integration im Bundesgebiet.
10. Das Bundesverwaltungsgericht führte am XXXX eine öffentliche mündliche Verhandlung durch. Der Beschwerdeführer wurde im Beisein seiner Vertreterin und einer Dolmetscherin für die Sprache Paschtu insbesondere zu seiner Situation in Afghanistan, seinen Fluchtgründen und seiner Situation in Österreich befragt.
11. Mit Schreiben vom XXXX nahm der Beschwerdeführer zu der im Rahmen der mündlichen Verhandlung ins Verfahren eingebrachten Anfragebeantwortung der Staatendokumentation Stellung.
12. Am XXXX übersendete das Bundesverwaltungsgericht dem Beschwerdeführer das Länderinformationsblatt vom 01.04.2021 zur Kenntnis und allfälligen Stellungnahme; dieser äußerte sich nicht.
13. Das Bundesverwaltungsgericht forderte zum Fall des Beschwerdeführers am XXXX eine Anfragebeantwortung der Staatendokumentation an, die am XXXX beantwortet wurde.
14. Mit Eingabe vom XXXX übermittelte das Bundesverwaltungsgericht dem Beschwerdeführer neue Länderinformationen, zu denen er am XXXX Stellung bezog. Seit der Machtübernahme der Taliban habe sich die Gefahr asylrelevanter Verfolgung von Personen mit bekannten Risikoprofilen dramatisch erhöht; dem Beschwerdeführer, der eine Talibanverfolgung vorbringe, stehe auch keine innerstaatliche Fluchtalternative offen. Es bestehe in ganz Afghanistan ein reales Risiko einer unmenschlichen Behandlung (unabhängig von den persönlichen Voraussetzungen).
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen
1.1. Person des Beschwerdeführers
Der ledige und kinderlose Beschwerdeführer führt den Namen XXXX (alias XXXX ) und das Geburtsdatum XXXX (alias XXXX alias XXXX alias XXXX ). Er ist afghanischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Paschtunen an und ist sunnitischer Moslem. Seine Muttersprache ist Paschtu. Der Beschwerdeführer wurde in der Provinz Nangarhar XXXX geboren und lebte dort bis zu seiner Ausreise. Er hält sich zumindest seit dem XXXX durchgehend im Bundesgebiet auf und ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
Der Beschwerdeführer befindet sich aufgrund seines psychischen Gesundheitszustandes (der behandelnde Facharzt für Psychiatrie und Neurologie diagnostizierte zuletzt XXXX , die behandelnde Psychotherapeutin XXXX ) seit ca. XXXX in regelmäßiger psychiatrischer, psychotherapeutischer und medikamentöser Behandlung. Aktuell nimmt er die von seinem Arzt verordneten Medikamente XXXX diese Medikation wirkt beim Beschwerdeführer.
1.2. Fluchtgründe und Rückkehrsituation des Beschwerdeführers
1.2.1. Der – mittlerweile erwachsene – Beschwerdeführer brachte in Bezug auf seine Heimat vor, einer Bedrohung durch seinen älteren Onkel mütterlicherseits bzw. durch die Taliban wegen dem Entzug einer Rekrutierung ausgesetzt zu sein. Es kann aber nicht festgestellt werden, dass für den Beschwerdeführer seitens seines Onkels oder seitens der radikalen Gruppierung eine existenzbedrohende Gefahr ausgeht.
Der Beschwerdeführer hat keine Familienmitglieder (zwei Onkel mütterlicherseits, einen Cousin väterlicherseits und einen Bruder), die für die Taliban arbeiten. Er wurde auch nicht durch den älteren Onkel mütterlicherseits dazu genötigt, der islamistischen Gruppierung beizutreten. Der Beschwerdeführer besuchte kein Ausbildungslager der Taliban.
1.2.2. Der Beschwerdeführer hat wegen seines Aufenthalts in einem westlichen Land oder wegen seiner Wertehaltung keine gegen ihn gerichtete integritätsgefährdende Bedrohung im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan zu erwarten.
1.2.3. Es kann darüber hinaus nicht festgestellt werden, dass gegen den Beschwerdeführer in seinem Herkunftsstaat persönlich eine integritätsbedrohende Handlung oder Maßnahme, insbesondere wegen seines Geschlechts, seiner Rasse, Religion, Nationalität Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Überzeugung, gesetzt wurde oder eine solche Handlung oder Maßnahme unmittelbar bevorstand oder er eine solche Bedrohung im Falle seiner Ausweisung zu befürchten hätte.
1.2.4. Dem Beschwerdeführer würde bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund der zum Entscheidungszeitpunkt im ganzen Land herrschenden instabilen Sicherheitslage vor dem Hintergrund der erst kürzlich erfolgten Machtübernahme durch die Taliban, des Fehlens gefestigter staatlicher Strukturen und damit möglicher einhergehender willkürlicher Gewalt mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen.
Dem Beschwerdeführer ist es insofern weder möglich, nach Nangarhar zurückzukehren, noch sich in einer der bisher als sicher geltenden Großstädte Afghanistans (Kabul, Herat und Mazar-e Sharif) niederzulassen. Darüber hinaus sind die Herkunftsprovinz des Beschwerdeführers und die genannten Städte momentan nicht sicher erreichbar.
Neben der Entwicklung der Sicherheitslage sind auch die Auswirkungen der jüngsten politischen Geschehnisse auf das afghanische Gesundheitssystem nicht einschätzbar. Es ist daher ungewiss, ob die dem Beschwerdeführer verordneten Medikamente oder Alternativwirkstoffe in Afghanistan verfügbar sind und eine Möglichkeit zur psychotherapeutischen sowie psychiatrischen Betreuung besteht bzw. welche Kosten dafür zu tragen wären. Der Beschwerdeführer ist jedoch aufgrund seines derzeitigen psychischen Gesundheitszustandes auf eine psychiatrische, psychotherapeutische und medikamentöse Behandlung angewiesen.
1.3. Situation im Herkunftsstaat
Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf den nachstehenden Quellen:
? Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 11.06.2021 (LIB);
? Kurzinformation der Staatendokumentation: „Aktuelle Entwicklungen und Informationen in Afghanistan“ vom 20.08.2021 (KI);
? Sonderkurzinformation der Staatendokumentation: „a) Aktuelle Lage in Afghanistan und b) Hinweise für die Benützung der aktuellen Länderinformationen zu Afghanistan“ vom 17.08.2021 (SonderKI);
? ecoi.net Themendossier zu Afghanistan: „Überblick über die Sicherheitslage in Afghanistan“, https://www.ecoi.net/de/laender/afghanistan/themendossiers/allgemeine-sicherheitslage-in-afghanistan (ECOI Sicherheitslage);
? UNHCR-Position zur Rückkehr nach Afghanistan vom August 2021 (UNHCR-Position);
? EASO Country Guidance: Afghanistan vom Dezember 2020 (EASO);
? EASO-Bericht Afghanistan: Gezielte Gewalt gegen Individuen aufgrund gesellschaftlicher und rechtlicher Normen, Stand Dezember 2017 (EASO Verfolgung unter gesellschaftlichen und rechtlichen Normen);
? Anfragebeantwortung der Staatendokumentation betreffend den Beschwerdeführer vom XXXX (AFB).
1.3.1. Aktuelle Entwicklungen
Lage zum 17.08.2021 (SonderKI)
Der afghanische Präsident Ashraf Ghani ist angesichts des Vormarsches der Taliban auf Kabul außer Landes geflohen.
Am 15.08.2021 haben die Taliban mit der größtenteils friedlichen Einnahme Kabuls und der Besetzung der Regierungsgebäude und aller Checkpoints in der Stadt den Krieg für beendet erklärt und das „Islamische Emirat Afghanistan“ ausgerufen. Man wünsche sich friedliche Beziehungen mit der internationalen Gemeinschaft. Die erste Nacht unter der Herrschaft der Taliban im Land sei ruhig verlaufen. Chaotische Szenen hätten sich nur am Flughafen in Kabul abgespielt, von dem sowohl diplomatisches Personal verschiedener westlicher Länder evakuiert wurde, als auch viele Afghanen versuchten, außer Landes zu gelangen. Den Taliban war es zuvor gelungen, innerhalb kürzester Zeit fast alle Provinzen sowie alle strategisch wichtigen Provinzhauptstädte wie z.B. Kandahar, Herat, Mazar-e Sharif, Jalalabad und Kunduz einzunehmen.
Die Taliban zeigten sich am Sonntag gegenüber dem Ausland unerwartet diplomatisch. „Der Krieg im Land ist vorbei“, sagte Taliban-Sprecher Mohammed Naim. Bald werde klar sein, wie das Land künftig regiert werde. Rechte von Frauen und Minderheiten sowie die Meinungsfreiheit würden respektiert, wenn sie der Scharia entsprächen. Man werde sich nicht in Dinge anderer einmischen und Einmischung in eigene Angelegenheiten nicht zulassen.
Schätzungen zufolge wurden seit Anfang 2021 über 550.000 Afghanen durch den Konflikt innerhalb des Landes vertrieben, darunter 126.000 neue Binnenvertriebene zwischen dem 07.07.2021 und dem 09.08.2021. Es gibt zwar noch keine genauen Zahlen über die Zahl der Afghanen, die aufgrund der Feindseligkeiten und Menschenrechtsverletzungen aus dem Land geflohen sind, es deuten aber Quellen darauf hin, dass Zehntausende von Afghanen in den letzten Wochen internationale Grenzen überquert haben. Medienberichten zufolge haben die Taliban in Afghanistan Checkpoints im Land errichtet und sie kontrollieren auch die internationalen Grenzübergänge (bisherige Ausnahme: Flughafen Kabul).
IOM muss aufgrund der aktuellen Sicherheitslage in Afghanistan die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr und Reintegration mit sofortiger Wirkung weltweit aussetzen. Die Aussetzung der freiwilligen Rückkehr erfolgt bis auf Widerruf.
Lage zum 20.08.2021 (KI)
Mit der Eroberung Kabuls haben die Taliban 20 Jahre nach ihrem Sturz wieder die Macht in Afghanistan übernommen. Dass sie sich in ersten öffentlichen Statements gemäßigter zeigen, wird von internationalen Beobachtern mit viel Skepsis beurteilt. Grund dafür ist unter anderem auch, dass an der Spitze der Miliz vor allem jene Männer stehen, die in den vergangenen Jahrzehnten für Terrorangriffe und Gräueltaten im Namen des Islam verantwortlich gemacht werden. Geheimdienstkreisen zufolge führen die Taliban derzeit Gespräche, wie ihre Regierung aussehen wird, welchen Namen und Struktur sie haben soll und wer sie führen wird.
Die Spitzenpolitiker der Taliban sind aus Katar, wo viele von ihnen im Exil lebten, nach Afghanistan zurückgekehrt. Nach Angaben des Weißen Hauses haben die Taliban versprochen, dass Zivilisten sicher zum Flughafen von Kabul reisen können. Berichten zufolge wurden Afghanen auf dem Weg dorthin von Taliban-Wachen verprügelt. Lokalen Berichten zufolge sind die Straßen von Kabul ruhig. Die Militanten sind in der ganzen Stadt unterwegs und besetzen Kontrollpunkte.
Die internationalen Evakuierungsmissionen von Ausländerinnen und Ausländern sowie Ortskräften aus Afghanistan gehen weiter, immer wieder gibt es dabei Probleme. Während auf dem Flughafen der afghanischen Hauptstadt Kabul weiter der Ausnahmezustand herrscht, hat es bei einer Kundgebung in einer Provinzhauptstadt erneut Tote gegeben. In der Stadt Asadabad in der Provinz Kunar wurden nach Angaben eines Augenzeugen mehrere Teilnehmer einer Kundgebung zum afghanischen Nationalfeiertaggetötet. Widerstand bildete sich auch im Panjshirtal, eine Hochburg der Tadschiken nordöstlich von Kabul.
Jalalabad wurde kampflos von den Taliban eingenommen. Mit ihrer Einnahme sicherte sich die Gruppe wichtige Verbindungsstraßen zwischen Afghanistan und Pakistan.
Obwohl in den vergangenen Jahren 100.000 ausländische Soldaten im Land waren, konnten die Taliban-Führer eine offenkundig von ausländischen Geheimdiensten unterschätzte Kampftruppe zusammenstellen. Laut BBC geht man derzeit von rund 60.000 Kämpfern aus, mit Unterstützern aus anderen Milizen sollen fast 200.000 Männer auf Seiten der Taliban den Sturz der Regierung ermöglicht haben. Völlig unklar ist noch, wie viele Soldaten aus der Armee übergelaufen sind.
Vor den Taliban in Afghanistan flüchtende Menschen sind in wachsender medizinischer Not. Die WHO berichtete, dass in Kliniken in Kabul und anderen afghanischen Städten immer mehr Fälle von Durchfallerkrankungen, Mangelernährung, Bluthochdruck und Corona-Symptomen aufträten. Die WHO habe zwei mobile Gesundheitsteams bereitgestellt, aber der Einsatz müsse wegen der Sicherheitslage immer wiederunterbrochen werden.
Priorität für die VN hat derzeit, dass die UNAMA-Mission in Kabul bleibe. Derzeit befindet sich ein Teil des VN-Personals am Flughafen, um einen anderen Standort aufzusuchen und von dort die Tätigkeit fortzuführen. Oberste Priorität der VN sei es die Präsenz im Land sicherzustellen. Zwecks Sicherstellung der humanitären Hilfe werde auch mit den Taliban verhandelt (? Anerkennung).
Lage zum 23.08.2021 (ECOI Sicherheitslage)
Al Jazeera berichtet, dass die Taliban vor den Konsequenzen einer etwaigen Verzögerung des ausländischen Truppenabzuges warnen und einer Verlängerung der Evakuierungsmission aus Afghanistan nicht zustimmen werden.
Einem UNO-Dokument zufolge intensivieren die Taliban die Verfolgung von Personen, die für die NATO und die US-Streitkräfte gearbeitet haben.
UNHCR-Position zur Rückkehr nach Afghanistan (UNHCR-Position)
„[…] Vor dem Hintergrund der volatilen Situation in Afghanistan begrüßt UNHCR den Schritt einiger Aufnahmeländer, Entscheidungen über den internationalen Schutzbedarf von afghanischen Staatsangehörigen und Personen mit vormaligem gewöhnlichen Aufenthalt in Afghanistan auszusetzen, bis sich die Situation im Land stabilisiert hat und zuverlässige Informationen über die Sicherheits- und Menschenrechtslage verfügbar sind, um den internationalen Schutzbedarf der einzelnen Antragsteller*innen zu prüfen. Aufgrund der Unbeständigkeit der Situation in Afghanistan hält UNHCR es nicht für angemessen, afghanischen Staatsangehörigen und Personen mit vormaligem gewöhnlichen Aufenthalt in Afghanistan internationalen Schutz mit der Begründung einer internen Flucht- oder Neuansiedlungsperspektive zu verwehren. […]“
Anfragebeantwortung der Staatendokumentation betreffend den Beschwerdeführer (AFB)
„[…] Aufgrund der derzeitigen Situation in Afghanistan, ist laut MedCOI nicht sicher, ob medizinische Anfragen überhaupt in Afghanistan recherchiert werden können. Alle neu eintreffenden medizinischen Anfragen zu Afghanistan werden vorerst in eine Warteschleife gestellt. Deshalb wurde in Bezug auf diese Anfrage von einer Kostenanfrage abgesehen, da derzeit nicht klar ist, ob Informationen recherchiert werden können, bzw. wie lange dies dauern würde. Außerdem weist MedCOI ausdrücklich darauf hin, dass die Informationen in den letzten Wochen vor der Änderung der politischen Lage gesammelt wurden und sich diese Änderungen auf das afghanische Gesundheitssystem auswirken könnten. […]“
1.3.2. Taliban
Die Taliban sind seit Jahrzehnten in Afghanistan aktiv. Die Taliban-Führung regierte Afghanistan zwischen 1996 und 2001, als sie von US-amerikanischen/internationalen Streitkräften entmachtet wurde; nach ihrer Entmachtung hat sie weiterhin einen Aufstand geführt. Seit 2001 hat die Gruppe einige Schlüsselprinzipien beibehalten, darunter eine strenge Auslegung der Scharia in den von ihr kontrollierten Gebieten (LIB, Taliban).
Die Taliban sind eine religiös motivierte, religiös konservative Bewegung, die das, was sie als ihre zentralen „Werte“ betrachten, nicht aufgeben wird. Sie sehen sich nicht als bloße Rebellengruppe, sondern als eine Regierung und bezeichnen sich selbst als „Islamisches Emirat Afghanistan“, der Name, den sie benutzten, als sie von 1996 bis zu ihrem Sturz nach den Anschlägen vom 11.09.2001 an der Macht waren. Die Taliban sind keine monolithische Organisation; nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind. Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind. Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt (LIB, Taliban).
Die Taliban sind eine vorwiegend paschtunische Bewegung, werden aber nicht als nationalistische Bewegung gesehen. Die Taliban rekrutieren auch aus anderen ethnischen Gruppen (LIB, Ethnische Gruppen).
Es besteht relativer Konsens darüber, wie die Rekrutierung für die Streitkräfte der Taliban erfolgt: Sie läuft hauptsächlich über bestehende traditionelle Netzwerke und organisierte Aktivitäten im Zusammenhang mit religiösen Institutionen (LIB, Taliban).
Grundsätzlich haben die Taliban keinen Mangel an freiwilligen Rekruten und machen nur in Ausnahmefällen von Zwangsrekrutierung Gebrauch. Druck und Zwang, den Taliban beizutreten, sind jedoch nicht immer gewalttätig. Landinfo versteht Zwang im Zusammenhang mit Rekrutierung dahingehend, dass jemand, der sich einer Mobilisierung widersetzt, speziellen Zwangsmaßnahmen und Übergriffen (zumeist körperlicher Bestrafung) durch den Rekrutierer ausgesetzt ist. Die Zwangsmaßnahmen können auch andere schwerwiegende Maßnahmen beinhalten und gegen Dritte, beispielsweise Familienmitglieder, gerichtet sein. Auch wenn jemand keinen Drohungen oder körperlichen Übergriffen ausgesetzt ist, können Faktoren wie Armut, kulturelle Gegebenheiten und Ausgrenzung die Unterscheidung zwischen freiwilliger und zwangsweiser Beteiligung zum Verschwimmen bringen (LIB, Taliban).
Sympathisanten der Taliban sind Einzelpersonen und Gruppen, vielfach junge, desillusionierte Männer. Ihre Motive sind der Wunsch nach Rache und Heldentum, gepaart mit religiösen und wirtschaftlichen Gründen. Internet und soziale Medien wie Twitter, Blogs und Facebook haben sich in den letzten Jahren zu sehr wichtigen Foren und Kanälen für die Verbreitung der Botschaft dieser Bewegung entwickelt, sie dienen auch als Instrument für die Anwerbung. Über die sozialen Medien können die Taliban mit Sympathisanten und potentiellen Rekruten Kontakt aufnehmen. Die Taliban haben verstanden, dass ohne soziale Medien kein Krieg gewonnen werden kann. Sie haben ein umfangreiches Kommunikations- und Mediennetzwerk für Propaganda und Rekrutierung aufgebaut. Zusätzlich unternehmen die Taliban persönlich und direkt Versuche, die Menschen von ihrer Ideologie und Weltanschauung zu überzeugen, damit sie die Bewegung unterstützen. Ein Gutteil dieser Aktivitäten läuft über religiöse Netzwerke (LIB, Taliban).
Die Entscheidung, Rekruten zu mobilisieren, wird von den Familienoberhäuptern, Stammesältesten und Gemeindevorstehern getroffen. Dadurch wird dies nicht als Zwangsrekrutierung wahrgenommen, weil die Entscheidungen der Anführer als legitim und akzeptabel gesehen werden. Personen, die sich dem widersetzen, gehen ein Risiko ein, dass sie oder ihre Familien bestraft oder getötet werden, wenngleich die Taliban nachsichtiger als der ISKP seien und lokale Entscheidungen eher akzeptieren würden. Andererseits wird berichtet, dass es in Gebieten, die von den Taliban kontrolliert werden oder in denen die Taliban stark präsent sind, de facto unmöglich ist, offenen Widerstand gegen die Bewegung zu leisten. Die örtlichen Gemeinschaften haben sich der Lokalverwaltung durch die Taliban zu fügen. Oppositionelle sehen sich gezwungen, sich äußerst bedeckt zu halten oder das Gebiet zu verlassen. Es gibt Berichte von Übergriffen auf Stämme oder Gemeinschaften, die den Taliban Unterstützung und die Versorgung mit Kämpfern verweigert haben. Gleichzeitig sind die militärischen Einheiten der Taliban in den Gebieten, in denen sie operieren, von der Unterstützung durch die Bevölkerung abhängig. Die erweiterte Familie kann angeblich auch eine Zahlung leisten, anstatt Rekruten zu stellen (LIB, Taliban).
Es ist bekannt, dass – wenn Familienmitglieder in den Sicherheitskräften dienen – die Familie möglicherweise unter Druck steht, die betreffende Person zu einem Seitenwechsel zu bewegen. Der Grund dafür liegt in der Strategie der Taliban, Personen mit militärischem Hintergrund anzuwerben, die Waffen, Uniformen und Wissen über den Feind einbringen. Es kann aber auch Personen treffen, die über Knowhow und Qualifikationen verfügen, die die Taliban im Gefechtsfeld benötigen, etwa für die Reparatur von Waffen (LIB, Taliban).
1.3.3. Ethnische Minderheiten
In Afghanistan sind ca. 40 bis 42 % Paschtunen, 27 bis 30 % Tadschiken, 9 bis 10 % Hazara, 9 % Usbeken, ca. 4 % Aimaken, 3 % Turkmenen und 2 % Belutschen. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnischen Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt. Es gibt keine Hinweise, dass bestimmte soziale Gruppen ausgeschlossen werden. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Soziale Diskriminierung und Ausgrenzung anderer ethnischer Gruppen und Religionen im Alltag bestehen fort und werden nicht zuverlässig durch staatliche Gegenmaßnahmen verhindert. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (LIB, Ethnische Gruppen).
Ethnische Paschtunen sind mit ca. 40% der Gesamtbevölkerung die größte Ethnie Afghanistans. Sie sprechen Paschtu/Pashto; als Verkehrssprache sprechen viele auch Dari. Sie sind sunnitische Muslime. Die Paschtunen haben viele Sitze in beiden Häusern des Parlaments – jedoch nicht mehr als 50% der Gesamtsitze. Die Paschtunen sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 44% in der ANA und der Afghan ANP repräsentiert (LIB, Ethnische Gruppen).
Grundlage des paschtunischen Selbstverständnisses sind ihre genealogischen Überlieferungen und die darauf beruhende Stammesstruktur. Eng mit der Stammesstruktur verbunden ist ein komplexes System von Wertvorstellungen und Verhaltensrichtlinien, die häufig unter dem Namen Pashtunwali zusammengefasst werden und die besagen, dass es für einen Paschtunen nicht ausreicht, Paschtu zu sprechen, sondern, dass man auch die Regeln dieses Ehren- und Verhaltenskodex befolgen muss. Die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stammlinienverband bedeutet viele Verpflichtungen, aber auch Rechte, weshalb sich solche Verbände als Solidaritätsgruppen verstehen lassen (LIB, Ethnische Gruppen).
1.3.4. Als „verwestlicht“ wahrgenommene Personen
Dokumentierte Fälle eines gezielten Vorgehens gegen zurückkehrende Afghanen auf Grundlage einer „Verwestlichung“, weil diese in Europa gereist wären oder dort gelebt hätten, westliche Ausweisdokumente in ihrem Besitz oder Ideen angenommen hätten, die als „unafghanisch“, „westlich“ oder „europäisch“ angesehen werden, sind spärlich. Uneinheitliche Beschreibungen aus Quellen nennen vereinzelte Berichte vermeintlicher Entführungen oder sonstige, auf Einzelne abzielende Verfolgungshandlungen, oder, dass nicht für jede Person ein Risiko besteht, aber, dass solche Handlungen vorkommen können, wobei allerdings der Grad und die Verbreitung schwierig zu quantifizieren sind, oder aber, dass Verfolgung nicht spezifisch wegen der Asylantragstellung oder des Bereisens westlicher Länder vorkommen (EASO, Pkt. 2.13.; EASO Verfolgung unter gesellschaftlichen und rechtlichen Normen, Pkt. 8.).
2. Beweiswürdigung
Ad 1.1. Person des Beschwerdeführers
Die Feststellungen zur Identität des Beschwerdeführers ergeben sich aus seinen Angaben vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes, vor der belangten Behörde, in der Beschwerde und vor dem Bundesverwaltungsgericht (s. dazu später auch noch Pkt. II.2. „Ad 1.2.1.“ unten). Die getroffenen Feststellungen zum Namen und zum Geburtsdatum des Beschwerdeführers gelten ausschließlich zur Identifizierung seiner Person im Asylverfahren.
Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit des Beschwerdeführers, zu seiner Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, seinen Sprachkenntnissen, seinem Familienstand und seinem Lebenslauf gründen sich auf seinen diesbezüglich schlüssigen und stringenten Angaben. Das Bundesverwaltungsgericht hat keine Veranlassung, an diesen im gesamten Verfahren gleich gebliebenen Aussagen des Beschwerdeführers zu zweifeln.
Die Feststellung zur Aufenthaltsdauer des Beschwerdeführers im Bundesgebiet stützt sich auf die Aktenlage.
Die Feststellung zur strafgerichtlichen Unbescholtenheit folgt aus der Einsichtnahme in das Strafregister.
Der Beschwerdeführer legte seiner Stellungnahme vom XXXX ein Schreiben seines Psychiaters vom XXXX und ein Schreiben seiner Psychotherapeutin vom XXXX bei, die in Zusammenschau mit seinen Aussagen in der Beschwerdeverhandlung ein aktuelles Bild zu seinem psychischen Zustand, seiner Medikation und seinen Behandlungen liefern.
Ad 1.2. Fluchtgründe und Rückkehrsituation des Beschwerdeführers
Ad 1.2.1. Hinsichtlich des fluchtauslösenden Ereignisses hat ein Asylwerber, um dieses glaubhaft zu machen, insbesondere die in seiner Sphäre gelegenen Umstände einigermaßen plausibel und genügend substantiiert zu schildern, weiters muss – wobei es darauf ankommt, ob Aussagen in unwesentlichen Details oder im Kern variieren – das Vorbringen, um glaubwürdig zu sein, in sich schlüssig sein. Von Bedeutung ist für die Beurteilung der Glaubwürdigkeit auch, wann im Verfahren der Asylwerber bestimmte Angaben tätigt. Zu beachten ist schließlich immer auch die persönliche Glaubwürdigkeit des Asylwerbers an sich.
Wenn das fluchtauslösende Ereignis als Minderjähriger erlebt wurde, bedarf es einer besonders sorgfältigen Beweiswürdigung. Es ist eine besonders sorgfältige Beurteilung der Art und Weise des erstatteten Vorbringens zu den Fluchtgründen erforderlich und die Dichte dieses Vorbringens kann nicht mit „normalen Maßstäben“ gemessen werden.
Vor diesem Hintergrund ist fallbezogen, auch nach dem in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht gewonnenen persönlichen Eindruck des Beschwerdeführers, Folgendes zu erwägen:
Eingangs wird festgehalten, dass der Umstand, dass der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt der behaupteten fluchtauslösenden Geschehnisse ca. 16 Jahre alt war, vom Bundesverwaltungsgericht berücksichtigt und bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit seiner Schilderungen auf sein damaliges jugendliches Alter sowie auf seinen Entwicklungsstand Bedacht genommen wurde. Auch wurde in der vorliegenden Beweiswürdigung nicht übersehen, dass sich angesichts der bereits über fünf Jahre zurückliegenden Ereignisse Unstimmigkeiten im Aussageverhalten des Beschwerdeführers ergeben bzw. Lücken sowie Unschärfen des Erinnerungsvermögens vorliegen konnten, weshalb auf Widersprüchlichkeiten in Bezug auf Detailfragen nicht eingegangen, sondern alleine auf die Plausibilität und Glaubwürdigkeit des Kerninhaltes seiner Erzählung abgestellt wurde.
Im Wesentlichen gab der Beschwerdeführer zu seinem individuellen Fluchtgrund an, dass sein Onkel mütterlicherseits, ein Mitglied der Taliban, ihn auf eine Religionsschule schicken habe wollen. Da er sich mit seiner Flucht aus Afghanistan in Richtung Europa einer Rekrutierung widersetzt habe, bestehe nun die Gefahr, von diesem bzw. den Taliban getötet zu werden.
Voranzustellen ist, dass der Beschwerdeführer schon bei – für das Fluchtvorbringen im Kern nicht unmittelbar relevanten – Details, die mit einer möglichen Verfolgung durch seinen Onkel mütterlicherseits bzw. die Taliban nichts zu tun haben, auffallend unrichtige bzw. widersprüchliche Angaben tätigte:
? Der Beschwerdeführer brachte vor dem Bundesverwaltungsgericht erstmals zur Sprache, dass sein richtiger Nachname „ XXXX “ und nicht „ XXXX “ sei (VP, Seite 6). Er hat damit zugestanden, in den vorangegangenen Einvernahmen falsche Angaben über seine Person gemacht zu haben.
? In der Erstbefragung berichtete der Beschwerdeführer, am XXXX geboren worden zu sein (EB, Seite 1), obwohl er zuvor in Ungarn noch angab, am XXXX auf die Welt gekommen zu sein (Dublin-Schreiben, AS 75). Nach der Durchführung einer forensischen Altersschätzung wurde sein Geburtsdatum auf den XXXX festgelegt (Gutachten, AS 85). In Deutschland nannte der Beschwerdeführer vor der Bundespolizeiinspektion XXXX wiederum den XXXX als sein Geburtsdatum (Unterlagen aus Deutschland, AS 151 ff).
? In der Erstbefragung erklärte der Beschwerdeführer, er habe keine Schulbildung genossen (EB, Seite 1). Dies deckt sich zwar mit den Ausführungen seiner Psychotherapeutin, der gegenüber er scheinbar ebenfalls erwähnte, in keine Schule gegangen zu sein (Stellungnahme der Psychotherapeutin vom XXXX ), ist aber widersprüchlich zu seiner späteren Aussage vor der belangten Behörde, eineinhalb Jahre lang eine Koranschule besucht zu haben (BFA, Seite 6).
? Abweichungen tauchten auch hinsichtlich der Ausreisevorbereitungen auf: Während der Beschwerdeführer in der Erstbefragung zweimal kundtat, dass sein Onkel die Ausreise organisiert habe (EB, Seite 5), gab er vor der belangten Behörde zu Protokoll, dass seine Mutter und der Cousin des Vaters seine Flucht vorbereitet hätten (BFA, Seite 9). In der Stellungnahme vom XXXX bemerkte er, dass er alleine mit der Hilfe des Cousins seines Vaters aus Afghanistan flüchten habe können (Stellungnahme vom XXXX , Seite 1).
? Vor der Polizeiinspektion und der belangten Behörde verneinte der Beschwerdeführer, in einem weiteren Land Asyl beantragt zu haben (EB, Seiten 4 f; BFA, Seite 6). Aus einem Schreiben im Behördenakt geht jedoch hervor, dass er am XXXX in Ungarn um Asyl ansuchte (Dublin-Schreiben, AS 75).
? Der Beschwerdeführer führte vor der belangten Behörde und dem Bundesverwaltungsgericht ins Treffen, dass sein Vater während der Mudschaheddin-Zeit geschlagen worden sei (BFA, Seite 4; VP, Seite 19); er wisse jedoch nicht, wann das passiert sei und kenne seinen Vater nicht anders (BFA, Seite 5). Seiner Psychotherapeutin eröffnete er demgegenüber, dass sein Onkel mütterlicherseits den Vater vor den Augen des in den 2000er-Jahren geborenen Beschwerdeführers geschlagen und so die Behinderung ausgelöst worden sei (Stellungnahme der Psychotherapeutin vom XXXX , Seite 1).
Diese Unstimmigkeiten in der Biographie ließen erste Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Beschwerdeführers und damit auch an seinem Fluchtvorbringen aufkommen. Wie jemand heißt, wann jemand geboren wurde, welche Schulausbildung jemand erhielt, durch wessen Unterstützung die Heimat verlassen wurde, ob in einem anderen Land schon um Asyl angesucht wurde und seit wann der eigene Vater eine Behinderung hat, sind ganz grundlegende Fragen, auf die man eine einfache – und über mehrere Befragungen hinweg gleichbleibende – Antwort erwarten könnte.
Die Bedenken an der Glaubwürdigkeit des Beschwerdeführers erhärteten sich in der Folge durch seine Aussagen vor den deutschen Behörden, denen er eine völlig andere Identität bekannt gab: Er machte sich dort als am XXXX in XXXX geborener „ XXXX “ vorstellig (Unterlagen aus Deutschland, AS 151 ff). Im Zuge dessen kam auch heraus, dass der Beschwerdeführer über einen Onkel in Deutschland verfügt (bestätigt durch VP, Seite 12), obwohl er zuvor das Vorhandensein von Verwandtschaft innerhalb Europas negierte (EB, Seite 2).
Schließlich bestätigten sich die Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Beschwerdeführers auch angesichts der weiteren Ungereimtheiten und Unplausibilitäten im Zusammenhang mit seinem tatsächlichen Fluchtvorbringen:
? Die festgestellten Informationen zur Lage im Herkunftsstaat zeigen zwar grundsätzlich ein (zum damaligen Zeitpunkt) mögliches Risiko einer Zwangsrekrutierung auf (vgl. Pkt. II.1.3.2. oben). Dennoch ist in diesen festgehalten, dass die Taliban an keinem Mangel an Freiwilligen bzw. Rekruten litten und Zwangsrekrutierungen daher einen Ausnahmefall darstellten und keinesfalls systematisch betrieben wurden. Die Fälle der Zwangsrekrutierungen bezogen sich zudem insbesondere auf Personen, die über einen militärischen Hintergrund oder über Know-How und Qualifikationen verfügen; es kam im Verfahren nicht hervor, dass der Beschwerdeführer über einen militärischen Background oder Know-How und Qualifikationen verfügt, die die Taliban im Gefechtsfeld benötigen hätten können. Auch weisen die UNHCR-Richtlinien eine im Hinblick auf die in das Zielalter fallende Gesamtbevölkerung Afghanistans geringe Zahl an dokumentierten, tatsächlichen zwangsweisen Rekrutierungen bzw. Rekrutierungsversuchen auf (UNHCR, Kapitel Internationaler Schutzbedarf, A.3.).
? Der Beschwerdeführer machte vor der Polizeiinspektion ausschließlich als Fluchtgrund geltend, dass es in Afghanistan keine Möglichkeit zur Schulbildung wegen der Taliban gegeben habe, die Sicherheitslage schlecht gewesen sei und allgemein Zwangsrekrutierungen von jungen Männern stattgefunden hätten (EB, Seite 5). Er thematisierte jedoch mit keinem Wort eine selbst durchlebte versuchte Rekrutierung seitens seines Onkels mütterlicherseits. Es ist anzunehmen, dass eine derartige Bedrohungssituation – wenn eben auch nicht im Detail – bereits bei der ersten sich bietenden Gelegenheit genannt wird.
? Das Vorbringen hinsichtlich der Zwangsrekrutierung war widersprüchlich und vage:
o Der Beschwerdeführer beteuerte seit seiner Einvernahme vor der belangten Behörde durchgängig, ein Trainingslager der Taliban in XXXX besucht zu haben. Während der Beschwerdeführer vor der belangten Behörde als Lage des Ortes die an seine Heimatprovinz angrenzende Provinz Kunar anführte (BFA, Seite 5), siedelte er diesen in der Beschwerdeverhandlung hingegen in der Provinz Nangarhar an (VP, Seite 13).
o Vor der belangten Behörde behauptete der Beschwerdeführer, er hätte drei Tage im Trainingslager in XXXX verbringen sollen und habe dieses nach zwei Tagen wieder verlassen (BFA, Seite 10). In der Beschwerdeverhandlung trug er vor, zwei Wochen bei den Taliban verbracht zu haben (VP, Seiten 13 f). Der Beschwerdeführer versuchte diese Unstimmigkeit zwar mit einer falschen Protokollierung zu rechtfertigen, jedoch ist dem entgegenzuhalten, dass er am Ende der BFA-Einvernahme die Korrektheit des Protokolls bejahte und die Richtigkeit der Rückübersetzung mit seiner Unterschrift bestätigte (BFA, Seiten 15 f). Zudem spricht auch die Beschwerde von einem Aufenthalt im Trainingslager im Ausmaß von bloß zwei Tagen (Beschwerde, Seiten 2 und 53).
o Eine Divergenz trat auch hinsichtlich der Personen, die den Beschwerdeführer dorthin begleitet haben sollen, auf: Waren dies laut seiner Angaben vor der belangten Behörde sein Onkel mütterlicherseits und sein Cousin väterlicherseits (BFA, Seite 10), waren es vor dem Bundesverwaltungsgericht beide Onkel mütterlicherseits (VP, Seite 14).
o Weiters brachte der Beschwerdeführer vor der belangten Behörde und in der Beschwerde vor, von seinem Onkel mütterlicherseits nachhause geschickt worden zu sein (BFA, Seite 10; Beschwerde, Seiten 53 f). Demgegenüber sagte er vor dem erkennenden Gericht aus, dass er seine beiden Onkel mütterlicherseits darum gebeten habe, das Trainingslager verlassen und nachhause fahren zu dürfen (VP, Seite 14).
o Außerdem gab der Beschwerdeführer vor der belangten Behörde zu Protokoll, dass er drei Tage zum Trainingslager mitgehen und sich dann hätte überlegen sollen, ob er die Schule weiter besuchen wolle oder nicht; er sei dann mit dem Onkel mütterlicherseits mitgefahren (BFA, Seite 10). In der mündlichen Verhandlung berichtete er, mit Gewalt zur Madrassa in XXXX gebracht worden zu sein (VP, Seite 14).
o Der ältere Onkel mütterlicherseits habe – so der Beschwerdeführer vor der belangten Behörde – mit ihm in Ungarn und in der Türkei reden wollen; seine Mutter habe aber gesagt, dass er es auf keinen Fall tun solle (BFA, Seite 10). Vor dem Bundesverwaltungsgericht erzählte er dann, mit dem Onkel in der Türkei und in Ungarn telefoniert zu haben (VP, Seite 16).
o Der Beschwerdeführer verstrickte sich auch bezüglich des Kontaktes mit seinen Angehörigen in eine Diskrepanz: So habe er gemäß seinen Aussagen vor der belangten Behörde seine Mutter etwa im XXXX kontaktiert, als er sich nach Deutschland abgesetzt habe (BFA, Seite 7); später vermeinte er, immer nur die Nummer des Bruders gehabt zu haben (VP, Seite 9).
o Auch die äußerst detailarme und oberflächliche Beschreibung der Örtlichkeiten und des Tagesablaufes im Trainingslager (VP, Seite 15) zeugen nicht gerade davon, dass seine Erzählung der Wahrheit entspricht und er die wiedergegebenen Dinge selbst erlebte.
? Es gab überdies einige Unschlüssigkeiten und nachträgliche Steigerungen:
o Die Schwester des Beschwerdeführers wurde trotz ihres Widerstandes, die Schule nicht verlassen zu wollen, nicht getötet (BFA, Seite 9; VP, Seiten 13 f). Auch die Mutter des Beschwerdeführers wurde trotz ihrer Mithilfe bei der Flucht des Beschwerdeführers und des Umstandes, dass sie weiterhin mit ihm Kontakt hatte, nicht umgebracht (BFA, Seite 10; VP, Seite 16). Es ist daher nicht nachvollziehbar, weshalb dem Beschwerdeführer dieses Schicksal bevorstehen sollte, zumal sein Onkel mütterlicherseits nach der Ausreise am Telefon noch gemeint haben soll, der Beschwerdeführer solle zurückkommen und dürfe so leben, wie er wolle (VP, Seite 16).
o Der Beschwerdeführer sei sehr jung gewesen, als er in das Haus der Onkel mütterlicherseits eingezogen sei (VP, Seite 8). Es ist nicht verständlich, warum der ältere Onkel erst ca. einen Monat vor seiner Ausreise (VP, Seite 14) versucht haben soll, den Beschwerdeführer in eine Religionsschule zu schicken – er befand sich nämlich mit 16 Jahren schon längst im gewünschten Alter für eine Rekrutierung.
o Dass der Bruder des Beschwerdeführers von den Taliban entführt worden sei, wurde erstmals in der Stellungnahme vom XXXX vorgebracht – dieser Vorfall soll sich bereits XXXX ereignet haben, womit er schon viel eher dem Bundesverwaltungsgericht hätte mitgeteilt werden können. In der mündlichen Verhandlung wurde zusätzlich noch ein unangenehmes Telefongespräch mit diesem Bruder (VP, Seite 19) und in einem dort vorgelegten Schreiben der Psychotherapeutin vom XXXX eine Ermordung des Cousins seines Vaters, weil er dem Beschwerdeführer zur Ausreise verholfen habe, vorgetragen (obwohl der Beschwerdeführer vor der belangten Behörde noch festhielt, dass niemand von dessen Unterstützung gewusst habe; BFA, Seite 12). Da nicht plausibel ist, weshalb der Beschwerdeführer derart wichtige Teile seiner Fluchtgeschichte so lange verschwieg, ist davon auszugehen, dass er Elemente seines Vorbringens zu steigern versuchte.
? Es fiel auf, dass der Beschwerdeführer zunächst keine (genauen) Angaben zur Stellung des/r Onkel mütterlicherseits bei den Taliban machen konnte; diese würden für die radikale Gruppierung arbeiten, der Beschwerdeführer wisse jedoch nicht, was genau (BFA, Seite 5). Ungefähr drei Monate danach schilderte der Beschwerdeführer in der Beschwerde auf einmal, dass ein Onkel Taliban-Mitglied und für die Rekrutierung von Jugendlichen verantwortlich sei (Beschwerde, Seite 2). Dieses Vorbringen wiederholte er dann auch in der Beschwerdeverhandlung; er wisse nicht, welche Positionen seine Onkel hätten, diese würden aber mit den Jugendlichen beim Freitagsgebet sprechen (VP, Seite 13).
? Es wurde vom Beschwerdeführer nichts dahingehend vorgebracht, dass gegen ihn Gewalt ausgeübt oder ernste Drohungen ausgesprochen wurden, damit er sich ausbilden lässt. Vielmehr ließ der Onkel mütterlicherseits mit sich reden, sodass etwa nach der Ablehnung des Besuches einer Religionsschule in Pakistan ein Alternativvorschlag von ihm erbracht wurde (BFA, Seiten 9 f; VP, Seite 14). Hätte der Onkel mütterlicherseits am Beschwerdeführer tatsächlich ein ernsthaftes Interesse gehabt, hätte er nicht versucht, ihn zu einer „freiwilligen“ Zusammenarbeit zu bewegen, sondern hätte ihn sofort mitgenommen bzw. ihm später nicht erlaubt, das Trainingscamp (auch nur kurzzeitig) zu verlassen.
? Der Beschwerdeführer gestand schließlich zu, nicht zu wissen, ob der Onkel mütterlicherseits ihn überhaupt noch suche (VP, Seite 17). Daraus ist keine aktuelle konkrete Gefahrenlage für den Beschwerdeführer ableitbar.
Aufgrund einer Gesamtbetrachtung all dieser Umstände hält das Bundesverwaltungsgericht das Vorbringen bzw. die Angaben zu einer versuchten Rekrutierung nicht für glaubwürdig und war es daher nicht möglich, Feststellungen zu einer vergangenen oder aktuellen und konkret gegen den Beschwerdeführer gerichteten Bedrohung durch den älteren Onkel mütterlicherseits bzw. durch die Taliban zu treffen.
Ad 1.2.2. und 1.2.3. Die Beschwerdeschrift brachte vor, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan nach mehrjähriger Abwesenheit in Europa Probleme bekommen könnte. Aus den Feststellungen zur maßgeblichen Lage in Afghanistan ist jedenfalls kein Bild dahingehend erkennbar, dass bei Rückkehrern aus dem Westen integritätsbedrohende Handlungen allein wegen dieses Umstands in einem nennenswerten Ausmaß gesetzt werden oder der Beschwerdeführer maßgebliche Nachteile hieraus zu erwarten hätte (vgl. Pkt. II.1.3.4.).
Der Beschwerdeführer schätzt zwar in Österreich insbesondere die Freiheit und bedauert die eingeschränkten Möglichkeiten von Frauen in Afghanistan (VP, Seiten 18 f). Aus seinen Aussagen ergab jedoch keine Fundierung für die Annahme einer westlichen Lebensweise in Österreich, bei deren weiterer Pflege im Herkunftsstaat er einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt wäre, auch wenn er teilweise liberale Ansichten vertritt. Es konnte damit keine gegen den Beschwerdeführer bevorstehende lebens- oder integritätsbedrohliche Gefahr aufgrund seiner in Österreich gelebten Grundrechten und seinem angenommenen Lebensstil ersehen werden.
Ein weiteres Vorbringen zu ihm im Fall einer Rückkehr in den Herkunftsstaat drohenden Übergriffen erstattete der Beschwerdeführer nicht.
Ad 1.2.4. Die Feststellungen zu den Folgen einer Rückkehr des Beschwerdeführers nach Afghanistan ergeben sich aus den aktuellen Berichten zur Lage Afghanistans, dem UNHCR-Schreiben zur Rückkehr nach Afghanistan vom August 2021 und der Anfragebeantwortung der Staatendokumentation betreffend den Beschwerdeführer vom XXXX (vgl. Pkt. II.1.3.) in Zusammenschau mit den persönlichen Umständen des Beschwerdeführers (vgl. Pkt. II.1.1.).
Ad 1.3. Situation im Herkunftsstaat
Die Feststellungen zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die zitierten Länderberichte. Da diese aktuellen Länderberichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen von regierungsoffiziellen und nicht-regierungsoffiziellen Stellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche bieten, besteht im vorliegenden Fall für das Bundesverwaltungsgericht kein Anlass, an der Richtigkeit der herangezogenen Länderinformationen zu zweifeln. Die den Feststellungen zugrundeliegenden Länderberichte sind in Bezug auf die Sicherheitslage in Afghanistan – gegenüber den in der Beschwerde und den sonstigen Stellungnahmen des Beschwerdeführers erwähnten Länderinformationen – aktuell. Die Berichtslage, die der Beschwerdeführer in seiner letzten Stellungnahme beschreibt, deckt sich mit den herangezogenen Berichten.
Feststellungen zu Zwangsrekrutierungen und verwestlichten Rückkehrern wurden vom Bundesverwaltungsgericht getroffen; eine Ergänzung von kinderspezifischen Material war fallbezogen nicht erforderlich, weil der Beschwerdeführer mittlerweile volljährig ist.
3. Rechtliche Beurteilung
Zu A)
3.1. Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides (Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten)
3.1.1. § 3 AsylG 2005 lautet auszugsweise:
„Status des Asylberechtigten
§ 3. (1) Einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht.
(2) Die Verfolgung kann auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Fremde seinen Herkunftsstaat verlassen hat (objektive Nachfluchtgründe) oder auf Aktivitäten des Fremden beruhen, die dieser seit Verlassen des Herkunftsstaates gesetzt hat, die insbesondere Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind (subjektive Nachfluchtgründe). Einem Fremden, der einen Folgeantrag (§ 2 Abs. 1 Z 23) stellt, wird in der Regel nicht der Status des Asylberechtigten zuerkannt, wenn die Verfolgungsgefahr auf Umständen beruht, die der Fremde nach Verlassen seines Herkunftsstaates selbst geschaffen hat, es sei denn, es handelt sich um in Österreich erlaubte Aktivitäten, die nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind.
(3) Der Antrag auf internationalen Schutz ist bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn
1. dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11) offen steht oder
2. der Fremde einen Asylausschlussgrund (§ 6) gesetzt hat.
[…]“
3.1.2. Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist, wer sich aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Überzeugung, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder der staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 liegt es am Beschwerdeführer, entsprechend glaubhaft zu machen, dass ihm im Herkunftsstaat eine Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK droht.
3.1.3. Wie bereits im Rahmen der Beweiswürdigung dargestellt (vgl. Pkt. II.2. „Ad 1.2.1.“ oben), konnte der Beschwerdeführer nicht glaubhaft machen, sich einer Rekrutierung durch seinen älteren Onkel mütterlicherseits entzogen zu haben, sodass er auch mit keinen Konsequenzen seitens seines Onkels oder seitens der Taliban zu rechnen hat.
3.1.4. Der Beschwerdeführer legte ebenfalls nicht dar, inwiefern seine Eigenschaft als Rückkehrer aus Europa bzw. seine Wertehaltung in Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu einer gefährlichen oder bedrohlichen Situation führen würde (vgl. Pkt. II.2. „Ad 1.2.2. und 1.2.3.“ oben).
3.1.5. Da sich auch sonst aus den Angaben des Beschwerdeführers keine konkreten Anhaltspunkte für asylrelevante Gründe ergaben, war die Beschwerde zu diesem Spruchpunkt als unbegründet abzuweisen (Spruchpunkt I.).
3.2. Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides (Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten)
3.2.1. § 8 AsylG 2005 lautet auszugsweise:
„Status des subsidiär Schutzberechtigten
§ 8. (1) Der Status des subsidiär Schutzberechtigten ist einem Fremden zuzuerkennen,
1. der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird oder
2. dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist,
wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.
(2) Die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach Abs. 1 ist mit der abweisenden Entscheidung nach § 3 oder der Aberkennung des Status des Asylberechtigten nach § 7 zu verbinden.
(3) Anträge auf internationalen Schutz sind bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuweisen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11) offen steht.
[…]
(4) Einem Fremden, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wird, ist vom Bundesamt oder vom Bundesverwaltungsgericht gleichzeitig eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter zu erteilen. Die Aufenthaltsberechtigung gilt ein Jahr und wird im Falle des weiteren Vorliegens der Voraussetzungen über Antrag des Fremden vom Bundesamt für jeweils zwei weitere Jahre verlängert. Nach einem Antrag des Fremden besteht die Aufenthaltsberechtigung bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Verlängerung des Aufenthaltsrechts, wenn der Antrag auf Verlängerung vor Ablauf der Aufenthaltsberechtigung gestellt worden ist.
[…]“
3.2.2. Gemäß Art. 2 EMRK wird das Recht jedes Menschen auf das Leben gesetzlich geschützt. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Die Protokolle Nr. 6 und Nr. 13 zur Konvention betreffen die Abschaffung der Todesstrafe.
Unter realer Gefahr in diesem Sinne ist eine ausreichend reale, nicht nur auf Spekulationen gegründete Gefahr möglicher Konsequenzen für den Betroffenen im Zielstaat zu verstehen (VwGH 19.02.2004, 99/20/0573).
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte erkennt in ständiger Rechtsprechung, dass ein reales Risiko („real risk“) vorliegt, wenn stichhaltige Gründe („substantial grounds“) dafür sprechen, dass die betroffene Person im Falle der Rückkehr in die Heimat das reale Risiko (insbesondere) einer Verletzung ihrer durch Art. 3 EMRK geschützten Rechte zu gewärtigen hätte. Dafür spielt es grundsätzlich keine Rolle, ob dieses reale Risiko in der allgemeinen Sicherheitslage im Herkunftsstaat, in individuellen Risikofaktoren des Einzelnen oder in der Kombination beider Umstände begründet ist. Allerdings betont der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seiner Rechtsprechung auch, dass nicht jede prekäre allgemeine Sicherheitslage ein reales Risiko iSd Art. 3 EMRK hervorruft. Im Gegenteil lässt sich seiner Judikatur entnehmen, dass eine Situation genereller Gewalt nur in sehr extremen Fällen („in the most extreme cases“) diese Voraussetzung erfüllt (vgl. etwa EGMR 28.11.2011, Appl. 8319/07 und 11.449/07, Sufi und Elmi gegen Vereinigtes Königreich, Rz 218, mit Hinweis auf EGMR 17.07.2008, Appl. 25.904/07, NA gegen Vereinigtes Königreich). In den übrigen Fällen bedarf es des Nachweises von besonderen Unterscheidungsmerkmalen („special distinguishing features“), aufgrund derer sich die Situation des Betroffenen kritischer darstellt als für die Bevölkerung im Herkunftsstaat im Allgemeinen (vgl. etwa EGMR 28.11.2011, Appl. 8319/07 und 11.449/07, Sufi und Elmi gegen Vereinigtes Königreich, Rz 217).
Für die zur Prüfung der Notwendigkeit von subsidiärem Schutz erforderliche Gefahrenprognose ist bei einem nicht landesweiten bewaffneten Konflikt auf den tatsächlichen Zielort des Beschwerdeführers bei seiner Rückkehr abzustellen. Dies ist in der Regel seine Herkunftsregion, in die er