TE Bvwg Erkenntnis 2021/9/23 W227 2198651-1

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Veröffentlicht am 23.09.2021
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Entscheidungsdatum

23.09.2021

Norm

AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28

Spruch


W227 2198651-1/14E

Schriftliche Ausfertigung des am 12. August 2021 mündlich verkündeten Erkenntnisses:

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Karin WINTER über die Beschwerde des afghanischen Staatsangehörigen XXXX , geboren am XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 18. Mai 2018, Zl. 1098984910-152003904, nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung, zu Recht erkannt:

A)

I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 3 Asyl-gesetz 2005 (AsylG) als unbegründet abgewiesen.

II. Der Beschwerde gegen die Spruchpunkte II. bis VI. sowie VIII. und IX. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und die angefochtenen Spruchpunkte ersatzlos behoben. XXXX wird gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG der Status als subsidiär Schutzberechtigter zuerkannt.

Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter bis zum 11. August 2022 erteilt.

B)

Die Revision ist nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe

I. Verfahrensgang

1. Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger schiitischen Glaubens und gehört der Volksgruppe der Paschtunen an. Er stellte am 15. Dezember 2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Mit Beschluss vom 16. März 2016 übertrug das Bezirksgericht XXXX die Obsorge über den Beschwerdeführer auf den Kinder- und Jugendhilfeträger Wien.

3. Am 29. Juni 2017, rechtskräftig seit 3. Juli 2017, verurteilte das Landesgericht XXXX den Beschwerdeführer zu AZ 151 Hv 39/17p wegen des Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs. 2a Suchtmittelgesetz (SMG) zu einer Freiheitsstrafe von sechs Wochen, welche unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde.

4. Bei der Einvernahme vor dem BFA am 14. März 2018 gab der Beschwerdeführer zusammengefasst an, dass die Taliban seinen Vater getötet hätten, da dieser ihnen kein Auto habe verkaufen wollen. Wenige Tage später hätten die Taliban ihn selbst verschleppt und versucht, ihn zu einem Selbstmordattentäter auszubilden. Er habe nach mehreren Stunden fliehen können und würde bei einer nunmehrigen Rückkehr asylrelevant verfolgt werden.

5. Am 22. März 2018, rechtskräftig seit 31. Juli 2018, verurteilte das Landesgericht XXXX den Beschwerdeführer zu AZ 612 Hv 8/17v wegen des Verbrechens der absichtlichen schweren Körperverletzung nach §§ 15 und 87 Abs. 1 Strafgesetzbuch (StGB) sowie wegen des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 StGB unter Bedachtnahme auf das Urteil zu AZ 151 Hv 39/17p zu einer Freiheitsstrafe von 24 Monaten, wobei 16 Monate unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurden (Tatzeitpunkt: 30. Mai 2017).

6. Mit dem (hier) angefochtenen Bescheid wies das BFA den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) sowie des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III.), erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.), stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.), gewährte ihm keine Frist für eine freiwillige Ausreise (Spruchpunkt VI.), erkannte einer Beschwerde gegen diese Entscheidung die aufschiebende Wirkung ab (Spruchpunkt VII.), stellte fest, dass der Beschwerdeführer das Recht zum Aufenthalt im Bundesgebiet verloren habe (Spruchpunkt VIII.) und erließ gegen ihn ein auf die Dauer von fünf Jahren befristetes Einreiseverbot (Spruchpunkt IX.).

Begründend führte das BFA im Wesentlichen aus, der Beschwerdeführer sei in Afghanistan keiner asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt gewesen. So drohe ihm etwa keine Verfolgung durch die Taliban. Das Fluchtvorbringen sei unglaubwürdig, da der Beschwerdeführer zunächst angegeben habe, zu Hause, später – in Widerspruch dazu – vor dem Geschäft seines Vaters entführt worden zu sein. Auch sei nicht plausibel, wie es dem Beschwerdeführer möglich gewesen sein soll, gefesselt durch das Fenster eines geschlossenen Raumes vor einer Gruppe von etwa 50 Taliban zu fliehen. Überdies habe der Beschwerdeführer die behauptete Entführungssituation nur wenig detailreich schildern können.

Weiters führte das BFA aus, dass der Beschwerdeführer sein Aufenthaltsrecht bereits durch die Anklageerhebung am 17. Mai 2017 vor dem Landesgericht XXXX gemäß § 13 Abs. 2 Z 1 i.V.m. § 13 Abs. 1 AsylG ex lege verloren habe. Auch sei die Verhängung eines fünfjährigen Einreiseverbotes jedenfalls gerechtfertigt, da der Beschwerdeführer bereits mehrfach wegen SMG-Delikten angezeigt und bereits einmal verurteilt worden sei. Überdies sei mittlerweile gegen ihn Anklage beim Landesgericht XXXX wegen §§ 15, 75 und 83 Abs. 1 StGB erhoben worden.

7. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde, welche er mit dem Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung verband.

Begründend bringt er zusammengefasst vor:

Ihm drohe bei einer Rückkehr eine asylrelevante und landesweite Verfolgung aufgrund einer (zumindest unterstellten) talibanfeindlichen Gesinnung.

Bezüglich der Erlassung eines Einreiseverbotes bzw. dessen Ausmaßes reiche es jedenfalls nicht aus, bloß auf das im Urteil angeführte Fehlverhalten zu verweisen, ohne selbst eine Beweiswürdigung vorzunehmen. Eine solche wäre jedoch aufgrund einer gesetzlich gebotenen Interessensabwägung notwendig gewesen. Zudem würde die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde eine Verletzung des Art. 2 und 3 EMRK bewirken.

8. Mit Beschluss vom 19. Juni 2018 erkannte das Bundesverwaltungsgericht der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zu.

9. Am 12. August 2021 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, in welcher am Ende das vorliegende Erkenntnis mündlich verkündet wurde.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen

1.1. Zum Beschwerdeführer

1.1.1. Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger, bekennt sich zum schiitisch-muslimischen Glauben, gehört der Volksgruppe Paschtunen an, wurde in der Provinz Nangarhar geboren und spricht Paschtu als seine Muttersprache.

Ungefähr im Jahr 2008 übersiedelte er gemeinsam mit seinen Eltern in die Provinz Ghazni, wo er bis zu seiner Ausreise aus Afghanistan im Jahr 2015 lebte. In Ghazni besuchte der Beschwerdeführer etwa ein halbes Jahr lang die Schule, erhielt ansonsten jedoch keinerlei Schul- oder Berufsausbildung.

Es konnte nicht festgestellt werden, ob die Mutter und die Geschwister des Beschwerdeführers sowie sein Onkel mütterlicherseits nach wie vor in Afghanistan leben, da er zu diesen keinen Kontakt hat.

Es konnte nicht festgestellt werden, dass die Taliban den Beschwerdeführer entführten und im Zuge dessen unter Anwendung von Zwang versuchten, zu rekrutieren sowie, dass der Beschwerdeführer sich diesem Zwangsrekrutierungsversuch durch seine Flucht entzog.

Im Herbst 2015 verließ der Beschwerdeführer Afghanistan und reiste schlepperunterstützt nach Österreich ein, wo er am 15. Dezember 2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

1.1.2. Am 29. Juni 2017, rechtskräftig seit 3. Juli 2017, verurteilte das Landesgericht XXXX den Beschwerdeführer zu AZ 151 Hv 39/17p wegen des Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs. 2 a SMG zu einer Freiheitsstrafe von sechs Wochen, welche unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde.

Am 22. März 2018, rechtskräftig seit 31. Juli 2018, verurteilte das Landesgericht XXXX den Beschwerdeführer zu AZ 612 Hv 8/17v wegen des Verbrechens der absichtlichen schweren Körperverletzung nach §§ 15 und 87 Abs. 1 Strafgesetzbuch (StGB) sowie wegen des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 StGB unter Bedachtnahme auf das Urteil zu AZ 151 Hv 39/17p zu einer Freiheitsstrafe von 24 Monaten, wobei 16 Monate unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurden (Tatzeitpunkt: 30. Mai 2017).

1.1.3. Der Beschwerdeführer besuchte in Österreich im Schuljahr 2015/2016 die Öffentliche Neue Mittelschule in XXXX Wien, anschließend im Schuljahr 2016/2017 ein Jahr lang die Öffentliche Polytechnische Schule in XXXX Wien. Er absolvierte in Österreich Deutschkurse auf Sprachniveau A2 und spricht gut Deutsch. Er hat einen großen Freundeskreis in Österreich und möchte Kellner werden. Zudem verfügt er über einen Arbeitsvorvertrag als Verkäufer.

1.1.4. Der Beschwerdeführer leidet an einer posttraumatischen Belastungsstörung und befindet sich in engmaschiger sozialarbeiterischer und psychologischer Betreuung.

1.2. Zur hier relevanten Situation in Afghanistan

Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 11. Juni 2021

-        Weekly Humanitarian Update des United Nations Office for the Coordination of Humnaitarian Affairs, Afghanistan, Stand 1. August 2021

-        Kurzinformation der Staatendokumentation, Entwicklung der Sicherheitslage in Afghanistan, Stand 2. August 2021

-        Briefing Notes der Gruppe 62 – Informationszentrum Asyl und Migration – des deutschen Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge zu Afghanistan, Stand 9. August 2021

-        Landinfo Report zu Afghanistan vom 29. Juni 2017: Rekrutierung durch die Taliban

1.2.1. Sicherheitslage in Afghanistan

Im Berichtszeitraum ist der Konflikt zwischen der afghanischen Armee (ANSF) und nichtstaatlichen-bewaffneten Gruppierungen vor allem in den Provinzhauptstädten Kandahar-Stadt, Provinz Kandahar und Lashkargah, Provinz Helmand, eskaliert. Die anhaltenden Kämpfe in Kandahar und Helmad führen zu Vertreibungen von Zivilisten in ruhigere Regionen in der Nähe der Provinzhauptstädte sowie in benachbarte Distrikte. Zudem gibt es vermehrt Berichte über den Anstieg der Zahl ziviler Opfer sowie von Beschädigungen oder Zerstörungen ziviler Einrichtungen, wie Kranken- und Wohnhäuser, in Kandahar und Lashkargah. Auch steigt der Druck auf die dortigen Krankenhäuser, da diese vermehrt verwundete Zivilisten behandeln müssen. So beschränken sich manche Krankenhäuser bereits auf die Behandlung von Patienten, welche aufgrund des herrschenden Konflikts verwundet werden.

Die Sicherheitslage im Westen Afghanistans verschlechtert sich zunehmend, so finden bewaffnete Kämpfe auch in verschiedenen Distrikten der Provinz Herat und sogar bereits in Herat-Stadt statt. Die weiterhin stattfindenden bewaffneten Kämpfe stellen ein zunehmendes Risiko für Zivilisten und humanitäre Hilfsorganisationen dar.

(Weekly Humanitarian Update des United Nations Office for the Coordination of Humnaitarian Affairs, Afghanistan, Stand 1. August 2021)

In Afghanistan ist die Zahl der konfliktbedingten Todesopfer derzeit so hoch wie nie zuvor seit Beginn der Aufzeichnungen durch UNHCR, mit durchschnittlich 500-600 Sicherheitsvorfällen pro Woche. Berichten zufolge liegt die Gebietskontrolle der Regierung auf dem niedrigsten Stand seit 2001. Nach Angaben des Long War Journals (LWJ) kontrollieren die Taliban 223 der 407 Distrikte Afghanistan. Die Regierungstruppen kämpfen aktuell (Ende Juli / Anfang August 2021) gegen Angriffe der Taliban auf größere Städte, darunter Herat, Lashkar Gah und Kandahar, dessen Flughafen von den Taliban bombardiert wurde. Zwischen 1.1.2021 und 30.6.2021 dokumentierte UNAMA 5.183 zivile Opfer und fast eine Verdreifachung der zivilen Opfer durch den Einsatz von improvisierten Sprengsätzen (IEDs) durch regierungsfeindliche Kräfte. Zwischen Mai und Juni 2021 gab es nach Angaben von UNAMA fast soviele zivile Opfer wie in den vier Monate davor. Nach Angaben von Human Rights Watch (HRW) halten die Taliban hunderte Einwohner der Provinz Kandarhar fest, denen sie vorwerfen mit der Regierung in Verbindung zu stehen. Berichten zufolge haben die Taliban einige Gefangene getötet, darunter Angehörige von Beamten der Provinzregierung sowie Mitglieder der Polizei und der Armee.

(Kurzinformation der Staatendokumentation, Entwicklung der Sicherheitslage in Afghanistan, Stand 2. August 2021, S. 2 f)

Bei Kämpfen um die Stadt Lashkargah in der Provinz Helmand sollen am 08.08.21 durch Luftangriffe eine Schule und ein Krankenhaus zerstört und 20 Zivilpersonen getötet worden sein. Am 06.08.21 wurde berichtet, es habe alleine im letzten Monat über 1.000 zivile Opfer im Land gegeben. Am 05.08.21 hätten die Taliban den Historiker und Dichter Abdullah Atefi zu Tode gefoltert. Am 04.08.21 meldete die unabhängige afghanische Menschenrechtskommission (AIHRC), dass in den letzten drei Monaten 900.000 Menschen inländisch vertrieben worden seien. Am selben Tag sei eine junge Frau in der Provinz Balkh von den Taliban für ihren fehlenden Schleier, enge Kleidung und fehlende männliche Begleitung erschossen worden. Am 03.08.21 wurde berichtet, dass in den letzten zwei Monaten in den Distrikten Ghaziabad und Nari der Provinz Kunar 50.000 Personen aufgrund der Kämpfe vertrieben worden sein. Am selben Tag hieß es auf der Seite der Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA), in den letzten drei Tagen seien zehn Zivilpersonen in der Stadt Lashkargah getötet und 85 verletzt worden. In der Stadt Kandahar seien fünf getötet und 42 verletzt worden. Gerade auch zunehmende Luftangriffe der Armee hätten zu mehr zivilen Opfern geführt. Am 02.08.21 bezichtigten die Regierungen der USA und GBR die Taliban Kriegsverbrechen in den Provinzen Kandahar (Grenzübergang Spin Boldak) an Zivilpersonen und an den Hazara im Distrikt Malistan in der Provinz Ghazni begangen zu haben. Am 31.07.21 wurde gemeldet, die Hazara im Hochland von Bamiyan befürchteten die Einnahme des Gebietes und Menschenrechtsverbrechen durch die Taliban. Eine von zehn Personen hätte die Stadt Bamiyan schon verlassen.

Laut des Long War Journal (LWJ) kontrollieren die Taliban am 09.08.21 mittlerweile 229 Distrikte, die Regierung 66 Distrikte und 112 seien umkämpft. Am 08.08.21 hätten die Taliban laut LWJ die Provinzhauptstädte Kunduz (Provinz Kunduz), Sar-e Pol (Sar-e Pol) und Taloqan (Takhar) eingenommen. Zuvor seien schon die Provinzhauptstadt, und gleichzeitiger Grenzübergang, Zaranj und deren lukrative Zollstelle in der Provinz Nimroz ohne Kampfhandlungen sowie die Stadt Sheberghan in der Provinz Jawzjan (Heimatstadt von General Dostum) an die Taliban gefallen. In letzteren beiden Städten sei berichtet worden, dass Regierungsgebäude geplündert würden und Häftlinge aus Gefängnissen befreit worden seien. Viele der Grenzübergänge Afghanistans sind mittlerweile in der Hand der Taliban (vgl. BN v. 19.07.21). Aus der Stadt Zaranj flohen bisher viele Zivilpersonen in den Iran (vgl. BN v. 02.08.21). Laut führender Taliban-Kommandeure (u.a. Mullah Yaqoob, der bisher als moderat galt) sei es das erklärte Ziel die Städte Kandahar, Herat und Lashkargah (insbesondere auch die Flughäfen in Kandahar und Herat) und weitere Provinzhauptstädte einzunehmen. Am 08.08.21 begann die afghanische Armee mit einer Gegenoffensive um die Städte zurückzuerobern.

Am 04.08.21 sei ein Sprengsatz vor dem Haus des amtierenden Verteidigungsministers Bismillah Mohammadi in Kabul explodiert und anschließend hätten Bewaffnete eines Taliban-Märtyrer-Battalions das Haus gestürmt, dabei seien acht Personen getötet und 20 verletzt worden (u.a. die Angreifer). Der Minister sei nicht darunter gewesen. Dies sei laut Taliban der Beginn einer Vergeltungskampagne gegen führende Politiker der Regierung. Eine weitere Explosion am selben Tag vor dem Gebäude des Nationale Directorate of Security (NDS) in Kabul habe vier Zivilpersonen und eine Sicherheitskraft verletzt. Am selben Tag habe die afghanische Regierung den UN-Sicherheitsrat zu einer Sondersitzung aufgerufen, um so internationalen Beistand im Kampf gegen die Taliban zu bekommen.

Es gebe Kämpfe in der Innenstadt in der Nähe von Regierungsgebäuden, dem Polizeihauptquartier und den Gefängnissen. Am 02.08.21 wurde berichtet, die Taliban hätten mehrere Fernsehstationen und Radiosender in der Stadt Lashkargah eingenommen.

(Briefing Notes zu Afghanistan des BAMF, Stand 9. August 2021, S. 1 f)

1.2.2. Ethnische Gruppen

In Afghanistan leben laut Schätzungen zwischen 32 und 36 Millionen Menschen. Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht. Schätzungen zufolge sind: 40 bis 42% Paschtunen, 27 bis 30% Tadschiken, 9 bis 10% Hazara, 9% Usbeken, ca. 4% Aimaken, 3% Turkmenen und 2% Belutschen. Weiters leben in Afghanistan eine große Zahl an kleinen und kleinsten Völkern und Stämmen, die Sprachen aus unterschiedlichsten Sprachfamilien sprechen.

Artikel 4 der Verfassung Afghanistans besagt: „Die Nation Afghanistans besteht aus den Völkerschaften der Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Paschai, Nuristani, Aimak, Araber, Kirgisen, Qizilbasch, Gojar, Brahui und anderen Völkerschaften. Das Wort ‚Afghane‘ wird für jeden Staatsbürger der Nation Afghanistans verwendet“. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnischen Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung (Artikel 16) sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt, wo die Mehrheit der Bevölkerung (auch) eine dieser Sprachen spricht: Usbekisch, Turkmenisch, Belutschisch, Pashai, Nuristani und Pamiri. Es gibt keine Hinweise, dass bestimmte soziale Gruppen ausgeschlossen werden. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Nichtsdestotrotz, beschweren sich unterschiedliche ethnische Gruppen, keinen Zugang zu staatlicher Anstellung in Provinzen zu haben, in denen sie eine Minderheit darstellen.

Der Gleichheitsgrundsatz ist in der afghanischen Verfassung rechtlich verankert, wird allerdings in der gesellschaftlichen Praxis immer wieder konterkariert. Soziale Diskriminierung und Ausgrenzung anderer ethnischer Gruppen und Religionen im Alltag bestehen fort und werden nicht zuverlässig durch staatliche Gegenmaßnahmen verhindert. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen.

Paschtunen

Ethnische Paschtunen sind mit ca. 40 % der Gesamtbevölkerung die größte Ethnie Afghanistans. Sie sprechen Paschtu/Pashto; als Verkehrssprache sprechen viele auch Dari. Sie sind sunnitische Muslime (MRG o.D.e). Die Paschtunen haben viele Sitze in beiden Häusern des Parlaments - jedoch nicht mehr als 50 % der Gesamtsitze. Die Paschtunen sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 44 % in der Afghan National Army (ANA) und der Afghan National Police (ANP) repräsentiert.

Paschtunen siedeln in einem halbmondförmigen Gebiet, das sich von Nordwestafghanistan über den gesamten Süden und die Gebiete östlich von Kabul bis in den Nordwesten Pakistans erstreckt. Kleinere Gruppen sind über das gesamte Land verstreut, auch im Norden des Landes, wo Paschtunen Ende des 19. Jahrhunderts speziell angesiedelt wurden und sich seitdem auch selbst angesiedelt haben.

Grundlage des paschtunischen Selbstverständnisses sind ihre genealogischen Überlieferungen und die darauf beruhende Stammesstruktur. Eng mit der Stammesstruktur verbunden ist ein komplexes System von Wertvorstellungen und Verhaltensrichtlinien, die häufig unter dem Namen Paschtunwali zusammengefasst werden und die besagen, dass es für einen Paschtunen nicht ausreicht, Paschtu zu sprechen, sondern dass man auch die Regeln dieses Ehren- und Verhaltenskodex befolgen muss. Die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stammlinienverband bedeutet viele Verpflichtungen, aber auch Rechte, weshalb sich solche Verbände als Solidaritätsgruppen verstehen lassen.

Die Taliban sind eine vorwiegend paschtunische Bewegung, werden aber nicht als nationalistische Bewegung gesehen. Die Taliban rekrutieren auch aus anderen ethnischen Gruppen. Die Unterstützung der Taliban durch paschtunische Stämme ist oftmals in der Marginalisierung einzelner Stämme durch die Regierung und im Konkurrenzverhalten oder der Rivalität zwischen unterschiedlichen Stämmen begründet.

(Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 11. Juni 2021, S. 302 ff)

1.2.3. Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität.

Taliban

Die Taliban sind seit Jahrzehnten in Afghanistan aktiv. Die Taliban-Führung regierte Afghanistan zwischen 1996 und 2001, als sie von US-amerikanischen/internationalen Streitkräften entmachtet wurde; nach ihrer Entmachtung hat sie weiterhin einen Aufstand geführt. Seit 2001 hat die Gruppe einige Schlüsselprinzipien beibehalten, darunter eine strenge Auslegung der Scharia in den von ihr kontrollierten Gebieten.

Die Taliban sind eine religiös motivierte, religiös konservative Bewegung, die das, was sie als ihre zentralen „Werte“ betrachten, nicht aufgeben wird. Wie sich diese Werte in einer künftigen Verfassung widerspiegeln und in der konkreten Politik einer eventuellen Regierung der Machtteilung, die die Taliban einschließt, zum Tragen kommen, hängt von den täglichen politischen Verhandlungen zwischen den verschiedenen politischen Kräften und dem Kräfteverhältnis zwischen ihnen ab. Sie sehen sich nicht als bloße Rebellengruppe, sondern als eine Regierung im Wartestand und bezeichnen sich selbst als „Islamisches Emirat Afghanistan“, der Name, den sie benutzten, als sie von 1996 bis zu ihrem Sturz nach den Anschlägen vom 11.9.2001 an der Macht waren.

(Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 11. Juni 2021, S. 239 f)

1.2.4. Rekrutierung durch die Taliban

Menschen schließen sich den Taliban zum einen aus materiellen und wirtschaftlichen Gründen zum anderen aus kulturellen und religiösen Gründen an. Die Rekruten sind durch Armut, fehlende Chancen und die Tatsache, dass die Taliban relativ gute Löhne bieten, motiviert. Es spielt auch die Vorstellung, dass die Behörden und die internationale Gemeinschaft den Islam und die traditionellen Standards nicht respektieren würden, eine zentrale Rolle, wobei sich die Motive überschneiden. Bei Elitetruppen sind beide Parameter stark ausgeprägt. Sympathisanten der Taliban sind Einzelpersonen und Gruppen, vielfach junger Männer, deren Motiv der Wunsch nach Rache, Heldentum gepaart mit religiösen und wirtschaftlichen Gründen sind. Die Billigung der Taliban in der Bevölkerung ist nicht durch religiöse Radikalisierung bedingt, sondern Ausdruck der Unzufriedenheit über Korruption und Misswirtschaft.

Die Taliban sind aktiver als bisher bemüht Personen mit militärischem Hintergrund sowie mit militärischen Fertigkeiten zu rekrutieren. Die Taliban versuchen daher das Personal der afghanischen Sicherheitskräfte auf ihre Seite zu ziehen. Da ein Schwerpunkt auf militärisches Wissen und Erfahrungen gelegt wird, ist mit einem Anstieg des Durchschnittsalters zu rechnen. Durch das Anwerben von Personen mit militärischem Hintergrund bzw. von Mitgliedern der Sicherheitskräfte erhalten Taliban Waffen, Uniformen und Wissen über die Sicherheitskräfte. Auch Personen die über Knowhow und Qualifikationen verfügen (z.B. Reparatur von Waffen), können von Interesse für die Taliban sein.

Die Mehrheit der Taliban sind Paschtunen. Die Rekrutierung aus anderen ethnischen Gruppen ist weniger üblich. Um eine breitere Außenwirkung zu bekommen, möchte die Talibanführung eine stärkere multiethnische Bewegung entwickeln. Die Zahl der mobilisierten Hazara ist unerheblich, nur wenige Kommandanten der Hazara sind mit Taliban verbündet. Es ist für die Taliban wichtig sich auf die Rekruten verlassen zu können.

Die Taliban waren mit ihrer Expansion noch nicht genötigt Zwangsmaßnahmen zur Rekrutierung anzuwenden. Zwangsrekrutierung ist noch kein herausragendes Merkmal für den Konflikt. Die Taliban bedienen sich nur sehr vereinzelt der Zwangsrekrutierung, indem sie männliche Dorfbewohner in von ihnen kontrollierten Gebieten, die mit der Sache nicht sympathisieren, zwingen, als Lastenträger zu dienen. Die Taliban betreiben eine Zwangsrekrutierung nicht automatisch. Personen die sich gegen die Rekrutierung wehren, werden keine rechtsverletzenden Sanktionen angedroht. Die Taliban haben ausreichend Zugriff zu freiwilligen Rekruten. Zudem ist es schwierig einen Afghanen zu zwingen, gegen seinen Willen gegen jemanden oder etwas zu kämpfen.

Im Kontext Afghanistans verläuft die Grenze zwischen Jungen und Mann fließend. Ausschlaggebend für diese Beurteilung sind Faktoren wie Pubertät, Bartwuchs, Mut, Unabhängigkeit, Stärke und die Fähigkeit die erweiterte Familie zu repräsentieren. Der Familienälteste ist das Oberhaupt, absolute Loyalität gegenüber getroffenen Entscheidungen wird vorausgesetzt. Kinder unterstehen der Obrigkeit der erweiterten Familie. Es stünde im Widerspruch mit der afghanischen Kultur, würde man Kinder gegen den Wunsch der Familie und ohne entsprechende Entscheidung des Familienverbandes aus dem Familienverband „herauslösen“.

(Landinfo Report zu Afghanistan vom 29.06.2017: Rekrutierung durch die Taliban)

2. Beweiswürdigung

Der festgestellte Sachverhalt stützt sich auf die im Rahmen der Feststellungen jeweils in Klammer angeführten Beweismittel und im Übrigen auf nachstehende Beweiswürdigung:

2.1. Die Feststellungen zu den persönlichen Daten sowie der Lebenssituation des Beschwerdeführers in Afghanistan beruhen auf den glaubwürdigen Angaben des Beschwerdeführers vor dem Bundesverwaltungsgericht sowie vor dem BFA (VHS vom 12. August 2021, S. 3 ff und NS vor dem BFA vom 14. März 2018 S. 3 ff).

2.2. Die Negativfeststellung hinsichtlich der Entführung und versuchten Zwangsrekrutierung des Beschwerdeführers durch die Taliban ergibt sich aus dessen widersprüchlichen und detailarmen Angaben. So konnte der Beschwerdeführer etwa nicht erklären, weshalb die Taliban seinen Vater wegen eines Autos töten, dieses jedoch am Tatort stehen lassen sollten (VHS, S. 7). Auch konnte der Beschwerdeführer nicht plausibel darlegen, wie es ihm – trotz gefesselter Hände – gelungen sein soll, aus einem Haus, welches von etwa 50 Taliban bewacht worden sein soll, zu fliehen (VHS, S. 8). Auch ist unplausibel und daher nicht glaubwürdig, dass der Beschwerdeführer, obwohl er nicht gewusst haben will, wohin ihn die Taliban entführt hätten, in einem ländlichen Gebiet nachts eine Straße findet, auf welcher zufällig eine Rikschah fährt, die ihn nach Hause bringt.

2.3. Die Feststellungen zu den strafgerichtlichen Verurteilungen des Beschwerdeführers ergeben sich aus dem Akt (Gekürzte Protokoll- und Urteilsausfertigung des Landesgerichts XXXX und OZ 10) sowie dem Strafregister.

2.4. Die Feststellungen zur Situation in Afghanistan beruhen auf den genannten – in das Verfahren eingeführten – Quellen. Angesichts der Seriosität dieser Quellen und der Plausibilität ihrer Aussagen besteht für das Bundesverwaltungsgericht kein Grund, an deren Richtigkeit zu zweifeln.

3. Rechtliche Beurteilung

3.1. Zur Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten

3.1.1. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) droht und keiner der in Art. 1 Abschnitt C oder F GFK genannten Endigungs- oder Ausschlussgründe vorliegt.

Gemäß § 3 Abs. 3 AsylG ist der Antrag abzuweisen, wenn dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG) offensteht oder er einen Asylausschlussgrund (§ 6 AsylG) gesetzt hat.

Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen.

3.1.2. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs ist zentraler Aspekt der in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK definierten Verfolgung im Herkunftsstaat die wohlbegründete Furcht davor. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (siehe zuletzt etwa VwGH 21.05.2021, Ra 2019/19/0428, m.w.N.).

3.1.3. Dem Beschwerdeführer droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan keine asylrelevante Verfolgung:

Wie bereits oben dargelegt, konnte der Beschwerdeführer die vorgebrachte Entführung sowie den damit einhergehenden Zwangsrekrutierungsversuch durch die Taliban nicht glaubhaft machen. Auch ist aus den Länderberichten ersichtlich, dass Zwangsrekrutierungen (insbesondere zur damaligen Zeit) nur vereinzelt stattfanden. So sind die Taliban – bzw. waren sie damals – vor allem auf der Suche nach Männern mit militärischem „Knowhow“ (siehe dazu auch VwGH 21.02.2020, Ra 2019/18/0073). Selbst für den Fall, dass die vom Beschwerdeführer vorgebrachte Entführung durch die Taliban tatsächlich stattgefunden hätte, fehlt es an einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr von den Taliban individuell verfolgt werden würde (siehe VwGH 18.03.2021, Ra 2020/18/0450 m.w.N.). Da der Beschwerdeführer keine sonstigen Fluchtgründe vorgebracht hat und sich auch sonst keine ergaben, konnte eine asylrelevante Verfolgungsgefahr nicht festgestellt werden.

3.2. Zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten

3.2.1. Gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG ist einem Fremden (unter anderem) bei Abweisung des Antrags auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status als Asylberechtigter der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn eine Zurückweisung oder Zurückschiebung in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

Die Beurteilung eines drohenden Verstoßes gegen Art. 2 oder 3 EMRK setzt eine Einzelfall-prüfung voraus, in deren Rahmen konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zu der Frage zu treffen sind, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr („real risk“) insbesondere einer gegen Art. 2 oder 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht. Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat (siehe etwa VwGH 23.01.2018, Ra 2017/20/0361, m.w.N.). Dabei ist auf den tatsächlichen Zielort eines Beschwerdeführers bei seiner Rückkehr abzustellen. Dies ist in der Regel seine Herkunftsregion, in die er typischerweise zurückkehren wird (siehe dazu etwa EuGH 17.02.2009, C-465/07, Elgafaji; VfGH 13.09.2013, U370/2012; VwGH 12.11.2014, Ra 2014/20/0029).

Gemäß § 8 Abs. 3 AsylG ist einem Fremden der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuzuerkennen, wenn für ihn eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG) offensteht. Eine innerstaatliche Fluchtalternative liegt dann vor, wenn in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates sowohl die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht vorliegen. Dabei ist auf die allgemeinen Gegebenheiten des Herkunftsstaates und auf die persönlichen Umstände des Asylwerbers zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag abzustellen (siehe VwGH 06.11.2018, Ra 2018/01/0106, mit Verweis auf VwGH 23.01.2018, Ra 2018/18/0001).

Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG ist einem Fremden, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wird, vom Bundesverwaltungsgericht gleichzeitig eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter zu erteilen. Die Aufenthaltsberechtigung gilt ein Jahr und wird im Falle des weiteren Vorliegens der Voraussetzungen über Antrag des Fremden vom Bundesamt für jeweils zwei weitere Jahre verlängert. Nach einem Antrag des Fremden besteht die Aufenthaltsberechtigung bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Verlängerung des Aufenthaltsrechts, wenn der Antrag auf Verlängerung vor Ablauf der Aufenthaltsberechtigung gestellt worden ist.

3.2.2. Gemäß § 8 Abs. 3 i.V.m. § 9 Abs. 2 Z 3 AsylG ist einem Fremden der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuzuerkennen, wenn er von einem inländischen Gericht wegen eines Verbrechens (§ 17 StGB) rechtskräftig verurteilt worden ist. Verbrechen gemäß § 17 StGB sind vorsätzliche Handlungen, die mit lebenslanger oder mit mehr als dreijähriger Freiheitsstrafe bedroht sind.

Jugendlicher im Sinne des § 1 Abs. 1 Z 2 Jugendgerichtsgesetz 1988 (JGG) ist, wer das vierzehnte Lebensjahr, aber noch nicht das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat. Eine Jugendstraftat ist gemäß § 1 Abs. 1 Z 4 JGG eine mit gerichtlicher Strafe bedrohte Handlung, die von einem Jugendlichen begangen wird. Gemäß § 5 Z 10 JGG treten bei Jugendstraftaten in gesetzlichen Bestimmungen vorgesehene Rechtsfolgen nicht ein.

Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu § 9 Abs. 2 Z 3 AsylG i.d.F. BGBl. I Nr. 145/2017 (siehe VwGH 23.01.2018, Ra 2017/18/0246) bezieht sich der Rechtsfolgenausschluss des § 5 Z 10 JGG jedenfalls auf Fälle: „in denen eine bundesgesetzlich angeordnete Rechtsfolge der Verurteilung eintreten würde, ohne dass es einer Anordnung durch die Verwaltungsbehörde bedürfte. […] Sehen die gesetzlichen Vorschriften nämlich vor, dass allein die strafrechtliche Verurteilung zwingend zu einer bestimmten Reaktion der Verwaltungsbehörde führen muss, ohne dass dieser bei ihrem Vorgehen ein eigenes Prüfkalkül zukäme, handelt es sich im Ergebnis auch um eine gesetzliche Rechtsfolge der Verurteilung im Sinne des § 5 Z 10 JGG.“ Folglich handelt es sich bei der Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach § 8 Abs. 3 i.V.m. § 9 Abs. 2 Z 3 AsylG i.d.F. BGBl. I Nr. 145/2017 um eine Rechtsfolge im Sinne des § 5 Z 10 JGG, die im Falle einer Jugendstraftat nicht eintritt.

Mit dem Fremdenrechtsänderungsgesetz 2018 (BGBl. I Nr. 56/2018) wurde – aus Anlass der soeben angeführten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes – § 2 Abs. 4 AsylG eingeführt, welcher mit 1. September 2018 in Kraft trat (§ 73 Abs. 20 AsylG) und wie folgt lautet: „Abweichend von § 5 Z 10 des Jugendgerichtsgesetzes 1988 – JGG, BGBl. Nr. 599/1988, liegt eine nach diesem Bundesgesetz maßgebliche gerichtliche Verurteilung auch vor, wenn sie wegen einer Jugendstraftat erfolgt ist“. § 2 Abs. 4 AsylG ist jedoch ausschließlich auf Sachverhalte anzuwenden, welche sich nach dem 31. August 2018 ereignet haben (siehe dazu VfGH 21.09.2020, G 172/2020).

3.2.3. Für den Beschwerdeführer bedeutet dies Folgendes:

In Anbetracht des zum Entscheidungszeitpunkt vorherrschenden innerstaatlichen Konflikts (im Sinne des § 8 Abs. 1 AsylG) zwischen der afghanischen Armee und den Taliban sowie der dadurch vorherrschenden volatilen Sicherheitslage konnte nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, dass für den Beschwerdeführer als Zivilperson mit der Abschiebung eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen Konflikts verbunden sein würde:

Zum Entscheidungszeitpunkt befand sich bereits ein signifikanter Teil der afghanischen Distrikte unter der Kontrolle der Taliban. Im Hinblick auf die Volatilität der Sicherheitslage, welche sich bereits aus der – zum Entscheidungszeitpunkt – nahezu täglich sich ändernden Situation in Afghanistan ergab, war bereits zum Entscheidungszeitpunkt kein Gebiet in Afghanistan vorhanden, in welchem das Leben des Beschwerdeführers als Zivilperson nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit durch den schwelenden innerstaatlichen Konflikt gefährdet gewesen wäre. Somit bestand (und besteht) für den Beschwerdeführer keine innerstaatliche Fluchtalternative im Sinne des § 11 AsylG.

Wie festgestellt, wurde der Beschwerdeführer von einem inländischen Gericht wegen des Verbrechens der absichtlichen schweren Körperverletzung nach §§ 15 und 87 Abs. 1 StGB rechtskräftig verurteilt. Der Beschwerdeführer war zum Tatzeitpunkt am 30. Mai 2017 noch minderjährig, weshalb es sich um eine Jugendstraftat im Sinne des § 1 Abs. 1 Z 4 JGG handelt. Da die Jugendstraftat (im Übrigen auch die Rechtskraft der strafgerichtlichen Verurteilung) vor dem 1. September 2018 erfolgte, ist sie vom Rechtsfolgenausschluss des § 5 Z 10 JGG umfasst. Demnach liegt im gegenständlichen Fall kein Ausschlussgrund im Sinne des § 9 Abs. 2 Z 3 AsylG vor (siehe wieder VwGH 23.01.2018, Ra 2017/18/0246).

3.2.4. Das Bundesverwaltungsgericht erkennt dem Beschwerdeführer mit vorliegendem Erkenntnis den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu, sodass ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung in der Dauer von einem Jahr zu erteilen ist.

Da die Aufenthaltsbewilligung für die Dauer von einem Jahr und somit bis zum 11. August 2022 – nicht (wie mündlich verkündet) fälschlicherweise bis zum 13. August 2022 – zu bewilligen ist, war Spruchpunkt II. des gegenständlichen Erkenntnisses dahingehend zu korrigieren, dass das Datum der erteilten Aufenthaltsbewilligung „11. August 2022“ zu lauten hat (siehe zur Berichtigung von offenkundigen Schreib- und Rechenfehlern etwa Hengstschläger/Leeb, AVG § 62, Rz 35ff und 45ff mit zahlreichen Verweisen auf die ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes).

3.3. Zur Ersatzlosen Behebung der übrigen Spruchpunkte

Aufgrund der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und der damit verbundenen Aufenthaltsberechtigung für den Beschwerdeführer liegen die Voraussetzungen für die Versagung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, die Anordnung einer Ausreiseverpflichtung sowie die Erlassung eines Einreiseverbotes nicht mehr vor, weshalb die Spruchpunkte III. bis VI. sowie VIII. und IX. des angefochtenen Bescheides zu beheben sind (siehe dazu VwGH 08.09.2015, Ra 2015/18/0134, m.w.N.).

Spruchpunkt VII. des angefochtenen Bescheides fiel bereits mit der Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung aus dem Rechtsbestand (siehe oben Punkt I.8.).

3.4. Zur Unzulässigkeit der Revision

3.4.1. Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

3.4.2. Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt: Dass dem Beschwerdeführer nicht der Status des Asylberechtigten, jedoch der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen ist, entspricht der oben angeführten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes.

Schlagworte

Aberkennungstatbestand § 9 Abs. 2 befristete Aufenthaltsberechtigung Entführung Glaubwürdigkeit Jugendstraftat Körperverletzung mangelnde Asylrelevanz Rückkehrsituation Sicherheitslage strafrechtliche Verurteilung subsidiärer Schutz Verfolgungsgefahr Zwangsrekrutierung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2021:W227.2198651.1.00

Im RIS seit

12.11.2021

Zuletzt aktualisiert am

12.11.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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