Entscheidungsdatum
28.09.2021Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W272 2152561-3/18E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. BRAUNSTEIN als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX , alias XXXX , geboren XXXX alias XXXX alias XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Burgenland, vom 11.09.2020, Zahl XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 08.04.2021, zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkte I. wird als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.
III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für die Dauer von einem Jahr erteilt.
IV. Die übrigen Spruchpunkt III., IV., V. und VI. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos behoben
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer (in der Folge BF), ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 26.06.2015 den ersten Antrag auf internationalen Schutz in Österreich im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (in der Folge AsylG). Im Rahmen der Erstbefragung gab er an, am XXXX in XXXX geboren und ledig zu sein, der Volksgruppe der Hazara anzugehören und sich zum schiitischen Islam zu bekennen. Seine Muttersprache sei Dari. Er habe acht Jahre lang die Grundschule besucht. Er habe Afghanistan verlassen, weil die Taliban seinen Vater getötet hätten. Er habe dies der Polizei gemeldet, die könne ihm aber nicht helfen.
2. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge BFA) hatte offenbar Zweifel an dem vom BF angegebenen Alter (Aktenvermerk Indikatoren für Altersfeststellung, Röntgenaufnahme der Hand) und veranlasste eine sachverständige Volljährigkeitsbeurteilung. Die Beurteilung ergab für den BF zum Untersuchungszeitpunkt vom 09.10.2015 den XXXX als „fiktives Geburtsdatum“, sodass der BF zum Antragszeitpunkt bereits volljährig war.
3. Am 07.09.2016 fand eine niederschriftliche Einvernahme des BF vor dem BFA statt. Der BF gab an, im Herkunftsstaat bis zu seiner Ausreise als Hilfsarbeiter in der Landwirtschaft und als Hirte gearbeitet zu haben. Seine Mutter und seine beiden Schwestern seien noch in Afghanistan, er telefoniere einmal im Monat mit ihnen. Er sei geflüchtet, weil sein Vater vor zwei oder drei Jahren, auf der Heimfahrt vom Arzt, von den Taliban ermordet worden sei. Er selbst habe nie Kontakt zu den Taliban gehabt und sei auch nie von ihnen bedroht worden.
4. Mit Bescheid vom 14.03.2017 wies das BFA den Antrag des BF auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) ab und erteilte dem BF keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen. Gegen den BF wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Entscheidung festgesetzt (Spruchpunkt IV.).
Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der BF seine Fluchtgründe nicht habe glaubhaft machen können. Es drohe dem BF auch keine Gefahr, die die Erteilung eines subsidiären Schutzes rechtfertigen würde. Der Beschwerdeführer sei ein gesunder, arbeitsfähiger Mann, der noch über ein familiäres Unterstützungsnetz in Afghanistan verfüge und somit bei seiner Rückkehr nicht in eine ausweglose Situation geraten würde. Der BF verfüge zudem in Österreich über kein schützenswertes Privat- und Familienleben, welches einer Rückkehrentscheidung entgegenstehe.
5. Mit Erkenntnis des BVwG W252 2152561-1/15E vom 23.11.2018 wurde der Bescheid bestätigt und die dagegen fristgerecht erhobene Beschwerde abgewiesen.
Begründend führte das BVwG aus, dass nicht erkannt werden könne, dass dem BF aus den von ihm ins Treffen geführten Gründen im Herkunftsstaat eine asylrelevante Verfolgung drohe. Angehörige der Religionsgemeinschaft der Schiiten oder der Volksgruppe der Hazara seien in Afghanistan allein aufgrund ihrer Religions- oder Volksgruppenzugehörigkeit keiner physischen und/oder psychischen Gewalt ausgesetzt. Der BF gelte aufgrund seines Aufenthalts in Europa in Afghanistan nicht als westlich orientiert und sei weder zum christlichen Glauben konvertiert, noch habe eine innere christliche Überzeugung festgestellt werden können. Der BF sei gesund, im erwerbsfähigen Alter, verfüge über eine achtjährige Schulbildung und jahrelange Berufserfahrung als Landwirt und Hirte. Er habe zwar nie in den Städten Herat und Mazar-e-Sharif gelebt und dort keine sozialen bzw. familiären Anknüpfungspunkte, habe aber den überwiegenden Teil seines Lebens in Afghanistan verbracht und sei deshalb mit den kulturellen Gepflogenheiten vertraut. Es sei daher nicht zu erkennen, dass der BF im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan und einer Ansiedlung in den Städten Mazar-e-Sharif und Herat in eine ausweglose Situation geraten und real Gefahr laufen würde, in seinen durch Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention geschützten Rechten verletzt zu werden. Eine Verletzung des Recht auf Privat- und Familienleben gemäß Art. 8 EMRK bestehe nicht, der BF habe keine Familienangehörigen oder sonstigen engen Nahebeziehungen in Österreich, eine kurze Aufenthaltsdauer von 3 ½ Jahren, nur geringfügige Deutschkenntnisse und gehe keiner Erwerbstätigkeit nach.
Die Zustellung des Erkenntnisses erfolgte am 26.11.2018 und erwuchs in Rechtskraft.
6. Der BF befand sich vom 12.12.2018 bis zum 06.03.2019 in Deutschland und vom 06.03.2019 bis zum 04.10.2019 in Frankreich. Am 04.10.2019 wurde der BF im Rahmen des Dubliner Übereinkommens aus Frankreich rücküberstellt.
7. Am 04.10.2019 stellte der BF einen neuerlichen Antrag auf internationalen Schutz, indem er angab, dieselben Fluchtgründe wie bisher zu haben. Zusätzlich gab er an, er sei „fast“ verheiratet. Darüber hinaus habe er nichts zu sagen. Er werde nur mit einem Richter sprechen.
8. Am 17.10.2019 fand unter Beisein eines Rechtsberaters und eines Dolmetschers für die Sprache Dari eine niederschriftliche Einvernahme vor dem BFA statt. Der BF brachte nunmehr vor, an einer psychischen Krankheit zu leiden und einen Termin bei einem Psychologen zu haben. So fange er an mit sich selbst zu reden, wenn er rausgehe. Er leide auch an Magenproblemen, nämlich Sodbrennen, und nehme deswegen auch Medikamente. Weiters gab er an, zwangsverheiratet worden zu sein. Sein Schwiegervater bedrohe ihn, dass er mit dessen Tochter zusammenleben müsse. Das wolle der BF aber nicht und seine „Frau“ habe darüber hinaus einen Freund, der wolle, dass er sich scheiden lasse. Im Fall einer Scheidung werde ihn der Schwiegervater töten. Des Weiteren brachte der BF vor, dass sein Vater getötet wurde, weil dieser ein Agent gewesen sei. Ein Brief, der dies bestätige, wurde am 24.10.2019 vorgelegt.
9. Mit Bescheid vom 17.12.2019 wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz hinsichtlich des Status als Asylberechtigter (Spruchpunkt I.) und hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurückgewiesen. Eine Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz nach § 57 AsylG wurde nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Weiters wurde gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55Abs. 1a FPG bestehe keine Frist für die freiwillige Ausreise (Spruchpunkt VI.) und es wurde gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 2 FPG ein auf zwei Jahre befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VII.). Dem BF wurde aufgetragen, die BS Ost AIBE Otto Glöckel-Straße 24-25, 2514 Traiskirchen als Unterkunft zu nehmen (Spruchpunkt VIII.).
Begründend führte das BFA aus, dass die vom BF vorgebrachten Gründe der neuerlichen Antragstellung bereits zum Zeitpunkt der Rechtskraft des Erstverfahrens bestanden hätten bzw. die Fluchtgründe unverändert seien. Ein neuer Sachverhalt, welcher im gegenständlichen Fall eine anderslautende Entscheidung in der Sache rechtfertigen würde, liege nicht vor. Der BF habe kein im Sinne des Art. 8 EMRK relevantes Familien- und Privatleben in Österreich, weswegen die Rückkehrentscheidung zulässig sei.
12. Gegen diesen Bescheid erhob der BF fristgerecht Beschwerde und brachte im Wesentlichen vor, das Verfahren sowie das Parteiengehör vor der Polizei sei grob mangelhaft gewesen, das neue Fluchtvorbringen sei ignoriert worden und die Länderfeststellungen seien unvollständig gewesen. Die belangte Behörde habe sich nicht mit dem Vorbringen des BF, dass er psychisch krank sei beschäftigt und kein psychiatrisches Gutachten erstellen lassen. Aufgrund des neuen Sachverhaltes – Zwangsverheiratung und psychische Erkrankung – hätte die Behörde nicht von einer entschiedenen Sache ausgehen dürfen und eine inhaltliche Entscheidung treffen müssen.
13. Mit Beschluss 02.01.2020 W272 2152561-2/2Z wurde der Beschwerde des BF die aufschiebende Wirkung gemäß § 17 Abs. 1 BFA-VG zuerkannt.
14. Mit Erkenntnis W272 2152561-2/12E vom 26.02.2020 gab das BVwG der Beschwerde gemäß § 21 Abs. 3 BFA-VG statt und hob den bekämpften Bescheid auf. Begründend wurde ausgeführt, dass sich der BF zwar auch in seinem zweiten Antrag auf internationalen Schutz auf eine Verfolgung durch die Taliban stützt, jedoch habe er bei seiner Einvernahme am 17.10.2019 ergänzend angegeben zwangsverheiratet worden zu sein und im Falle einer Scheidung mit dem Tod bedroht zu werden. Er brachte auch vor, er sei psychisch krank, habe Magenschmerzen und nehme Medikamente. Er habe auch ein Schreiben vorgelegt, das bestätige, dass sein Vater Spion sei und deshalb getötet worden sei. Die belangte Behörde habe sich zwar mit der Glaubwürdigkeit bzw. Unglaubwürdigkeit der Zwangsverheiratung und dem vorgelegten Schreiben der Taliban befasst, jedoch habe sie es unterlassen sich mit dem Vorbringen der psychischen Erkrankung und dem Magenleiden auseinanderzusetzen. Dementsprechende Erkrankungen seien durch den BF im Erstverfahren nicht vorgebracht worden. Es sei nicht erkennbar, ob den nunmehrigen Vorbringen ebenso die Rechtskraft des über den ersten Antrag absprechenden Erkenntnisses des BVwG entgegenstehe. Eine inhaltlich anderslautende Entscheidung erscheine nicht von vornherein ausgeschlossen. Im fortgesetzten Verfahren werde vom BFA jedenfalls eine weitere Einvernahme des BF durchzuführen sein, sowie eine Auseinandersetzung mit den vorgelegten Beweismitteln zu erfolgen haben.
15. Am 18.08.2020 fand eine niederschriftliche Einvernahme vor dem BFA statt, bei der der BF angab, dass sein Schwiegervater ihm drohe, seine Schwester zu töten, wenn der BF nicht zurückkomme und seine Tochter heirate. Der BF erklärte weiters, der Mann der seine Frau wolle, werde ihn zur Scheidung zwingen. Dieser Mann sei sehr einflussreich, weil jeder der Drohungen ausspreche, müsse sehr reich sein oder Hintermänner haben. Seine Mutter habe ihm erklärt, dass es sich bei diesem Mann um keinen normalen Menschen handle, er habe lediglich Drohungen ausgesprochen. Wie dieser Mann heiße, wisse er nicht. Befragt was der Auslöser für seine Ausreise aus Afghanistan gewesen sei, die acht Monate nach der angeblichen Ermordung seines Vaters stattgefunden habe, gab der BF an, dass er kein Geld gehabt habe und sich acht Monate in einem Versteck im Haus seiner Mutter und im Stall bei den Tieren aufgehalten habe. Befragt zu seinem Gesundheitszustand, gab der BF an, er habe Probleme mit dem Magen und nehme regelmäßig Medikamente gegen Sodbrennen. Er leide auch an psychischen Problemen, so rede er im Schlaf, wache nachts zitternd auf und habe Schweißausbrüche. Er habe deshalb Medikamente verschrieben bekommen und sei mehrmals bei Ärzten gewesen.
Der BF verzichtete auf die Möglichkeit eine Stellungnahme zu den Länderinformationen über Afghanistan abzugeben.
16. Mit Bescheid vom 11.09.2020 wies das BFA den Antrag des BF auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt I.) als auch bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt II.) ab und erteilte dem BF gemäß §57 AsylG keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III.). Gegen den BF wurde gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Entscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).
Begründend wurde ausgeführt, dass die Angaben des BF aus der ersten Asylverfahren sich nicht mit den Angaben auf dem zweiten Asylverfahren decken, weshalb im Rahmen der freien Beweiswürdigung ausgeführt werde, dass der BF keinesfalls über wahre Begebenheiten gesprochen hatte. So habe der BF völlig unerwähnt gelassen, von seiner Mutter in eine arrangierte Ehe gedrängt worden zu sein. Der BF habe auch nicht überzeugend darlegen können, wie jene Taliban-Angehörigen, die angeblich seinen Vater auf offener Straße ermordet hätte, eine Zuordnung des BF zu diesem Mordopfer anstellen konnten. Der vom BF vorgebrachte Sachverhalt biete keine Grundlage für eine Subsumierung unter § 3 AsylG 2005. Es seien keine Gründe ersichtlich, die im Falle einer Rückkehr eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung erkennen lassen würden. Der BF sei volljährig, arbeitsfähig und gesund, habe eine Schulbildung und Berufserfahrung und sei mit den kulturellen Gegebenheiten des Landes vertraut. Die gesundheitlichen Beeinträchtigungen die vom BF ins Treffen geführt wurden, seien auch in Afghanistan behandelbar und würden den Tatbestand eines „außergewöhnlichen Umstandes“ nicht erfüllen. Ein medizinisch begründetes Abschiebungshindernis liege ebenfalls nicht vor. Der BF verfüge über kein im Sinne des Art. 8 EMRK schützenswertes Familien- und Privatleben, dass einer Rückkehrentscheidung entgegenstehe.
17. Gegen den gegenständlichen Bescheid erhob der BF fristgerecht Beschwerde und führte darin im Wesentlichen aus, dass, der BF sowohl vom einflussreichen Freund seiner Frau als auch vom Vater seiner Frau mit dem Tod bedroht werde. Ihm drohe jedenfalls asylrelevante Verfolgung aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe sowie einer ihm unterstellten politischen/religiösen Gesinnung. Die belangte Behörde habe es unterlassen, den BF genauer darüber zu befragen, wie er sich vor der Taliban verstecken konnte ohne gefunden zu werden. Auch habe die Behörde schlicht aus dem Grund, weil er in Österreich nicht in eine geschlossene Anstalt eingeliefert wurde, pauschal festgestellt, dass alle gesundheitlichen und psychischen Probleme des BF in Afghanistan behandelbar seien. Eine innerstaatliche Fluchtalternative stehe dem BF als Rückkehrer aus dem Westen, Hazara und Schiit, der außerhalb seines Heimatortes kein familiäres Netzwerk habe, nicht offen. Zudem drohe ihm auch Stigmatisierung und Diskriminierung aufgrund seiner psychischen Erkrankung und würde ihm auch in Afghanistan nicht die notwendige medizinische Versorgung zukommen.
18. Am 08.04.2021 fand eine mündliche Verhandlung am BVwG im Beisein des BF, seines Rechtsberaters und einem Dolmetscher für die Sprache Dari statt.
Der BF legte folgende Unterlagen vor:
? Bescheid der Bezirkshauptmannschaft Oberwart vom März 2021 OW-GH 127919-4, dass der BF an Covid-19 erkrankt war und daher abgesondert wurde
? Gastroskopie- und Koloskopiebefunde vom 04.12.2019
? Histologische Befunde vom 27.01.2020, 28.09.2020 und 06.12.2019
? Blutbefund vom 08.01.2020
? Koloskopie Befund vom 23.01.2020
? Besuchsbestätigung LKH Hartberg vom 24.09.2020 und 22.09.2020
? L’Assurance Maldie vom 23.06.2020
? Endoskopischer Befund vom 24.09.2020
? Schreiben des Facharztes Allgemein Chirurgie vom 02.11.2020 an Frau XXXX
? Arztbrief von XXXX vom 02.11.2020 (Therapieempfehlung: Salofalk, 1000 mg 1x täglich für vier Wochen)
? Arztbrief vom 26.02.2021 (Therapieempfehlung wie vom 02.11.2020, Zusammenfassung: Proktitis ulcerosa)
? Schreiben der Diakonie an den BF, welche Tätigkeiten die Organisation „Jefira“ anbietet
? Mitteilung, dass der BF am 21.04.2021 eine Magenspiegelung hat
19. Mit Schreiben vom 18.05.2021 und 19.05.2021 erfolgten Anfragebeantwortungen der behandelnden Ärzte des BF an das Bundesverwaltungsgericht.
20. Mit Schreiben vom 04.08.2021 erfolgte eine Anfragebeantwortung zur Behandlung des BF im Herkunftsstaat bzw. bezüglich der Verfügbarkeit von Medikamenten.
21. Mit Schreiben vom 26.08.2021 gewährte das Bundesverwaltungsgericht ein Parteiengehör zu den aktuellen Länderberichten und medizinischen Anfragebeantwortungen. Es langte keine Stellungnahme ein.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat über die – zulässige – Beschwerde erwogen:
1. Feststellungen:
Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage der Beschwerde gegen den angefochtenen Bescheid des BFA, der im Verfahren vorgelegten Dokumente, der Einsichtnahme in den bezughabenden Verwaltungsakt, der mündlichen Verhandlungen vor dem Bundesverwaltungsgericht sowie der Einsichtnahme in das Zentrale Melderegister, das Zentrale Fremdenregister und Strafregister werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:
1.1. Zur Person des BF:
Der volljährige BF ist afghanischer Staatsangehöriger und führt das Geburtsdatum XXXX . Er ist ledig und hat keine Sorgepflichten. Er gehört der Volksgruppe der Hazara an und bekennt sich zum schiitischen Islam. Er wurde in der Provinz Ghazni, im Distrikt XXXX , im Dorf XXXX geboren und lebte dort bis zu seiner Ausreise mit seiner Mutter und seinen zwei Schwestern. Sein Vater ist verstorben. Zu seiner Familie in Afghanistan hat er regelmäßig Kontakt.
In Afghanistan besuchte der BF acht Jahre lang die Schule. Seine Muttersprache ist Dari und spricht er auch Farsi.
Der BF hat Berufserfahrung in der Landwirtschaft und als Hirte.
Dem BF wurde sein erster Antrag auf internationalen Schutz seitens des BFA nicht zuerkannt und seine dahingehende Beschwerde vom BVwG mit GZ W252 2152561/1/15E in allen Spruchpunkten als unbegründet abgewiesen. Nach Abweisung der Beschwerde verließ der BF das österreichische Bundesgebiet und hielt sich von 12.12.2018 bis 06.03.2019 in Deutschland und von 06.03.2019 bis 04.10.2019 in Frankreich auf. Nach Rücküberstellung nach Österreich, stellte er am 04.10.2019 einen Folgeantrag.
Der BF steht wegen einer diagnostizierten Proktitis ulcerosa (spezifische Dickdarmentzündung) in ärztlicher Behandlung. Er leidet auch an Magenschmerzen und Sodbrennen. Der Patient nimmt Bedarfsmedikationen für Sodbrennen und nahm Salofalk 1000 mg, dies entspricht Claversal 1000 mg und derzeit Mesagran 1x täglich 3000 mg. Trittico 25 mg nimmt der BF bei Bedarf aufgrund psychischen Störungen. Es kann nicht gewährleistet werden, dass der BF in seinem Herkunftsstaat die Dauermedikation derzeit erhält, bzw. sind diese mit Ausnahme bei öffentlichen stationärem Aufenthalt kostenpflichtig. Es kann nicht festgestellt werden, ob der BF eine entsprechende weiterlaufende Untersuchung für den Bereich der Gastritis erhält.
Anfang März 2021 erkrankte der BF an Corona, wovon er sich gut erholt hat. Insbesondere leidet er an keinen Nachwirkungen. Schwerwiegende oder lebensbedrohliche Krankheiten liegen beim BF nicht vor. Er ist arbeitsfähig und grundsätzlich seinem Alter entsprechend entwickelt. Der BF war wegen psychischen Problemen – Selbstgesprächen, Schlafstörungen – im Zeitraum von 13.03.2020 bis 05.06.2020 in psychotherapeutischer Behandlung. Ein weiterer medizinischer Befund liegt nicht vor.
Der BF ist nach den afghanischen Gepflogenheiten und der afghanischen Kultur sozialisiert, er ist mit den afghanischen Gepflogenheiten vertraut.
Der BF ist in seinem Herkunftsstaat nicht vorbestraft, war dort nie inhaftiert, war kein Mitglied einer politischen Partei oder sonstigen Gruppierung, er hat sich nicht politisch betätigt und hatte keine Probleme mit staatlichen Einrichtungen oder Behörden im Herkunftsland.
Der BF ist strafrechtlich unbescholten.
Während seines Aufenthalts in der Gemeinde Marchtrenk, von 11.01.2016 bis zu seiner Ausreise aus dem Bundesgebiet am 12.12.2018, erledigte der BF gemeinnützig anfallende Arbeiten wie Rasen mähen und Straßenreinigung. Er lebt von der Grundversorgung. Der BF besucht seit einen online A1-Deutschkurs an der Volkshochschule. Eine Bestätigung konnte er nicht vorlegen. Er hat keine familiären Anknüpfungspunkte in Österreich und schloss zu keinem Zeitpunkt Freundschaften mit Österreichern.
1.2. Zu den Fluchtgründen des BF:
Nicht als Sachverhalt zugrunde gelegt werden sämtliche Angaben des BF zur behaupteten Bedrohungssituation in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan. Insbesondere wird festgestellt, dass der BF keiner konkreten Bedrohung bzw. Verfolgung durch die Taliban ausgesetzt war. Weiters wird festgestellt, dass der BF nicht zwangsverheiratet wurde, weswegen ihm auch weder von Seiten seines „Schwiegervaters“ noch des Freundes seiner „Gattin“ Verfolgung droht. Letztlich wird auch keine Verfolgung des BF aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara oder seines Bekenntnisses zum schiitischen Islam festgestellt.
Es wird festgestellt, dass der BF wegen Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Ansichten von staatlicher Seite oder von Seiten Dritter nicht bedroht oder verfolgt wurde.
1.3. Zur Situation im Fall einer Rückkehr des BF in sein Herkunftsland:
Es wird festgestellt, dass der BF im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan aus Gründen seiner Volksgruppenzugehörigkeit, seiner Rasse, Religion, Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Ansichten von staatlicher Seite oder von Seiten Dritter keiner Gefährdung ausgesetzt ist.
Dem Beschwerdeführer ist eine Rückkehr nach Afghanistan nicht möglich. Seit Beginn des Abzugs der internationalen Truppen hat sich die Sicherheitslage in Afghanistan drastisch verschlechtert. Es kam zu verstärkten Kampfhandlungen zwischen den Taliban und Regierungstruppen in ganz Afghanistan, welche derzeit beendet sind und einzelne Kämpfe stattfinden.
Aktuell kontrollieren die Taliban das gesamte Land und es kommt zu schwerwiegenden Übergriffen von Taliban-Kämpfern, die von der Durchsetzung strenger sozialer Einschränkungen bis hin zu Verhaftungen, Hinrichtungen im Schnellverfahren und Entführungen sowie Hinrichtungen von Zivilisten und Zivilistinnen und grobe Menschenrechtsverletzungen umfassen.
Dem Beschwerdeführer würde daher bei einer Rückkehr nach Afghanistan und einer Wiederansiedelung in seiner Herkunftsprovinz Ghazni im Distkrikt XXXX oder einer Neuansiedelung in größeren Städten wie Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif aufgrund der derzeit herrschenden allgemeinen schlechten Sicherheitslage und Versorgungslage und der Machtübernahme der Taliban mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr drohen, durch Übergriffe von den Taliban gegen die Zivilbevölkerung zu Tode zu kommen oder misshandelt oder verletzt zu werden.
Weiters droht dem BF aufgrund der derzeitigen wirtschaftlichen Lage in maßgeblicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr, dass er in eine aussichtslose bzw. existenzbedrohende Notlage gerät und nicht in der Lage ist sich ohne Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft befrieden zu können. Dem BF würde bei seiner Rückkehr in eine dieser Städte ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen. Etwaige Rückkehrhilfen oder Unterstützung im Land reichen derzeit nicht aus, bzw. kann nicht festgestellt werden, dass dem BF im Land durch andere familiäre oder soziale Anknüpfungspunkte Hilfe gewährt wird. Der Umfang der derzeitigen Hilfsprogramme ist nicht bekannt bzw. teilweise eingestellt.
Es ist dem BF nicht möglich in seiner Herkunftsprovinz oder anderen Städten wie Kabul, Mazar-e Sharif oder Herat Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen.
Festgestellt wird, dass die aktuell vorherrschende Coronapandemie in Afghanistan, mit Stand 27.09.2021 (Tag der Entscheidung), kein Rückkehrhindernis darstellt.
Der BF leidet weiter an Magen- und Darmproblemen, aber an keinen physischen (chronischen) Vorerkrankungen und gehört damit keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 an. Außerdem hat der BF bereits eine Erkrankung mit COVID-19 ohne Nachwirkungen überstanden. Eine besteht deswegen keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der BF bei einer Rückkehr nach Afghanistan erneut an Corona erkranken würde oder dass eine erneute Erkrankung einen schwerwiegenden oder tödlichen Verlauf bzw. den Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus nach sich ziehen würde
Aufgrund der derzeitigen unklaren wirtschaftlichen Lage kann nicht festgestellt werden, dass der BF in der Lage ist sich medizinisch weiter versorgen zu lassen, die Dauermedikation zu erhalten oder diese gar selbst zu bezahlen.
1.5. Die allgemeine Lage in Afghanistan stellt sich im Übrigen wie folgt dar:
Länderinformation der Staatendokumentation zur Russischen Föderation aus dem COI-CMS (Country of Origin Information-Content Management System) vom 16.09.2021-Version 5:
Covid-19 Das genaue Ausmaß der COVID-19-Krise in Afghanistan ist unbekannt. In der vorliegenden Länderinformation erfolgt lediglich ein Überblick und keine erschöpfende Berücksichtigung der aktuellen COVID-19-Pandemie, weil die zur Bekämpfung der Krankheit eingeleiteten oder noch einzuleitenden Maßnahmen ständigen Änderungen unterworfen sind. Besonders betroffen von kurzfristigen Änderungen sind Lockdown-Maßnahmen, welche die Bewegungsfreiheit einschränken und damit Auswirkungen auf die Möglichkeiten zur Ein- bzw. Ausreise aus / in bestimmten Ländern und auch Einfluss auf die Reisemöglichkeiten innerhalb eines Landes haben kann. Insbesondere können zum gegenwärtigen Zeitpunkt seriöse Informationen zu den Auswirkungen der Pandemie auf das Gesundheitswesen, auf die Versorgungslage sowie generell zu den politischen, wirtschaftlichen, sozialen und anderen Folgen nur eingeschränkt zur Verfügung gestellt werden. Die hier gesammelten Informationen sollen daher die Lage zu COVID-19 in Afghanistan zum Zeitpunkt der Berichterstellung (9.2021) wiedergeben. Es ist zu beachten, dass sich bestimmte Sachverhalte (zum Beispiel Flugverbindungen bzw. die Öffnung und Schließung von Flughäfen oder etwaige Lockdown-Maßnahmen) kurzfristig ändern können. Diese Informationen werden in regelmäßigen Abständen aktualisiert. Zusätzliche Informationen zu den einzelnen Themengebieten sind den jeweiligen Kapiteln zu entnehmen.
Machtübernahme der Taliban im August 2021
Im Zuge der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 mussten die hier vorliegenden Länderinformationen komplett überarbeitet werden. Im Vergleich zur letzten veröffentlichten Version vom Juni 2021 wurden mehrere Kapitel entfernt und ein Großteil der verbliebenen Kapitel adaptiert. Kapitel oder Themengebiete über die noch keine validen Informationen zur Verfügung stehen (z.B.: „Sicherheitsbehörden“ unter der neuen Talibanregierung) wurden mit einem entsprechenden Vermerk versehen. Es sei auch darauf hingewiesen, dass die aktuelle Lage von einer nicht absehbaren Dynamik und plötzlichen und abrupten Veränderungen gekennzeichnet ist, womit manche Informationen sehr rasch veralten können. Die Staatendokumentation des BFA wird darauf, wie gehabt, mit einem Update der Länderinformationen im COI-CMS oder einer Kurzinformation (KI) reagieren.
COVID-19 Letzte Änderung: 16.09.2021
Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO: https://www. who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports oder der Johns-Hopkins-Universität: https://gisanddata.maps.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.html#/bda759 4740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.
Über die Auswirkungen der Machtübernahme der Taliban auf medizinische Versorgung, Impfraten und Maßnahmen gegen COVID-19 sind noch keine validen Informationen bekannt. Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl UNOCHA 19.12.2020). Die Zahl der täglich neu bestätigten COVID-19-Fälle in Afghanistan ist in den Wochen nach dem Eid al-Fitr-Fest Mitte Mai 2021 stark angestiegen und übertrifft die Spitzenwerte, die zu Beginn des Ausbruchs in dem Land verzeichnet wurden. Die gestiegene Zahl der Fälle belastet das Gesundheitssystem weiter. Gesundheitseinrichtungen berichten von Engpässen bei medizinischem Material, Sauerstoff und Betten für Patienten mit COVID-19 und anderen Krankheiten (USAID 11.6.2021). Laut Meldungen von Ende Mai 2021 haben afghanische Ärzte Befürchtungen geäußert, dass sich die erstmals in Indien entdeckte COVID-19-Variante nun auch in Afghanistan verbreiten könnte. Viele der schwerkranken Fälle im zentralen Krankenhaus für COVID-Fälle in Kabul, wo alle 100 Betten belegt seien, seien erst kürzlich aus Indien zurückgekehrte Personen (BAMF 31.5.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021). Seit Ende des Ramadans und einige Wochen nach den Festlichkeiten zu Eid al-Fitr konnte wieder ein Anstieg der COVID-19 Fälle verzeichnet werden. Es wird vom Beginn einer dritten Welle gesprochen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021). Waren die [Anm.: offiziellen] Zahlen zwischen Februar und März relativ niedrig, so stieg die Anzahl zunächst mit April und dann mit Ende Mai deutlich an (WHO 4.6.2021; vgl. TN 3.6.2021, UNOCHA 3.6.2021). Es gibt in Afghanistan keine landeseigenen Einrichtungen, um auf die aus Indien stammende Variante zu testen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021). Die Lücken in der COVID-19-Testung und Überwachung bleiben bestehen, da es an Laborreagenzien für die Tests mangelt und die Dienste aufgrund der jüngsten Unsicherheit möglicherweise nur wenig in Anspruch genommen werden. Der Mangel an Testmaterial in den öffentlichen Labors kann erst behoben werden, wenn die Lieferung von 50.000 Testkits von der WHO im Land eintrifft (WHO 28.8.2021). Mit Stand 4.9.2021 wurden 153.534 COVID-19 Fälle offiziell bestätigt (WHO 6.9.2021). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 13.1.2021; vgl. UNOCHA 18.2.2021, RFE/RL 23.2.2021a). Maßnahmen der ehemaligen Regierung und der Taliban Das vormalige afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hatte verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams“ (RRTs) besuchten Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams“ waren in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.3.2021; vgl. WB 28.6.2020). Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.3.2021; vgl. IDW 17.6.2021). Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China (BAMF 8.2.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a). Die Taliban erlaubten den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. TG 2.5.2020) und gaben im Januar 2021 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Millionen Dollar unterstützt wird. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion „unterstützen und erleichtern“ (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021), wenn der Impfstoff in Abstimmung mit ihrer Gesundheitskommission und in Übereinstimmung mit deren Grundsätzen eingesetzt wird (NH 3.6.2020). Mit Stand 2.6.2021 wurden insgesamt 626.290 Impfdosen verabreicht (WHO 4.6.2021; vgl UNOCHA 3.6.2021). Etwa 11% der Geimpften haben beide Dosen des COVID-19-Impfstoffs erhalten. Insgesamt gibt es nach wie vor große Bedenken hinsichtlich des gerechten Zugangs zu Impfstoffen für Afghanen, insbesondere für gefährdete Gruppen wie Binnenvertriebene, Rückkehrer und nomadische Bevölkerungsgruppen sowie Menschen, die in schwer zugänglichen Gebieten leben (UNOCHA 3.6.2021).
Gesundheitssystem und medizinische Versorgung
Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, Sauerstoff, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 11.6.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, HRW 13.1.2021). Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (BAMF 8.2.2021). Mit Mai 2021 wird vor allem von einem starken Mangel an Sauerstoff berichtet (TN 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021). In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (IOM 18.3.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, USAID 11.6.2021). Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020). Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt Die ohnehin schlechte wirtschaftliche Lage wurde durch die Auswirkungen der Pandemie noch verstärkt (AA 15.7.2021). COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 11.6.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021). Die kürzlich veröffentlichte IPC-Analyse schätzt, dass sich im April 2021 12,2 Millionen Menschen - mehr als ein Drittel der Bevölkerung - in einem Krisen- oder Notfall-Niveau der Ernährungsunsicherheit befinden (UNOCHA 3.6.2021; vgl. IPC 22.4.2021). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis…) um 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020). Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 18.3.2021). Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch lang anhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (UNOCHA 19.12.2020). Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2021 um mehr als 5% geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019 (IOM 18.3.2021). Frauen, Kinder und Binnenvertriebene Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die ehemalige Regierung ordnete im März 2020 an, alle Schulen zu schließen (IOM 23.9.2020; vgl. ACCORD 25.5.2021), wobei diese ab August 2020 wieder stufenweise geöffnet wurden (ACCORD 25.5.2021). Angesichts einer zweiten COVID-19-Welle verkündete die Regierung jedoch Ende November die abermalige Schließung der Schulen (SIGAR 30.4.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021) wobei diese im Laufe des ersten Quartals 2021 wieder geöffnet wurden (SIGAR 30.4.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021, UNICEF 4.5.2021). 35 bis 60 Schüler lernen in einem einzigen Raum, weil es an Einrichtungen fehlt und die Richtlinien zur sozialen Distanzierung nicht beachtet werden (IOM 18.3.2021). Ende Mai 2021 wurden die Schulen erneut geschlossen (BAMF 31.5.2021) und begannen mit Ende Juli langsam wieder zu öffnen (AAN 25.7.2021). Kinder (vor allem Jungen), die von den Auswirkungen der Schulschließungen im Rahmen von COVID-19 betroffen waren, waren nun auch anfälliger für Rekrutierung durch die Konfliktparteien (IPS 12.11.2020; vgl. UNAMA 10.8.2020, ACCORD 25.5.2021). In den ersten Monaten des Jahres 2021 wurde im Durchschnitt eines von drei Kindern in Afghanistan außer Haus geschickt, um zu arbeiten. Besonders außerhalb der Städte wurde ein hoher Anstieg der Kinderarbeit berichtet (IOM 18.3.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021). Die Krise verschärft auch die bestehende Vulnerabilität von Mädchen betreffend Kinderheirat und Schwangerschaften von Minderjährigen (AA 15.7.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021). Die Pandemie hat auch spezifische Folgen für Frauen, insbesondere während eines Lockdowns, einschließlich eines erhöhten Maßes an häuslicher Gewalt (ACCORD 25.5.2021; vgl. AI 3.2021). Frauen und Mädchen sind durch den generell geringeren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusätzlich betroffen (AI 3.2021; vgl. HRW 13.1.2021, AAN 1.10.2020). Binnenvertriebene sind besonders gefährdet, sich mit COVID-19 anzustecken, da sie bereits vorher anfällig waren, es keine Gesundheitseinrichtungen gibt, die Siedlungen überfüllt sind und sie nur begrenzten Zugang zu Wasser und sanitären Anlagen haben. Aufgrund ihrer schlechten Lebensbedingungen sind die vertriebenen Gemeinschaften nicht in der Lage, Präventivmaßnahmen wie soziale Distanzierung und Quarantäne zu praktizieren und sind daher anfälliger für die Ansteckung und Verbreitung des Virus (AI 3.2021)
1.5.1. Politische Lage
Afghanistan war [vor der Machtübernahme der Taliban] ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 1.3.2021). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen (NSIA 1.6.2020) bis 39 Millionen Menschen (WoM o.D.). Nachdem der bisherige Präsident Ashraf Ghani am 15.8.2021 aus Afghanistan geflohen war, nahmen die Taliban die Hauptstadt Kabul als die letzte aller großen afghanischen Städte ein (TAG 15.8.2021; vgl. JS 7.9.2021). Ghani gab auf seiner Facebook-Seite eine Erklärung ab, in der er den Sieg der Taliban vor Ort anerkannte (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Diese Erklärung wurde weithin als Rücktritt interpretiert, obwohl nicht klar ist, ob die Erklärung die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für einen Rücktritt des Präsidenten erfüllt. Amrullah Saleh, der erste Vizepräsident Afghanistans unter Ghani, beanspruchte in der Folgezeit das Amt des Übergangspräsidenten für sich (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Er ist Teil des Widerstands gegen die Taliban im Panjshir-Tal (REU 8.9.2021). Ein so genannter Koordinationsrat unter Beteiligung des früheren Präsidenten Hamid Karzai, Abdullah Abdullah (dem früheren Außenminister und Leiter der Delegation der vorigen Regierung bei den letztendlich erfolglosen Friedensverhandlungen) und Gulbuddin Hekmatyar führte mit den Taliban informelle Gespräche über eine Regierungsbeteiligung (FP 23.8.2021), die schließlich nicht zustande kam (TD 10.9.2021). Denn unabhängig davon, wer nach der afghanischen Verfassung das Präsidentenamt innehat, kontrollieren die Taliban den größten Teil des afghanischen Staatsgebiets (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Sie haben das Islamische Emirat Afghanistan ausgerufen und am 7.9.2021 eine neue Regierung angekündigt, die sich größtenteils aus bekannten Taliban-Figuren zusammensetzt (JS 7.9.2021). Die Taliban lehnen die Demokratie und ihren wichtigsten Bestandteil, die Wahlen, generell ab (AJ 24.8.2021; vgl. AJ 23.8.2021). Sie tun dies oftmals mit Verweis auf die Mängel des demokratischen Systems und der Wahlen in Afghanistan in den letzten 20 Jahren, wie auch unter dem Aspekt, dass Wahlen und Demokratie in der vormodernen Periode des islamischen Denkens, der Periode, die sie als am authentischsten „islamisch“ ansehen, keine Vorläufer haben. Sie halten einige Methoden zur Auswahl von Herrschern in der vormodernen muslimischen Welt für authentisch islamisch - zum Beispiel die Shura Ahl al-Hall wa’l-Aqd, den Rat derjenigen, die qualifiziert sind, einen Kalifen im Namen der muslimischen Gemeinschaft zu wählen oder abzusetzen (AJ 24.8.2021). Ende August 2021 kündigten die Taliban an, eine Verfassung auszuarbeiten (FA 23.8.2021), jedoch haben sie sich zu den Einzelheiten des Staates, den ihre Führung in Afghanistan errichten möchte, bislang bedeckt gehalten (AJ 24.8.2021; vgl. ICG 24.8.2021, AJ 23.8.2021). Im September 2021 kündigten sie die Bildung einer „Übergangsregierung“ an. Entgegen früherer Aussagen handelt es sich dabei nicht um eine „inklusive“ Regierung unter Beteiligung unterschiedlicher Akteure, sondern um eine reine Talibanregierung. Darin vertreten sind Mitglieder der alten Talibanelite, die schon in den 1990er Jahren zentrale Rollen besetzte, ergänzt mit Taliban-Führern, die im ersten Emirat noch zu jung waren, um zu regieren. Die allermeisten sind Paschtunen. Angeführt wird die neue Regierung von Mohammad Hassan Akhund. Er ist Vorsitzender der Minister, eine Art Premierminister. Akhund ist ein wenig bekanntes Mitglied des höchsten Taliban-Führungszirkels, der sogenannten Rahbari-Shura, besser bekannt als Quetta Shura (NZZ 7.9.2021; vgl. BBC 8.9.2021a). Einer seiner Stellvertreter ist Abdul Ghani Baradar, der bisher das politische Büro der Taliban in Doha geleitet hat und so etwas wie das öffentliche Gesicht der Taliban war (NZZ 7.9.2021), ein weiterer Stellvertreter ist Abdul Salam Hanafi, der ebenfalls im politischen Büro in Doha tätig war (ORF 7.9.2021). Mohammad Yakub, Sohn des Taliban-Gründers Mullah Omar und einer der Stellvertreter des Taliban-Führers Haibatullah Akhundzada (RFE/RL 6.8.2021), ist neuer Verteidigungsminister. Sirajuddin Haqqani, der Leiter des Haqqani-Netzwerks, wurde zum Innenminister ernannt. Das Haqqani-Netzwerk wird von den USA als Terrororganisation eingestuft. Der neue Innenminister steht auf der Fahndungsliste des FBI und auch der Vorsitzende der Minister, Akhund, befindet sich auf einer Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrates (NZZ 7.9.2021). Ein Frauenministerium findet sich nicht unter den bislang angekündigten Ministerien, auch wurden keine Frauen zu Ministerinnen ernannt [Anm.: Stand 7.9.2021]. Dafür wurde ein Ministerium für „Einladung, Führung, Laster und Tugend“ eingeführt, das die Afghanen vom Namen her an das Ministerium „für die Förderung der Tugend und die Verhütung des Lasters“ erinnern dürfte. Diese Behörde hatte während der ersten Taliban-Herrschaft von 1996 bis 2001 Menschen zum Gebet gezwungen oder Männer dafür bestraft, wenn sie keinen Bart trugen (ORF 7.9.2021; vgl. BBC 8.9.2021a). Die höchste Instanz der Taliban in religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten (RFE/RL 6.8.2021), der „Amir al Muminin“ oder „Emir der Gläubigen“ Mullah Haibatullah Akhundzada (FR 18.8.2021) wird sich als „Oberster Führer“ Afghanistans auf religiöse Angelegenheiten und die Regierungsführung im Rahmen des Islam konzentrieren (NZZ 8.9.2021). Er kündigte an, dass alle Regierungsangelegenheiten und das Leben in Afghanistan den Gesetzen der Scharia unterworfen werden (ORF 7.9.2021). Bezüglich der Verwaltung haben die Taliban Mitte August 2021 nach und nach die Behörden und Ministerien übernommen. Sie riefen die bisherigen Beamten und Regierungsmitarbeiter dazu auf, wieder in den Dienst zurückzukehren, ein Aufruf, dem manche von ihnen auch folgten (AZ 17.8.2021; vgl. ICG 24.8.2021). Es gibt Anzeichen dafür, dass einige Anführer der Gruppe die Grenzen ihrer Fähigkeit erkennen, den Regierungsapparat in technisch anspruchsvolleren Bereichen zu bedienen. Zwar haben die Taliban seit ihrem Erstarken in den vergangenen zwei Jahrzehnten in einigen ländlichen Gebieten Afghanistans eine so genannte Schattenregierung ausgeübt, doch war diese rudimentär und von begrenztem Umfang, und in Bereichen wie Gesundheit und Bildung haben sie im Wesentlichen die Dienstleistungen des afghanischen Staates und von Nichtregierungsorganisationen übernommen (ICG 24.8.2021). Bis zum Sturz der alten Regierung wurden ca. 75% (ICG 24.8.2021) bis 80% des afghanischen Staatsbudgets von Hilfsorganisationen bereitgestellt (BBC 8.9.2021a), Finanzierungsquellen, die zumindest für einen längeren Zeitraum ausgesetzt sein werden, während die Geber die Entwicklung beobachten (ICG 24.8.2021). So haben die EU und mehrere ihrer Mitgliedsstaaten in der Vergangenheit mit der Einstellung von Hilfszahlungen gedroht, falls die Taliban die Macht übernehmen und ein islamisches Emirat ausrufen sollten, oder Menschen- und Frauenrechte verletzen sollten. Die USA haben rund 9,5 Milliarden US-Dollar an Reserven der afghanischen Zentralbank sofort [nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul] eingefroren, Zahlungen des IWF und der EU wurden ausgesetzt (CH 24.8.2021). Die Taliban verfügen weiterhin über die Einnahmequellen, die finanzierten, sowie über den Zugang zu den Zolleinnahmen, auf die sich die frühere Regierung für den Teil ihres Haushalts, den sie im Inland aufbrachte, stark verließ. Ob neue Geber einspringen werden, um einen Teil des Defizits auszugleichen, ist noch nicht klar (ICG 24.8.2021). Die USA zeigten sich angesichts der Regierungsbeteiligung von Personen, die mit Angriffen auf US-Streitkräfte in Verbindung gebracht werden, besorgt und die EU erklärte, die islamistische Gruppe habe ihr Versprechen gebrochen, die Regierung „integrativ und repräsentativ“ zu machen (BBC 8.9.2021b). Deutschland und die USA haben eine baldige Anerkennung der von den militant-islamistischen Taliban verkündeten Übergangsregierung Anfang September 2021 ausgeschlossen (BZ 8.9.2021). China und Russland haben ihre Botschaften auch nach dem Machtwechsel offen gehalten (NYT 1.9.2021). Vertreter der National Resistance Front (NRF) haben die internationale Gemeinschaft darum gebeten, die Taliban-Regierung nicht anzuerkennen (BBC 8.9.2021b). Ahmad Massoud, einer der Anführer der NRF, kündigte an, nach Absprachen mit anderen Politikern eine Parallelregierung zu der von ihm als illegitim bezeichneten Talibanregierung bilden zu wollen (IT 8.9.2021).
Sicherheitslage:
Jüngste Entwicklungen – Machtübernahme der Taliban
Mit April bzw. Mai 2021 nahmen die Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen stark zu (RFE/RL 12.5.2021; vgl. SIGAR 30.4.2021, BAMF 31.5.2021, UNGASC 2.9.2021), aber auch schon zuvor galt die Sicherheitslage in Afghanistan als volatil (UNGASC 17.3.2020; vgl. USDOS 30.3.2021). Laut Berichten war der Juni 2021 der bis dahin tödlichste Monat mit den meisten militärischen und zivilen Opfern seit 20 Jahren in Afghanistan (TN 1.7.2021; vgl. AJ 2.7.2021). Gemäß einer Quelle veränderte sich die Lage seit der Einnahme der ersten Provinzhauptstadt durch die Taliban - Zaranj in Nimruz - am 6.8.2021 in „halsbrecherischer Geschwindigkeit“ (AAN 15.8.2021), innerhalb von zehn Tagen eroberten sie 33 der 34 afghanischen Provinzhauptstädte (UNGASC 2.9.2021). Auch eroberten die Taliban mehrere Grenzübergänge und Kontrollpunkte, was der finanziell eingeschränkten Regierung dringend benötigte Zolleinnahmen entzog (BBC 13.8.2021). Am 15.8.2021 floh Präsident Ashraf Ghani ins Ausland und die Taliban zogen kampflos in Kabul ein (ORF 16.8.2021; vgl. TAG 15.8.2021). Zuvor waren schon Jalalabad im Osten an der Grenze zu Pakistan gefallen, ebenso wie die nordafghanische Metropole Mazar-e Scharif (TAG 15.8.2021; vgl. BBC 15.8.2021). Ein Bericht führt den Vormarsch der Taliban in erster Linie auf die Schwächung der Moral und des Zusammenhalts der Sicherheitskräfte und der politischen Führung der Regierung zurück (ICG 14.8.2021; vgl. BBC 13.8.2021, AAN 15.8.2021). Die Kapitulation so vieler Distrikte und städtischer Zentren ist nicht unbedingt ein Zeichen für die Unterstützung der Taliban durch die Bevölkerung, sondern unterstreicht vielmehr die tiefe Entfremdung vieler lokaler Gemeinschaften von einer stark zentralisierten Regierung, die häufig von den Prioritäten ihrer ausländischen Geber beeinflusst wird (ICG 14.8.2021), auch wurde die weit verbreitete Korruption, beispielsweise unter den Sicherheitskräften, als ein Problem genannt (BBC 13.8.2021). Im Panjshir-Tal, rund 55 km von Kabul entfernt (TD 20.8.2021), formierte sich nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul Mitte August 2021 Widerstand in Form der National Resistance Front (NRF), welche von Amrullah Saleh, dem ehemaligen Vizepräsidenten Afghanistans und Chef des National Directorate of Security [Anm.: NDS, afghan. Geheimdienst], sowie Ahmad Massoud, dem Sohn des verstorbenen Anführers der Nordallianz gegen die Taliban in den 1990ern, angeführt wird. Ihr schlossen sich Mitglieder der inzwischen aufgelösten Afghan National Defense and Security Forces (ANDSF) an, um im Panjshir-Tal und umliegenden Distrikten in Parwan und Baghlan Widerstand gegen die Taliban zu leisten (LWJ 6.9.2021; vgl. ANI 6.9.2021). Sowohl die Taliban, als auch die NRF betonten zu Beginn, ihre Differenzen mittels Dialog überwinden zu wollen (TN 30.8.2021; vgl. WZ 22.8.2021). Nachdem die US-Streitkräfte ihren Truppenabzug aus Afghanistan am 30.8.2021 abgeschlossen hatten, griffen die Taliban das Pansjhir-Tal jedoch an. Es kam zu schweren Kämpfen und nach sieben Tagen nahmen die Taliban das Tal nach eigenen Angaben ein (LWJ 6.9.2021; vgl. ANI 6.9.2021), während die NRF am 6.9.2021 bestritt, dass dies geschehen sei (ANI 6.9.2021). Mit Stand 6.9.2021 war der Aufenthaltsort von Saleh und Massoud unklar, jedoch verkündete Massoud, in Sicherheit zu sein (AJ 6.9.2021) sowie nach Absprachen mit anderen Politikern eine Parallelregierung zu der von ihm als illegitim bezeichneten Talibanregierung bilden zu wollen (IT 8.9.2021). Weitere Kampfhandlungen gab es im August 2021 beispielsweise im Distrikt Behsud in der Provinz Maidan Wardak (AAN 1.9.2021; vgl. AWM 22.8.2021, ALM 15.8.2021) und in Khedir in Daikundi, wo es zu Scharmützeln kam, als die Taliban versuchten, lokale oder ehemalige Regierungskräfte zu entwaffnen (AAN 1.9.2021). [Anm.: zum Widerstand im Distrikt Behsud s. auch Abschnitt 6.5] Seit der Beendigung der Kämpfe zwischen den Taliban und den afghanischen Streitkräften ist die Zahl der zivilen Opfer deutlich zurückgegangen (PAJ 15.8.2021; vgl PAJ 21.8.2021). Vorfälle am Flughafen Kabul Nachdem sich die Nachricht verbreitete, dass Präsident Ashraf Ghani das Land verlassen hatte, machten sich viele Menschen auf den Weg zum Flughafen, um aus dem Land zu fliehen (NLM 26.8.2021; BBC 8.9.2021c, UNGASC 2.9.2021). Im Zuge der Evakuierungsmissionen von Ausländern sowie Ortskräften aus Afghanistan (ORF 18.8.2021) kam es in der Menschenmenge zu Todesopfern, nachdem tausende Menschen aus Angst vor den Taliban zum Flughafen gekommen waren (TN 16.8.2021). Unter anderem fand auch eine Schießerei mit einem Todesopfer statt (PAJ 23.8.2021). Am 26.8.2021 wurde bei einem der Flughafeneingänge ein Selbstmordanschlag auf eine Menschenmenge verübt, bei dem mindestens 170 afghanische Zivilisten sowie 28 Talibankämpfer und 13 US-Soldaten, die das Gelände sichern sollten, getötet wurden. Der Islamische Staat Khorasan Provinz (ISKP) bekannte sich zu dem Anschlag (MEE 27.8.2021; vgl. AAN 1.9.2021). Die USA führten als Vergeltungsschläge daraufhin zwei Drohnenangriffe in Jalalabad und Kabul durch, wobei nach US-Angaben ein Drahtzieher des ISKP sowie ein Auto mit zukünftigen Selbstmordattentätern getroffen wurden (AAN 1.9.2021; vgl. BBC 30.8.2021). Berichten zufolge soll es bei dem Drohnenangriff in Kabul jedoch zu zehn zivilen Todesopfern gekommen sein (AAN 1.9.2021; vgl. NZZ 12.9.2021; BBC 30.8.2021). Verfolgung von Zivilisten und ehemaligen Mitgliedern der Streitkräfte Bereits vor der Machtübernahme intensivierten die Taliban gezielte Tötungen von wichtigen Regierungsvertretern, Menschenrechtsaktivisten und Journalisten (BBC 13.8.2021; vgl. AN 4.10.2020). Die Taliban kündigten nach ihrer Machtübernahme an, dass sie keine Vergeltung an Anhängern der früheren Regierung oder an Verfechtern verfassungsmäßig garantierter Rechte wie der Gleichberechtigung von Frauen, der Redefreiheit und der Achtung der Menschenrechte üben werden (FP 23.8.2021; vgl. BBC 31.8.2021, UNGASC 2.9.2021). Es gibt jedoch glaubwürdige Berichte über schwerwiegende Übergriffe von Taliban-Kämpfern, die von der Durchsetzung strenger sozialer Einschränkungen bis hin zu Verhaftungen, Hinrichtungen im Schnellverfahren und Entführungen junger, unverheirateter Frauen reichen. Einige dieser Taten scheinen auf lokale Streitigkeiten zurückzuführen oder durch Rache motiviert zu sein; andere scheinen je nach den lokalen Befehlshabern und ihren Beziehungen zu den Führern der Gemeinschaft zu variieren. Es ist nicht klar, ob die Taliban-Führung ihre eigenen Mitglieder für Verbrechen und Übergriffe zur Rechenschaft ziehen wird (ICG 14.8.2021). Auch wird berichtet, dass es eine neue Strategie der Taliban sei, die Beteiligung an gezielten Tötungen zu leugnen, während sie ihren Kämpfern im Geheimen derartige Tötungen befehlen (GN 10.9.2021). Einem Bericht zufolgekann derzeit jeder, der eine Waffe und traditionelle Kleidung trägt, behaupten, ein Talib zu sein, und Durchsuchungen und Beschlagnahmungen durchführen (AAN 1.9.2021; vgl. BAMF 6.9.2021). Die Taliban-Kämpfer auf der Straße kontrollieren die Bevölkerung nach eigenen Regeln und entscheiden selbst, was unangemessenes Verhalten, Frisur oder Kleidung ist (BAMF 6.9.2021; vgl. NLM 26.8.2021). Frühere Angehörige der Sicherheitskräfte berichten, dass sie sich weniger vor der Taliban-Führung als vor den einfachen Kämpfern fürchten würden (AAN 1.9.2021; vgl. BAMF 6.9.2021). Es wurde von Hinrichtungen von Zivilisten und Zivilistinnen sowie ehemaligen Angehörigen der afghanischen Sicherheitskräfte (ORF 24.8.2021; vgl. FP 23.8.2021, BBC 31.8.2021, GN 10.9.2021, Times 12.9.2021, ICG 14.8.2021) und Personen, die vor kurzem Anti-Taliban-Milizen beigetreten waren, berichtet (FP 23.8.2021). In der Provinz Ghazni soll es zur gezielten Tötung von neun Hazara-Männern gekommen sein (AI 19.8.2021). Während die Nachrichten aus weiten Teilen des Landes aufgrund der Schließung von Medienzweigstellen und der Einschüchterung von Journalisten durch die Taliban spärlich sind, gibt es Berichte über die Verfolgung von Journalisten (RTE 28.8.2021; vgl. FP 23.8.2021) und die Entführung einer Menschenrechtsanwältin (FP 23.8.2021). Die Taliban haben in den Tagen nach ihrer Machtübernahme systematisch in den von ihnen neu eroberten Gebieten Häftlinge aus den Gefängnissen entlassen (UNGASC 2.9.2021): Eine Richterin (REU 3.9.2021) wie auch eine Polizistin (GN 10.9.2021) gaben an, von ehemaligen Häftlingen verfolgt (REU 3.9.2021) bzw. von diesen identifiziert und daraufhin von den Taliban verfolgt worden zu sein (GN 10.9.2021). Vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021 Die Sicherheitslage im Jahr 2020 Die Sicherheitslage verschlechterte sich im Jahr 2020, in dem die Vereinten Nationen 25.180 sicherheitsrelevante Vorfälle registrierten, ein Anstieg von 10% gegenüber den 22.832 Vorfällen im Jahr 2019 (UNASC 12.3.2021). Laut AAN (Afghanistan Analysts Network) war 2020 in Afghanistan genauso gewalttätig wie 2019, trotz des Friedensprozesses und der COVID-19-Pandemie. Seit dem Abkommen zwischen den Taliban und den USA vom 29. Februar haben sich jedoch die Muster und die Art der Gewalt verändert. Das US-Militär spielte nur noch eine minimale direkte Rolle in dem Konflikt, sodass es sich fast ausschließlich um einen afghanischen Krieg handelt, in dem sich Landsleute gegenseitig bekämpfen, wenn auch mit erheblicher ausländischer Unterstützung für beide Seiten. Seit der Vereinbarung vom 29.2.2020 haben die Taliban und die afghanische Regierung ihre Aktionen eher heruntergespielt als übertrieben, und die USA haben die Veröffentlichung von Daten zu Luftangriffen eingestellt (AAN 16.8.2020). Während die Zahl der Luftangriffe im Jahr 2020 um 43,6 % zurückging, stieg die Zahl der bewaffneten Zusammenstöße um 18,4 % (UNGASC 12.3.2021). Zivile Opfer vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021 Zwischen dem 1.1.2021 und dem 30.6.2021 dokumentierte die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) 5.183 zivile Opfer (1.659 Tote und 3.524 Verletzte). In den ersten sechs Monaten des Jahres 2021 und im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres dokumentierte UNAMA fast eine Verdreifachung der zivilen Opfer durch durch den Einsatz vonimprovisierten Sprengsätzen (IEDs) durch regierungsfeindliche Kräfte (UNAMA 26.7.2021). Im gesamten Jahr 2020 dokumentierte UNAMA 8.820 zivile Opfer (3.035 Getötete und 5.785 Verletzte), während AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) für 2020 insgesamt 8.500 zivile Opfer registrierte, darunter 2.958 Tote und 5.542 Verletzte. Da