Entscheidungsdatum
30.08.2021Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W168 2155112 - 1/16E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter MMag. Dr. MACALKA als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. am XXXX , StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 06.04.2017, Zl 1108285205/160374342/BMI-BFA_NOE_RD, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 29.06.2021, zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. wird als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. wird stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 Asylgesetz 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.
Gemäß § 8 Abs. 4 Asylgesetz 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter bis zum 30.08.2022 erteilt.
III. Die Spruchpunkte III. und IV. werden ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF) stellte nach unrechtmäßiger Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 12.03.2016 gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 des Asylgesetzes 2005 (AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100/2005 idF BGBl. I Nr. 24/2016BF.
2. Bei der mit einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes durchgeführten Erstbefragung des BF am nächsten Tag führte dieser zu seinem Fluchtgrund befragt zusammenfassend aus, dass er in Pakistan geboren und aufgewachsen sei. Er habe nie in Afghanistan gelebt, weshalb es ihm nicht möglich sei, dorthin zurückzukehren. Zudem bestehe eine Feindschaft mit seinem Onkel väterlicherseits und die Sicherheitslage sei als schlecht einzustufen. Da er dort nichts habe, wüsste er nicht, wie er überleben könnte. Bei einer Rückkehr habe der BF Angst, aufgrund der Feindschaft getötet zu werden und er wüsste nicht, wohin er gehen sollte.
Zu seinen persönlichen Umständen befragt, gab der BF an, dass er in Pakistan geboren worden sei und keine Schulbildung absolviert habe. In Pakistan würden nach wie vor seine Eltern, drei Brüder und seine drei Schwestern wohnen. Der BF sei vor seiner Ausreise als Rikscha Fahrer tätig gewesen.
3. Am 22.08.2016 wurde der BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: "BFA" genannt), im Asylverfahren niederschriftlich einvernommen. Dabei führte er zusammenfassend aus, dass er sich geistig und körperlich in der Lage fühle, die Einvernahme durchzuführen. Er habe Probleme mit den Nieren, da er unter Nierensteinen leide, weswegen er auch in Krems in Behandlung gewesen sei. Auf Vorhalt, dass er bereits in der Erstbefragung zu seinen persönlichen Daten befragt worden sei und befragt, ob er bestimmte Tatsachen richtigstellen wolle, erklärte der BF, dass die Angaben, die er bereits getätigt habe, der Wahrheit entsprechen würden. Er sei in Pakistan geboren worden, habe die pakistanische Staatsbürgerschaft, gehöre der Volksgruppe der Paschtunen an, spreche Paschtu und habe keine Kinder. Er habe in Österreich keine Verwandte oder sonstige Angehörige, zu denen ein Abhängigkeitsverhältnis bestehe.
Im Rahmen der Einvernahme wurden eine afghanische Tazkira sowie ein Zugticket aus Ungarn sichergestellt.
4. Bei einer weiteren niederschriftlichen Einvernahme am 01.02.2017 führte der BF vor dem BFA an, dass es ihm psychisch nicht sehr gut gehe, sich jedoch nicht in Behandlung befinde. Die Frage, ob er sich je in Afghanistan aufgehalten habe, wurde vom BF verneint. Zur Frage, wann er sein Elternhaus zuletzt verlassen habe, erklärte der BF, dass er sich zwei Monate in XXXX aufgehalten habe und anschließend ausgereist sei. Seine Eltern und seine Geschwister würden sich derzeit nach wie vor in XXXX aufhalten. Die Frage, ob er eine Schule besucht habe, wurde vom BF verneint. Er habe eine Bäckerei betrieben und nebenbei Getränke verkauft. Nachgefragt, wann konkret sein letzter Arbeitstag gewesen sei bzw. wie lange vor seiner Ausreise dieser gewesen sei, entgegnete der BF, dass er gerade in XXXX gearbeitet habe, als er von den Taliban aufgegriffen worden sei. Während eines neunmonatigen Aufenthalt in XXXX habe er mit seinem Vater zusammengearbeitet, die Taliban hätten jedoch nach diesem Zeitraum seinen Vater entführt und seine Geschäfte zerstört. Anschließend hätten ihn die Taliban aufgefordert, sich ihnen anzuschließen und deshalb ihn in XXXX eingesperrt. Dem BF sei es jedoch gelungen, mit zwei anderen Häftlingen aus der Gefangenschaft zu flüchten. In weiterer Folge habe sich der BF zu seinem Onkel begeben und sein Cousin habe ihn bei der Ausreise unterstützt. Zur Frage, ob er neben seiner Tätigkeit als Bäcker weiteren Beschäftigungen nachgegangen sei, erklärte der BF, dass er nur in seinen Geschäften und als Bäcker tätig gewesen sei. Auf Vorhalt, dass er bei seiner Erstbefragung angegeben habe, Rikscha Fahrer gewesen zu sein, replizierte der BF, dass er diese Tätigkeit nur einige Tage gemacht habe und nicht mit einem eigenen Wagen unterwegs gewesen sei. Auf die Frage, welche Staatsbürgerschaft er habe, erklärte der BF, dass er dem Stamm Afridi sowie der Sippe der Qazi angehöre und Afghane sei. Er bestätigte erneut die Frage, sich nie in Afghanistan aufgehalten zu haben. Seine Familie stamme ursprünglich aus Shinwar in der Provinz Nangarhar. Die Frage, ob er in Afghanistan politisch tätig gewesen sei, wurde vom BF verneint. Sein Onkel sei in der Heimat erschossen worden, weshalb ein anderer Onkel dessen Mörder getötet habe. Die Angehörigen des Opfers hätten den BF und seinen ältesten Onkel mütterlicherseits angezeigt, da der BF und sein Onkel sich oft wechselseitig unterstützt hätten. Nach der Flucht sei dem BF unterstellt worden, mit dem geschilderten Mord in Verbindung zu stehen und die Bäckerei zerstört. Nachgefragt, wie das Verfahren weitergegangen sei, führte der BF an, dass sein Onkel mütterlicherseits nach wie vor flüchtig sei, seine beiden Brüder jedoch verhaftet worden seien. Der BF könne diesbezüglich jedoch keine Nachweise vorlegen. Zum weiteren Vorhalt, dass der Zusammenhang zwischen seiner Person und der Verhaftung seiner beiden Onkel aus seinen Erzählungen nicht klar hervorgehe, brachte der BF vor, dass sie von den pakistanischen Behörden eingesperrt worden seien, jedoch gleichzeitig die Auslieferung seines anderen Onkels und seiner Person gefordert hätten. Die Frage, ob er einen Mord begangen habe, wurde vom BF verneint und ausgeführt, dass es sich um bloße Unterstellungen handle. Sowohl die Bäckerei als der Haushaltwarenhandel seines Vaters seien zerstört worden. Der Vater des BF sei bereits vor ungefähr 14 Jahren verschollen und seither verschwunden. Auf Vorhalt, dass dies nicht stimmen könne, entgegnete der BF, dass dieser nunmehr aufgefunden worden und nunmehr in XXXX wohnhaft sei. Zum weiteren Vorhalt, ob er den Widerspruch bezüglich dem Verbleib seines Vaters aufklären wolle, gab der BF zu Protokoll, dass dieser zwar verschollen gewesen sei, aber wiederaufgetaucht sei. Auf die Frage, ob er mit seinen Eltern nach wie vor in Kontakt stehe, erklärte der BF, dass er mit seinem Onkel mütterlicherseits und über diesen mit seinen Eltern in Verbindung stehe. Zur Frage, wie seine Familie nunmehr ihren Lebensunterhalt verdiene, entgegnete der BF, dass sie der Onkel versorge und sie überdies Geld ausleihen würden. Die beiden anderen Onkel hätten Grundstücksstreitigkeiten mit der Familie, weshalb sie seine Angehörigen nicht unterstützen würden. Auf Vorhalt, dass er zuvor angegeben habe, dass diese inhaftiert worden seien, entgegnete der BF, dass der Grundstücksstreit nach deren Entlassung stattgefunden habe. Die Frage, ob er in Afghanistan noch entfernte Verwandte habe, wurde vom BF verneint.
Auf Aufforderung, seinen Fluchtgrund in eigenen Worten wiederzugeben, führte der BF an, dass die Taliban ihnen die Grundstücke in XXXX weggenommen hätten, als sein Vater verschollen gewesen sei und den BF aufgefordert hätten, sich ihnen anzuschließen. Nunmehr werde XXXX jedoch vom afghanischen Staat beherrscht und der Drogenhandel sei beendet worden. Auf Aufforderung, die Umstände der Entführung durch die Taliban detailliert zu beschreiben, führte der BF aus, dass diese ihn in XXXX aufgegriffen hätten und ihn eingesperrt nach XXXX gebracht hätten. Auf die weitere Aufforderung, die Ausführungen näher darzulegen, führte der BF aus, dass ihn mehrere Männer in Fahrzeugen aufgehalten hätten und ihn gefragt hätten, wessen Sohn er sei. Zudem hätten sie einen Freund angerufen, während sie den BF festgehalten hätten. Er sei dann in der Kälte weggezerrt worden. Befragt, welche Eindrücke er insgesamt gehabt habe bzw. auf die Frage, wo er untergebracht worden sei, replizierte der BF, dass er nur Brot bekommen habe und ihm erklärt worden sei, dass er kämpfen müsse. Er habe zugestimmt, da er Angst vor Konsequenzen gehabt habe. Zur Frage, ob es während der Anhaltung durch die Taliban weitere Vorfälle gegeben habe, erwiderte der BF, dass sie ihm mit Ketten auf den Kopf geschlagen hätten, obwohl er ihrem Vorschlag, für sie zu kämpfen, eingewilligt habe. Da sie mit den Gewaltanwendungen nicht aufgehört hätten, sei er mit zwei weiteren Inhaftierten geflohen. Zum Vorhalt, dass nicht nachvollziehbar erscheine, dass die Taliban jemanden acht Monate lang gefangen halten würden, nur um ihn zu schlagen und ansonsten keine weiteren Handlungen setzen würden, obwohl der Zusammenarbeit bereits zugestimmt worden sei, erklärte der BF, dass dies dennoch der Fall gewesen sei. Auf weiteren Vorhalt, dass die Zustimmung zum Kampfeinsatz dann in weiterer Folge nutzlos sei, brachte der BF vor, dass sie zu Beginn der Gefangennahme Familienmitglieder verlangt hätten und ihn mit Wasser überschüttet hätten. Auf die weitere Aufforderung, seine Flucht zu beschreiben, dass sie ohne Aufsicht gewesen seien und trotz Fessel fliehen hätten können. Auf die Frage, ob er danach noch etwas über die Taliban erfahren habe, gab der BF an, dass er bestimmte Gebiete gemieden habe, um diese nicht mehr anzutreffen und daher seinen Onkel aufgesucht habe. Aufgrund von Streitigkeiten mit einem Onkel sei er zu seinen Eltern gegangen und habe anschließend mit der Unterstützung von seinem Onkel mütterlicherseits Pakistan verlassen. Seine gesamten Fluchtgründe würden sich auf Pakistan beziehen, er könne keine Fluchtgründe bezüglich Afghanistan vorbringen. Auf weiteren Vorhalt, weshalb er nicht bereits in der Erstbefragung die Feindschaft mit den Onkeln, eine jahrelange Verschleppung seines Vaters oder eine achtmonatige Anhaltung durch die Taliban vorgebracht habe und nur die Probleme mit den Onkeln mütterlicherseits angegeben habe, erwiderte der BF, dass nur kurz gefragt worden sei und der BF alles zusammenfassen habe sollen. Für eine ausführliche Schilderung habe er keine Zeit gehabt. In Afghanistan habe er keine familiären Anknüpfungspunkte, weshalb er eine Rückkehr dorthin nicht in Erwägung gezogen habe. Er habe keinen afghanischen Reisepass und zudem sei Krieg vorherrschend. Auf Vorhalt, dass er auf seine Stammesstruktur zurückgreifen könnte, erwiderte der BF, dass er dort niemanden kenne und ihm niemand helfen würde.
Zu seinen Lebensumständen in Österreich befragt, führte der BF an, dass er Leistungen aus der Grundversorgung beziehe und einmal in der Woche einen Deutschkurs besuche. Ansonsten habe er nur Bekannte und Freunde in der Pension.
5. Mit dem angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Dem BF wurde gemäß §§ 57 AsylG ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und weiters gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei. (Spruchpunkt III.). Weiters wurde ausgeführt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise des BF gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt IV.).
Zusammenfassend führte das BFA aus, dass sich die geäußerten Fluchtgründe bezüglich Afghanistan darauf bezogen hätten, dass dort Krieg herrsche und er niemanden in Afghanistan habe. Dass er keine zumindest weitschichtigen Verwandte in Afghanistan habe, werde dem BF nicht geglaubt, da es nicht nachvollziehbar sei, mit der Ungewissheit illegal nach Europa zu reisen, dass er womöglich keinen Aufenthaltsstatus erhalte und dennoch nicht alle Möglichkeiten einer Rückschiebung im Vorfeld auslote. Aber auch das Fluchtvorbringen des BF betreffend Pakistan sei als nicht glaubhaft zu beurteilen gewesen. Der BF habe sich anlässlich seiner niederschriftlichen Einvernahme am 01.02.2017 in massive Widersprüche verstrickt und sein Vorbringen im Laufe des Verfahrens eklatant gesteigert. So habe der BF anlässlich seiner Erstbefragung nur angegeben, dass eine Feindschaft zu seinem Onkel väterlicherseits bestünde, habe am 01.02.2017 jedoch angegeben, dass auch Probleme mit seinen Onkeln mütterlicherseits bestanden hätten, der BF polizeilich wegen eines Mordes gesucht werde, welchen eigentlich ein Onkel mütterlicherseits begangen habe, sein Vater verschleppt worden sei und auch der BF selbst acht Monate durch die Taliban angehalten worden sei. Der Umstand, dass er dieses Fluchtvorbringen erst nach einer knapp einjährigen Verfahrensdauer vorgebracht habe, habe nach Ansicht der Behörde deutlich gezeigt, dass es sich hierbei um tatsachenwidrige „Fluchtkonstrukte“ gehandelt habe, welche jeder realen Grundlage entbehren. Das vollständige Weglassen mehrerer tragenden Fluchtelemente habe deutlich deren Tatsachenwidrigkeit gezeigt. Es werde zwar nicht verkannt, dass es sich bei der Erstbefragung um eine kürzere Amtshandlung als der inhaltlichen Einvernahme vor dem BFA handle, jedoch sei es tatsächlich Geflüchteten üblicherweise sehr wohl möglich, zumindest kurz alle Fluchtgründe auszusprechen, um den beantragten Schutz auch raschest möglich zu erlangen. Hinsichtlich seines Vaters habe der BF einerseits angegeben, er sei seit vierzehn Jahren verschollen und seitdem nicht mehr aufgetaucht sei. Dem widersprechend habe er jedoch im Vorfeld angegeben, dass ihn sein Vater in der Bäckerei zunächst noch unterstützt habe. Von gleichlautenden oder nur ansatzweise glaubhaften Einlassungen könne nicht gesprochen werden. Demzufolge sei auch nicht glaubhaft, dass die Taliban und der Onkel väterlicherseits der Familie des BF die Grundstücke abgenommen habe. Aber auch die behauptete Entführung und Anhaltung durch die Taliban habe nebulös gewirkt, da es keinen Sinn mache, dass die Taliban den BF monatelang schlagen hätten sollen, ohne etwas Anderes (beispielweise ein Trainingsprogramm) zu machen. Über seine angebliche Flucht vor den Taliban habe der BF nur einsilbig berichtet und lediglich angegeben, dass er, als er unbeaufsichtigt gewesen sei, mit gefesselten Händen geflüchtet sei. Insbesondere würden bei dieser Schilderung persönliche Eindrücke fehlen. Aber auch das Vorbringen des BF, wonach wegen eines Rachemordes, den ein Onkel begangen habe, nun die pakistanische Polizei nach seiner Person suchen würde, entbehre jeglicher logischen Grundlage. Zusammenfassend sei demnach festzustellen gewesen, dass sämtliche Fluchtgründe in Bezug auf Pakistan aufgrund der dargelegten Widersprüchlichkeiten nicht auf Tatsachen beruhen.
6. Gegen den oben genannten Bescheid richtet sich die erhobene Beschwerde vom 25.04.2017, welche fristgerecht beim BFA einlangte. In dieser wurde zusammenfassend insbesondere ausgeführt, dass auch im Asylverfahren die AVG-Prinzipien des Grundsatzes der amtswegigen Erforschung des maßgebenden Sachverhaltes und der Wahrung des Parteiengehörs gelten würden. Diesen Anforderungen habe die belangte Behörde jedoch nicht genügt und das Verfahren dadurch mit Mangelhaftigkeit belastet. Die im angefochtenen Bescheid getroffenen Länderfeststellungen seien hinsichtlich entscheidungserheblicher Punkte unvollständig und unzureichend. Die belangte Behörde habe es unterlassen, zahlreiche, öffentlich zugängliche Länderberichte zu würdigen und diese ihrer Beweiswürdigung zugrunde zu legen. Rückkehrer mit westlicher Orientierung seien bei ihrer Rückkehr nach Afghanistan besonders von Verfolgung bedroht. Der BF sei in Pakistan aufgewachsen und sei westlich orientiert. Er gehöre jedenfalls den besonders gefährdeten Personengruppen an. Die Behörde habe unterlassen, die aktuelle Sicherheitslage in Afghanistan in Bezug auf die konkrete Situation des BF zu beurteilen und die Familienverhältnisse des BF in Afghanistan zu ermitteln. Die Begründung der belangten Behörde, der BF könnte sich problemlos in Kabul eine Existenz aufbauen, entbehre jeglicher konkreten Feststellungen. Bezüglich der prekären Lage in Afghanistan wurde auf mehrere Berichte verwiesen. Die Ausführungen der belangten Behörde im Rahmen der Beweiswürdigung würden sich als unschlüssig und mangelhaft erweisen. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan drohe dem BF als Rückkehrer aus Pakistan, der noch nie in Afghanistan gewesen sei sowie als Rückkehrer aus dem Westen mit ausreichender Wahrscheinlichkeit mangels familiären Netzes in eine ausweglose und lebensbedrohende Situation zu geraten. Da keine innerstaatliche Fluchtalternative bestehe, sei dem BF zumindest subsidiärer Schutz zu gewähren. Beantragt wurde die Durchführung einer mündlichen Verhandlung.
7. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 29.06.2021 in Anwesenheit einer Dolmetscherin für die Sprache Paschtu, sowie des gewillkürten Vertreters des BF eine öffentliche mündliche Verhandlung durch.
In dieser Verhandlung wurde der BF ausführlich zu den Gründen für die Stellung des gegenständlichen Antrages auf internationalen Schutz, den Beschwerdegründen, zu seinen Rückkehrbefürchtungen, zu seinen persönlichen Umständen in Österreich und im Herkunftsstaat befragt.
Ebenso wurde dem BF die Gelegenheit geboten in Bezug auf die dem BF im Vorfeld der mündlichen Verhandlung übermittelten aktuellen Länderberichte zu Afghanistan Stellung zu nehmen und seine konkrete Situation im Falle einer allfälligen Rückkehr darzulegen.
Der BF wurde zudem konkret in Bezug auf seine persönliche Situation bei einer allfälligen Rückkehr in den Herkunftsstaat, dies unter konkreter Zugrundelegung der sich aus den aktuellen Länderfeststellungen ableitbaren allgemeinen Sicherheits- als auch Versorgungssituation, befragt.
Abschließend wurde der BF hinsichtlich der von ihm gesetzten integrativen Schritte im Bundesgebiet befragt und diesem die Möglichkeit geboten sämtliche seit der Einreise im Bundesgebiet gesetzten integrativen Schritte auszuführen.
Im Zuge der Verhandlung vor dem BVwG wurde eine Vertrauensperson des BF im Hinblick auf dessen Verbindung zu ihr und zu deren Eindrücken der Integration des BF im Bundesgebiet befragt.
Seitens des RV wurde zusammenfassend festgehalten, dass es sich bei dem BF aufgrund seiner Verletzungen an seinen Beinen nicht um eine uneingeschränkt arbeitsfähige Person handle. Der BF würde zudem über keine Schulbildung oder Berufsausbildung verfügen. Er hätte zudem keine Ortskenntnisse hinsichtlich einzelner Städte in Afghanistan und auch keine sich dort befindlichen Familienangehörigen. In Anbetracht dieser Umstände könne nicht davon ausgegangen werden, dass dem BF eine IFA in Afghanistan zur Verfügung stehen würde bzw. eine Rückkehr dorthin nicht eine unzumutbare Härte darstellen würde. Zudem wäre es bekannt, dass sich die Sicherheitslage in Afghanistan in jüngster Zeit verschlechtern würde und eine stabile Lage gegenwärtig nicht erkennbar wäre. Aufgrund der gegenwärtigen Situation und der erwartbaren Veränderungen der Sicherheitslage in Afghanistan wäre dem BF eine Rückkehr gegenwärtig insgesamt nicht zumutbar, bzw. würde diesen in Afghanistan keine IFA zur Verfügung stehen.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des BF:
Der BF ist in XXXX , Pakistan geboren, gehört der Volksgruppe der Paschtunen an und ist sunnitischer Moslem. Der BF beherrscht die Sprache Paschtu. Er ist verlobt und hat keine Kinder. Die Identität des BF steht fest.
Der BF wuchs in Pakistan im afghanischen Familienverband auf. Der BF hat keine besondere Schul- oder Berufsausbildung absolviert. Vor seiner Ausreise nach Österreich war der BF als Rikscha Fahrer, als Verkäufer in Geschäften seines Vaters, sowie als Bäcker tätig.
Die Eltern, die drei Brüder und die drei Schwestern des BF sind in Pakistan in der Stadt XXXX bei einem Onkel des BF wohnhaft und der BF steht mit diesen über den erwähnten Onkel in regelmäßigen Kontakt. Ein Onkel mütterlicherseits sorgt für den Lebensunterhalt der Familie. In Afghanistan hat der BF keine familiären Anknüpfungspunkte.
Der BF hat sich seinen Angaben zufolge nie in Afghanistan aufgehalten.
Der BF reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen aus Pakistan kommend nach Österreich ein und hält sich zumindest seit dem 12.03.2016 durchgehend in Österreich auf.
Der BF bezieht Leistungen aus der Grundversorgung und ist nicht selbsterhaltungsfähig.
Der BF leidet und keinen lebensbedrohlich schweren psychischen oder physischen Erkrankungen und befindet sich nicht in durchgehender stationärer ärztlicher Behandlung, er benötigt keine speziellen Medikamente oder Therapien.
1.2. Zu den Fluchtgründen des BF:
Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF Afghanistan, bzw. Pakistan aufgrund einer glaubwürdigen, ihn unmittelbar persönlich treffenden asylrelevanten Verfolgung aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verlassen hat.
Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Ansichten von staatlicher Seite oder von Seiten Dritter unmittelbar und konkret bedroht wäre.
Dem BF droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit keine asylrelevante Gefahr einer ihn konkret und unmittelbar persönlich betreffenden Verfolgung seitens regierungsfeindlicher Gruppierungen, durch die Taliban, einer Zwangsrekrutierung, noch droht dem BF eine verfahrenswesentliche relevante Gefährdung aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit oder seiner Religionszugehörigkeit.
Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF allein deshalb, weil er sich zuletzt in Europa aufgehalten hat und als afghanischer Staatsangehöriger in Afghanistan eine asylrelevante Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten hätte.
Im Verfahren sind keine Anhaltpunkte hervorgekommen, dass eine Asylantragstellung im Ausland oder eine rechtswidrige Ausreise zu Sanktionen oder Repressionen in Afghanistan führen würde.
Der BF hat bei einer Rückkehr nach Afghanistan auch keine sonstige konkret gegen seine Person gerichtete Bedrohung durch staatliche Organe oder durch Privatpersonen zu erwarten.
Der BF hat sich nie in Afghanistan aufgehalten und ist bereits in Pakistan geboren.
Der BF verließ Pakistan aufgrund allgemein schwieriger Lebensbedingungen für afghanische Staatsbürger. Es wird dem Verfahren nicht zugrunde gelegt, dass der BF in Pakistan aufgrund eines von seinem Onkel zu verantwortenden Mordes gesucht oder verfolgt wird. Es kann ebenfalls nicht festgestellt werden, dass der BF in Pakistan aufgrund von Grundstücksstreitigkeiten verfolgt wurde oder von den Taliban entführt wurde. Den Problemen des BF in Pakistan kommt im gegenständlichen Verfahren keine Entscheidungsrelevanz zu.
Es kann nicht festgestellt werden, dass dem BF bei einer Rückkehr nach Afghanistan allein auf Grund der Tatsache, dass er den Großteil seines Lebens in Pakistan verbracht hat bzw. dass jedem Rückkehrer aus Pakistan physische und/oder psychische Gewalt droht.
Es wird dem Verfahren auch nicht zugrunde gelegt, dass dem BF bei einer Rückkehr nach Afghanistan allein auf Grund der Tatsache, dass er über einen längeren Zeitraum in Österreich gelebt hat, in Afghanistan Verfolgung droht bzw. es ist fallgegenständlich aufgrund seines Aufenthaltes in Europa von keiner maßgeblichen westlichen Gesinnung des BF auszugehen.
1.3. Zu einer Rückkehr nach Afghanistan:
Es konnte vom BF nicht glaubhaft vermittelt werden, dass er im Falle der Rückkehr in den Herkunftsstaat einer Verfolgung aus asylrelevanten Gründen ausgesetzt wäre.
Der BF verfügt in Afghanistan über keine Familienangehörigen, bzw. verfügt dieser über kein aufrechtes, tragfähiges familiäres oder sonstiges Unterstützungsnetzwerk in Afghanistan, welches ihn bei einer Rückkehr nach Afghanistan in finanzieller oder sonstiger Hinsicht unterstützen könnte. Die sich in Pakistan aufhältigen Familienangehörigen verfügen gegenwärtig über mangelnde Möglichkeiten dem BF eine entsprechende Unterstützung zukommen zu lassen.
Der BF verfügt über keine Schul- oder spezifische Berufsausbildung.
Der BF hat nie auf sich alleine gestellt in Afghanistan gelebt und sein gesamtes Leben außerhalb Afghanistans verbracht.
Der BF kann aufgrund einer Fußverletzungen zumutbar zwar einzelne Tätigkeiten, etwa als Verkäufer verrichten, ist jedoch nicht als uneingeschränkt arbeitsfähig anzusehen. Im Falle einer Rückkehr wird der BF zu Beginn daher nur Gelegenheits- oder Hilfsarbeiten annehmen können.
Aufgrund der Corona 19 Pandemie bedingten Lage in Afghanistan, kommt es gegenwärtig zu zusätzlichen Erschwernissen bei der Berufssuche und der Suche nach einer Unterkunft für insbesondere ungelernte Hilfs- und Gastarbeiter.
Dem BF ist unter Berücksichtigung der aktuellen Lage in Afghanistan, bzw. auch nach Durchführung einer Gesamtabwägung unter Berücksichtigung der aktuellen EASO – Richtlinien aufgrund seiner aktuellen individuellen Umstände (keine Ausbildung, bzw. keine besondere Berufsausbildung, keine tragfähigen sozialen Anknüpfungspunkte in obgenannten Städten, keine Unterstützungsmöglichkeiten von Familienangehörigen, keine Kenntnis der Gegebenheiten und Örtlichkeiten in Afghanistan, einer nicht vollen Erwerbsfähigkeit, sowie insbesondere der gegenwärtigen Situation aufgrund der weltweiten Corona 19 Pandemie) gegenwärtig eine Rückkehr nach Afghanistan gegenwärtig nicht zumutbar, zumal der BF bei einer Rückkehr gegenwärtig Gefahr liefe, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.
1.4. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:
1.4.1. Im Folgenden werden die wesentlichen Feststellungen aus dem vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen Länderinformationsblatt der Staatendokumentation - Afghanistan (letzte Änderungen: 10.06.2021) wiedergegeben:
„[...] 3 COVID-19 Letzte Änderung: 10.06.2021
Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf, folgende Website der WHO:https: //www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-report oder der Johns-Hopkins-Universität: https://gisanddata.maps.arcgis. com/apps/opsdashboard/index.h tml#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.
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Mit Stand 3.6.2021 wurden der WHO offiziell 75.119 Fälle von COVID-19 gemeldet (WHO 3.6.2021), wobei die tatsächliche Zahl der positiven Fälle um ein Vielfaches höher eingeschätzt wird (IOM 18.3.2021; vgl. HRW 14.1.2021). Maßnahmen der Regierung und der Taliban Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams“ (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause.
Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams“ sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.3.2021; vgl. WB 28.6.2020). Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.3.2021; vgl. IOM 1.2021). Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden (IOM 18.3.2021). Auch wenn der Lockdown offiziell nie beendet wurde, endete dieser faktisch mit Juli bzw. August 2020 und wurden in weiterer Folge keine weiteren Ausgangsperren erlassen (ACCORD 25.5.2021). Laut IOM sind Hotels, Teehäuser und andere Unterkunftsmöglichkeiten derzeit [Anm.: März 2021] nur für Geschäftsreisende geöffnet. Für eine Person, die unter der Schirmherrschaft der IOM nach Afghanistan zurückkehrt und eine vorübergehende Unterkunft benötigt, kann IOM ein Hotel buchen. Personen, die ohne IOM nach Afghanistan zurückkehren, können nur in einer Unterkunftseinrichtung übernachten, wenn sie fälschlicherweise angeben, ein Geschäftsreisen der zu sein. Da die Hotels bzw. Teehäuser die Gäste benötigen, um wirtschaftlich überleben zu können, fragen sie nicht genau nach. Wird dies durch die Exekutive überprüft, kann diese - wenn der Aufenthalt auf der Angabe von falschen Gründen basiert - diesen jederzeit beenden. Die betreffenden Unterkunftnehmer landen auf der Straße und der Unterkunftsbetreiber muss mit einer Verwaltungsstrafe rechnen (IOM AUT 22.3.2021). Laut einer anderen Quelle gibt es jedoch aktuell [Anm.: März 2021] keine Einschränkungen bei der Buchung eines Hotels oder der Unterbringung in einem Teehaus und es ist möglich, dass Rückkehrer und Tagelöhner die Unterbringungsmöglichkeiten nutzen (RA KBL 22.3.2021). Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China (BAMF 8.2.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a). Die Taliban erlauben den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. Guardian 2.5.2020) und gaben im Januar 2020 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Millionen Dollar unterstützt wird. NachAngaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion „unterstützen und erleichtern“ (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021), wenn der Impfstoff in Abstimmung mit ihrer Gesundheitskommission und in Übereinstimmung mit deren Grundsätzen eingesetzt wird (NH 7.4.2021). Offizielle Stellen glauben, dass die Aufständischen die Impfteams nicht angreifen würden, da sie nicht von Tür zu Tür gehen würden (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021). Bei der Bekanntgabe der Finanzierung sagte ein afghanischer Gesundheitsbeamter, dass das COVAX-Programm 20% der 38 Millionen Einwohner des Landes abdecken würde (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021, IOM 18.3.2021). Das Gesundheitsministerium plant 2.200 Einrichtungen im ganzen Land, um Impfstoffe zu verabreichen, und die Zusammenarbeit mit Hilfsorganisationen, die in Taliban-Gebieten arbeiten (NH 7.4.2021). Die Weltbank und die asiatische Entwicklungsbank gaben laut einer Sprecherin des afghanischen Gesundheitsministeriums an, dass sie bis Ende 2022 Impfstoffe für weitere 20% der Bevölkerung finanzieren würden (REU 26.1.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a). Um dies zu erreichen, müssen sich die Gesundheitsbehörden sowohl auf lokale als auch internationale humanitäre Gruppen verlassen, die dorthin gehen, wo die Regierung nicht hinkommt (NH 7.4.2021). Im Februar 2021 hat Afghanistan mit seiner COVID-19-Impfkampagne begonnen, bei der zunächst Mitglieder der Sicherheitskräfte, Mitarbeiter des Gesundheitswesens und Journalisten geimpft werden (RFE/RL 23.2.2021a). Die Regierung kündigte an, 60% der Bevölkerung zu impfen, als die ersten 500.000 Dosen COVID-19-Impfstoff aus Indien in Kabul eintrafen. Es wurde angekündigt, dass zuerst 150.000 Mitarbeiter des Gesundheitswesens geimpft werden sollten, gefolgt von Erwachsenen mit gesundheitlichen Problemen. Die Impfungen haben in Afghanistan am 23.2.2021 begonnen (IOM 18.3.2021). Wochen nach Beginn der ersten Phase der Einführung des Impfstoffs gegen COVID-19 zeigen sich in einige Distrikten die immensen Schwierigkeiten, die das Gesundheitspersonal, die Regierung und die Hilfsorganisationen überwinden müssen, um das gesamte Land zu erreichen, sobald die Impfstoffe in größerem Umfang 15verfügbar sind. Hilfsorganisationen sagen, dass 120 von Afghanistans rund 400 Distrikten - mehr als ein Viertel - als „schwer erreichbar“ gelten, weil sie abgelegen sind, ein aktiver Konflikt herrscht oder mehrere bewaffnete Gruppen um die Kontrolle kämpfen. Ob eine Impfkampagne erfolgreich ist oder scheitert, hängt oft von den Beziehungen zu den lokalen Befehlshabern ab, die von Distrikt zu Distrikt sehr unterschiedlich sein können (NH 7.4.2021). Mit Stand 2.6.2021 wurden insgesamt 626.290 Impfdosen verabreicht (WHO 4.6.2021; vgl UNOCHA 3.6.2021). Etwa 11% der Geimpften haben beide Dosen des COVID-19-Impfstoffs erhalten. Insgesamt gibt es nach wie vor große Bedenken hinsichtlich des gerechten Zugangs zu Impfstoffen für Afghanen, insbesondere für gefährdete Gruppen wie Binnenvertriebene, Rückkehrer und nomadische Bevölkerungsgruppen sowie Menschen, die in schwer zugänglichen Gebieten leben (UNOCHA 3.6.2021). Gesundheitssystem und medizinische Versorgung COVID-19-Patienten können in öffentlichen Krankenhäusern stationär diagnostiziert und behandelt werden (bis die Kapazitäten für COVID-Patienten ausgeschöpft sind). Staatlich geführte Krankenhäuser bieten eine kostenlose Grundversorgung im Zusammenhang mit COVID-19 an, darunter auch einen molekularbiologischen COVID-19-Test (PCR-Test). In den privaten Krankenhäusern, die von der Regierung autorisiert wurden, COVID-19-infizierte Patienten zu behandeln, werden die Leistungen in Rechnung gestellt. Ein PCR-Test auf COVID-19 kostet 3.500 Afghani (AFN) (IOM 18.3.2021). Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 12.1.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, HRW 13.1.2021, AA 16.7.2020, WHO 8.2020). Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (BAMF 8.2.2021). Mit Mai 2021 wird vor allem von einem starken Mangel an Sauerstoff berichtet (TN 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021). Während öffentliche Krankenhäuser im März 2021 weiterhin unter einem Mangel an ausreichenden Testkapazitäten für die gesamte Bevölkerung leiden, können stationäre Patienten während ihres Krankenhausaufenthalts kostenfreie PCR-Tests erhalten. Generell sind die Tests seit Februar 2021 leichter zugänglich geworden, da mehr Krankenhäuser von der Regierung die Genehmigung erhalten haben, COVID-19-Tests durchzuführen. In Kabul werden die Tests beispielsweise im Afghan-Japan Hospital, im Ali Jennah Hospital, im City Hospital, im Alfalah Labor oder in der deutschen Klinik durchgeführt (IOM 18.3.2021). Seit Mai 2021 sind 28 Labore in Afghanistan in Betrieb - mit Plänen zur Ausweitung auf mindestens ein Labor pro Provinz. Die nationalen Labore testen 7.500 Proben pro Tag. Die WHO berichtet, dass die Labore die Kapazität haben, bis zu 8.500 Proben zu testen, aber die geringe Nachfrage bedeutet, dass die Techniker derzeit reduzierte Arbeitszeiten haben (UNOCHA 3.6.2021). 16In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (IOM 18.3.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, UNOCHA 18.2.2021, USAID 12.1.2021). Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020). Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 12.1.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, UNOCHA 19.12.2020). Die kürzlich veröffentlichte IPC-Analyse schätzt, dass sich im April 2021 12,2 Millionen Menschen - mehr als ein Drittel der Bevölkerung - in einem Krisen- oder Notfall-Niveau der Ernährungsunsicherheit befinden (UNOCHA 3.6.2021; vgl. IPC 22.4.2021). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis…) um 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020). Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (AA 16.7.2020). Die Lebensmittelpreise haben sich mit Stand März 2021 auf einem hohen Niveau stabilisiert: Nach Angaben des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht waren die Prei17se für Weizenmehl von November bis Dezember 2020 stabil, blieben aber auf einem Niveau, das 11 %, über dem des Vorjahres und 27 % über dem Dreijahresdurchschnitt lag. Insgesamt blieben die Lebensmittelpreise auf den wichtigsten Märkten im Dezember 2020 überdurchschnittlich hoch, was hauptsächlich auf höhere Preise für importierte Lebensmittel zurückzuführen ist (IOM 18.3.2021). Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 18.3.2021; vgl. WB 15.7.2020). Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes (IOM 23.9.2020; vgl. AA 16.7.2020). Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.9.2020). Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (IOM 23.9.2020; vgl. Martin/Parto 11.2020). Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch lang anhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (UNOCHA 19.12.2020). Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2021 um mehr als 5% geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019 (IOM 18.3.2021). Nach einer Einschätzung des Afghanistan Center for Excellence sind die am stärksten von der COVID-19-Krise betroffenen Sektoren die verarbeitende Industrie (Non-Food), das Kunsthand18werk und die Bekleidungsindustrie, die Agrar- und Lebensmittelverarbeitung, der Fitnessbereich und das Gesundheitswesen sowie die NGOs (IOM 18.3.2021). Nach Erkenntnissen der WHO steht Afghanistan [Anm.: mit März 2021] vor einer schleppenden wirtschaftlichen Erholung inmitten anhaltender politischer Unsicherheiten und einem möglichen Rückgang der internationalen Hilfe. Das solide Wachstum in der Landwirtschaft hat die afghanische Wirtschaft teilweise gestützt, die im Jahr 2020 um etwa zwei Prozent schrumpfte, deutlich weniger als ursprünglich geschätzt. Schwer getroffen wurden aber der Dienstleistungs- und Industriesektor, wodurch sich die Arbeitslosigkeit in den Städten erhöhte. Aufgrund des schnellen Bevölkerungswachstums ist nicht zu erwarten, dass sich das Pro-Kopf-Einkommen bis 2025 wieder auf das Niveau von vor der COVID-19-Pandemie erholt (BAMF 12.4.2021).
Bewegungsfreiheit
Im Zuge der COVID-19 Pandemie waren verschiedene Grenzübergänge und Straßen vorübergehend gesperrt (RFE/RL 21.8.2020; vgl. NYT 31.7.2020, IMPACCT 14.8.2020, UNOCHA 30.6.2020), wobei später alle Grenzübergänge geöffnet wurden (IOM 18.3.2021). Seit dem 29.4.2021 hat die iranische Regierung eine unbefristete Abriegelung mit Grenzschließungen verhängt (UNOCHA 3.6.2021; vgl. AnA 29.4.2021). Die Grenze bleibt nur für den kommerziellen Verkehr und die Bewegung von dokumentierten Staatsangehörigen, die nach Afghanistan zurückkehren, offen. Die Grenze zu Pakistan wurde am 20.5.2021 nach einer zweiwöchigen Abriegelung durch Pakistan wieder geöffnet (UNOCHA 3.6.2021).
Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen statt (F 24 o.D.; vgl. IOM 18.3.2021). Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (IOM 18.3.2021).
IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr und Teilnahme an Reintegrationsprogrammen. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (STDOK 14.7.2020). Von 1.1.2020 bis 22.9.2020 wurden 70 Teilnahmen an dem Reintegrationsprojekt Restart III akzeptiert und sind 47 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt (IOM 23.9.2020). Mit Stand 18.3.2021 wurden insgesamt 105 Teilnahmen im Rahmen von Restart III akzeptiert und sind 86 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt (IOM 18.3.2021). Mit Stand 25.5.2021 ist das Projekt Restart III weiter aktiv und Teilnehmer melden sich (IOM AUT 25.5.2021).
Quellen: • AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (16.7.2020): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan (Stand: Juni 2020), https://www.ecoi.net/en/file/loc al/2035827/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsr elevante_Lage_in_der_Islamischen_Republik_Afghanistan_%28Stand_Juni_2020%29%2C_16. 07.2020.pdf , Zugriff 20.9.2020 • AAN - Afghanistan Analysts Network (1.10.2020): Covid-19 in Afghanistan (7): The effects of the pandemic on the private lives and safety of women at home, https://www.afghanistan-analysts.org /en/reports/economy-development-environment/covid-19-in-afghanistan-7-the-effects-of-the-pan demic-on-the-private-lives-and-safety-of-women-at-home/ , Zugriff 18.11.20020 • ABC News (27.1.2021): Afghanistan prepares to vaccinate citizens against coronavirus amid ongoing violence, https://www.abc.net.au/news/2021-01-27/afghanistan-prepares-for-vaccine-rolloutamid-ongoing-violence/13096290 , Zugriff 1.2.2021 • ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin & Asylum Research and Documentation (25.5.2021): Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Gewalt gegen Kinder und etwaige Veränderungen durch die Covid-19-Pandemie; Zugang zu Bildungseinrichtungen im Zusammenhang mit Pandemie, insb. in Kabul und Mazar-e-Sharif, https://www.ecoi.net/en/document/2052138.html , Zugriff 4.6.2021 , ua.
Politische Lage Letzte Änderung: 11.06.2021
Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 1.10.2020). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen (NSIA 1.6.2020) bis 39 Millionen Menschen (WoM 6.10.2020). Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen, die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (CoA 26.2.2004; vgl. STDOK 7.2016, Casolino 2011). Die Verfassung der Islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (CoA 26.2.2004; vgl. Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019). Im direkt gewählten Unterhaus der Nationalversammlung, der Wolesi Jirga (Haus des Volkes) mit 249 Sitzen, kandidieren die Abgeordneten für eine fünfjährige Amtszeit. In der Meshrano Jirga, dem Oberhaus mit 102 Sitzen, wählen die Provinzräte zwei Drittel der Mitglieder für eine Amtszeit von drei oder vier Jahren, und der Präsident ernennt das verbleibende Drittel für eine Amtszeit von fünf Jahren. Die Verfassung sieht die Wahl von Distrikträten vor, die ebenfalls Mitglieder in die Meshrano Jirga entsenden würden, aber diese sind noch nicht eingerichtet worden. Zehn Sitze der Wolesi Jirga sind für die nomadische Gemeinschaft der Kutschi reserviert (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 30.3.2021) und mindestens zwei Frauen sollen aus jeder Provinz gewählt werden (insgesamt 68) (USDOS 30.3.2021). Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit gelegentlichen kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzesentwürfen die grundsätzliche Funktionsfähigkeit des Parlaments. Gleichzeitig werden aber die verfassungsmäßigen Rechte genutzt, um die Arbeit der Regierung gezielt zu behindern, Personalvorschläge der Regierung zum Teil über lange Zeiträume zu blockieren, und einzelne Abgeordnete lassen sich ihre Zustimmung mit Zugeständnissen - wohl auch finanzieller Art - belohnen. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaftspflicht der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 16.7.2020).
Quellen: • AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (1.10.2020): Afghanistan: Politisches Porträt, https://www.au swaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/afghanistan-node/politisches-portraet/204718 , Zugriff 6.11.2020, ua.
Jüngste Entwicklungen und aktuelle Ereignisse Letzte Änderung: 11.06.2021
Während die Taliban behaupten, nicht mehr dieselbe brutale Gruppe zu sein die Afghanistan in den 1990er Jahren beherrschte, und versuchen inmitten der internationalen Bemühungen um eine Friedensregelung zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban ein versöhnlicheres Image zu vermitteln, sagen Afghanen, die derzeit unter der Kontrolle der Taliban leben, dass die militante Gruppe weiterhin in ihrer extremistischen Auslegung des Islam verwurzelt ist und mit Angst und Barbarei regiert (RFE/RL 13.4.2021), wobei sich viele innerhalb der Taliban erhoffen, ihr „Emirat“ wiederherstellen zu können (Ruttig 3.2021). Einem lokalen Vertreter der Talibanzufolge sind die Taliban von früher und die Taliban von heute dieselben (BBC 15.4.2021). Die Taliban haben sich offenbar absichtlich vage darüber geäußert, was sie mit der „islamischen Regierung“ meinen, die sie schaffen wollen. Einige Analysten sehen darin einen bewussten 245Versuch, interne Reibereien zwischen Hardlinern und gemäßigteren Elementen zu vermeiden (BBC 15.4.2021). Es gibt Anzeichen für einen wirklichen Politikwandel in bestimmten Bereichen (z.B. bei der Nutzung der Medien, im Bildungssektor, eine größere Akzeptanz von NGOs und die Einsicht, dass ein zukünftiges politisches System zumindest einige ihrer politischen Rivalen aufnehmen muss), doch scheinen ihre politischen Anpassungen eher von politischen Notwendigkeiten als von grundlegenden Veränderungen in der Ideologie getrieben zu sein (Ruttig 3.2021; vgl. BBC 15.4.2021). In den letzten Jahren haben sich die Taliban dazu bekannt, Frauen ihre Rechte zu gewähren und ihnen zu erlauben, zu arbeiten und zur Schule zu gehen, wenn sie nicht gegen den Islam oder die afghanischen Werte verstoßen (RFE/RL 13.4.2021; vgl. BBC 15.4.2021), aber laut einer großen Zahl von Afghanen, die unter der Herrschaft der Taliban leben, hat sich die Politik der militanten Gruppe in Bezug auf die Bildung von Mädchen seit mehr als zwei Jahrzehnten nicht geändert (RFE/RL 13.4.2021). In einigen von den Taliban kontrollierten Gebieten sind Schulen für Mädchen komplett verboten (RFE/RL 13.4.2021; vgl. BBC 15.4.2021). In anderen Regionen gibt es Beschränkungen. Die Gruppe deutete auch an, dass sie die kürzlich gewonnenen Freiheiten der Frauen beschneiden will, die ihrer Meinung nach „Unmoral“ und „Unanständigkeit“ fördern (RFE/RL 13.4.2021). Angesichts ihres anhaltenden dominierenden Verhaltens, ihrer Intoleranz gegenüber politisch Andersdenkenden und ihrer Unterdrückung (insbesondere von Mädchen und Frauen) in den von ihnen kontrollierten Gebieten besteht die berechtigte Sorge, dass sie zu den Praktiken von vor dem Herbst 2001 zurückkehren könnten, wenn der politische Druck nach einem eventuellen Friedensabkommen und einem Truppenabzug nachlässt. Die Veränderungen in der Rhetorik und den Positionen der Taliban werfen jedoch ein Licht auf das, was sie in einer politischen Ordnung nach dem Friedensschluss in Afghanistan, in der sie sich mit anderen afghanischen Machtgruppen und Interessen zu einem Modus Vivendi zusammenfinden müssen, möglicherweise zu akzeptieren bereit sind. Ob einige Änderungen in der Herangehensweise aufrechterhalten werden, hängt von der Fähigkeit der afghanischen Gemeinschaft und politischen Gruppen ab, den Druck auf die Taliban aufrechtzuerhalten. Dies wiederum hängt von der anhaltenden internationalen Aufmerksamkeit gegenüber Afghanistan ab, insbesondere wenn es zu einer politischen Einigung und einer Machtteilung kommt und nachdem die ausländischen Soldaten abgezogen sind (Ruttig 3.2021). Die Taliban glauben, dass der Sieg ihnen gehört. Die Entscheidung von US-Präsident Joe Biden, den Abzug der verbleibenden US-Truppen auf September zu verschieben, was bedeutet, dass sie über den im letzten Jahr vereinbarten Termin 1.5.2021 hinaus im Land bleiben werden, hat eine scharfe Reaktion der politischen Führung der Taliban ausgelöst. Nichtsdestotrotz scheint das Momentum auf Seiten der Militanten zu sein. Im vergangenen Jahr gab es einen offensichtlichen Widerspruch im „Jihad“ der Taliban. Nach der Unterzeichnung eines Abkommens mit den USA stellten sie Angriffe auf internationale Truppen ein, kämpften aber weiter gegen die afghanische Regierung. Ein Taliban-Sprecher besteht jedoch darauf, dass es keinen Widerspruch gibt (BBC 15.4.2021; vgl. VIDC 26.4.2021). Für die Taliban ist die Errichtung einer „islamischen Struktur“ eine Priorität. Die Taliban sind noch nicht ins Detail gegangen, wie diese aussehen 246würde. Ähnliche Bedenken werden im Hinblick auf die Auslegung der Scharia und die Rechte der Frauen geäußert (VIDC 26.4.2021). Die Luftwaffe, vor allem die der Amerikaner, hat in den vergangenen Jahren entscheidend dazu beigetragen, den Vormarsch der Taliban aufzuhalten. Die USA haben ihre Militäroperationen bereits drastisch zurückgefahren, nachdem sie im vergangenen Jahr ein Abkommen mit den Taliban unterzeichnet hatten, und viele befürchten, dass die Taliban nach ihrem Abzug in der Lage sein werden, eine militärische Übernahme des Landes zu starten (BBC 15.4.2021; vgl. VIDC 26.4.2021). Im Jahr 2020 verursachten die Taliban weiterhin die meisten zivilen Opfer von allen Parteien des bewaffneten Konflikts (UNAMA 2.2021a). Nach Erkenntnissen der AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) gingen die durch Taliban-Angriffe verursachten zivilen Opfer im Jahr 2020 im Vergleich zu 2019 um 40 % zurück (AIHRC 28.1.2021; vgl. ACCORD 6.5.2021) - nach Angaben der UNAMA war es ein Rückgang um 19 % (UNAMA 2.2021a). Der Hauptgrund für diesen Rückgang könnte ein Mangel an komplexen und Selbstmordattentaten in den großen Städten des Landes sein. Im Jahr 2020 wurden in Afghanistan insgesamt 4.567 Zivilisten durch Taliban-Angriffe getötet oder verletzt, während im gleichen Zeitraum 2019 die Gesamtzahl der durch Taliban-Angriffe verursachten zivilen Opfer bei 7.727 lag (AIHRC 28.1.2021; vgl ACCORD 6.5.2021). UNAMA schrieb den Taliban 3.960 zivile Opfer (1.470 Tote und 2.490 Verletzte) zu. Dieser Rückgang bezieht sich jedoch nur auf die verletzten Zivilisten, da Anstieg von getöteten Zivilisten um 13 % dokumentiert wurde (UNAMA 2.2021a). Selbstmord- und Nicht-Selbstmord-IEDs verursachten mehr als die Hälfte der den Taliban zugeschriebenen zivilen Opfer, wobei Nicht-Selbstmord-IEDs fünfmal mehr zivile Opfer verursachten als Selbstmord-IEDs. Bodenkämpfe, einschließlich des Einsatzes von Mörsern und Raketen, waren für fast ein Viertel der von den Taliban verursachten zivilen Opfer verantwortlich. (UNAMA 2.2021a). UNAMA schrieb den Taliban 6 % mehr getötete Zivilisten aus Bodenkämpfen und 15 % weniger verletzte Zivilisten im Vergleich zu 2019 zu. Dieser Rückgang war hauptsächlich auf das Ausbleiben wahlbezogener Gewalt im Jahr 2020 zurückzuführen, wurde jedoch teilweise durch eine höhere Zahl von zivilen Opfern aufgrund der anhaltend hohen Zahl von Bodenkämpfen mit zivilen Opfern während des gesamten Jahres ausgeglichen (UNAMA 2.2021a). Die UNAMA verzeichnete außerdem einen Anstieg der Zahl der durch gezielte Tötungen der Taliban, zu denen auch „Attentate“ gehören, die bewusst auf Zivilisten abzielen, getöteten und verletzten Zivilisten um 22 % und einen Anstieg der zivilen Opfer bei Entführungen von Zivilisten durch die Taliban um 169% (UNAMA 2.2021a).
Quellen: • ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin & Asylum Research and Documentation (6.5.2021b): Themendossier zu Afghanistan: Überblick über die Sicherheitslage in Afghanistan, https://www.ecoi.net/en/document/2050902.html , Zugriff 17.5.2021 • AIHRC - Afghanistan Independent Human Rights Commission (28.1.2021): Summary of report on civilian casualties of armed conflict in 2020, https://www.ecoi.net/en/document/2045010.html , Zugriff 12.2.2021, ua.
Ethnische Gruppen Letzte Änderung: 11.06.2021
In Afghanistan leben laut Schätzungen zwischen 32 und 36 Millionen Menschen (NSIA 6.2020; vgl. CIA 16.2.2021). Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht (STDOK 7.2016 ; vgl. CIA 16.2.2021). Schätzungen zufolge sind: 40 bis 42% Paschtunen, 27 bis 30% Tadschiken, 9 bis 10% Hazara, 9% Usbeken, ca. 4% Aimaken, 3% Turkmenen und 2% Belutschen. Weiters leben in Afghanistan eine große Zahl an kleinen und kleinsten Völkern und Stämmen, die Sprachen aus unterschiedlichsten Sprachfamilien sprechen (GIZ 4.2019; vgl. CIA 2012, AA 16.7.2020). 302Artikel 4 der Verfassung Afghanistans besagt: „Die Nation Afghanistans besteht aus den Völkerschaften der Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Paschai, Nuristani, Aimak, Araber, Kirgisen, Qizilbasch, Gojar, Brahui und anderen Völkerschaften. Das Wort ‚Afghane‘ wird für jeden Staatsbürger der Nation Afghanistans verwendet“ (STDOK 7.2016). Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnischen Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung (Artikel 16) sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt, wo die Mehrheit der Bevölkerung (auch) eine dieser Sprachen spricht: Usbekisch, Turkmenisch, Belutschisch, Pashai, Nuristani und Pamiri (AA 2.9.2019). Es gibt keine Hinweise, dass bestimmte soziale Gruppen ausgeschlossen werden. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Nichtsdestotrotz, beschweren sich unterschiedliche ethnische Gruppen, keinen Zugang zu staatlicher Anstellung in Provinzen zu haben, in denen sie eine Minderheit darstellen (USDOS 30.3.2021). Der Gleichheitsgrundsatz ist in der afghanischen Verfassung rechtlich verankert, wird allerdings in der gesellschaftlichen Praxis immer wieder konterkariert. Soziale Diskriminierung und Ausgrenzung anderer ethnischer Gruppen und Religionen im Alltag bestehen fort und werden nicht zuverlässig durch staatliche Gegenmaßnahmen verhindert (AA 16.7.2020). Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (USDOS 30.3.2021).
Quellen: • AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (16.7.2020): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan (Stand: Juni 2020), https://www.ecoi.net/en/file/loc al/2035827/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsr elevante_Lage_in_der_Islamischen_Republik_Afghanistan_%28Stand_Juni_2020%29%2C_16. 07.2020.pdf , Zugriff 9.10.2020, ua.
Paschtunen Letzte Änderung: 11.06.2021
Ethnische Paschtunen sind mit ca. 40% der Gesamtbevölkerung die größte Ethnie Afghanistans. Sie sprechen Paschtu/Pashto; als Verkehrssprache sprechen viele auch Dari. Sie sind sunnitische Muslime (MRG o.D.e). Die Paschtunen haben viele Sitze in beiden Häusern des Parlaments - jedoch nicht mehr als 50% der Gesamtsitze (USDOS 30.3.2021). Die Paschtunen sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 44% in der Afghan National Army (ANA) und der Afghan National Police (ANP) repräsentiert (BI 29.9.2017). Paschtunen siedeln in einem halbmondförmigen Gebiet, das sich von N