Entscheidungsdatum
15.09.2021Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W164 2167009-1/30E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. Rotraut LEITNER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX StA. Afghanistan, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Vorarlberg, vom 21.07.2017, Zl. 1077844810/150853529, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:
A)
I. Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides gemäß § 3 Abs. 1 als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 stattgegeben und wird XXXX der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.
III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für ein Jahr erteilt.
IV. Die Spruchpunkte III. und IV. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der - damals minderjährige - Beschwerdeführer (im Folgenden: BF), ein Staatsangehöriger von Afghanistan, stellte am 14.07.2015 nach illegaler Einreise den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz und gab im Wesentlichen an, er sei am XXXX geboren, ledig, sunnitischer Moslem und gehöre der Volksgruppe der Pashtunen an. Er habe 10 Jahre lang die Grundschule besucht, keine Berufsausbildung absolviert und auch keinen Beruf ausgeübt. Sein Vater, ca. 49 Jahre, seine Mutter, ca. 38 Jahre, sowie seine drei Brüder und vier Schwestern würden in Afghanistan leben. Sein Cousin XXXX , geb. XXXX , lebe auch in Österreich. Der letzte Wohnsitz des BF sei in XXXX , Jalalabad, Afghanistan gewesen. Zu seinem Fluchtgrund gab er an, dass es in Afghanistan keine Arbeit gebe und die Wirtschaftssituation sehr schlecht sei. Ab und zu hätten sie nicht einmal ihr tägliches Brot. Auch gebe es sehr viele Taliban in Afghanistan. Seine Familie könne sich kaum ernähren. Deshalb wolle er hierbleiben und seine Familie in Afghanistan unterstützen.
2. Im Zuge der niederschriftlichen Einvernahme vom 28.06.2016 vor dem BFA legte der BF ein Empfehlungsschreiben, eine Schulbesuchsbestätigung und diverse Kurs-Teilnahmebestätigungen vor.
Der BF gab an, dass er bei der Erstbefragung sehr müde gewesen sei und sich nicht gut konzentrieren habe können. Der Dolmetsch habe Farsi gesprochen, weshalb er ihn nicht gut verstehen habe können. Sein Fluchtgrund sei falsch protokolliert worden. Er sei von den Taliban bedroht worden und habe gar keine wirtschaftlichen Probleme gehabt. Der Dolmetsch habe ihn nicht gut verstanden. Der BF habe damals gesagt, er hätte wegen des Krieges nicht in die Schule gehen können. Er habe über die allgemeine Lage in Afghanistan gesprochen und darüber, dass dort viele Menschen wirtschaftliche Probleme hätten. Er habe nicht gewusst, was er unterschreibe und auch keine Rückübersetzung erhalten. Zu seiner Person gab der BF an, er sei XXXX im Dorf XXXX , Distrikt XXXX , Nangarhar, Afghanistan geboren, habe 10 Jahre die Grundschule besucht und nie gearbeitet. Seine Familie habe 5 Jerib große Grundstücke und sein Vater führe ein Lebensmittelgeschäft. Sein Vater verdiene monatlich 40.000 Afghani. Die Familie habe ein eigenes Haus gehabt und lebe nach wie vor dort. Vor 4 oder 5 Tagen habe der BF zuletzt telefonischen Kontakt mit seinem Vater gehabt. Die Familie hätte nun Probleme mit den Taliban. Diese hätten den Vater gefragt, weshalb der BF geflüchtet sei. Zum Nachweis seiner Identität legte der BF eine Tazkira (samt englischer Übersetzung) und eine Geburtsregistrierungskarte (samt englischer Übersetzung) vor. Sein Vater habe ihm diese Dokumente vor einer Woche geschickt. Die Vertretung des BF beantragte eine Echtheitsprüfung der vorgelegten Dokumente. Zu den Dokumenten näher befragt gab der BF an, er habe diese Tazkira damals in Afghanistan ausstellen lassen und sei hierfür zum Distriktvorsteher gegangen. Zuvor habe er eine andere Tazkira gehabt, die er verloren habe. Befragt, weshalb er in hier anhängigen Verfahren nicht sein Geburtsdatum laut der nun vorgelegten Tazkira ( XXXX ) angegeben habe, gab der BF an, er habe den Dolmetscher nicht richtig verstanden und dieser ihn auch nicht. Der BF kenne keine Geburtsdaten seiner Familienmitglieder. Nur sein Vater wisse genau, wann der BF geboren sei. Befragt, wie es dazu komme, dass das Ausstellungsdatum der Tazkira später sei, als das Datum ihrer Übersetzung, gab der BF an, er könne sich dies nicht erklären. Es müsse ein Fehler in der Übersetzung liegen.
Zu seinem Fluchtgrund legte der BF zwei Drohbriefe vor und führte aus, er und sein Vater seien nach dem Gebet in der Moschee von vier Personen angesprochen worden. Diese hätten zu seinem Vater gesagt, dass der BF älter geworden sei und hätten ihm den ersten Drohbrief gegeben. Sie hätten auch gesagt, dass ihr Führer wolle, dass der BF mit ihnen arbeite. Sie hätten dem Vater eine mehrtägige oder mehrwöchige Frist gesetzt, in der er den Drohbrief unterschreiben und den Taliban zurückbringen hätte sollen. Der BF selbst habe das Gespräch nicht im Detail mitgehört, da er Angst gehabt habe und sein Vater ihm gesagt habe, dass er sich ein wenig zur Seite stellen solle. Die Männer hätten Bärte gehabt und traditionelle Kleidung getragen, der BF habe Angst gehabt und habe sie nicht genau gesehen. Am Heimweg habe sein Vater nicht davon gesprochen. Als sie zu Hause angekommen seien, habe sein Vater alles seiner Mutter erzählt. Da habe der BF alles mitbekommen, sei sehr traurig gewesen und habe zu weinen begonnen. Auch seine Eltern seien traurig gewesen und hätten geweint. Der BF habe zu seinem Vater gesagt, dass er weiter zur Schule gehen und nicht mit den Taliban zusammenarbeiten möchte. Beim Erhalt des zweiten Drohbriefes sei der BF bereits auf der Flucht gewesen. Die Taliban hätten seinem Vater gesagt, dass sie den BF bestimmt finden würden, egal wo in Afghanistan er sich aufhalte. Nach Erhalt des ersten Briefes sei sein Vater nach Kabul gegangen und habe eine Wohnung gemietet, in der der BF habe wohnen sollen um in Sicherheit zu sein. Die Familie sei mit dem Auto zuerst nach Jalalabad und dann weiter nach Kabul gefahren. Die ganze Familie sei 3 bis 4 Wochen in Kabul gewesen. In welchem Stadtteil sie genau gewesen seien, wisse er nicht. Sie seien in einem/r sehr alten Haus/Wohnung mit zwei Zimmern gewesen. Sie hätten gehört, dass man in Kabul in Sicherheit sei und hätten dort in Sicherheit leben wollen. Der BF sei in Kabul immer nur zuhause gewesen, da er noch immer Angst gehabt habe. Die Taliban hätten der Familie auch in Kabul zwei oder drei Mal gedroht. Die Taliban hätten von seinem Vater verlangt, wieder ins Dorf zurückzukehren. Sein Vater habe seiner Mutter davon erzählt und gemeint, dass sie eine Lösung finden müssten. Der BF selbst sei sehr traurig gewesen und habe Angst gehabt. Er habe nicht mehr in das Dorf zurückkehren wollen, sie seien aber zurückgegangen. Sein Vater sei dann erneut von den Taliban bedroht worden. Sie hätten gemeint, der BF müsse sich ihnen anschließen, da er ansonsten getötet werde. Der BF selbst habe nie wieder ein Mitglied der Taliban persönlich gesehen. Auch im Dorf sei er meistens zuhause gewesen. Nach der letzten Bedrohung noch vor der Ausreise des BF, habe sein Vater mit seiner Mutter und dem Onkel mütterlicherseits gesprochen und sie hätten sich entschieden den BF wegzuschicken. In dem zweiten Brief stehe eindeutig, dass die Taliban den BF in ganz Afghanistan finden und töten würden. Seiner Familie gehe es nicht so gut seitdem die Taliban ihnen den zweiten Brief überreicht hätten, die Taliban würden aber Frauen, Kindern und älteren Menschen nichts antun. Was seine Familie für Pläne habe, wisse er nicht. Befragt, weshalb es den Taliban nicht gelungen sei, ihn zu bekommen, obwohl sie ihm in sein Heimatdorf und nach Kabul gefolgt seien, meinte er, dass er sich immer versteckt habe und sie ihm Fristen gesetzt hätten. Wenn er dortgeblieben wäre, hätten sie ihn gefasst.
Zu seiner Situation in Österreich gab er an, in die Schule zu gehen, zweimal wöchentlich Deutschunterricht zu bekommen und Sport zu machen. Er würde gerne Arzt oder Automechaniker werden.
3. Das BFA veranlasste eine Untersuchung der vom BF vorgelegten Identitätsdokumente. Das Ergebnis der Untersuchung sämtlicher Dokumente lautete: „Nach dem derzeitigen Kenntnisstand ist keine Beurteilung des Formularvordruckes möglich.“ und „Nach dem derzeitigen Kenntnisstand ist keine Beurteilung der Ausstellungsmodalitäten möglich.“
4. Am 12.07.2017 fand eine niederschriftliche Einvernahme vor dem BFA statt, bei der dem BF das Ergebnis der Echtheitsprüfung seiner Identitätsdokumente zur Kenntnis gebracht wurde. Der BF nahm dazu Stellung und gab an, dass die Tazkira vom Geburtenregistrierungsamt registriert werde. Wenn man in Afghanistan geboren werde, werde man zuerst ins Geburtenregister eingetragen und erst später werde eine Tazkira ausgestellt. Die Dokumente, die er vorgelegt habe, seien echt. Er sei afghanischer Staatsbürger und nicht Pakistani oder Perser. Sein Vater habe ihm die Dokumente kurz vor der letzten Einvernahme geschickt. Befragt weshalb er sein richtiges Geburtsdatum nicht bereits bei der Erstbefragung angegeben habe, obwohl er seit 2014 (Ausstellungsdatum: 30.06.2014) im Besitz der Tazkira sei, meinte er, dass er sich mit der europäischen Zeitrechnung nicht ausgekannt habe und der Dolmetsch es umgerechnet habe. Wo die Dokumente ausgestellt worden seien, wisse er nicht, da sein Vater sie ausgestellt bekommen habe, er könne ihn aber fragen. Er ersuche darum, die Dokumente nochmals überprüfen zu lassen.
5. Mit Bescheid des BFA vom 21.07.2017 wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005, sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde ihm nicht erteilt und gegen ihn eine Rückkehrentscheidung erlassen. Es wurde festgestellt, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei.
Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass die vorgelegten Identitätsdokumente zwar keine eindeutigen Fälschungsmerkmale aufweisen würden, aber auch deren Echtheit nicht verbindlich habe festgestellt werden können. Aufgrund der gravierenden Widersprüche zwischen den in der Einvernahme getätigten Angaben und den Angaben auf den Dokumenten würden diese nicht als verbindliche Identitätsdokumente dienen können. Den Angaben des BF bezüglich Herkunftsregion, Volkszugehörigkeit und Staatsangehörigkeit sei zu glauben, da der BF über die erforderlichen Sprach- und Lokalkenntnisse verfüge. Sein Fluchtvorbringen sei zur Gänze unglaubhaft. Daher liege keine asylrelevante Verfolgung im Sinne der GFK vor. Auch habe der BF in Afghanistan familiäre Anknüpfungspunkte und die Möglichkeit nach Kabul zurückzukehren. Er sei in der Lage seinen Lebensunterhalt selbst zu bestreiten, sodass er bei seiner Rückkehr nicht in eine die Existenz bedrohende Notlage geraten würde. Er habe immer in Afghanistan gelebt, 6 Jahre lang die Schule besucht, sei gesund und arbeitsfähig. Es würden also keine individuellen Umstände vorliegen, die dafürsprechen würden, dass er bei einer Rückkehr in sein Heimatland in eine extreme Notlage geraten würde. Es drohe ihm daher keine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 und 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder 13 zur Konvention. Zur Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung wurde eine Interessensabwägung vorgenommen. Im vorliegenden Fall hätten keine Hinweise gefunden werden können, die den Schluss zulassen würden, dass durch eine Rückkehrentscheidung auf unzulässige Weise im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK in sein Recht auf Schutz des Familien- und Privatlebens eingegriffen würde. Die Rückkehrentscheidung sei also gerechtfertigt.
6. Gegen diesen Bescheid erhob der BF fristgerecht Beschwerde wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes, mangelhafter bzw. unrichtiger Bescheidbegründung sowie Rechtswidrigkeit infolge von Verletzung der Verfahrensvorschriften. Es wurden die Anträge gestellt, das Bundesverwaltungsgericht möge den angefochtenen Bescheid dahingehend abändern, dass dem Antrag auf internationalen Schutz Folge gegeben werde und dem BF der Status des Asylberechtigten, in eventu ihm der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt werde, in eventu die Rückkehrentscheidung für dauerhaft unzulässig erklären, in eventu einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilen, in eventu den Bescheid zur Gänze beheben und zur neuerlichen Verhandlung an das BFA zurückzuverweisen sowie eine mündliche Verhandlung anberaumen.
Die belangte Behörde habe es unterlassen, auf das individuelle Vorbringen einzugehen und die Gesamtbeurteilung anhand der verfügbaren Länderinformationen und der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts verabsäumt. Es wurde auf die Verständigungsschwierigkeiten mit dem Dolmetsch bei der Erstbefragung hingewiesen. Zudem sei der BF sehr müde gewesen und zum Zeitpunkt der Befragung noch minderjährig gewesen. Betreffend das Fluchtvorbringen wurde auf seine Ausführungen in der Einvernahme vor den BFA und auf die vorgelegten Drohbriefe verwiesen. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan würde der BF entgegen seiner religiösen und politischen Gesinnung zwangsweise rekrutiert oder im Falle einer Weigerung getötet. Der afghanische Staat sei nicht in der Lage den BF vor diesen Verfolgungsmaßnahmen durch die Taliban zu schützen. Betreffend die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten wurde auf die instabile Sicherheitslage in der Heimatprovinz des BF verwiesen. Auch die Städte Kabul, Mazar-e Sharif und Herat würden keine innerstaatlichen Fluchtalternativen darstellen, da der BF über keine Bezugspunkte in diesen Städten verfügen würde. Er hätte dort keinen Zugang zu Unterkunft, Arbeit oder sonstigen lebensnotwendigen Gütern. Zu erwähnen sei außerdem, dass Rückkehrern seitens der Taliban besondere Gefahr drohe, da sie für Spione gehalten würden bzw. von Kriminellen, weil sie für wohlhabend gehalten würde. Zudem wurde auf die gute Integration des BF verwiesen und diesbezüglich eine Teilnahmebestätigung des Vereins Menschen Leben, eine Anmeldebestätigung für den Pflichtschulabschlusskurs und eine Teilnahmebestätigung für einen Deutschkurs auf dem Sprachniveau A2 vorgelegt.
7. Am 21.08.2017 langte eine Beschwerdeergänzung ein, in der ausgeführt wird, dass in Afghanistan Zwangsrekrutierungen durch die Taliban stattfinden würden. Die Behörde habe dies nicht erwähnt. Auch habe die Behörde nicht gewürdigt, dass der BF bei seiner Erstbefragung und der Einvernahme vor dem BFA noch minderjährig gewesen sei. Drohbriefe der Taliban seien weit verbreitet. Der BF würde im Fall einer Rückkehr in eine ausweglose Situation geraten, da er in den Städten keine Verwandten oder Bekannten habe. Es bestehe daher keine innerstaatliche Fluchtalternative. Betreffend die Lage in den Städten, insbesondere Kabul, wurde auf diverse Länderberichte, Sachverständigengutachten sowie Judikatur verwiesen. Dem Schreiben wurde eine Anfragebeantwortung der Staatendokumentation betreffend die Taliban-Zwangsrekrutierung von Kindern angeschlossen.
8. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 22.06.2018 eine mündliche Verhandlung durch, an der der BF im Beisein seiner Rechtsvertretung und eines Dolmetschers für die Sprache Paschto teilnahm. Das BFA ist entschuldigt der Verhandlung ferngeblieben.
Der BF gab zusammengefasst an, er habe zehn Jahre die Schule besucht und von der ersten Klasse an, eine Stunde pro Woche Dari-Unterricht erhalten. Er habe jedoch nicht gut Dari lernen können, weil er selbst Paschtune sei. Seine Muttersprache sei Paschto und er habe erst in Österreich in Wohnheimen im Kontakt mit anderen Afghanen Dari gelernt. Zu seiner Erstbefragung, gab er an, gleich nach seiner Ankunft noch in der Nacht einvernommen worden zu sein und sich nicht mit den Gesetzen Österreichs ausgekannt zu haben und dass ein iranischer Dolmetscher beigezogen worden sei. Befragt, warum er bei der Erstbefragung die Bedrohung durch die Taliban nicht erwähnt habe, brachte er vor, sich mit den österreichischen Gesetzen nicht ausgekannt zu haben. Er habe bei der Erstbefragung sehr wohl die Bedrohungen durch die Taliban angegeben. Zu seinem Fluchtgrund gab der BF ergänzend folgendes an: Nachdem er mit seinem Vater in die Moschee beten gegangen sei, hätten auf dem Heimweg vier Taliban-Mitglieder seinen Vater angesprochen und gesagt, dass sein Sohn sei nun erwachsen sei, sich ihnen anschließen und für sie arbeiten müsse. Zuhause habe sein Vater seiner Mutter davon erzählt. Insgesamt seien sie zwei bis dreimal bedroht worden, bis sie nach Kabul gezogen seien, wo sie drei bis vier Wochen in einem kleinen Haus gewohnt hätten. Auch in Kabul hätten die Taliban seine Familie zuhause aufgesucht und von ihnen verlangt in das Heimatdorf zurückzukehren. Daraufhin seien sie in ihr Heimatdorf zurückgekehrt und hätten seine Eltern und sein Onkel mütterlicherseits die Ausreise des BF arrangiert. Befragt, wann er von den Drohbriefen erfahren hätte, gab der BF an, auf dem Nachhauseweg von der Moschee bemerkt zu haben, dass sein Vater einen Zettel in der Hand halte. Er habe ihn nicht nach diesem Zettel gefragt. Dass es sich um einen Drohbrief gehandelt habe, habe er erst erfahren, als die Taliban ein zweites Mal bei ihnen erschienen seien. Als die Taliban das zweite Mal bei ihnen gewesen seien, sei er in seinem Zimmer gewesen und habe er dieses nicht verlassen. Sein Vater habe mit den Taliban gesprochen, und sie hätten ihm den zweiten Brief gegeben und gemeint, dass es das letzte Mal gewesen sei, und sein Sohn beim nächsten Mal bereit sein solle. Daraufhin habe der BF Afghanistan verlassen.
9. Am 02.10.2020 langte eine Stellungnahme zu den Länderinformationen sowie zur persönlichen Situation des BF ein: Die Heimatprovinz des BF (Nangarhar) sei nach wie vor immer wieder Ziel terroristischer Angriffe, insbesondere der Taliban. Der BF verfüge über keine Familie mehr in Afghanistan, da diese von den Taliban getötet worden sei. Vom Ableben seiner Familienmitglieder habe er durch einen ehemaligen Schulkameraden telefonisch erfahren. Der BF gebe sich am Tod seiner Familie selbst die Schuld und verletze sich deswegen selbst. Auf Grund seines psychischen Ausnahmezustands sei er nicht in der Lage gewesen, Deutschkurse zu besuchen. Derzeit gehe es ihm besser, und besuche er seit September 2020 die VHS XXXX um seinen Pflichtschulabschluss nachzuholen.
10. Am 07.10.2020 fand erneut eine mündliche Verhandlung statt, an der der BF im Beisein seiner Rechtsvertreterin und einer Dolmetscherin für die Sprache Paschto einvernommen wurde. Ein Vertreter des BFA ist entschuldigt nicht erschienen.
Der BF führte im Wesentlichen aus, ein ehemaliger Schulfreund habe ihm bereits ca. zwei bis drei Monate vor der ersten mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht telefonisch mitgeteilt, dass seine Familie ums Leben gekommen sei. Er habe das in der Verhandlung damals nicht erzählt, weil er sich nicht in einem idealen Zustand befunden habe und sein Gehirn „blockiert“ gewesen sei. Erst in den letzten ca. zwei Monaten habe er es geschafft, wieder ein halbwegs normales Leben zu führen. Woran seine Familienmitglieder gestorben seien, wisse er nicht. Auch wisse er nicht, wer sich nun um den Nachlass (Grundstücke, Geschäft) kümmere, oder ob Sterbeurkunden existieren würden. In Afghanistan er nun niemanden mehr. Der BF gebe er sich selbst die Schuld am Tod seiner Familienmitglieder und habe sich deswegen auch selbst verletzt. Hinsichtlich der vorgelegten Drohbriefe brachte er vor, damals seinen Vater gebeten zu haben, ihm die Drohbriefe zukommen zu lassen, da diese für das Verfahren relevant gewesen seien. Im Zuge des Verfahrens habe ihn jedoch niemand nach schriftlichen Unterlagen gefragt, sondern habe er diese bereits im Vorhinein beschafft, um das Verfahren zu beschleunigen. Die beiden Drohbriefe könne er lesen, da sie in seiner Muttersprache verfasst seien. Einige Stellen könne er schlüssig lesen andere nicht so gut. Dazu ersucht, lediglich die Stellen vorzulesen, die er flüssig lesen könne, gab er an: „Manche Stellen konnte ich nicht lesen, wie ich bereits gesagt habe.“ Zu seiner Integration in Österreich brachte der BF vor, im Jahr 2015 die Schule besucht zu haben, jedoch oft abwesend gewesen zu sein. 2017 habe er sich für den Pflichtschulabschluss angemeldet, sei aber auch dort nicht immer anwesend gewesen, weil er oft verschlafen habe und erst um 11 oder 12 Uhr aufgestanden sei. Er habe schon bevor er vom Tod seiner Eltern und erfahren habe, oft die Kursstunden verschlafen. In Österreich plane er eine Automechaniker-Lehre zu machen.
11. Einlangend am 11.03.2021 brachte der BF eine Stellungnahme zu seiner Integration ein: Der BF habe sich für einen Deutschkurs A2.3, der am 17.03.2021 starten werde, angemeldet und plane im Mai 2021 die A2-Prüfung abzulegen.
12. Am 12.04.2021 langte eine Bestätigung der Caritas Flüchtlingshilfe über den Besuch des BF am A2.3-Deutschkurs vom 17.03.2021 bis 28.05.2021 ein.
13. Mit Schreiben vom 02.09.2021 legte der BF eine Einstellungszusage vor und ersuchte um eine baldige Entscheidung.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Der strafrechtlich unbescholtene BF führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Er wurde in Afghanistan, Provinz Nangahar, im Distrikt XXXX , im Dorf XXXX geboren und ist afghanischer Staatsangehöriger. Der BF gehört der Volksgruppe der Paschtunen an und bekennt sich zum sunnitischen Glauben. Seine Muttersprache ist Paschto, er spricht zudem Dari und mittlerweile auch ein wenig Deutsch. Der BF wuchs mit seinen Eltern und Geschwistern (eine ältere und drei jüngere Schwester sowie drei jüngere Brüder) in seinem Heimatort auf und besuchte 10 Jahre lang die Schule. Er ist ledig und hat keine Kinder.
Der BF reiste illegal nach Österreich ein und stellte am 14.07.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Er befindet sich seit seiner Antragstellung auf Grund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG 2005 durchgehend rechtmäßig im Bundesgebiet. Der BF ist volljährig, gesund und arbeitsfähig. Ein Cousin des BF, XXXX , (negative Entscheidung, BVwG, W273 2163596-1/22E), stellte seinerzeit gemeinsam mit dem BF in Österreich den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.
In Österreich besuchte der BF vom 30.11.2015 bis 08.07.2016 die Bundeshandelsakademie und Bundeshandelsschule in Feldkirch. Vom 30.01.2017 bis 04.05.2017 besuchte er ferner den Basisbildungskurs BBV-FK2017001 des Vereins menschen.leben. Darüber hinaus nahm er an mehreren Deutschkursen auf dem Sprachniveau A1 und A2 teil und besuchte dieses Jahr einen Deutschkurs auf dem Sprachniveau A2.3. Ein Abschluss wurde bis dato angekündigt aber nicht vorgelegt. Der BF bezieht Leistungen aus der Grundversorgung.
Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:
Am 15. August 2021 nahmen die Taliban praktisch kampflos die afghanische Hauptstadt Kabul ein. Im Zuge dessen verließ auch der afghanische Präsident das Land und die Taliban übernahmen den Präsidentenpalast. Afghanistan steht – mit Ausnahme der Provinz Panjshir-Tal - nun de facto unter der Kontrolle der Taliban (orf.at/stories/3227367).
Der afghanische Präsident Ashraf Ghani ist angesichts des Vormarsches der Taliban auf Kabul außer Landes geflohen. Laut al-Jazeera soll das Ziel Taschkent in Usbekistan sein. Inzwischen haben die Taliban die Kontrolle über den Präsidentenpalast in Kabul übernommen. Suhail Schahin, ein Unterhändler der Taliban bei den Gesprächen mit der afghanischen Regierung in Katar, versicherte den Menschen in Kabul eine friedliche Machtübernahme und keine Racheakte an irgendjemanden zu begehen (tagesschau.de 15.8.2021). Am 15.08.21 haben die Taliban mit der größtenteils friedlichen Einnahme Kabuls und der Besetzung der Regierungsgebäude und aller Checkpoints in der Stadt den Krieg für beendet erklärt und das Islamische Emirat Afghanistan ausgerufen. Man wünsche sich friedliche Beziehungen mit der internationalen Gemeinschaft. Die erste Nacht unter der Herrschaft der Taliban im Land sei ruhig verlaufen. Chaotische Szenen hätten sich nur am Flughafen in Kabul abgespielt, von welchem sowohl diplomatisches Personal verschiedener westlicher Länder evakuiert wurde als auch viele Afghanen versuchten, außer Landes zu gelangen. Den Taliban war es zuvor gelungen, innerhalb kürzester Zeit fast alle Provinzen sowie alle strategisch wichtigen Provinzhauptstädte wie z.B. Kandahar, Herat, Mazar-e Sharif, Jalalabad und Kunduz einzunehmen. In einigen der Städte seien Gefängnisse gestürmt und Insassen befreit worden (BAMF 16.8.2021; vgl. bbc.com o.D., orf.at 16.8.2021). Die Taliban zeigten sich am Sonntag gegenüber dem Ausland unerwartet diplomatisch. „Der Krieg im Land ist vorbei“, sagte Taliban-Sprecher Mohammed Naim am Sonntagabend dem Sender al-Jazeera. Bald werde klar sein, wie das Land künftig regiert werde. Rechte von Frauen und Minderheiten sowie die Meinungsfreiheit würden respektiert, wenn sie der Scharia entsprächen. Man werde sich nicht in Dinge anderer einmischen und Einmischung in eigene Angelegenheiten nicht zulassen (orf.at 16.8.2021a). Schätzungen zufolge wurden seit Anfang 2021 über 550.000 Afghanen durch den Konflikt innerhalb des Landes vertrieben, darunter 126.000 neue Binnenvertriebene zwischen dem 7. Juli 2021 und dem 9. August 2021. Es gibt zwar noch keine genauen Zahlen über die Zahl der Afghanen, die aufgrund der Feindseligkeiten und Menschenrechtsverletzungen aus dem Land geflohen sind, es deuten aber Quellen darauf hin, dass Zehntausende von Afghanen in den letzten Wochen internationale Grenzen überquert haben (UNHCR 8.2021). Der Iran richtete angesichts des Eroberungszugs der militant-islamistischen Taliban im Nachbarland Pufferzonen für Geflüchtete aus dem Krisenstaat ein. Die drei Pufferzonen an den Grenzübergängen im Nord- sowie Südosten des Landes sollen afghanischen Geflüchteten vorerst Schutz und Sicherheit bieten. Indes schloss Pakistan am Sonntag einen wichtigen Grenzübergang zu seinem Nachbarland. Innenminister Sheikh Rashid verkündete die Schließung des Grenzübergangs Torkham im Nordwesten Pakistans am Sonntag, ohne einen Termin für die Wiedereröffnung zu nennen. Tausende Menschen säßen auf beiden Seiten der Grenze fest (orf.at 16.8.2021b). Mittlerweile baut die Türkei an der Grenze zum Iran weiter an einer Mauer. Damit will die Türkei die erwartete Ankunft von afghanischen Flüchtlingen verhindern (Die Presse 17.8.2021). Medienberichten zufolge haben die Taliban in Afghanistan Checkpoints im Land errichtet und sie kontrollieren auch die internationalen Grenzübergänge (bisherige Ausnahme: Flughafen Kabul). Seit Besetzung der strategischen Stadt Jalalabad durch die Taliban, wurde eine Fluchtbewegung in den Osten (Richtung Pakistan) deutlich erschwert. Die Wahrscheinlichkeit, dass Afghanen aus dem westlichen Teil des Landes oder aus Kabul nach Pakistan gelangen ist gegenwärtig eher gering einzuschätzen. Es ist naheliegender, dass Fluchtrouten ins Ausland über den Iran verlaufen. Es ist jedoch auch denkbar, dass die mehrheitlich sunnitische Bevölkerung Afghanistans (statt einer Route über den schiitisch dominierten Iran) stattdessen die nördliche, alternative Route über Tadschikistan oder auch Turkmenistan wählt. Bereits vor zwei Monaten kam es laut EU-Kollegen zu einem Anstieg von Ankünften afghanischer Staatsbürger in die Türkei. Insofern ist davon auszugehen, dass eine erste Migrationsbewegung bereits stattgefunden hat. Pakistan gibt laut Medienberichten an, dass der Grenzzaun an der afghanisch-pakistanischen Grenze halte (laut offiziellen Angaben sind etwa 90 Prozent fertiggestellt) (VB 17.8.2021). Laut Treffen mit Frontex, kann zur Türkei derzeit noch keine Veränderung der Migrationsströme festgestellt werden. Es finden täglich nach Schätzungen ca. max. 500 Personen ihren Weg (geschleust) vom Iran in die Türkei. Dies ist aber keine außergewöhnlich hohe Zahl, sondern eher der Durchschnitt. Der Ausbau der Sicherung der Grenze zum Iran mit Mauer und Türmen schreitet immer weiter voran, und nach einstimmiger Meinung von Mig VB und anderen Experten kann die Türkei mit ihrem Militär (Hauptverantwortlich für die Grenzsicherung) und Organisationen (Jandarma, DCMM) jederzeit, je nach Bedarf die illegale Einreise von Flüchtlingen aus dem Iran kontrollieren. Die Türkei ist jedoch - was Afghanistan angeht - mit sehr hohem Interesse engagiert. Auch die Türkei möchte keine neunen massiven Flüchtlingsströme über den Iran in die Türkei (VB 17.8.2021a). IOM muss aufgrund der aktuellen Sicherheitslage in Afghanistan die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr und Reintegration mit sofortiger Wirkung weltweit aussetzen. Die Aussetzung der freiwilligen Rückkehr erfolgt bis auf Widerruf (IOM 16.8.2021). Während die radikalislamischen Taliban ihren Feldzug durch Afghanistan vorantreiben, gehören Frauen und Mädchen zu den am meisten gefährdeten Gruppen. Schon in der letzten Regierungszeit der Taliban (1996–2001) herrschten in Afghanistan extreme patriarchale Strukturen, Misshandlungen, Zwangsverheiratungen sowie strukturelle Gewalt und Hinrichtungen von Frauen. Die Angst vor einer Wiederkehr dieser Gräueltaten ist groß. Eifrig sorgten Kaufleute in Afghanistans Hauptstadt Kabul seit dem Wochenende bereits dafür, Plakate, die unverschleierte Frauen zeigten, aus ihren Schaufenstern zu entfernen oder zu übermalen – ein Sinnbild des Gehorsams und der Furcht vor dem Terror der Taliban (orf.at 17.8.2021).
Kurzinformation der Staatendokumentation vom 02.08.2021: Entwicklung der Sicherheitslage in Afghanistan
Sicherheitslage und Gebietskontrolle
In Afghanistan ist die Zahl der konfliktbedingten Todesopfer derzeit so hoch wie nie zuvor seit Beginn der Aufzeichnungen durch UNHCR, mit durchschnittlich 500-600 Sicherheitsvorfällen pro Woche. Berichten zufolge liegt die Gebietskontrolle der Regierung auf dem niedrigsten Stand seit 2001 (UNHCR 20.7.2021). Nach Angaben des Long War Journals (LWJ) kontrollieren die Taliban 223 der 407 Distrikte Afghanistan. Die Regierungstruppen kämpfen aktuell (Ende Juli / Anfang August 2021) gegen Angriffe der Taliban auf größere Städte, darunter Herat, Lashkar Gah und Kandahar, dessen Flughafen von den Taliban bombardiert wurde. Seit 1.8.2021 gibt es keine Flüge mehr zu und von dem Flughafen (AJ 1.8.2021). Von den 17 Distrikten Herats sind nur Guzara und die Stadt Herat unter Kontrolle der Regierung. Die übrigen Bezirke werden von den Taliban gehalten, die versuchen, in das Zentrum der Stadt vorzudringen (TN 31.7.2021; vgl. ANI 2.8.2021). Die afghanische Regierung entsendet mehr Truppen nach Herat, da die Kämpfe mit den Taliban zunehmen (ANI 2.8.2021; vgl. AJ 1.8.2021).
Zivile Opfer und Fluchtbewegungen
Zwischen 1.1.2021 und 30.6.2021 dokumentierte UNAMA 5.183 zivile Opfer und fast eine Verdreifachung der zivilen Opfer durch den Einsatz von improvisierten Sprengsätzen (IEDs) durch regierungsfeindliche Kräfte. Zwischen Mai und Juni 2021 gab es nach Angaben von UNAMA fast soviele zivile Opfer wie in den vier Monate davor (UNAMA 26.7.2021). Nach Angaben von Human Rights Watch (HRW) halten die Taliban hunderte Einwohner der Provinz Kandarhar fest, denen sie vorwerfen mit der Regierung in Verbindung zu stehen. Berichten zufolge haben die Taliban einige Gefangene getötet, darunter Angehörige von Beamten der Provinzregierung sowie Mitglieder der Polizei und der Armee (HRW 23.7.2021). UNOCHA zufolge wurden zwischen 1.1.2021 und 18.7.2021 294.703 Menschen in Afghanistan durch den Konflikt vertrieben (UNOCHA 22.7.2021). Noch kann keine Massenflucht afghanischer Staatsbürger in den Iran festgestellt werden, jedoch hat die Zahl der Neuankömmlinge zugenommen. Der Notstandsplan wurde bislang noch nicht aktiviert. Sollte er aktiviert werden, rechnet die iranische Regierung mit einem Zustrom vom 500.000 Menschen innerhalb von sechs Monaten, wobei davon ausgegangen wird, dass ihr Aufenthalt nur vorübergehend sein wird. UNHCR rechnet mit 150.000 Menschen innerhalb von drei Monaten (UNHCR 20.7.2021).
Weitere Entwicklungen
Die Taliban haben im Juli 2021 erklärt, dass sie der afghanischen Regierung im August ihren Friedensplan vorlegen wollen und dass die Friedensgespräche beschleunigt werden sollen (UNHCR 20.7.2021). Die afghanische Regierung hat am 25.7.2021 eine einmonatige Ausgangssperre über fast das gesamte Land verhängt, um ein Eindringen der Taliban in die Städte zu verhindern. Ausnahmen sind die Provinzen Kabul, Panjshir und Nangarhar. Die Ausgangssperre verbietet alle Bewegungen zwischen 22:00 und 04:00 (BBC 25.7.2021; vgl. TG 24.7.2021). In den von den Taliban eroberten Gebieten im Norden dürften Frauen laut Meldung vom 14.7.2021 nur vollverschleiert und mit männlicher Begleitung auf die Straße gehen (BAMF 20.7.2021; vgl. VOA 9.7.2021). Aufgrund von COVID-19 waren alle Schulen und Universitäten bis zum 23.7.2021 geschlossen (BAMF 19.7.2021; AAN 25.7.2021). Nach Angaben der für das Gesundheits- und Bildungswesen zuständigen Beamten soll die Wiedereröffnung in den Provinzen schrittweise erfolgen, je nach Ausbreitung von COVID-19 (AAN 25.7.2021). Mit 2.8.2021 werden die Flughäfen von Kabul und Mazar-e Sharif weiterhin national und international angeflogen. Der Flughafen von Herat ist national erreichbar (F 24 2.8.2021).
Im Folgenden werden die wesentlichen Feststellungen aus dem vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen Länderinformationsblatt der Staatendokumentation - Afghanistan (Stand 11.06.2021) wiedergegeben:
Regierungsfeindliche Gruppierungen
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, alQaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 12.2019; vgl. CRS 12.2.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 12.2019). Für die meisten zivilen Opfer im Jahr 2020 waren weiterhin regierungsfeindliche Elemente verantwortlich, 62% wurden ihnen zugeschrieben. Vom 1.1.2020 bis zum 31.12.2020 schrieb UNAMA 5.459 zivile Opfer (1.885 Tote und 3.574 Verletzte) regierungsfeindlichen Elementen zu. Dies bedeutete einen Gesamtrückgang um 15% im Vergleich zu 2019. Die Zahl der von regierungsfeindlichen Elementen getöteten Zivilisten stieg jedoch um 13% (UNAMA 2.2021a)
Taliban
Die Taliban sind seit Jahrzehnten in Afghanistan aktiv. Die Taliban-Führung regierte Afghanistan zwischen 1996 und 2001, als sie von US-amerikanischen/internationalen Streitkräften entmachtet wurde; nach ihrer Entmachtung hat sie weiterhin einen Aufstand geführt (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020). Seit 2001 hat die Gruppe einige Schlüsselprinzipien beibehalten, darunter eine strenge Auslegung der Scharia in den von ihr kontrollierten Gebieten (EASO 8.2020c; vgl. RFE/RL 27.4.2020). Die Taliban sind eine religiös motivierte, religiös konservative Bewegung, die das, was sie als ihre zentralen „Werte“ betrachten, nicht aufgeben wird. Wie sich diese Werte in einer künftigen Verfassung widerspiegeln und in der konkreten Politik einer eventuellen Regierung der Machtteilung, die die Taliban einschließt, zum Tragen kommen, hängt von den täglichen politischen Verhandlungen zwischen den verschiedenen politischen Kräften und dem Kräfteverhältnis zwischen ihnen ab (Ruttig 3.2021). Sie sehen sich nicht als bloße Rebellengruppe, sondern als eine Regierung im Wartestand und bezeichnen sich selbst als „Islamisches Emirat Afghanistan“, der Name, den sie benutzten, als sie von 1996 bis zu ihrem Sturz nach den Anschlägen vom 11.9.2001 an der Macht waren (BBC 15.4.2021).
Struktur und Führung
Die Taliban positionieren sich selbst als Schattenregierung Afghanistans, und ihre Kommissionen und Führungsgremien entsprechen den Verwaltungsämtern und -pflichten einer typischen Regierung (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020). Die Taliban sind zu einer organisierten politischen Bewegung geworden, die in weiten Teilen Afghanistans eine Parallelverwaltung betreibt (EASO 8.2020c; vgl. USIP 11.2019; BBC 15.4.2021) und haben sich zu einem lokalen Regierungsakteur im Land entwickelt, indem sie Territorium halten und damit eine gewisse Verantwortung für das Wohlergehen der lokalen Gemeinschaften übernehmen (EASO 8.2020c; vgl. USIP 4.2020). Was militärische Operationen betrifft, so handelt es sich um einen vernetzten Aufstand mit einer starken Führung an der Spitze und dezentralisierten lokalen Befehlshabern, die Ressourcen auf Distriktebene mobilisieren können (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020). Das wichtigste offizielle politische Büro der Taliban befindet sich in Katar (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020). Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.8.2019; vgl. EASO 8.2020c, UNSC 27.5.2020, AnA 28.7.2020) - Stellvertreter sind der Erste Stellvertreter Sirajuddin Jalaluddin Haqqani (Leiter des Haqqani-Netzwerks) und zwei weitere: Mullah Mohammad Yaqoob [Mullah Mohammad Yaqub Omari] (EASO 8.2020c; vgl. FP 9.6.2020) und Mullah Abdul Ghani Baradar Abdul Ahmad Turk (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020). Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.; vgl. BBC 15.4.2021). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018). Die Taliban sind keine monolithische Organisation (NZZ 20.4.2020); nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (BR 5.3.2020). Während der US-Taliban-Verhandlungen war die Führung der Taliban in der Lage, die Einheit innerhalb der Basis aufrechtzuerhalten, obwohl sich Spaltungen wegen des Abbruchs der Beziehungen zu Al-Qaida vertieft haben (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020). Seit Mai 2020 ist eine neue Splittergruppe von hochrangigen TalibanDissidenten entstanden, die als Hizb-e Vulayet Islami oder Hezb-e Walayat-e Islami (Islamische Gouverneurspartei oder Islamische Vormundschaftspartei) bekannt ist (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020). Die Gruppe ist gegen den US-Taliban-Vertrag und hat Verbindungen in den Iran (EASO 8.2020c; vgl. FP 9.6.2020). Eine gespaltene Führung bei der Umsetzung des US-Taliban-Abkommens und Machtkämpfe innerhalb der Organisation könnten den möglichen Friedensprozess beeinträchtigen (EASO 8.2020c; vgl. FP 9.6.2020). Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll zwölf Ableger in acht Provinzen haben (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Sar-e Pul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.8.2019).
Rekrutierungsstrategien
Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.6.2017). Es besteht relativer Konsens darüber, wie die Rekrutierung für die Streitkräfte der Taliban erfolgt: Sie läuft hauptsächlich über bestehende traditionelle Netzwerke und organisierte Aktivitäten im Zusammenhang mit religiösen Institutionen. Layha, der Verhaltenskodex der Taliban enthält einige Bestimmungen über verschiedene Formen der Einladung sowie Bestimmungen, wie sich die Kader verhalten sollen, um Menschen zu gewinnen und Sympathien aufzubauen. Eines der Sonderkomitees der Quetta Schura (Anm.: militante afghanische Organisation der Taliban mit Basis in Quetta / Pakistan) ist für die Rekrutierung verantwortlich (LI 29.6.2017). UNAMA hat Fälle der Rekrutierung und des Einsatzes von Kindern durch die Taliban dokumentiert, um IEDs (Improvised Explosive Devices) zu platzieren, Sprengstoff zu transportieren, bei der Sammlung nachrichtendienstlicher Erkenntnisse zu helfen und Selbstmordattentate zu verüben, wobei auch positive Schritte von der Taliban-Kommission für die Verhütung ziviler Opfer und Beschwerden unternommen wurden, um Fälle von Rekrutierung und Einsatz von Kindern zu untersuchen und korrigierend einzugreifen (UNAMA 2.2021a; vgl. UNAMA 7.2020). In Gebieten, in denen regierungsfeindliche Gruppen Kontrolle ausüben, gibt es eine Vielzahl an Methoden, um Kämpfer zu rekrutieren, darunter auch solche, die auf Zwang basieren (DAI/CNRR 10.2016), wobei der Begriff Zwangsrekrutierung von Quellen unterschiedlich interpretiert und Informationen zur Rekrutierung unterschiedlich kategorisiert werden (LI 29.6.2017). Grundsätzlich haben die Taliban keinen Mangel an freiwilligen Rekruten und machen nur in Ausnahmefällen von Zwangsrekrutierung Gebrauch. Druck und Zwang, den Taliban beizutreten, sind jedoch nicht immer gewalttätig (EASO 6.2018). Landinfo versteht Zwang im Zusammenhang mit Rekrutierung dahingehend, dass jemand, der sich einer Mobilisierung widersetzt, speziellen
Zwangsmaßnahmen und Übergriffen (zumeist körperlicher Bestrafung) durch den Rekrutierer ausgesetzt ist. Die Zwangsmaßnahmen können auch andere schwerwiegende Maßnahmen beinhalten und gegen Dritte, beispielsweise Familienmitglieder, gerichtet sein. Auch wenn jemand keinen Drohungen oder körperlichen Übergriffen ausgesetzt ist, können Faktoren wie Armut, kulturelle Gegebenheiten und Ausgrenzung die Unterscheidung zwischen freiwilliger und zwangsweiser Beteiligung zum Verschwimmen bringen (LI 29.6.2017).
Sympathisanten der Taliban sind Einzelpersonen und Gruppen von, vielfach jungen, desillusionierten Männern. Ihre Motive sind der Wunsch nach Rache und Heldentum, gepaart mit religiösen und wirtschaftlichen Gründen. Sie fühlen sich nicht zwingend den zentralen Werten der Taliban verpflichtet. Die meisten haben das Vertrauen in das Staatsbildungsprojekt verloren und glauben nicht länger, dass es möglich ist, ein sicheres und stabiles Afghanistan zu schaffen. Viele schließen sich den Aufständischen aus Angst oder Frustration über die Übergriffe auf die Zivilbevölkerung an. Armut, Hoffnungslosigkeit und fehlende Zukunftsperspektiven sind die wesentlichen Erklärungsgründe (LI 29.6.2017). Vor einigen Jahren waren Mittel wie Pamphlete, DVDs und Zeitschriften bis hin zu Radio, Telefon und webbasierter Verbreitung wichtige Instrumente des Propagandaapparats der Taliban. Während Internet und soziale Medien wie Twitter, Blogs und Facebook sich in den letzten Jahren zu sehr wichtigen Foren und Kanälen für die Verbreitung der Botschaft dieser Bewegung entwickelt haben, dienen sie auch als Instrument für die Anwerbung. Über die sozialen Medien können die Taliban mit Sympathisanten und potenziellen Rekruten Kontakt aufnehmen. Die Taliban haben verstanden, dass ohne soziale Medien kein Krieg gewonnen werden kann. Sie haben ein umfangreiches Kommunikations- und Mediennetzwerk für Propaganda und Rekrutierung aufgebaut. Zusätzlich unternehmen die Taliban persönlich und direkt Versuche, die Menschen von ihrer Ideologie und Weltanschauung zu überzeugen, damit sie die Bewegung unterstützen. Ein Gutteil dieser Aktivitäten läuft über religiöse Netzwerke (LI 29.6.2017). Die Entscheidung, Rekruten zu mobilisieren, wird von den Familienoberhäuptern, Stammesältesten und Gemeindevorstehern getroffen. Dadurch wird dies nicht als Zwangsrekrutierung wahrgenommen, da die Entscheidungen der Anführer als legitim und akzeptabel gesehen werden. Personen, die sich dem widersetzen, gehen ein Risiko ein, dass sie oder ihre Familien bestraft oder getötet werden (DAI/CNRR 10.2016; vgl. EASO 6.2018), wenngleich die Taliban nachsichtiger als der ISKP seien und lokale Entscheidungen eher akzeptieren würden (TST 22.8.2019). Andererseits wird berichtet, dass es in Gebieten, die von den Taliban kontrolliert werden oder in denen die Taliban stark präsent sind, de facto unmöglich ist, offenen Widerstand gegen die Bewegung zu leisten. Die örtlichen Gemeinschaften haben sich der Lokalverwaltung durch die Taliban zu fügen. Oppositionelle sehen sich gezwungen, sich äußerst bedeckt zu halten oder das Gebiet zu verlassen. Die Gruppe der Stammesältesten ist gezielten Tötungen ausgesetzt. Landinfo vermutet, dass dies vor allem regierungsfreundliche Stammesälteste betrifft, die gegen die Taliban oder andere aufständische Gruppen sind. Es gibt Berichte von Übergriffen auf Stämme oder Gemeinschaften, die den Taliban Unterstützung und die Versorgung mit Kämpfern verweigert haben. Gleichzeitig sind die militärischen Einheiten der Taliban in den Gebieten, in welchen sie operieren, von der Unterstützung durch die Bevölkerung abhängig. Wenn es auch Stimmen gibt, die meinen, dass die Taliban im Gegensatz zu früher nunmehr vermehrt auf die Wünsche und Bedürfnisse der Gemeinschaften Rücksicht nehmen würden, wenn bei einem Angriff oder drohenden Angriff auf eine örtliche Gemeinschaft Kämpfer vor Ort mobilisiert werden müssen, mag es schwierig sein, sich zu entziehen (LI 29.6.2017). Die erweiterte Familie kann angeblich auch eine Zahlung leisten, anstatt Rekruten zu stellen. Diese Praktiken implizieren, dass es die ärmsten Familien sind, die Kämpfer stellen, da sie keine Mittel haben, um sich freizukaufen. Es ist bekannt, dass - wenn Familienmitglieder in den Sicherheitskräften dienen - die Familie möglicherweise unter Druck steht, die betreffende Person zu einem Seitenwechsel zu bewegen. Der Grund dafür liegt in der Strategie der Taliban, Personen mit militärischem Hintergrund anzuwerben, die Waffen, Uniformen und Wissen über den Feind einbringen. Es kann aber auch Personen treffen, die über Know-how und Qualifikationen verfügen, welche die Taliban im Gefechtsfeld benötigen, etwa für die Reparatur von Waffen (LI 29.6.2017). Die Taliban wenden, laut Berichten von NGOs und UN, Täuschung, Geldzusagen, falsche religiöse Zusammenhänge oder Zwang an, um Kinder zu Selbstmordattentaten zu bewegen (USDOS 30.3.2021; vgl. EASO 6.2018, DAI/CNRR 10.2016), teilweise werden die Kinder zur Ausbildung nach Pakistan gebracht (EASO 6.2018). Im Jahr 2020 gab es laut UNAMA insgesamt 196 Jungen, hauptsächlich im Norden und Nordosten des Landes, die sowohl von den Taliban als auch von den afghanischen Sicherheitskräften rekrutiert wurden. Es ist wichtig anzumerken, dass Fälle der Rekrutierung und des Einsatzes von Kindern in Afghanistan aufgrund der damit verbundenen Sensibilität und der Sorge um die Sicherheit der Kinder in hohem Maße unterrepräsentiert sind (UNAMA 2.2021a).
Jüngste Entwicklungen und aktuelle Ereignisse
Während die Taliban behaupten, nicht mehr dieselbe brutale Gruppe zu sein die Afghanistan in den 1990er Jahren beherrschte, und versuchen inmitten der internationalen Bemühungen um eine Friedensregelung zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban ein versöhnlicheres Image zu vermitteln, sagen Afghanen, die derzeit unter der Kontrolle der Taliban leben, dass die militante Gruppe weiterhin in ihrer extremistischen Auslegung des Islam verwurzelt ist und mit Angst und Barbarei regiert (RFE/RL 13.4.2021), wobei sich viele innerhalb der Taliban erhoffen, ihr „Emirat“ wiederherstellen zu können (Ruttig 3.2021). Einem lokalen Vertreter der Talibanzufolge sind die Taliban von früher und die Taliban von heute dieselben (BBC 15.4.2021). Die Taliban haben sich offenbar absichtlich vage darüber geäußert, was sie mit der „islamischen Regierung“ meinen, die sie schaffen wollen. Einige Analysten sehen darin einen bewussten Versuch, interne Reibereien zwischen Hardlinern und gemäßigteren Elementen zu vermeiden (BBC 15.4.2021). Es gibt Anzeichen für einen wirklichen Politikwandel in bestimmten Bereichen (z.B. bei der Nutzung der Medien, im Bildungssektor, eine größere Akzeptanz von NGOs und die Einsicht, dass ein zukünftiges politisches System zumindest einige ihrer politischen Rivalen aufnehmen muss), doch scheinen ihre politischen Anpassungen eher von politischen Notwendigkeiten als von grundlegenden Veränderungen in der Ideologie getrieben zu sein (Ruttig 3.2021; vgl. BBC 15.4.2021). In den letzten Jahren haben sich die Taliban dazu bekannt, Frauen ihre Rechte zu gewähren und ihnen zu erlauben, zu arbeiten und zur Schule zu gehen, wenn sie nicht gegen den Islam oder die afghanischen Werte verstoßen (RFE/RL 13.4.2021; vgl. BBC 15.4.2021), aber laut einer großen Zahl von Afghanen, die unter der Herrschaft der Taliban leben, hat sich die Politik der militanten Gruppe in Bezug auf die Bildung von Mädchen seit mehr als zwei Jahrzehnten nicht geändert (RFE/RL 13.4.2021). In einigen von den Taliban kontrollierten Gebieten sind Schulen für Mädchen komplett verboten (RFE/RL 13.4.2021; vgl. BBC 15.4.2021). In anderen Regionen gibt es Beschränkungen. Die Gruppe deutete auch an, dass sie die kürzlich gewonnenen Freiheiten der Frauen beschneiden will, die ihrer Meinung nach „Unmoral“ und „Unanständigkeit“ fördern (RFE/RL 13.4.2021). Angesichts ihres anhaltenden dominierenden Verhaltens, ihrer Intoleranz gegenüber politisch Andersdenkenden und ihrer Unterdrückung (insbesondere von Mädchen und Frauen) in den von ihnen kontrollierten Gebieten besteht die berechtigte Sorge, dass sie zu den Praktiken von vor dem Herbst 2001 zurückkehren könnten, wenn der politische Druck nach einem eventuellen Friedensabkommen und einem Truppenabzug nachlässt. Die Veränderungen in der Rhetorik und den Positionen der Taliban werfen jedoch ein Licht auf das, was sie in einer politischen Ordnung nach dem Friedensschluss in Afghanistan, in der sie sich mit anderen afghanischen Machtgruppen und Interessen zu einem Modus Vivendi zusammenfinden müssen, möglicherweise zu akzeptieren bereit sind. Ob einige Änderungen in der Herangehensweise aufrechterhalten werden, hängt von der Fähigkeit der afghanischen Gemeinschaft und politischen Gruppen ab, den Druck auf die Taliban aufrechtzuerhalten. Dies wiederum hängt von der anhaltenden internationalen Aufmerksamkeit gegenüber Afghanistan ab, insbesondere wenn es zu einer politischen Einigung und einer Machtteilung kommt und nachdem die ausländischen Soldaten abgezogen sind (Ruttig 3.2021). Die Taliban glauben, dass der Sieg ihnen gehört. Die Entscheidung von US-Präsident Joe Biden, den Abzug der verbleibenden US-Truppen auf September zu verschieben, was bedeutet, dass sie über den im letzten Jahr vereinbarten Termin 1.5.2021 hinaus im Land bleiben werden, hat eine scharfe Reaktion der politischen Führung der Taliban ausgelöst. Nichtsdestotrotz scheint das Momentum auf Seiten der Militanten zu sein. Im vergangenen Jahr gab es einen offensichtlichen Widerspruch im „Jihad“ der Taliban. Nach der Unterzeichnung eines Abkommens mit den USA stellten sie Angriffe auf internationale Truppen ein, kämpften aber weiter gegen die afghanische Regierung. Ein Taliban-Sprecher besteht jedoch darauf, dass es keinen Widerspruch gibt (BBC 15.4.2021; vgl. VIDC 26.4.2021). Für die Taliban ist die Errichtung einer „islamischen Struktur“ eine Priorität. Die Taliban sind noch nicht ins Detail gegangen, wie diese aussehen würde. Ähnliche Bedenken werden im Hinblick auf die Auslegung der Scharia und die Rechte der Frauen geäußert (VIDC 26.4.2021). Die Luftwaffe, vor allem die der Amerikaner, hat in den vergangenen Jahren entscheidend dazu beigetragen, den Vormarsch der Taliban aufzuhalten. Die USA haben ihre Militäroperationen bereits drastisch zurückgefahren, nachdem sie im vergangenen Jahr ein Abkommen mit den Taliban unterzeichnet hatten, und viele befürchten, dass die Taliban nach ihrem Abzug in der Lage sein werden, eine militärische Übernahme des Landes zu starten (BBC 15.4.2021; vgl. VIDC 26.4.2021). Im Jahr 2020 verursachten die Taliban weiterhin die meisten zivilen Opfer von allen Parteien des bewaffneten Konflikts (UNAMA 2.2021a). Nach Erkenntnissen der AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) gingen die durch Taliban-Angriffe verursachten zivilen Opfer im Jahr 2020 im Vergleich zu 2019 um 40 % zurück (AIHRC 28.1.2021; vgl. ACCORD 6.5.2021) - nach Angaben der UNAMA war es ein Rückgang um 19 % (UNAMA 2.2021a). Der Hauptgrund für diesen Rückgang könnte ein Mangel an komplexen und Selbstmordattentaten in den großen Städten des Landes sein. Im Jahr 2020 wurden in Afghanistan insgesamt 4.567 Zivilisten durch Taliban-Angriffe getötet oder verletzt, während im gleichen Zeitraum 2019 die Gesamtzahl der durch Taliban-Angriffe verursachten zivilen Opfer bei 7.727 lag (AIHRC 28.1.2021; vgl ACCORD 6.5.2021). UNAMA schrieb den Taliban 3.960 zivile Opfer (1.470 Tote und 2.490 Verletzte) zu. Dieser Rückgang bezieht sich jedoch nur auf die verletzten Zivilisten, da Anstieg von getöteten Zivilisten um 13 % dokumentiert wurde (UNAMA 2.2021a). Selbstmord- und Nicht-Selbstmord-IEDs verursachten mehr als die Hälfte der den Taliban zugeschriebenen zivilen Opfer, wobei Nicht-Selbstmord-IEDs fünfmal mehr zivile Opfer verursachten als Selbstmord-IEDs. Bodenkämpfe, einschließlich des Einsatzes von Mörsern und Raketen, waren für fast ein Viertel der von den Taliban verursachten zivilen Opfer verantwortlich. (UNAMA 2.2021a). UNAMA schrieb den Taliban 6 % mehr getötete Zivilisten aus Bodenkämpfen und 15 % weniger verletzte Zivilisten im Vergleich zu 2019 zu. Dieser Rückgang war hauptsächlich auf das Ausbleiben wahlbezogener Gewalt im Jahr 2020 zurückzuführen, wurde jedoch teilweise durch eine höhere Zahl von zivilen Opfern aufgrund der anhaltend hohen Zahl von Bodenkämpfen mit zivilen Opfern während des gesamten Jahres ausgeglichen (UNAMA 2.2021a). Die UNAMA verzeichnete außerdem einen Anstieg der Zahl der durch gezielte Tötungen der Taliban, zu denen auch „Attentate“ gehören, die bewusst auf Zivilisten abzielen, getöteten und verletzten Zivilisten um 22 % und einen Anstieg der zivilen Opfer bei Entführungen von Zivilisten durch die Taliban um 169% (UNAMA 2.2021a).
Ethnische Gruppen
In Afghanistan leben laut Schätzungen zwischen 32 und 36 Millionen Menschen (NSIA 6.2020; vgl. CIA 16.2.2021). Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht (STDOK 7.2016 ; vgl. CIA 16.2.2021). Schätzungen zufolge sind: 40 bis 42% Paschtunen, 27 bis 30% Tadschiken, 9 bis 10% Hazara, 9% Usbeken, ca. 4% Aimaken, 3% Turkmenen und 2% Belutschen. Weiters leben in Afghanistan eine große Zahl an kleinen und kleinsten Völkern und Stämmen, die Sprachen aus unterschiedlichsten Sprachfamilien sprechen (GIZ 4.2019; vgl. CIA 2012, AA 16.7.2020). Artikel 4 der Verfassung Afghanistans besagt: „Die Nation Afghanistans besteht aus den Völkerschaften der Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Paschai, Nuristani, Aimak, Araber, Kirgisen, Qizilbasch, Gojar, Brahui und anderen Völkerschaften. Das Wort ‚Afghane‘ wird für jeden Staatsbürger der Nation Afghanistans verwendet“ (STDOK 7.2016). Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnischen Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung (Artikel 16) sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt, wo die Mehrheit der Bevölkerung (auch) eine dieser Sprachen spricht: Usbekisch, Turkmenisch, Belutschisch, Pashai, Nuristani und Pamiri (AA 2.9.2019). Es gibt keine Hinweise, dass bestimmte soziale Gruppen ausgeschlossen werden. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Nichtsdestotrotz, beschweren sich unterschiedliche ethnische Gruppen, keinen Zugang zu staatlicher Anstellung in Provinzen zu haben, in denen sie eine Minderheit darstellen (USDOS 30.3.2021). Der Gleichheitsgrundsatz ist in der afghanischen Verfassung rechtlich verankert, wird allerdings in der gesellschaftlichen Praxis immer wieder konterkariert. Soziale Diskriminierung und Ausgrenzung anderer ethnischer Gruppen und Religionen im Alltag bestehen fort und werden nicht zuverlässig durch staatliche Gegenmaßnahmen verhindert (AA 16.7.2020). Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (USDOS 30.3.2021).
COVID-19
Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan
Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl UNOCHA 19.12.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 2.9.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.9.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 14.1.2021; vgl. UNOCHA 18.2.2021, USAID 12.1.2021, UNOCHA 19.12.2020, RFE/RL 23.2.2021a). Die fortgesetzte Ausbreitung der Krankheit in den letzten Wochen des Jahres 2020 hat zu einem Anstieg der Krankenhauseinweisungen geführt, wobei jene Einrichtungen die als COVID-19- Krankenhäuser in den Provinzen Herat, Kandahar und Nangarhar gelten, nach Angaben von Hilfsorganisationen seit Ende Dezember voll ausgelastet sind. Gesundheitseinrichtungen sehen sich auch zu Beginn des Jahres 2021 großen Herausforderungen bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung ihrer Kapazitäten zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung grundlegender Gesundheitsdienste gegenüber, insbesondere, wenn sie in Konfliktgebieten liegen (BAMF 8.2.2021; vgl. IOM 18.3.2021). Die WHO äußerte ihre Besorgnis über die Gefahr der Verbreitung mutierter Viren in Afghanistan. In Pakistan ist bereits ein deutlicher Anstieg der Infektionen mit einer neuen Variante, die potenziell ansteckender ist und die jüngere Bevölkerung trifft, festgestellt worden. Das afghanische Gesundheitsministerium bereite sich auf eine potenzielle dritte Welle vor. Die Überwachung an der Grenze soll ausgeweitet und Tests verbessert werden. Angesichts weiterer Berichte über unzureichende Testkapazitäten im Land bleibt die Wirkung der geplanten Maßnahmen abzuwarten (BAMF 29.3.2021). Laut Meldungen von Ende Mai 2021 haben afghanische Ärzte Befürchtungen geäußert, dass sich die erstmals in Indien entdeckte COVID-19-Variante nun auch in Afghanistan verbreiten könnte. Viele der schwerkranken Fälle im zentralen Krankenhaus für COVID-Fälle in Kabul, wo alle 100 Betten belegt seien, seien erst kürzlich aus Indien zurückgekehrte Personen (BAMF 31.5.2021; vgl. TG 25.5.2021, DW 21.5.2021, UNOCHA 3.6.2021). Seit Ende des Ramadans und einige Woche nach den Festlichkeiten zu Eid al-Fitr konnte wieder ein Anstieg der COVID19 Fälle verzeichnet werden. Es wird vom Beginn einer dritten Welle gesprochen (UNOCHA 3,6,2021; vgl. TG 25.5.2021). Waren die [Anm.: offiziellen] Zahlen zwischen Februar und März relativ niedrig, so stieg die Anzahl zunächst mit April und dann mit Ende Mai deutlich an (WHO 4.6.2021; vgl. TN 3.6.2021, UNOCHA 3.6.2021). Es gibt in Afghanistan keine landeseigenen Einrichtungen, um auf die aus Indien stammende Variante zu testen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021). Mit Stand 3.6.2021 wurden der WHO offiziell 75.119 Fälle von COVID-19 gemeldet (WHO 3.6.2021), wobei die tatsächliche Zahl der positiven Fälle um ein Vielfaches höher eingeschätzt wird (IOM 18.3.2021; vgl. HRW 14.1.2021).
Maßnahmen der Regierung und der Taliban
Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams“ (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams“ sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.3.2021; vgl. WB 28.6.2020). Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.3.2021; vgl. IOM 1.2021). Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden (IOM 18.3.2021). Auch wenn der Lockdown offiziell nie beendet wurde, endete dieser faktisch mit Juli bzw. August 2020 und wurden in weiterer Folge keine weiteren Ausgangsperren erlassen (ACCORD 25.5.2021). Laut IOM