TE Bvwg Erkenntnis 2021/9/16 W123 2159724-2

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Veröffentlicht am 16.09.2021
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Entscheidungsdatum

16.09.2021

Norm

AsylG 2005 §13 Abs2
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1
AVG §68 Abs1
B-VG Art133 Abs4

Spruch


W123 2159724-2/19E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Michael ETLINGER über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die BBU GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 20.10.2020, Zl. 1102830910-200479201, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste unter Umgehung der Einreisebestimmungen schlepperunterstützt in das Bundesgebiet ein und stellte am einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Im Rahmen der am 20.01.2016 durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes durchgeführten Erstbefragung gab der Beschwerdeführer Unsicherheit, Korruption und schwierige Lebensumstände als seine Fluchtgründe an. Man verlange von ihm einige Sonderleistungen wegen Geldtransport und die Abgabe von zusätzlichen Informationen für fremde Personen. Er habe dies verweigert und deswegen mehrere Drohungen bekommen.

3. Mit Verfahrensanordnung vom 30.06.2016 teilte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: belangte Behörde) dem Beschwerdeführer die beabsichtigte Zurückweisung seines Antrags auf internationalen Schutz wegen Zuständigkeit Kroatiens mit.

4. Am fand eine Einvernahme des Beschwerdeführers durch die belangte Behörde bezüglich der internationalen Zuständigkeit für das Asylverfahren statt.

5. Mit Bescheid der belangten Behörde vom 22.10.2016 wurde der Antrag auf internationalen Schutz ohne in die Sache einzutreten gemäß § 5 Abs. 1 AsylG als unzulässig zurückgewiesen und ausgesprochen, dass Kroatien für die Prüfung des Antrages auf internationalen Schutz gemäß Art. 13 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 zuständig sei. Weiters erfolgte gemäß § 61 Abs. 1 Z 1 FPG gegen den Beschwerdeführer die Anordnung der Außerlandesbringung und wurde festgestellt, dass gemäß § 61 Abs. 2 FPG dessen Abschiebung nach Kroatien zulässig sei.

6. Der dagegen mit Schreiben vom 10.11.2016 erhobenen Beschwerde gab das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 17.11.2016 gemäß § 21 Abs. 3 BFA-VG statt, ließ das Verfahren auf internationalen Schutz zu und behob den bekämpften Bescheid.

7. Mit Verfahrensanordnung vom 25.01.2017 wurde dem Beschwerdeführer der Verlust seines Aufenthaltsrechts gemäß § 13 Abs. 2 AsylG im Bundesgebiet wegen Straffälligkeit und eingebrachter Anklage einer gerichtlich strafbaren Handlung, die nur vorsätzlich begangen werden kann, durch die Staatsanwaltschaft mitgeteilt.

8. Mit Urteil eines Landesgerichts vom 07.03.2017 wurde der Beschwerdeführer wegen des Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs. 2a 2. Fall SMG, § 15 StGB sowie gemäß § 27 Abs. 1 Z 1 1. und 2. Fall SMG zu einer bedingten Freiheitsstrafe in der Dauer von 5 Monaten verurteilt.

9. In der Einvernahme durch die belangte Behörde nannte der Beschwerdeführer befragt zu sozialen und privaten Bindungen in Österreich seine anwesende Vertrauensperson und seine Verlobte. Zu seinem Fluchtgrund führte er aus, dass er bei einer Bank gearbeitet habe und die Mudschaheddin ihn zu Geldüberweisungen in Provinzen aufgefordert hätten. Da er das nicht gemacht habe, hätten sie ihm Drohungen geschickt. In Afghanistan sei es sehr unsicher, vor dem Geschäft seines Vaters habe es 7 Selbstmordanschläge gegeben, bei denen zwei ihrer Fahrzeuge zerstört worden seien.

10. Mit Bescheid der belangten Behörde vom wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem Beschwerdeführer nicht erteilt. Gegen den Beschwerdeführer wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Die Frist für die freiwillige Ausreise betrage 2 Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.). Der Beschwerdeführer habe gemäß § 13 Abs. 2 Z 1 AsylG sein Recht zum Aufenthalt im Bundesgebiet ab dem 11.03.2017 verloren (Spruchpunkt V.).

11. Mit Schreiben vom erhob der Beschwerdeführer fristgerecht vollumfängliche Beschwerde gegen den Bescheid der belangten Behörde wegen Rechtswidrigkeit des Inhalts, mangelhafter bzw. unrichtiger Bescheidbegründung und Rechtswidrigkeit infolge von Verletzung der Verfahrensvorschriften.

12. Nach der Festnahme des Beschwerdeführers am 04.08.2018 wurde über ihn mit Beschluss eines Landesgerichts vom 06.08.2018 die Untersuchungshaft verhängt. In weiterer Folge wurde der Beschwerdeführer mit Urteil eines Landesgerichts vom 16.08.2018 wegen Begehung einer mit Strafe bedrohten Handlung im Zustand voller Berauschung gemäß §§ 287, 125 StGB sowie nach §§ 287, 270 Abs. 1, 269 Abs. 1 StGB zu einer bedingten Freiheitsstrafe in der Dauer von 9 Monaten verurteilt.

13. Am 02.03.2019 wurde der Beschwerdeführer, infolge seiner Festnahme am 28.02.2019, erneut in Untersuchungshaft genommen.

14. Mit Urteil eines Landesgerichts vom 25.04.2019 wurde der Beschwerdeführer wegen des Vergehens des Diebstahls nach §§ 15, 127 StGB, des Vergehens der sexuellen Belästigung und öffentlicher geschlechtlicher Handlungen nach § 218 Abs. 1 Z 1 StGB, des Vergehens des Widerstands gegen die Staatsgewalt nach §§ 15, 269 Abs. 1 StGB und des Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs. 1, Abs. 2 und Abs. 2a SMG, § 15 StGB zu einer unbedingten Freiheitsstrafe in der Dauer von 15 Monaten verurteilt. Am 07.04.2020 erfolgte die bedingte Entlassung aus der Strafhaft.

15. Am fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung statt.

16. Mit rechtskräftigem Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 29.05.2019, W202 2159724-1/27E, wurde die Beschwerde gegen den Bescheid der belangten Behörde vom Den Entscheidungsgründen ist zu entnehmen, dass die Behauptungen des Beschwerdeführers, eine Aufforderung seitens der Taliban bekommen zu haben, im Rahmen seiner Tätigkeit als Bankangestellter für diese tätig zu werden und seine Familie in der Folge durch einen Drohbrief von den Taliban mit dem Umbringen bedroht worden sei, mangels Glaubwürdigkeit nicht festgestellt werden konnte.

Zum Antrag auf Asyl hielt das Bundesverwaltungsgericht in der rechtlichen Begründung zusammenfassend fest, dass individuelle, konkret den Beschwerdeführer betreffende und auf dessen konkrete Verfolgung hindeutende Umstände im Hinblick auf das Vorbringen des Beschwerdeführers nicht festgestellt werden konnten. Zum Antrag auf subsidiären Schutz wies das Bundesverwaltungsgericht darauf hin, dass – auch unter Berücksichtigung seiner psychischen Erkrankung – keinerlei Umstände vorlägen, dass der Beschwerdeführer in Kabul keine ausreichende Versorgung erlangen könnte. Außerdem sei ihm die Inanspruchnahme einer innerstaatliche Fluchtalternative in Mazar-e Sharif zumutbar.

17. Am 11.06.2020 stellte der Beschwerdeführer den gegenständlichen zweiten Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Im Rahmen der am selben Tag durch die Landespolizeidirektion Wien durchgeführten Erstbefragung brachte der Beschwerdeführer, auf die Frage warum er einen neuerlichen Asylantrag stellt, vor, dass er sich über seine sexuelle Orientierung nicht im Klaren gewesen sei, als er nach Österreich gekommen sei. Seine Freunde hätten ihm gesagt, dass er bisexuell sei. Hier in der Haft habe er die Zeit gehabt darüber nachzudenken. Jetzt wisse er, dass er homosexuell sei. Er habe in der Haft auch einen Freund namens XXXX kennengelernt, mit ihm habe er auch Sex gehabt. Er werde jetzt seine sexuelle Orientierung frei ausleben. Seit 2017 habe er eine „Freundschaft +“ mit XXXX . Bei seiner Rückkehr würde ihn seine Familie töten und drohe ihm in Afghanistan die Todesstrafe.

18. Am 19.06.2020 fand vor der belangten Behörde die Einvernahme des Beschwerdeführers statt, in welcher der Beschwerdeführer zusammengefasst angab, er habe im Gefängnis einen Freund namens XXXX gefunden und festgestellt, dass er homosexuell sei. Aktuell sei er mit ihm aber in keiner Beziehung. Er führe auch keine Beziehung mit seinem Freund XXXX , er würde sagen es sei eine „Freundschaft plus“. Sie hätten ein gutes freundschaftliches Verhältnis und hin und wieder sexuelle Kontakte. Im Verfahren zu seinem ersten Antrag auf internationalen Schutz (im Folgenden: Vorverfahren) habe er nicht angegeben, dass er bi- oder homosexuell sei, weil er es nicht gewollt habe. Im Gefängnis habe er festgestellt, dass er zu seinen Gefühlen stehen müsse. Er sei homosexuell seit er 10, 12 Jahre sei und habe nur mit seinem Vater rausgehen können. Seine Familie habe nichts von seiner Homosexualität gewusst. Herrn XXXX habe er über die Dating App „ XXXX “ im Frühling 2017 kennengelernt. Zu den am 16.06.2020 übergebenen Länderfeststellungen hielt der Beschwerdeführer fest, dass nicht stimme, was darin stehe. Weiters wurde er aufgefordert, eine ladungsfähige Adresse von XXXX zu nennen.

19. Am 02.07.2020 wurde XXXX von der belangten Behörde als Zeuge einvernommen. Der Zeuge sagte im Wesentlichen aus, dass er derzeit mit dem Beschwerdeführer befreundet sei und seit 2018 einen festen Partner habe. Er habe den Beschwerdeführer im Sommer 2016 kennengelernt und sich ca. ein halbes Jahr in einer intimen Beziehung mit ihm befunden. Danach sei er weiter mit ihm in Kontakt geblieben. Im Vorverfahren habe er dem Beschwerdeführer nach Erhalt dessen Ladung zugesagt, als Vertrauensperson mitzugehen und ihm geraten, seine Homosexualität anzugeben. Der Beschwerdeführer habe auch eine Beziehung zu einer Frau gehabt, diese sei aber unglücklich verlaufen. Der Zeuge habe die Verlobte auch kennengelernt, sie habe aber nichts von der Homosexualität des Beschwerdeführers gewusst. Der Beschwerdeführer habe nur mit ihm darüber sprechen können. Der Beschwerdeführer habe ihm einmal gestanden, dass er in Afghanistan von mehreren Männern missbraucht worden sei. In der „Corona Zeit“ habe der Beschwerdeführer ihn einmal aus der Haft angerufen und gesagt, er wisse jetzt, dass er schwul sei und so leben wolle. Er habe gesagt, dass er in der Haft einen „ XXXX “ oder XXXX kennengelernt habe und mit ihm er jetzt richtig er selbst sei. Der Zeuge habe versucht, dem Beschwerdeführer die „schwule Szene“ zu zeigen. Er habe den Beschwerdeführer auch während seiner Haft besucht.

20. Am 03.07.2020 wurde dem Beschwerdeführer eine Verfahrensanordnung übergeben, mit welcher ihm der Verlust seines Aufenthaltsrechts wegen Straffälligkeit mitgeteilt wurde.

22. Der Beschwerdeführer befand sich von 12.04.2020 bis 02.10.2020 in Schubhaft.

23. Am 12.10.2020 fand vor der belangten Behörde die zweite Einvernahme des Beschwerdeführers statt. Die Niederschrift lautet auszugsweise:

„[…]

LA: Aus welchem Grund haben Sie am 11.06.2020 einen neuerlichen Antrag auf internationalen Schutz gestellt?

VP: Bereits in Afghanistan habe ich mich im Umfeld von Burschen wohlgefühlt. Zu dem Zeitpunkt war mir aber nicht klar bzw. konnte ich mich keiner Kategorie zuordnen. Ich habe meine Neigung zu Männern geheim gehalten. Ich komme von einer religiösen Familie; Ich wurde im jungen Alter gezwungen, eine Frau zu heiraten. Ich habe mich z ihr nicht hingezogen gefühlt, aber nach einem Jahr bekamen wir eine Tochter. Ich habe mich um das Kind nicht wirklich gut gekümmert bzw. ich habe ihr keine Aufmerksamkeit geschenkt. Als ich nach Österreich kam, hatte ich immer noch die Einstellung, dass ich ein Afghane sei und nicht zur Gruppe der Homosexuellen gehöre. Eigentlich hatte ich aber angst es zuzugeben. Bei Afghanen ist es unmöglich, sich zu outen; dies könnte lebensgefährlich sein. Auch in diesem Land könnte es gefährlich werden, wenn es Afghanen erfahren.

Erst, als ich im Gefängnis war, habe ich meine Angst überwunden. Außerdem bin ich inzwischen erwachsen. Ich fürchte mich nicht mehr davor, dass andere wissen, dass ich homosexuell bin. Hier in Österreich kann man mir deswegen nichts antun. Seit März 2020 habe ich den Entschluss gefasst, ehrlich zu leben und nicht mehr mit einer Lüge. Ich habe den XXXX angerufen und ihm dies erzählt. Auch die anderen Afghanen, die in Schubhaft waren, haben erfahren, das sich homosexuell bin. Ich möchte mich nicht mehr verstrecken.

LA: Haben Sie somit alle Details für Ihre Asylantragstellung genannt?

VP: Ja, darum habe ich einen neuerlichen Asylantrag gestellt.

LA: Seit wann sind Sie homosexuell?

VP: Seit meiner Pubertät, ich schätze, seit ich 12 oder 13 Jahre alt bin.

Ich habe derzeit auch einen Freund, mit dem sich zusammen bin.

LA: Wie heißt Ihr Freund?

VP: XXXX .

LA: Wie heißt Ihr Freund mit Familiennamen?

VP: Ich weiß es nicht.

LA: Können Sie erklären, aus welchem Grund Sie in Ihrem bisherigen Verfahren nicht angegeben haben, homosexuell zu sein?

VP: Weil ich mich nicht getraut habe.

LA: Sie hatten am 23.05.2019 eine mündliche Verhandlung vor dem BVwG (Bundesverwaltungsgericht). Warum haben Sie dabei nicht vorgebracht, homosexuell zu sein?

VP: Wegen meiner afghanischen Herkunft. Ich hatte Angst, dass es meine Familie erfährt.

LA: Haben Sie bewusst verschwiegen, homosexuell zu sein?

VP: Ja, ich habe mich nicht getraut, es zu sagen.

LA: Können Sie erklären, welche Strafe eine Person, die homosexuell ist, im Falle der Rückkehr in Afghanistan zu befürchten hat?

VP: Den Tot.

LA: Seit wann sind Sie in Kenntnis hinsichtlich dieses „Strafausmaßes“?

VP: Schon immer.

LA: Können Sie erklären, aus welchem Grund Sie trotz dieser Kenntnis im bisherigen Verfahren nicht erwähnt haben, homosexuell zu sein?

VP: Weil ich es damals nicht öffentlich gemacht hatte. Somit hatte ich nicht diese Befürchtung.

LA: Auch wenn Sie es nicht öffentlich gemacht hätten, müssten Sie im Falle der Rückkehr die Befürchtung haben, einer Gefährdungslage ausgesetzt zu sein. Was sagen Sie dazu?

VP: Hätte ich bis heute nicht öffentlich gemacht, homosexuell zu sein, dann hätte ich im Falle der Rückkehr nichts zu befürchten.

LA: Welche Befürchtungen hätten Sie im Falle der Rückkehr in Ihr Heimatland?

VP: Ich werde aufgrund meiner sexuellen Orientierung umgebracht.

[…]“

24. Mit dem angefochtenen Bescheid der belangten Behörde wurde der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich des Status des Asylberechtigten sowie der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurückgewiesen (Spruchpunkt I. und II.). Außerdem wurde festgestellt, dass der Beschwerdeführer sein Recht zum Aufenthalt im Bundesgebiet seit dem 03.07.2020 verloren hat (Spruchpunkt III.).

25. Mit Schriftsatz vom 19.11.2020 erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde gegen den Bescheid der belangten Behörde und brachte zusammenfassend vor, dass die belangte Behörde in der Beweiswürdigung die Aussage des vernommenen Zeugen gänzlich übergehe, obwohl dieser unter Wahrheitspflicht zentrale Angaben zur sexuellen Orientierung und dem „Coming-Out-Prozess“ des Beschwerdeführers getätigt habe. Außerdem habe die belangte Behörde den vom Zeugen namhaft gemachten weiteren Zeugen nicht geladen. Ferner sei dem Beschwerdeführer keine Frist zu einer schriftlichen Stellungnahme eingeräumt worden, weshalb seine Rechtsvertretung relevante länderkundliche Erkenntnisquellen nicht habe vorlegen und den damaligen Partner des Beschwerdeführers nicht habe namhaft machen können. Die belangte Behörde setze sich mit der Homosexualität und deren Ausleben in lediglich drei Sätzen auseinander und unterstelle dem Beschwerdeführer aktenwidrig seine Homosexualität „bewusst und vorsätzlich“ geheim gehalten zu haben, obwohl ihm gerade seine Ängste und Scham gehindert hätten, darüber zu sprechen. Auch wenn dem Beschwerdeführer bereits vor Jahren homosexuell gewesen sei und dies im Geheimen ausgelebt habe, so sei sein „äußeres Coming-Out“ ein neuer Sachverhalt.

26. Mit Beschwerdeergänzung vom 23.12.2020 brachte der Beschwerdeführer weiters vor, dass die belangte Behörde eine neue Rückkehrentscheidung hätte erlassen müssen und diesfalls unter Heranziehung der neuen Tatsachen zu dem Ergebnis kommen müssen, dass die Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig sei.

27. Über den Beschwerdeführer wurden mit in Rechtskraft erwachsener Strafverfügung vom 09.03.2021 wegen Verletzung des § 82 Abs. 1 SPG, § 1 Abs. 1 Z 1 WLSG, § 1 Abs. 1 Z 2 WLSG und § 84 Abs. 1 Z 4a iVm § 36b Abs. 1 SPG Geldstrafen in Höhe von insgesamt EUR 600,00 verhängt.

28. Mit rechtskräftiger Strafverfügung vom 10.03.2021 wurde über den Beschwerdeführer aufgrund Grundlage des § 121 Abs. 1a FPG iVm § 15c AsylG eine Geldstrafe von EUR 100,00 verhängt.

29. Mit Urteil eines Landesgerichts wurde der Beschwerdeführer am 28.06.2021 wegen unerlaubten Umgangs mit Suchgiften gemäß § 27 Abs. 1 Z 1 2. Fall SMG sowie gemäß § 27 Abs. 2a 2. Fall und Abs. 3 SMG zu einer unbedingten Freiheitsstrafe in der Dauer von 22 Monaten verurteilt.

30. Am 24.08.2021 fand eine mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht statt.

31. Mit Stellungnahme vom 13.09.2021 führte der Beschwerdeführer aus, das seinem „Coming Out“ bei richtiger Beweiswürdigung und Zugrundelegung entsprechender Länderberichte Relevanz zukomme, weil ihm wegen seiner Homosexualität der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen wäre. Die Machtübernahme der Taliban und die rasante Verschlechterung der Sicherheitslage in Afghanistan sei ein geänderter Sachverhalt, der der Zurückweisung wegen entschiedener Sache entgegenstehe.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers/Asylfolgeantrag:

1.1.1. Der Beschwerdeführer ist ein afghanischer Staatsangehöriger, sunnitischer Moslem und gehört der Volksgruppe der Paschtunen an. Er ist arbeitsfähig und leidet an keiner lebensbedrohlichen Erkrankung.

Der Beschwerdeführer stammt aus der afghanischen Provinz Kabul, wo er bis zu seiner Ausreise aus Afghanistan lebte. Dort besuchte er 12 Jahre die Schule, studierte 3 Semester und arbeitete in einer Baufirma sowie in einer Bank.

1.1.2. Nicht festgestellt wird, dass der Beschwerdeführer homosexuell ist.

Der Beschwerdeführer konnte seit der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes vom 29.05.2019 nicht glaubhaft dartun, dass in der Zwischenzeit Umstände eingetreten sind, wonach dem Beschwerdeführer in Afghanistan aktuell mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit seiner Person drohen würde oder ihm im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen wäre. Der Beschwerdeführer ist jung, gesund und arbeitsfähig, sodass er im Herkunftsstaat zumindest durch einfache Arbeit das nötige Einkommen erzielen könnte, um sich eine Existenzgrundlage zu schaffen. Zudem kann der Beschwerdeführer Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen.

1.1.3. Der Beschwerdeführer konnte seit der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes vom 29.05.2019 ferner nicht glaubhaft dartun, dass ihm im Falle der Rückkehr in die Städte Kabul oder Mazar-e-Sharif ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen würde. Seine Existenz könnte er dort – zumindest anfänglich – mit Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten sichern. Er ist auch in der Lage, in der Städten Kabul oder Mazar-e-Sharif eine einfache Unterkunft zu finden.

1.1.4. Auch die aktuell vorherrschende COVID-19-Pandemie bildet kein Rückkehrhindernis. Der Beschwerdeführer ist gesund und gehört mit Blick auf sein Alter und das Fehlen physischer (chronischer) Vorerkrankungen keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 an. Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde.

1.2. Zum Herkunftsstaat:

1.2.1. Auszug Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 21.07.2020 (im Bescheid festgestellt):

„Länderspezifische Anmerkungen

COVID-19:

Stand 21.7.2020

Das genaue Ausmaß der COVID-19-Krise in Afghanistan ist unbekannt. Die hier gesammelten Informationen sollen die Lage zu COVID-19 in Afghanistan zum Zeitpunkt der Berichtserstellung wiedergeben. Diese Informationen werden in regelmäßigen Abständen aktualisiert.

Aktueller Stand der COVID-19 Krise in Afghanistan

Berichten zufolge, haben sich in Afghanistan mehr als 35.000 Menschen mit COVID-19 angesteckt (WHO 20.7.2020; vgl. JHU 20.7.2020, OCHA 16.7.2020), mehr als 1.280 sind daran gestorben. Aufgrund der begrenzten Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der begrenzten Testkapazitäten sowie des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt zu wenig gemeldet (OCHA 16.7.2020; vgl. DS 19.7.2020). 10 Prozent der insgesamt bestätigten COVID-19-Fälle entfallen auf das Gesundheitspersonal. Kabul ist hinsichtlich der bestätigten Fälle nach wie vor der am stärksten betroffene Teil des Landes, gefolgt von den Provinzen Herat, Balkh, Nangarhar und Kandahar (OCHA 15.7.2020). Beamte in der Provinz Herat sagten, dass der Strom afghanischer Flüchtlinge, die aus dem Iran zurückkehren, und die Nachlässigkeit der Menschen, die Gesundheitsrichtlinien zu befolgen, die Möglichkeit einer neuen Welle des Virus erhöht haben, und dass diese in einigen Gebieten bereits begonnen hätte (TN 14.7.2020). Am 18.7.2020 wurde mit 60 neuen COVID-19 Fällen der niedrigste tägliche Anstieg seit drei Monaten verzeichnet – wobei an diesem Tag landesweit nur 194 Tests durchgeführt wurden (AnA 18.7.2020).

Krankenhäuser und Kliniken berichten weiterhin über Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19. Diese Herausforderungen stehen im Zusammenhang mit der Bereitstellung von persönlicher Schutzausrüstung (PSA), Testkits und medizinischem Material sowie mit der begrenzten Anzahl geschulter Mitarbeiter - noch verschärft durch die Zahl des erkrankten Gesundheitspersonals. Es besteht nach wie vor ein dringender Bedarf an mehr Laborequipment sowie an der Stärkung der personellen Kapazitäten und der operativen Unterstützung (OCHA 16.7.2020, vgl. BBC-News 30.6.2020).

Maßnahmen der afghanischen Regierung und internationale Hilfe

Die landesweiten Sperrmaßnahmen der Regierung Afghanistans bleiben in Kraft. Universitäten und Schulen bleiben weiterhin geschlossen (OCHA 8.7.2020; vgl. RA KBL 16.7.2020). Die Regierung Afghanistans gab am 6.6.2020 bekannt, dass sie die landesweite Abriegelung um drei weitere Monate verlängern und neue Gesundheitsrichtlinien für die Bürger herausgeben werde. Darüber hinaus hat die Regierung die Schließung von Schulen um weitere drei Monate bis Ende August verlängert (OCHA 8.7.2020).

Berichten zufolge werden die Vorgaben der Regierung nicht befolgt, und die Durchsetzung war nachsichtig (OCHA 16.7.2020, vgl. TN 12.7.2020). Die Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Virus unterscheiden sich weiterhin von Provinz zu Provinz, in denen die lokalen Behörden über die Umsetzung der Maßnahmen entscheiden. Zwar behindern die Sperrmaßnahmen der Provinzen weiterhin periodisch die Bewegung der humanitären Helfer, doch hat sich die Situation in den letzten Wochen deutlich verbessert, und es wurden weniger Behinderungen gemeldet (OCHA 15.7.2020).

Einwohner Kabuls und eine Reihe von Ärzten stellten am 18.7.2020 die Art und Weise in Frage, wie das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) mit der Ausbreitung der COVID-19-Pandemie im Land umgegangen ist, und sagten, das Gesundheitsministerium habe es trotz massiver internationaler Gelder versäumt, richtig auf die Pandemie zu reagieren (TN 18.7.2020). Es gibt Berichte wonach die Bürger angeben, dass sie ihr Vertrauen in öffentliche Krankenhäuser verloren haben und niemand mehr in öffentliche Krankenhäuser geht, um Tests oder Behandlungen durchzuführen (TN 12.7.2020).

Beamte des afghanischen Gesundheitsministeriums erklärten, dass die Zahl der aktiven Fälle von COVID-19 in den Städten zurückgegangen ist, die Pandemie in den Dörfern und in den abgelegenen Regionen des Landes jedoch zunimmt. Der Gesundheitsminister gab an, dass 500 Beatmungsgeräte aus Deutschland angekauft wurden und 106 davon in den Provinzen verteilt werden würden (TN 18.7.2020).

Am Samstag den 18.7.2020 kündete die afghanische Regierung den Start des Dastarkhan-e-Milli-Programms als Teil ihrer Bemühungen an, Haushalten inmitten der COVID-19-Pandemie zu helfen, die sich in wirtschaftlicher Not befinden. Auf der Grundlage des Programms will die Regierung in der ersten Phase 86 Millionen Dollar und dann in der zweiten Phase 158 Millionen Dollar bereitstellen, um Menschen im ganzen Land mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Die erste Phase soll über 1,7 Millionen Familien in 13.000 Dörfern in 34 Provinzen des Landes abdecken (TN 18.7.2020; vgl. Mangalorean 19.7.2020).

Die Weltbank genehmigte am 15.7.2020 einen Zuschuss in Höhe von 200 Millionen US-Dollar, um Afghanistan dabei zu unterstützen, die Auswirkungen von COVID-19 zu mildern und gefährdeten Menschen und Unternehmen Hilfe zu leisten (WB 10.7.2020; vgl. AN 10.7.2020).

Auszugsweise Lage in den Provinzen Afghanistans

Dieselben Maßnahmen – nämlich Einschränkungen und Begrenzungen der täglichen Aktivitäten, des Geschäftslebens und des gesellschaftlichen Lebens – werden in allen folgend angeführten Provinzen durchgeführt. Die Regierung hat eine Reihe verbindlicher gesundheitlicher und sozialer Distanzierungsmaßnahmen eingeführt, wie z.B. das obligatorische Tragen von Gesichtsmasken an öffentlichen Orten, das Einhalten eines Sicherheitsabstandes von zwei Metern in der Öffentlichkeit und ein Verbot von Versammlungen mit mehr als zehn Personen. Öffentliche und touristische Plätze, Parks, Sportanlagen, Schulen, Universitäten und Bildungseinrichtungen sind geschlossen; die Dienstzeiten im privaten und öffentlichen Sektor sind auf 6 Stunden pro Tag beschränkt und die Beschäftigten werden in zwei ungerade und gerade Tagesschichten eingeteilt (RA KBL 16.7.2020; vgl. OCHA 8.7.2020).

Die meisten Hotels, Teehäuser und ähnliche Orte sind aufgrund der COVID-19 Maßnahmen geschlossen, es sei denn, sie wurden geheim und unbemerkt von staatlichen Stellen geöffnet (RA KBL 16.7.2020; vgl. OCHA 8.7.2020).

In der Provinz Kabul gibt es zwei öffentliche Krankenhäuser die COVID-19 Patienten behandeln mit 200 bzw. 100 Betten. Aufgrund der hohen Anzahl von COVID-19-Fällen im Land und der unzureichenden Kapazität der öffentlichen Krankenhäuser hat die Regierung kürzlich auch privaten Krankenhäusern die Behandlung von COVID-19-Patienten gestattet. Kabul sieht sich aufgrund von Regen- und Schneemangel, einer boomenden Bevölkerung und verschwenderischem Wasserverbrauch mit Wasserknappheit konfrontiert. Außerdem leben immer noch rund 12 Prozent der Menschen in Kabul unter der Armutsgrenze, was bedeutet, dass oftmals ein erschwerter Zugang zu Wasser besteht (RA KBL 16.7.2020; WHO o.D).

In der Provinz Balkh gibt es ein Krankenhaus, welches COVID-19 Patienten behandelt und über 200 Betten verfügt. Es gibt Berichte, dass die Bewohner einiger Distrikte der Provinz mit Wasserknappheit zu kämpfen hatten. Darüber hinaus hatten die Menschen in einigen Distrikten Schwierigkeiten mit dem Zugang zu ausreichender Nahrung, insbesondere im Zuge der COVID-19-Pandemie (RA KBL 16.7.2020).

In der Provinz Herat gibt es zwei Krankenhäuser die COVID-19 Patienten behandeln. Ein staatliches öffentliches Krankenhaus mit 100 Betten, das vor kurzem speziell für COVID-19-Patienten gebaut wurde (RA KBL 16.7.2020; vgl. TN 19.3.2020) und ein Krankenhaus mit 300 Betten, das von einem örtlichen Geschäftsmann in einem umgebauten Hotel zur Behandlung von COVID-19-Patienten eingerichtet wurde (RA KBL 16.7.2020; vgl. TN 4.5.2020). Es gibt Berichte, dass 47,6 Prozent der Menschen in Herat unter der Armutsgrenze leben, was bedeutet, dass oft ein erschwerter Zugang zu sauberem Trinkwasser und Nahrung haben, insbesondere im Zuge der Quarantäne aufgrund von COVID-19, durch die die meisten Tagelöhner arbeitslos blieben (RA KBL 16.7.2020; vgl. UNICEF 19.4.2020).

In der Provinz Daikundi gibt es ein Krankenhaus für COVID-19-Patienten mit 50 Betten. Es gibt jedoch keine Auswertungsmöglichkeiten für COVID-19-Tests – es werden Proben entnommen und zur Laboruntersuchung nach Kabul gebracht. Es dauert Tage, bis ihre Ergebnisse von Kabul nach Daikundi gebracht werden. Es gibt Berichte, dass 90 Prozent der Menschen in Daikundi unter der Armutsgrenze leben und dass etwa 60 Prozent der Menschen in der Provinz stark von Ernährungsunsicherheit betroffen sind (RA KBL 16.7.2020).

In der Provinz Samangan gibt es ebenso ein Krankenhaus für COVID-19-Patienten mit 50 Betten. Wie auch in der Provinz Daikundi müssen Proben nach Kabul zur Testung geschickt werden. Eine unzureichende Wasserversorgung ist eine der größten Herausforderungen für die Bevölkerung. Nur 20 Prozent der Haushalte haben Zugang zu sauberem Trinkwasser (RA KBL 16.7.2020).

Wirtschaftliche Lage in Afghanistan

Verschiedene COVID-19-Modelle zeigen, dass der Höhepunkt des COVID-19-Ausbruchs in Afghanistan zwischen Ende Juli und Anfang August erwartet wird, was schwerwiegende Auswirkungen auf die Wirtschaft Afghanistans und das Wohlergehen der Bevölkerung haben wird (OCHA 16.7.2020). Es herrscht weiterhin Besorgnis seitens humanitärer Helfer, über die Auswirkungen ausgedehnter Sperrmaßnahmen auf die am stärksten gefährdeten Menschen – insbesondere auf Menschen mit Behinderungen und Familien – die auf Gelegenheitsarbeit angewiesen sind und denen alternative Einkommensquellen fehlen (OCHA 15.7.2020). Der Marktbeobachtung des World Food Programme (WFP) zufolge ist der durchschnittliche Weizenmehlpreis zwischen dem 14. März und dem 15. Juli um 12 Prozent gestiegen, während die Kosten für Hülsenfrüchte, Zucker, Speiseöl und Reis (minderwertige Qualität) im gleichen Zeitraum um 20 – 31 Prozent gestiegen sind (WFP 15.7.2020, OCHA 15.7.2020). Einem Bericht der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der UNO (FAO) und des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht (MAIL) zufolge sind über 20 Prozent der befragten Bauern nicht in der Lage, ihre nächste Ernte anzubauen, wobei der fehlende Zugang zu landwirtschaftlichen Betriebsmitteln und die COVID-19-Beschränkungen als Schlüsselfaktoren genannt werden. Darüber hinaus sind die meisten Weizen-, Obst-, Gemüse- und Milchverarbeitungsbetriebe derzeit nur teilweise oder gar nicht ausgelastet, wobei die COVID-19-Beschränkungen als ein Hauptgrund für die Reduzierung der Betriebe genannt werden. Die große Mehrheit der Händler berichtete von gestiegenen Preisen für Weizen, frische Lebensmittel, Schafe/Ziegen, Rinder und Transport im Vergleich zur gleichen Zeit des Vorjahres. Frischwarenhändler auf Provinz- und nationaler Ebene sahen sich im Vergleich zu Händlern auf Distriktebene mit mehr Einschränkungen konfrontiert, während die große Mehrheit der Händler laut dem Bericht von teilweisen Marktschließungen aufgrund von COVID-19 berichtete (FAO 16.4.2020; vgl. OCHA 16.7.2020; vgl. WB 10.7.2020).

Am 19.7.2020 erfolgte die erste Lieferung afghanischer Waren in zwei Lastwagen nach Indien, nachdem Pakistan die Wiederaufnahme afghanischer Exporte nach Indien angekündigt hatte um den Transithandel zu erleichtern. Am 12.7.2020 öffnete Pakistan auch die Grenzübergänge Angor Ada und Dand-e-Patan in den Provinzen Paktia und Paktika für afghanische Waren, fast zwei Wochen nachdem es die Grenzübergänge Spin Boldak, Torkham und Ghulam Khan geöffnet hatte (TN 20.7.2020).

Einreise und Bewegungsfreiheit

Die Türkei hat, nachdem internationale Flüge ab 11.6.2020 wieder nach und nach aufgenommen wurden, am 19.7.2020 wegen der COVID-19-Pandemie Flüge in den Iran und nach Afghanistan bis auf weiteres ausgesetzt, wie das Ministerium für Verkehr und Infrastruktur mitteilte (TN 20.7.2020; vgl. AnA 19.7.2020, DS 19.7.2020).

Bestimmte öffentliche Verkehrsmittel wie Busse, die mehr als vier Passagiere befördern, dürfen nicht verkehren. Obwohl sich die Regierung nicht dazu geäußert hat, die Reisebeschränkungen für die Bürger aufzuheben, um die Ausbreitung von COVID-19 zu verhindern, hat sich der Verkehr in den Städten wieder normalisiert, und Restaurants und Parks sind wieder geöffnet (TN 12.7.2020).

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Stand 29.6.2020

Das genaue Ausmaß der COVID-19-Krise in Afghanistan ist unbekannt. Die hier gesammelten Informationen sollen die Lage zu COVID-19 in Afghanistan zum Zeitpunkt der Berichtserstellung wiedergeben. Diese Informationen werden in regelmäßigen Abständen aktualisiert.

Berichten zufolge, haben sich mehr als 30.000 Menschen in Afghanistan mit COVID-19 angesteckt (WP 25.5.2020; vgl. JHU 26.6.2020), mehr als 670 sind daran gestorben. Dem Gesundheitsministerium zufolge, liegen die tatsächlichen Zahlen viel höher; auch bestünde dem Ministerium zufolge die Möglichkeit, dass in den kommenden Monaten landesweit bis zu 26 Millionen Menschen mit dem Virus infiziert werden könnten, womit die Zahl der Todesopfer 100.000 übersteigen könnte. Die COVID-19 Testraten sind extrem niedrig in Afghanistan: weniger als 0,2% der Bevölkerung – rund 64.900 Menschen von geschätzten 37,6 Millionen Einwohnern – wurden bis jetzt auf COVID-19 getestet (WP 25.6.2020).

In vier der 34 Provinzen Afghanistans – Nangahar, Ghazni, Logar und Kunduz – hat sich unter den Sicherheitskräften COVID-19 ausgebreitet. In manchen Einheiten wird eine Infektionsrate von 60-90% vermutet. Dadurch steht weniger Personal bei Operationen und/oder zur Aufnahme des Dienstes auf Außenposten zur Verfügung (WP 25.6.2020).

In Afghanistan sind landesweit derzeit Mobilität, soziale und geschäftliche Aktivitäten sowie Regierungsdienste eingeschränkt. In den größeren Städten wie z.B. Kabul, Kandahar, Mazar-e Sharif, Jalalabad, Parwan usw. wird auf diese Maßnahmen stärker geachtet und dementsprechend kontrolliert. Verboten sind zudem auch Großveranstaltungen – Regierungsveranstaltungen, Hochzeitsfeiern, Sportveranstaltungen – bei denen mehr als zehn Personen zusammenkommen würden (RA KBL 19.6.2020). In der Öffentlichkeit ist die Bevölkerung verpflichtet einen Nasen-Mund-Schutz zu tragen (AJ 8.6.2020).

Wirksame Maßnahmen der Regierung zur Bekämpfung von COVID-19 scheinen derzeit auf keiner Ebene möglich zu sein: der afghanischen Regierung zufolge, lebt 52% der Bevölkerung in Armut, während 45% in Ernährungsunsicherheit lebt (AF 24.6.2020). Dem Lockdown folge zu leisten, "social distancing" zu betreiben und zuhause zu bleiben ist daher für viele keine Option, da viele Afghan/innen arbeiten müssen, um ihre Familien versorgen zu können (AJ 8.6.2020).

Gesellschaftliche Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19 Auswirkungen

In Kabul, hat sich aus der COVID-19-Krise heraus ein "Solidaritätsprogramm" entwickelt, welches später in anderen Provinzen repliziert wurde. Eine afghanische Tageszeitung rief Hausbesitzer dazu auf, jenen ihrer Mieter/innen, die Miete zu reduzieren oder zu erlassen, die aufgrund der Ausgangsbeschränkungen nicht arbeiten konnten. Viele Hausbesitzer folgten dem Aufruf (AF 24.6.2020).

Bei der Spendenaktion „Kocha Ba Kocha“ kamen junge Freiwillige zusammen, um auf die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie zu reagieren, indem sie Spenden für bedürftige Familien sammelten und ihnen kostenlos Nahrungsmittel zur Verfügung stellten. In einem weiteren Fall startete eine Privatbank eine Spendenkampagne, durch die 10.000 Haushalte in Kabul und andere Provinzen monatlich mit Lebensmitteln versorgt wurden. Außerdem initiierte die afghanische Regierung das sogenannte „kostenlose Brot“-Programm; bei dem bedürftige Familien – ausgewählt durch Gemeindeälteste – rund einen Monat lang mit kostenlosem Brot versorgt werden (AF 24.6.2020). In dem mehrphasigen Projekt, erhält täglich jede Person innerhalb einer Familie zwei Stück des traditionellen Brots, von einer Bäckerei in der Nähe ihres Wohnortes (TN 15.6.2020). Die Regierung kündigte kürzlich an, das Programm um einen weiteren Monat zu verlängern (AF 24.6.2020; vgl. TN 15.6.2020). Beispielsweise beklagten sich bedürftige Familien in der Provinz Jawzjan über Korruption im Rahmen dieses Projektes (TN 20.5.2020).

Weitere Maßnahmen der afghanischen Regierung

Schulen und Universitäten sind nach aktuellem Stand bis September 2020 geschlossen (AJ 8.6.2020; vgl. RA KBL 19.6.2020). Über Fernlernprogramme, via Internet, Radio und Fernsehen soll der traditionelle Unterricht im Klassenzimmer vorerst weiterhin ersetzen werden (AJ 8.6.2020). Fernlehre funktioniert jedoch nur bei wenigen Studierenden. Zum Einen können sich viele Familien weder Internet noch die dafür benötigten Geräte leisten und zum Anderem schränkt eine hohe Analphabetenzahl unter den Eltern in Afghanistan diese dabei ein, ihren Kindern beim Lernen behilflich sein zu können (HRW 18.6.2020).

Die großen Reisebeschränkungen wurden mittlerweile aufgehoben; die Bevölkerung kann nun in alle Provinzen reisen(RA KBL 19.6.2020). Afghanistan hat mit 24.6.2020 den internationalen Flugverkehr mit einem Turkish Airlines-Flug von Kabul nach Istanbul wieder aufgenommen; wobei der Flugplan aufgrund von Restriktionen auf vier Flüge pro Woche beschränkt wird (AnA 24.6.2020). Emirates, eine staatliche Fluglinie der Vereinigten Arabischen Emirate, hat mit 25.6.2020 Flüge zwischen Afghanistan und Dubai wieder aufgenommen (AnA 24.6.2020; vgl. GN 9.6.2020). Zwei afghanische Fluggesellschaften Ariana Airlines und der lokale private Betreiber Kam Air haben ebenso Flüge ins Ausland wieder aufgenommen (AnA 24.6.2020). Bei Reisen mit dem Flugzeug sind grundlegende COVID-19-Schutzmaßnahmen erforderlich (RA KBL 19.6.2020). Wird hingegen die Reise mit dem Auto angetreten, so sind keine weiteren Maßnahmen erforderlich. Zwischen den Städten Afghanistans verkehren Busse. Grundlegende Schutzmaßnahmen nach COVID-19 werden von der Regierung zwar empfohlen – manchmal werden diese nicht vollständig umgesetzt (RA KBL 19.6.2020).

Seit 1.1.2020 beträgt die Anzahl zurückgekehrter Personen aus dem Iran und Pakistan: 339.742; 337.871 Personen aus dem Iran (247.082 spontane Rückkehrer/innen und 90.789 wurden abgeschoben) und 1.871 Personen aus Pakistan (1.805 spontane Rückkehrer/innen und 66 Personen wurden abgeschoben) (UNHCR 20.6.2020).

Situation in der Grenzregion und Rückkehr aus Pakistan

Die Grenze zu Pakistan war fast drei Monate lang aufgrund der COVID-19-Pandemie gesperrt. Mit 22.6.2020 erhielt Pakistan an drei Grenzübergängen erste Exporte aus Afghanistan: frisches Obst und Gemüse wurde über die Grenzübergänge Torkham, Chaman und Ghulam Khan nach Pakistan exportiert. Im Hinblick auf COVID-19 wurden Standardarbeitsanweisungen (SOPs – standard operating procedures) für den grenzüberschreitenden Handel angewandt (XI 23.6.2020). Der bilaterale Handel soll an sechs Tagen der Woche betrieben werden, während an Samstagen diese Grenzübergänge für Fußgänger reserviert sind (XI 23.6.2020; vgl. UNHCR 20.6.2020); in der Praxis wurde der Fußgängerverkehr jedoch häufiger zugelassen (UNHCR 20.6.2020).

Pakistanischen Behörden zufolge waren die zwei Grenzübergänge Torkham und Chaman auf Ansuchen Afghanistans und aus humanitären Gründen bereits früher für den Transithandel sowie Exporte nach Afghanistan geöffnet worden (XI 23.6.2020).

Situation in der Grenzregion und Rückkehr aus dem Iran

Die Anzahl aus dem Iran abgeschobener Afghanen ist im Vergleich zum Monat Mai stark gestiegen. Berichten zufolge haben die Lockerungen der Mobilitätsmaßnahmen dazu geführt, dass viele Afghanen mithilfe von Schmugglern in den Iran ausreisen. UNHCR zufolge, gaben Interviewpartner/innen an, kürzlich in den Iran eingereist zu sein, aber von der Polizei verhaftet und sofort nach Afghanistan abgeschoben worden zu sein (UNHCR 20.6.2020).

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Stand: 18.5.2020

Das genaue Ausmaß der COVID-19-Krise in Afghanistan ist unbekannt. Die hier gesammelten Informationen sollen die Lage zu COVID-19 in Afghanistan zum Zeitpunkt der Berichtserstellung wiedergeben. Diese Informationen werden in regelmäßigen Abständen aktualisiert.

In 30 der 34 Provinzen Afghanistans wurden mittlerweile COVID-19-Fälle registriert (NYT 22.4.2020). Nachbarländer von Afghanistan, wie China, Iran und Pakistan, zählen zu jenen Ländern, die von COVID-19 besonders betroffen waren bzw. nach wie vor sind. Dennoch ist die Anzahl, der mit COVID-19 infizierten Personen relativ niedrig (AnA 21.4.2020). COVID-19 Verdachtsfälle können in Afghanistan aufgrund von Kapazitätsproblem bei Tests nicht überprüft werden – was von afghanischer Seite bestätigt wird (DW 22.4.2020; vgl. QA 16.4.2020; NYT 22.4.2020; ARZ KBL 7.5.2020). Auch wird die Dunkelziffer von afghanischen Beamten höher geschätzt (WP 20.4.2020). In Afghanistan können derzeit täglich 500 bis 700 Personen getestet werden. Diese Kapazitäten sollen in den kommenden Wochen auf 2.000 Personen täglich erhöht werden (WP 20.4.2020). Die Regierung bemüht sich noch weitere Testkits zu besorgen – was Angesicht der derzeitigen Nachfrage weltweit, eine Herausforderung ist (DW 22.4.2020).

Landesweit können – mit Hilfe der Vereinten Nationen – in acht Einrichtungen COVID-19-Testungen durchgeführt werden (WP 20.4.2020). Auch haben begrenzte Laborkapazitäten und -ausrüstung einige Einrichtungen dazu gezwungen Testungen vorübergehend einzustellen (WP 20.4.2020). Unter anderem können COVID-19-Verdachtsfälle in Einrichtungen folgender Provinzen überprüft werden: Kabul, Herat, Nangarhar (TN 30.3.2020) und Kandahar. COVID-19 Proben aus angrenzenden Provinzen wie Helmand, Uruzgan und Zabul werden ebenso an die Einrichtung in Kandahar übermittelt (TN 7.4.2020a).

Jahrzehntelange Konflikte in Afghanistan machen das Land anfällig für den Ausbruch von Krankheiten: nach wie vor ist Polio dort endemisch (als eines von drei Ländern weltweit) (WP 20.4.2020) außerdem ist das Gesundheitssystem fragil (AnA 21.4.2020; vgl. QA 16.4.2020; ARZ KBL 7.5.2020). Beispielsweise mangelt es an adäquaten Medikamenten für Patient/innen, die an COVID-19 erkrankt sind. Jedoch sind die wenigen Medikamente, die hierfür zur Verfügung stehen, kostenfrei (ARZ KBL 7.5.2020). Der landesweite Mangel an COVID-19-Testkits sowie an Isolations- und Behandlungseinrichtungen verdeutlichen diese Herausforderung (AnA 21.4.2020; vgl. ARZ KBL 7.5.2020). Landesweit stehen 10.400 Krankenhausbetten (BBC 9.4.2020) und 300 Beatmungsgeräte zur Verfügung (TN 8.4.2020; vgl. DW 22.4.2020; QA 16.4.2020). 300 weitere Beatmungsgeräte plant die afghanische Regierung zu besorgen. Weiters mangelt es an geschultem Personal, um diese medizinischen Geräte in Afghanistan zu bedienen und zu warten (DW 22.4.2020; vgl. ARZ KBL 7.5.2020). Engpässe bestehen bei den PPE (personal protective equipment), persönlichen Schutzausrüstungen für medizinisches Personal; außerdem wird mehr fachliches Personal benötigt, um Patient/innen auf den Intensivstationen zu betreuen (ARZ KBL 7.5.2020).

Aufgrund der Nähe zum Iran gilt die Stadt Herat als der COVID-19-Hotspot Afghanistans (DW 22.4.2020; vgl. NYT 22.4.2020); dort wurde nämlich die höchste Anzahl bestätigter COVID-19-Fälle registriert (TN 7.4.2020b; vgl. DW 22.4.2020). Auch hat sich dort die Anzahl positiver Fälle unter dem Gesundheitspersonal verstärkt. Mitarbeiter/innen des Gesundheitswesens berichten von fehlender Schutzausrüstung – die Provinzdirektion bestätigte dies und erklärtes mit langwierigen Beschaffungsprozessen (TN 7.4.2020b). Betten, Schutzausrüstungen, Beatmungsgeräte und Medikamente wurden bereits bestellt – jedoch ist unklar, wann die Krankenhäuser diese Dinge tatsächlich erhalten werden (NYT 22.4.2020). Die Provinz Herat verfügt über drei Gesundheitseinrichtungen für COVID-19-Patient/innen. Zwei davon wurden erst vor kurzem errichtet; diese sind für Patient/innen mit leichten Symptomen bzw. Verdachtsfällen des COVID-19 bestimmt. Patient/innen mit schweren Symptomen hingegen, werden in das Regionalkrankenhaus von Herat, welches einige Kilometer vom Zentrum der Provinz entfernt liegt, eingeliefert (TN 7.4.2020b). In Hokerat wird die Anzahl der Beatmungsgeräte auf nur 10 bis 12 Stück geschätzt (BBC 9.4.2020; vgl. TN 8.4.2020).

Beispiele für Maßnahmen der afghanischen Regierung

Eine Reihe afghanischer Städte wurde abgesperrt (WP 20.4.2020), wie z.B. Kabul, Herat und Kandahar (TG 1.4.2020a). Zusätzlich wurde der öffentliche und kommerzielle Verkehr zwischen den Provinzen gestoppt (WP 20.4.2020). Beispielsweise dürfen sich in der Stadt Kabul nur noch medizinisches Personal, Bäcker, Journalist/innen, (Nahrungsmittel)Verkäufer/innen und Beschäftigte im Telekommunikationsbereich bewegen. Der Kabuler Bürgermeister warnte vor "harten Maßnahmen" der Regierung, die ergriffen werden, sollten sich die Einwohner/innen in Kabul nicht an die Anordnungen halten, unnötige Bewegungen innerhalb der Stadt zu stoppen. Die Sicherheitskräfte sind beauftragt zu handeln, um die Beschränkung umzusetzen (TN 9.4.2020a).

Mehr als die Hälfte der afghanischen Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze (WP 22.4.2020): Aufgrund der Maßnahmen sorgen sich zehntausende Tagelöhner in Kabul und Herat um ihre Existenz. UNICEF zufolge, arbeiten allein in Kabul mindestens 60.000 Kinder, um das Familieneinkommen zu ersetzen (TG 1.4.2020). Offiziellen Schätzungen zufolge können z.B. in Herat-Stadt 150.000 Tagelöhner aufgrund des Lockdowns nicht arbeiten und haben somit kein Einkommen. Weil es in Herat an Ressourcen mangelt, um Hunderttausende zu ernähren, nimmt die Bevölkerung die Bedrohung durch das Virus nicht ernst. Zwar hat die Bevölkerung anfangs großzügig gespendet, aber auch diese Spenden werden weniger, nachdem die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen auf Unternehmen sichtbar werden (NYT 22.4.2020).

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die International Organization for Migration (IOM) unterstützen das afghanische Ministerium für öffentliche Gesundheit (MOPH) (WHO MIT 10.5.2020; vgl. IOM 11.5.2020); die WHO übt eine beratende Funktion aus und unterstützt die afghanische Regierung in vier unterschiedlichen Bereichen während der COVID-19-Krise (WHO MIT 10.5.2020): 1. Koordination; 2. Kommunikation innerhalb der Gemeinschaften 3. Monitoring (durch eigens dafür eingerichtete Einheiten – speziell was die Situation von Rückkehrer/innen an den Grenzübergängen und deren weitere Bewegungen betrifft) und 4. Kontrollen an Einreisepunkten – an den 4 internationalen Flughäfen sowie 13 Grenzübergängen werden medizinische Kontroll- und Überwachungsaktivitäten durchgeführt (WHO MIT 10.5.2020; vgl. IOM 11.5.2020).

Taliban und COVID-19

Ein Talibansprecher verlautbarte, dass die Taliban den Konflikt pausieren könnten, um Gesundheitsbehörden zu erlauben, in einem von ihnen kontrollierten Gebiet zu arbeiten, wenn COVID-19 dort ausbrechen sollte (TN 2.4.2020; vgl. TD 2.4.2020). In der nördlichen Provinz Kunduz, hätten die Taliban eine Gesundheitskommision gegründet, die direkt in den Gemeinden das öffentliche Bewusstsein hinsichtlich des Virus stärkt. Auch sollen Quarantänezentren eingerichtet worden sein, in denen COVID-19-Verdachtsfälle untergebracht wurden. Die Taliban hätten sowohl Schutzhandschuhe, als auch Masken und Broschüren verteilt; auch würden sie jene, die aus anderen Gebieten kommen, auf COVID-19 testen (TD 2.4.2020). Auch in anderen Gebieten des Landes, wie in Baghlan, wird die Bevölkerung im Rahmen einer Informationsveranstaltung in der Moschee über COVID-19 informiert. Wie in der Provinz Kunduz, versorgen die Taliban die Menschen mit (Schutz)material, helfen Entwicklungshelfern dabei zu jenen zu gelangen, die in Taliban kontrollierten Gebieten leben und bieten sichere Wege zu Hilfsorganisationen, an (UD 13.3.2020).

Der Umgang der Taliban mit der jetzigen Ausnahmesituation wirft ein Schlaglicht auf den Modus Operandi der Truppe. Um sich die Afghanen in den von ihnen kontrollierten Gebieten gewogen zu halten, setzen die Taliban auf Volksnähe. Durch die Präsenz vor Ort machten die Islamisten das Manko wett, dass sie kein Geld hätten, um COVID-19 medizinisch viel entgegenzusetzen: Die Taliban können Prävention betreiben, behandeln können sie Erkrankte nicht (NZZ 7.4.2020).

Aktuelle Informationen zu Rückkehrprojekten

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer/innen im Rahmen der freiwilligen Rückkehr. Aufgrund des stark reduzierten Flugbetriebs ist die Rückkehr seit April 2020 nur in sehr wenige Länder tatsächlich möglich. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei, wie bekannt, Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (IOM AUT 18.5.2020).

IOM Österreich bietet derzeit, aufgrund der COVID-19-Lage, folgende Aktivitäten an:

?        Qualitätssicherung in der Rückkehrberatung (Erarbeitung von Leitfäden und Trainings)

?        Unterstützung bei der freiwilligen Rückkehr und Reintegration im Rahmen der vorhandenen Möglichkeiten (Virtuelle Beratung, Austausch mit Rückkehrberatungseinrichtungen und Behörden, Monitoring der Reisemöglichkeiten) (IOM AUT 18.5.2020).

Das Projekt RESTART III – Unterstützung des österreichischen Rückkehrsystems und der Reintegration freiwilliger Rückkehrer/innen in Afghanistan“ wird bereits umgesetzt. Derzeit arbeiten die österreichischen IOM-Mitarbeiter/innen vorwiegend an der ersten Komponente (Unterstützung des österreichischen Rückkehrsystems) und erarbeiten Leitfäden und Trainingsinhalte. Die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr nach Afghanistan ist derzeit aufgrund fehlender Flugverbindungen nicht möglich. IOM beobachtet die Situation und steht diesbezüglich in engem Austausch mit den zuständigen Rückkehrberatungseinrichtungen und den österreichischen Behörden (IOM AUT 18.5.2020)

Mit Stand 18.5.2020, sind im laufenden Jahr bereits 19 Projektteilnehmer/innen nach Afghanistan zurückgekehrt. Mit ihnen, als auch mit potenziellen Projektteilnehmer/innen, welche sich noch in Österreich befinden, steht IOM Österreich in Kontakt und bietet Beratung/Information über virtuelle Kommunikationswege an (IOM AUT 18.5.2020).

Informationen von IOM Kabul zufolge, sind IOM-Rückkehrprojekte mit Stand 13.5.2020 auch weiterhin in Afghanistan operativ (IOM KBL 13.5.2020).

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2.       Sicherheitslage

Letzte Änderung: 22.4.2020

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2019). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren. Nichtsdestotrotz, hat die afghanische Regierung wichtige Transitrouten verloren (USDOD 12.2019).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer "strategischen Pattsituation", die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten (BBC 1.4.2020). Ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welcher Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens ist (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020).

Für den Berichtszeitraum 8.11.2019-6.2.2020 verzeichnete die UNAMA 4.907 sicherheitsrelevante Vorfälle – ähnlich dem Vorjahreswert. Die Sicherheitslage blieb nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurden in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die alle samt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen waren in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gingen die Kämpfe in den Wintermonaten – Ende 2019 und Anfang 2020 – zurück (UNGASC 17.3.2020).

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2.1. Kabul

Letzte Änderung: 22.4.2020

Die Provinz Kabul liegt im Zentrum Afghanistans (PAJ o.D.) und grenzt an Parwan und Kapisa im Norden, Laghman im Osten, Nangarhar im Südosten, Logar im Süden sowie Wardak im Westen. Provinzhauptstadt ist Kabul-Stadt (NPS o.D.). Die Provinz besteht aus den folgenden Distrikten: Bagrami, Chahar Asyab, Dehsabz, Estalef, Farza, Guldara, Kabul, Kalakan, Khak-e-Jabar, Mir Bacha Kot, Musahi, Paghman, Qara Bagh, Shakar Dara und Surubi/Surobi/Sarobi (CSO 2019; vgl. IEC 2018).

Laut dem UNODC Opium Survey 2018 verzeichnete die Provinz Kabul 2018 eine Zunahme der Schlafmohnanbaufläche um 11% gegenüber 2017. Der Schlafmohnanbau beschränkte sich auf das Uzbin-Tal im Distrikt Surubi (UNODC/MCN 11.2018).

Kabul-Stadt – Geographie und Demographie

Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und auch ein Distrikt in der Provinz Kabul. Es ist die bevölkerungsreichste Stadt Afghanistans, mit einer geschätzten Einwohnerzahl von 5.029.850 Personen für den Zeitraum 2019-20 (CSO 2019). Die Bevölkerungszahl ist jedoch umstritten. Einige Quellen behaupten, dass sie fast 6 Millionen beträgt (AAN 19.3.2019). Laut einem Bericht, expandierte die Stadt, die vor 2001 zwölf Stadtteile – auch Police Distrikts (USIP 4.2017), PDs oder Nahia genannt (AAN 19.3.2019) – zählte, aufgrund ihres signifikanten demographischen Wachstums und ihrer horizontalen Expansion auf 22 PDs (USIP 4.2017). Die afghanische zentrale Statistikorganisation (Central Statistics Organization, CSO) schätzt die Bevölkerung der Provinz Kabul für den Zeitraum 2019-20 auf 5.029.850 Personen (CSO 2019). Sie besteht aus Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Sikhs und Hindus (PAJ o.D.; vgl. NPS o.D.).

Abb.1: Kabul, Police Distrikts (Darstellung der Staatendokumentation)

(Quelle: BFA 13.2.2019)

Hauptstraßen verbinden die afghanische Hauptstadt mit dem Rest des Landes (UNOCHA 4.2014). In Kabul-Stadt gibt es einen Flughafen, der mit internationalen und nationalen Passagierflügen bedient wird (BFA Staatendokumentation 25.3.2019).

Die Stadt besteht aus drei konzentrischen Kreisen: Der erste umfasst Shahr-e Kohna, die Altstadt, Shahr-e Naw, die neue Stadt, sowie Shash Darak und Wazir Akbar Khan, wo sich viele ausländische Botschaften, ausländische Organisationen und Büros befinden. Der zweite Kreis besteht aus Stadtvierteln, die zwischen den 1950er und 1980er Jahren für die wachsende städtische Bevölkerung gebaut wurden, wie Taimani, Qala-e Fatullah, Karte Se, Karte Chahar, Karte Naw und die Microraions (sowjetische Wohngebiete). Schließlich wird der dritte Kreis, der nach 2001 entstanden ist, hauptsächlich von den „jüngsten Einwanderern“ (USIP 4.2017) (afghanische Einwanderer aus den Provinzen) bevölkert (AAN 19.3.2019), mit Ausnahme einiger hochkarätiger Wohnanlagen für VIPs (USIP 4.2017).

Was die ethnische Verteilung der Stadtbevölkerung betrifft, so ist Kabul Zielort für verschiedene ethnische, sprachliche und religiöse Gruppen, und jede von ihnen hat sich an bestimmten Orten angesiedelt, je nach der geografischen Lage ihrer Heimatprovinzen: Dies gilt für die Altstadt ebenso wie für weiter entfernte Stadtviertel, und sie wird in den ungeplanten Gebieten immer deutlicher (Noori 11.2010). In den zuletzt besiedelten Gebieten sind die Bewohner vor allem auf Qawmi-Netzwerke angewiesen, um Schutz und Arbeitsplätze zu finden sowie ihre Siedlungsbedingungen gemeinsam zu verbessern. Andererseits ist in den zentralen Bereichen der Stadt die Mobilität der Bewohner höher und Wohnsitzwechsel sind häufiger. Dies hat eine disruptive Wirkung auf die sozialen Netzwerke, die sich in der oft gehörten Beschwerde manifestiert, dass man „seine Nachbarn nicht mehr kenne“ (AAN 19.3.2019).

Nichtsdestotrotz, ist in den Stadtvierteln, die von neu eingewanderten Menschen mit gleichem regionalen oder ethnischen Hintergrund dicht besiedelt sind, eine Art „Dorfgesellschaft“ entstanden, deren Bewohner sich kennen und direktere Verbindungen zu ihrer Herkunftsregion haben als zum Zentrum Kabuls (USIP 4.2017). Einige Beispiele für die ethnische Verteilung der Kabuler Bevölkerung sind die folgenden: Hazara haben sich hauptsächlich im westlichen Viertel Chandawal in der Innenstadt von Kabul und in Dasht-e-Barchi sowie in Karte Se am Stadtrand niedergelassen; Tadschiken bevölkern Payan Chawk, Bala Chawk und Ali Mordan in der Altstadt und nördliche Teile der Peripherie wie Khairkhana; Paschtunen sind vor allem im östlichen Teil der Innenstadt Kabuls, Bala Hisar und weiter östlich und südlich der Peripherie wie in Karte Naw und Binihisar (Noori 11.2010; vgl. USIP 4.2017), aber auch in den westlichen Stadtteilen Kota-e-Sangi und Bazaar-e-Company (auch Company) ansässig (Noori 11.2010); Hindus und Sikhs leben im Herzen der Stadt in der Hindu-Gozar-Straße (Noori 11.2010; vgl. USIP 4.2017).

Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul. Nichtsdestotrotz, führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, im gesamten Jahr 2018, als auch in den ersten fünf Monaten 2019, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 6.2019; vgl. USDOD 12.2018).

Aufgrund eben dieser öffentlichkeitswirksamer Angriffe auf Kabul-Stadt kündigte die afghanische Regierung bereits im August 2017 die Entwicklung eines neuen Sicherheitsplans für Kabul an (AAN 25.9.2017). So wurde unter anderem das Green Village errichtet, ein stark gesichertes Gelände im Osten der Stadt, in dem unter anderem, Hilfsorganisationen und internationale Organisationen (RFERL 2.9.2019; vgl. FAZ 2.9.2019)

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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