Entscheidungsdatum
27.09.2021Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W257 2186756-1/14E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Herbert MANTLER, MBA als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch den MigrantInnenverein St. Marx, Pulverturmgasse 4/2/R01, 1090 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Wien, vom 26.01.2018, Zahl: XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 21.07.2021, zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerde wird hinsichtlich der Spruchpunkte II. bis IV. des angefochtenen Bescheides stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan erteilt.
III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für ein Jahr erteilt.
IV. Die Spruchpunkte III. bis VI. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer (in der Folge kurz „BF“), ein afghanischer Staatsbürger, reiste illegal ins österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 01.11.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.
2. Im Rahmen der am 01.12.2015 erfolgten Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der BF an, dass er aus der Provinz Kunduz stamme und er sich bis zuletzt dort aufgehalten habe. Er verfüge über eine sechsjährige Schulbildung und habe in Afghanistan Berufserfahrung als Hilfsarbeiter gesammelt. Seine Muttersprache sei Dari. Er sei Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und bekenne sich zur schiitischen Glaubensrichtung des Islam. Er sei ledig und habe keine Kinder. Seine Mutter, sein Bruder und seine Schwester würden sich im Iran aufhalten. In Österreich habe er keine Angehörigen.
Zu seinem Fluchtgrund befragt, führte der BF aus, dass er sein Heimatland verlassen habe, weil er dort Krieg herrschen würde und sein Vater von den Taliban getötet worden sei. Im Falle einer Rückkehr habe er Angst, weil es in Afghanistan keine Sicherheit geben und dort Krieg herrschen würde.
3. Bei der Einvernahme durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge kurz „BFA“) am 24.10.2017 gab der BF an, dass er vom MigrantInnenverein St. Marx vertreten werde. Er sei gesund, wisse aber nur, dass er im Jahre XXXX geboren sei, den XXXX . habe er selbst ausgesucht.
Er sei afghanischer Staatsbürger, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und Moslem, schiitischer Glaubensrichtung. Er stamme aus dem Dorf XXXX , Distrikt XXXX , Provinz Kunduz. Seine Personaldokumente hätten ihm die Taliban weggenommen. Er könne lediglich integrationsbegründende Unterlagen vorlegen.
Seine Mutter, sein Bruder uns seine Schwester wären mit ihm im August 2015 geflohen und würden seither im Iran leben. Im Iran habe er sich bereits bis zu seinem dreizehnten Lebensjahr aufgehalten. Danach sei die Familie nach Afghanistan zurückgegangen.
Er selbst sei nach Europa weitergeflohen, weil er in Afghanistan verfolgt werde und er Angst vor einer Abschiebung aus dem Iran gehabt hätte. Die Taliban würden sein Gesicht kennen, jedoch nicht die anderen Familienmitglieder. Mit seiner Familie sei er in regelmäßigen Kontakt. In Afghanistan habe er keine Verwandten mehr. Er sei ledig und habe keine Kinder sowie keine Verwandten in Österreich. In Österreich habe er afghanische Freunde, besuche Deutschkurse und lebe von der Grundversorgung.
Er sei von den Taliban entführt worden, weil er ein Hazara sei. Wegen seiner schiitischen Religionszugehörigkeit habe es aber in Afghanistan keine Probleme gegeben. Er könne nicht richtig lesen und schreiben. Im Iran sei er sechs Jahre in die Schule gegangen, in Afghanistan nur kurz. Er sei dort geschlagen worden und habe daher begonnen, Teppiche zu knüpfen. Sein Vater habe diese Teppiche dann verkauft. Nach dem sein Vater verstorben sei, habe der BF als Maurergehilfe gearbeitet. In Österreich wolle er Automechaniker oder Installateur werden.
Er habe Afghanistan im August 2015 zusammen mit seiner Familie verlassen und sei nach einem einmonatigen Aufenthalt im Iran über die Türkei nach Europa geflohen, wo er am 01.11.2015 in Österreich gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz gestellt habe. Das Land habe er ausgewählt, weil die Personen im Flüchtlingsstrom dieses Land neben Deutschland und Schweden erwähnt hätten.
Zu seinem Fluchtgrund befragt, führte der BF im Wesentlichen aus, dass er sein Heimatland verlassen habe, weil er in Kabul einen Freund besucht hätte, der Soldat gewesen sei. Am Heimweg nach Kunduz sei das Sammeltaxi in eine Kontrolle geraten und alle hätten aussteigen müssen. Ihnen wären die Augen verbinden worden und man hätte ihnen, nach kurzer Fahrt, an einem anderen Ort, alle Sachen weggenommen. Er sei in ein Zimmer gebracht worden, wo seine Augenbinde abgenommen worden wäre und fünf bewaffnete Männer gewesen wären. Diese hätten dann auf einer Kamera Fotos des BF gesehen, auf denen er in der Uniform seines Freundes posiere. Man habe ihn vorgeworfen, dass er ein Ungläubiger sei und ihn geschlagen. Er sei zusammen mit den anderen Fahrgästen, die ebenfalls geschlagen worden wären gefesselt in einem Raum gewesen. Es sei ihnen gelungen sich zu befreien und zu fliehen. Bei der Flucht habe ein Fahrgast einen Talib mit einem Ziegelstein am Kopf verletzt. Ein Fahrgast sei auf der Flucht auch angeschossen worden und habe nicht gerettet werden können. Sie hätten sich dann unter einer Brücke bei der Hauptstraße versteckt. Danach sei der BF mit einem Taxi nach Hause gefahren. Da die Taliban im Besitz seiner Adresse gewesen wären, habe er sich und seine Familie binnen einer Woche in Sicherheit gebracht und das Land verlassen. Wenig später sei sein Heimatdorf an die Taliban gefallen.
Der Freund sei ein Kommandant gewesen. Er kenne diesen aus dem Iran und habe ihn zwei bis dreimal in Kabul besucht. Sonstige Angehörige des Freundes kenne der BF nicht. Die Taliban hätten Bärte und traditionelle afghanische Kleidung getragen. Sie würden einfach Personen festnehmen, wobei sie Hazara auch töten. Einen konkreten Grund, warum der BF angehalten worden sei, gäbe es nicht. Es sei aber notorisch bekannt, dass die Taliban Autos stoppen und nach Regierungsmitarbeiten suchen würden. Finden sie bei diesen Kontrollen auch etwas gegen die angehaltenen Personen, dann würden sie auch gegen diese vorgehen. Er selbst sei eine Nacht in Gewahrsam der Taliban gewesen. Der Vorfall habe sich Anfang August ereignet. Er sei der einzige Vorfall gewesen, den der BF mit den Taliban gehabt hätte. Allerdings wären die Taliban nun im Besitz seiner Tazkira, seiner Kamera und seines Handys. Er habe den Taliban seine richtige Adresse gesagt, weil diese ihn eingeschüchtert hätten und auf der Tazkira gestanden sei, dass er aus Kunduz stamme. Da es viele Taliban in Kunduz gäbe, könnte er dort leicht ausfindig gemacht werden. Er sei von den Taliban mit Fäusten geschlagen und mit den Füßen getreten worden. Auf Nachfrage bejahte er, dass er auch mit Stöcken geschlagen worden sei, so wie er es zuvor in der freien Erzählung geschildert habe. Die Taliban wären mit einer Kalaschnikow bewaffnet gewesen. Die anderen Fahrgäste habe der BF nicht gekannt. Im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan befürchte der BF, dass er von den Taliban getötet werde. Diese seien gut vernetzt und würden auch Kontakte zur Regierung haben. Er sei geflohen, weil er sich sicher sei, dass sie nach ihm suchen würden. Diese hätten Bilder von ihm in einer Unform und würden glauben, dass er beim Militär sei.
Danach wurden dem BF die aktuellen Länderfeststellungen zu Afghanistan ausgehändigt und ihm eine Frist von zwei Wochen zur Abgabe einer schriftlichen Stellungnahme eingeräumt. Abschließend führte der BF erneut aus, dass man als Hazara in Afghanistan Probleme habe.
4. Mit Stellungnahme vom 13.11.2017 führte die Rechtsvertretung des BF aus, dass der BF alleine aufgrund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe diverse in den UNHCR-Richtlinien angeführten Risikoprofilen einer asylrechtlich relevanten Situation ausgesetzt sei, weil der BF glaubhaft eine Zugehörigkeit zu diesen habe darlegen können. Ebenso wäre die staatlichen Behörden nicht ausreichend schutzfähig oder schutzwillig gegen die vom BF vorgebrachte Bedrohungssituation. Da die Sicherheitslage in Afghanistan äußerst instabil sei und der BF dort auf über kein soziales Netz verfüge, sei ihm eine Rückkehr nach Afghanistan ebenfalls nicht zumutbar, weil dies eine Verletzung der nach Art. 2 und Art. 3 EMRK gewährten Rechte darstellen würde. Auch in Bezug auf den Ausspruch einer Rückkehrentscheidung müsse festgehalten werden, dass der BF bereits große Anstrengungen zu seiner Integration unternommen habe.
5. Mit Bescheid vom 26.01.2018 wies das BFA den Antrag des BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.). Ebenso wurde Antrag des BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.). Gemäß § 57 AsylG 2005 wurde dem BF kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt (Spruchpunkt III.). Weiters wurde gegen den BF gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 in Verbindung mit § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des BF 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.). Begründend wurde festgehalten, dass dem Vorbringen zu seiner Fluchtgeschichte keine Glaubwürdigkeit zukomme. So habe sich der BF bei konkreten Fragen zu bestimmten Themenbereichen nur vage, unsubstantiitert, oberflächliche und detailarme Angaben tätigen können. Weder zu seinen Freund noch zu den Taliban habe der BF konkrete Angaben tätigen können. Auch habe der BF den Zeitpunkt des Vorfalls nicht näher eingrenzen können. Die Anhaltung durch die Taliban habe der BF ebenfalls nur vage und detailarm geschildert, wobei er sich noch in einen Widerspruch verwickelte, indem er zuerst angegeben habe, mit Stöcken, dann jedoch mit Fäusten geschlagen und getreten wurden zu sein. Auch sei es auffällig gewesen, dass der BF keinerlei Angaben über die Mitreisenden habe tätigen können. Es sei auch nicht ersichtlich, dass der BF einer Verfolgung ausgesetzt sei, weil er den Taliban seine Adresse mitgeteilt hätte. Gegen eine Verfolgung würde es aber auch sprechen, weil der BF keinen konkreten Konnex von der Kontrolle zu seiner Ausreise hat herstellen können. So hätte die Kontrolle nicht persönlich gegen ihn gerichtet und eine Verfolgung wegen der Bilder auf der Kamera sei schon alleine deswegen nicht glaubhaft, weil der BF keine Angaben über die Kamera tätigen hätte können.
Des Weiteren gestalte sich die Lage der Hazara in Afghanistan so, dass Angehörige dieser Volksgruppe keiner Gruppenverfolgung ausgesetzt wären. Ebenso gilt es zu erwähnen, dass der BF zahlreiche sichere Länder durchquerte, bis er um internationalen Schutz angesucht habe, wobei er auch klargemacht habe, dass es ihm wichtig gewesen sei, sich ein Zielland auszusuchen, von dem im Flüchtlingsstrom gesprochen worden sei. Es müsse daher davon ausgegangen werden, dass der BF sein Heimatland aus wirtschaftlichen Gründen verlassen habe und er sich eines Fluchtgrundes bedient habe, der auf einem Konstrukt basiert hätte.
Im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan wäre dem BF eine Ansiedlung in seiner Heimatprovinz nicht zumutbar, jedoch würde ihm die Möglichkeit einer Ansiedlung in Kabul offenstehen und zumutbar sein. Eine Gefahrenlage im Sinne des Art. 3 EMRK würde beim BF im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan nicht vorliegen. Es bestünde daher im Falle seiner Rückkehr auch keine reale Gefahr, die einer Zuerkennung von subsidiärem Schutz rechtfertigen würde. Der BF sei jung, gesund und arbeitsfähig sowie in Afghanistan bzw. im Iran in einem afghanischen Familienumfeld sozialisiert worden. Er verfüge auch über Arbeitserfahrung als Hilfsarbeiter. Betreffend den Ausspruch einer Rückkehrentscheidung würden die öffentlichen Interessen überwiegen.
6. Mit Verfahrensanordnung vom 30.01.2018 wurde dem BF gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG die ARGE Rechtsberatung – Diakonie und Volkshilfe für das Beschwerdeverfahren als Rechtsberatung zur Seite gestellt. Ebenso wurde mit Verfahrensanordnung vom 30.01.2018 ein Rückkehrberatungsgespräch gemäß § 52a Abs. 2 BFA-VG angeordnet.
7. Gegen den Bescheid des BFA richtete sich die am 17.02.2018 beim BFA eingelangte und fristgerecht durch seine rechtsfreundliche Vertretung in vollem Umfang erhobene Beschwerde. In dieser wurden und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragt. In dieser wurde festgehalten, dass sich der Bescheid auf unrichtige Feststellungen und eine unrichtige rechtliche Beurteilung in Zug der Mangelhaftigkeit des Verfahrens stützen würde.
Dass die afghanischen Behörden gegen die seitens des BF glaubwürdig vorgetragenen Bedrohung nicht schutzfähig und schutzwillig wären, sei den Länderfeststellungen zu entnehmen. Daher sei die Argumentation der belangten Behörde, dass die Fluchtgründe des BF nicht plausibel wären, nicht nachvollziehbar gewesen, Die belangte Behörden habe sich nicht ausreichend mit der Lebensrealität in Afghanistan auseinandergesetzt und eine tendenziöse Beweiswürdigung vorgenommen, um das glaubwürdige Vorbringen des BF durch eine gezielte Selektion von Passagen als unglaubwürdig darstellen zu können. Jedoch könne der BF gegen diese nachvollziehbare Art der persönlich erhaltenen Drohung keinen ausreichenden staatlichen Schutz in Anspruch nehmen. Ebenso habe es die belangte Behörde unterlassen, sich mit den in der UNHCR-Richtlinie zu Afghanistan angeführten Risikoprofilen auseinanderzusetzen. Auch sei der BF als ein verwestlicht angesehener Rückkehrer und als Angehöriger der Volksgruppe der Hazara einer erhöhten Bedrohungssituation im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan ausgesetzt.
Aufgrund der individuellen Verhältnisse des BF und der schlechten Sicherheitslage in Afghanistan, sei dem BF auch keine Rückkehr nach Kabul zumutbar. Die aktuelle Sicherheitslage in Afghanistan würde jedenfalls, aufgrund der langen Abwesenheit aus Afghanistan, ein Rückkehrhindernis für den BF darstellen. Außerdem seien bei Rückkehrentscheidung die familiären und privaten Interessen des BF nicht ausreichend berücksichtigt worden.
8. Die gegenständliche Beschwerde und der bezugshabende Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht (in der Folge kurz „BVwG“) am 19.02.2018 vom BFA vorgelegt, wobei die belangte Behörde auf die Durchführung und Teilnahme an einer mündlichen Verhandlung verzichte habe. Es wurde auch beantragt, die Beschwerde als unbegründet abzuweisen.
9. Mit Schreiben vom 03.08.2018 legte die Rechtsvertretung einige Urkunden zum Beweis der Integration des BF vor.
10. Nach einer am 22.10.2018 ergangenen Entscheidungsurgenz wurde am 29.11.2018 die Vollmacht zur bisherigen Rechtsvertretung aufgekündigt und noch am selben Tag von der neuen Rechtsvertretung, nunmehr der Verein ZEIGE, im Zuge der Vollmachtsbekanntgabe ein Konvolut an zumeist schon dem Gericht bekannten Integrationsunterlagen vorgelegt
11. Mit Schreiben vom 28.05.2020 legte die Rechtsvertretung einen aktuellen Meldezettel und das Zeugnis „Integrationsprüfung – B1“ betreffend den BF vor.
12. Am 12.07.2021 erging im Zuge der erneuten Vollmachtsbekanntgabe des MigrantInnenveinens St. Marx auch eine Stellungnahme zur aktuellen Sicherheitslage in Afghanistan, die sich durch den bevorstehenden Abzug der internationalen Truppen zugespitzt habe und deren Entwicklung unvorhersehbar geworden wäre.
13. Das BVwG führte in der gegenständlichen Rechtssache am 21.07.2021, im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari, eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der der BF und seine Rechtsvertretung persönlich teilnahmen. Ein Vertreter der belangten Behörde verzichtete, wie bereits in der Beschwerdevorlage angekündigt, auf eine Teilnahme an der mündlichen Verhandlung.
Der BF gab an, dass gesund und in der Lage der Verhandlung folgen zu können. Er verzichtete nach eingehender Belehrung auf die Verlesung des Aktes.
Er sei afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppen der Hazara und gehöre der schiitischen Glaubensrichtung des Islam an. Er sei afghanischer Staatsangehöriger, in Afghanistan geboren worden. Nach seiner Geburt habe sich seine Familie für 13 Jahre im Iran aufgehalten. Danach habe sich die Sicherheitslage gebessert und die Familie sei in die Provinz Kunduz, in den Distrikt XXXX , in das Dorf XXXX zurückgekehrt. Er habe im Iran sechs Jahre die Schule besucht und in Afghanistan als Teppichknüpfer gearbeitet. Seine Mutter, sein Bruder und seine Schwester würden sich seit 2015 wieder im Iran aufhalten, weil ihr Leben in Afghanistan in Gefahr sei. Er habe sich nicht im Iran aufhalten können, weil er Angst vor einer Abschiebung gehabt hätte. Im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan könne ihn seine Familie finanziell nicht unterstützen. Verwandte habe er in Afghanistan keine mehr. In Afghanistan habe er neben dem Teppichknüpfen noch auf der gepachteten Landwirtschaft der Familie mitgeholfen. In Europa habe er ebenfalls keine Angehörigen.
Danach erfolgte die Befragung zu seinen Fluchtgründen, wobei der BF im Wesentlichen angab, dass er einen Freund in Kabul gehabt habe, der Soldat gewesen sei. Diesen habe er besucht und sie hätte im Zuge dessen auch Fotos in seiner Uniform gemacht. Am Heimweg sei er in eine Kontrolle gekommen und die Taliban hätten die Bilder auf der Kamera gesehen. Bei der Anhaltung seien den Fahrgästen die Augen verbunden worden und man habe sie nach einer kurzen Autofahrt in einen Stall gebracht. Dort sei der BF dann befragt worden und man habe ihm vorgeworfen, dass er mit der Regierung zusammenarbeiten würde. Sie hätten ihn auch nach seiner Religions- und Volksgruppenzugehörigkeit gefragt. Er habe die Kollaboration mit der Regierung verneint, sei aber dennoch zusammengeschlagen und gefoltert worden. Sie hätten ihm seine Habseligkeiten angenommen und er habe unter Druck auch seine Wohnadresse gesagt. Nach einem Schlag auf den Kopf sei er auch fast bewusstlos gewesen. Er sei wieder in einem Raum gebracht worden, wo die anderen gelegen wären. Diese seien auch allesamt gefoltert worden.
Sie wäre nicht mehr gefesselt gewesen und hätten ihre Augen offen gehabt, als ein Talib mit einer Taschenlampe gekommen wäre. Sie hätten zuvor entschlossen, dass sie zu diesem Zeitpunkt die Flucht antreten würden. Mit einem Ziegelstein hätten sie ihm auf den Kopf geschlagen. Im Umfallen habe der Talib noch einen Schuss abgegeben. Die anderen Taliban wären dann aufmerksam geworden und hätten ihnen nachgeschossen. Einer sei getroffen worden und hätte die Flucht nicht geschafft. Der BF und ein weiterer Mitfahrer jedoch schon.
In ein sicheres Gebiet des Landes hätte er nicht fliehen können, weil die Taliban überall wären und mit der Regierung zusammenarbeiten würden. Man würde noch immer nach ihm suchern, weil die Taliban glauben würden, dass er bei der Regierung arbeiten würde. Außerdem würden Hazara und Schiiten regelmäßig verfolgt und getötet werden. Auf mehrmalige Nachfrage gab der BF an, dass er immer noch glaube, dass er wegen dieser Fotos verfolgt werde, insbesondere, weil die Taliban seine Daten hätten und er geflohen sei. Abgesehen davon würde die Taliban Hazara auch grundlos töten. Es sei aber der geschilderte fluchtauslösend gewesen. Die Taliban wären in ganz Afghanistan präsent und hätten den BF überall ausfindig machen können. Er sei aber nicht so wichtig, dass ihn die Taliban in Österreich gesucht hätten. Die Taliban würden ihn umbringen wollen, weil sie glauben würden, dass er beim Militär sei, aber auch, weil er Schiite sei. Die Taliban hätte auch einmal 2015 35 Hazara umgebracht, die in einem Bus gereist wären.
Er sei damals in einem Sammeltaxi ca. zu sechst gereist. Drei Personen wären dann von den Taliban in ein Auto gesetzt worden. Dies habe sich gegen 19:00 Uhr zugetragen. Zu seinem Freund, den er damals besucht hätte, habe er keinen Kontakt mehr. Über sonstige Angehörige des Freundes wisse er nicht viel. Er habe die Kamera seines Freundes wegen der Erinnerungsfotos mitgenommen. Er habe sich keine Kamera leisten können, sein Freund aber schon. Auf Nachfrage gab er an, diese geschenkt bekommen zu haben. Nähere Angaben zur Kamera könne er nicht machen. Sie wären von sechs Taliban angehalten worden. Er sei wohl zwei Stunden in diesem Stall gewesen. Die Mitreisenden wären allesamt Hazara gewesen. Die anderen wären auch gefoltert worden. Der BF vermutete, dass die Taliban von diesen Informationen hätten haben wollen. Die Flucht habe sich dann im Morgengrauen zugetragen. Nachdem einem Talib der Ziegelstein auf den Kopf geschlagen worden sei, hätten sie fliehen müssen. Auf Frage, was die Taliban davon gehabt hätten, wenn sie den BF umgebracht hätten, gab der BF an, dass die Taliban Hazara und Schiiten nicht akzeptieren würden.
Sie hätten sich befreien können, weil ein Mitreisender die Fesseln hätte lösen können und dann den anderen die Fesseln und Augenbilden hätte abnehmen können. Nach 20 bis 25 Minuten sei ein Talib gekommen. Ihm sei mit einem Ziegelstein auf den Kopf geschlagen worden. Als er umgefallen sei, habe sich ein Schuss gelöst und die anderen Taliban wären aufmerksam geworden und hätten auf die Flüchtenden geschossen. Die beiden Zimmer seien so wie voneinander entfernt gewesen, dass die Flucht möglich gewesen sei. Auf Vorhalt, dass der BF diese Geschichte völlig emotionslos geschildert habe, vereinte er, dass man seine Aufregung eventuell nicht erkenne, so etwas in Afghanistan tagtäglich passieren würde. Eine innerstaatliche Fluchtalternative sei für den BF nicht in Frage gekommen, weil Afghanistan grundsätzlich ein unsicheres Land sei.
In Österreich lebe er in einem Asylwerberheim in einer Wohngemeinschaft. Er habe bereits zweimal einen Sprachkurs auf dem Niveau B1 absolviert und besuche derzeit einen Pflichtschulabschlusslehrgang.
Danach beschrieb er auf Deutsch seinen Tagesablauf. In Österreich habe er keine Angehörigen. Die mitgekommene Vertrauensperson sei lediglich eine Freundin, jedoch keine Lebensgefährtin. In Österreich würde er am liebsten als KFZ-Mechaniker oder Installateur tätig werden.
Der Rechtsvertretung wurden die aktuelle Länderinformationen ausgehändigt und diesbezüglich eine Frist zur Stellungnahme von 14 Tagen eingeräumt. Die Rechtsvertretung vermeinte, bereits am 12.07.2021 die Änderungen der Sicherheitslage in Afghanistan dargestellt zu haben und erbat daher um Erteilung eines Aufenthaltstitels. Danach wurde die mündliche Verhandlung geschlossen. Gemäß § 29 Abs. 3 VwGVG entfiel die Verkündung der Entscheidung.
14. Mit Schriftsatz vom 16.09.2021 urgierte die Rechtsvertretung eine Entscheidung, zumal die mündliche Verhandlung bereits am 21.07.2021 stattgefunden habe.
15. Der BF legte im Lauf des Verfahrens folgende Dokumente vor:
? Vollmachtsbekanntgabe vom 19.10.2017
? Teilnahmebestätigungen an Integrationskursen
? Teilnahmebestätigung an einem Wert- und Orientierungskurs
? Teilnahmebestätigungen an Deutschkursen (Niveau A1 und A2)
? Zahlreiche Empfehlungsschreiben
? Basisbildungszertifikat A2, B1 und ÖSD-Sprachzertifikat B1
? Meldezettel
? Zeugnis der Integrationsprüfung B1
? Bestätigungen für die Teilnahme an einem Pflichtschulabschlusslehrgang
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest.
1.1. Zum sozialen Hintergrund des BF:
Der BF führt den Namen XXXX , geboren am XXXX , ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und wurde als Moslem schiitischer Glaubensrichtung geboren. Nach eigenen Angaben ist der BF konfessionslos. Die Muttersprache des BF ist Dari. Er ist im erwerbsfähigen Alter und gesund.
Der BF wurde nach seinen Angaben in Afghanistan Dorf XXXX , Distrikt XXXX , Provinz Kunduz geboren und wuchs 13 Jahre im Iran auf, ehe seine Familie wieder in seinem Heimatdorf zurückging. Im Iran hat der BF eine sechsjährige Schulbildung erhalten hat. In Afghanistan har er jahrelange Berufserfahrung in der Landwirtschaft und als Teppichknüpfer gesammelt. In seinem Heimatland und in Österreich hat der BF keine Verwandten. Seine Mutter, sein Bruder und seine Schwester sind im Iran aufhältig. Zu diesen hat der BF noch regelmäßigen Kontakt. Der BF ist ledig und hat keine Kinder.
Der BF ist daher in seinem Herkunftsstaat auch nicht vorbestraft und hatte keine nennenswerten Probleme mit Behörden und war dort politisch nicht aktiv. Der BF ist in Österreich unbescholten.
Der BF ist nach seiner Ausreise aus Afghanistan, über den Iran und die Türkei, in Griechenland auf das Gebiet der EU eingereist. Am 01.11.2015 stellte er in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz.
Der BF ist nach den afghanischen Gepflogenheiten und der afghanischen Kultur sozialisiert, er ist somit mit den afghanischen Gepflogenheiten vertraut.
1.2. Zu den Fluchtgründen des BF:
Der BF stellte am 01.11.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Seinen Antrag auf internationalen Schutz begründet der BF im Wesentlichen damit, dass er sein Heimatland verlassen habe, weil er dort Krieg herrschen würde und sein Vater von den Taliban getötet worden sei. Im Falle einer Rückkehr habe er Angst, weil es in Afghanistan keine Sicherheit geben und dort Krieg herrschen würde. Im Laufe des Verfahrens ergänzte der BF dieses Vorbringen, dass er von den Taliban bei einer Kontrolle festgenommen und gefoltert worden sei und ihm die Taliban unterstellen würden, dass er für die Regierung tätig sei.
Der BF wurde weder von Privatpersonen noch von den Taliban noch einer sonstiger regierungsfeindlichen Gruppierung entführt, festgehalten oder von diesen oder dieser bedroht noch wird er von den staatlichen Behörden gesucht. Der BF wurde seitens Privatpersonen, der Taliban oder einer sonstiger regierungsfeindlichen Gruppierung nicht aufgefordert mit diesen oder dieser zusammen zu arbeiten oder diese zu unterstützen. Der BF wurde von den Taliban oder einer sonstiger regierungsfeindlichen Gruppierung weder angesprochen noch angeworben noch sonst in irgendeiner Weise bedroht. Er hatte in Afghanistan keinen Kontakt zu den Taliban oder einer sonstiger regierungsfeindlichen Gruppierung, er wird von diesen oder dieser auch nicht gesucht.
Festgestellt wird, dass der BF in Afghanistan keiner landesweiten Verfolgung ausgesetzt ist.
Bei einer Rückkehr nach Afghanistan drohen dem BF individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch Privatpersonen oder durch Mitglieder der Taliban oder durch eine sonstige regierungsfeindliche Gruppierung oder durch staatliche Behörden.
Dem BF droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan wegen seiner Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft der Schiiten oder zur Volksgruppe der Hazara oder der Zugehörigkeit zu einer sonstigen sozialen Gruppe konkret und individuell weder physische noch psychische Gewalt.
Es kann daher festgestellt werden, dass der BF keiner konkreten Verfolgung oder Bedrohung in Afghanistan ausgesetzt ist oder eine solche, im Falle seiner Rückkehr, zu befürchten hätte.
1.3. Zur Situation im Fall einer Rückkehr des BF:
Afghanistan ist von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und den aufständischen Taliban betroffen. Die Sicherheitslage in Afghanistan verschlechtert sich seit Beginn des Abzuges der internationalen Truppen im Frühjahr 2021 stetig. Es kommt vermehrt zu Auseinandersetzungen zwischen den Regierungstruppen und den Taliban. Mit 15.08.2021 fiel die Hauptstadt Kabul an die Taliban. Im Zuge dessen verließ auch der afghanische Präsident das Land und die Taliban übernahmen den Präsidentenpalast.
Dem BF würde bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund der dort herrschenden allgemeinen schlechten Sicherheitslage und dem stetigen Vorstoß der Taliban mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen. Es kann somit eine Verletzung der körperlichen Unversehrtheit des BF aufgrund der instabilen Sicherheitslage und der damit einhergehenden willkürlichen Gewalt in Afghanistan nicht ausgeschlossen werden.
Dem BF ist es dementsprechend auch nicht möglich und nicht zumutbar sich im Rückkehrfall in einer der bisher als sicher geltenden Großstädte Afghanistans niederzulassen. Insbesondere nicht nachdem die Städte Herat und Kabul, neben vielen Provinzhauptstädten, nun ebenfalls von den Taliban eingenommen wurden und auch die Erreichbarkeit der Stadt Mazar-e Sharif immer schlechter wird. Auch ist es ihm in der Folge nicht möglich grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft befriedigen zu können bzw. ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.
Festgestellt wird, dass die aktuell vorherrschende Pandemie aufgrund des Corona-Virus kein Rückkehrhindernis darstellen würde. Der BF gehört mit Blick auf sein Alter und das Fehlen (chronischer) physischer Vorerkrankungen keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 an. Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde. Jedoch ist die diesbezügliche Situation mit der nun erfolgten Machtübernahme durch die Taliban nicht mehr einschätzbar bzw. der Umgang mit der Corona-Pandemie der Taliban ungewiss.
Im Falle einer Verbringung des BF in seinen Herkunftsstaat würde diesem daher auch ein reales Risiko einer Verletzung der Art. 2 oder 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 210/1958 (in der Folge EMRK), drohen. Der BF verfügt über ein überdurchschnittliches Maß an Anpassungs- und Selbsterhaltungsfähigkeit.
Der BF ist mit den kulturellen Gepflogenheiten und einer Sprache seines Herkunftsstaates als Muttersprache vertraut, weil er in einem afghanisch geprägten Umfeld aufgewachsen und er in Afghanistan Berufserfahrung in der Landwirtschaft gesammelt hat.
1.4. Zum Leben in Österreich:
Der BF reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und hält sich zumindest seit 01.11.2015 durchgehend in Österreich auf. Er ist nach seinem Antrag auf internationalen Schutz vom 01.11.2015 in Österreich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG durchgehend rechtmäßig aufhältig.
Der BF hat keine weiteren Familienangehörigen in Österreich. Beim BF finden sich keine besonderen Merkmale der Abhängigkeit zu sonstigen in Österreich lebenden Personen.
Der BF pflegt in Österreich freundschaftliche Beziehungen zu Österreichern und anderen Asylwerbern. Darüber hinaus konnten keine weiteren substanziellen Anknüpfungspunkte im Bereich des Privatlebens festgestellt werden. Der BF ist kein Mitglied von politischen Parteien und ist auch sonst nicht politisch aktiv. Neben den erwähnten Freundschaften ist er auch kein Mitglied in einem Verein.
Er besuchte auch zahlreiche Deutschkurse und konnte seine Sprachkenntnisse auch durch Teilnahmebestätigungen und Prüfungszertifikate sowie in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG darlegen. Er ist in der Lage, bei klarer Standardsprache über vertraute Dinge aus Arbeit, Schule, Freizeit usw. auf Deutsch zu reden. Darüber hinaus kann er über Erfahrungen und Ereignisse berichten, Träume, Hoffnungen und Ziele beschreiben und zu Plänen und Ansichten kurze Begründungen oder Erklärungen geben.
Da der BF keine Arbeitserlaubnis hat, war er bisher in Österreich nicht erwerbstätig. Der BF lebt von der Grundversorgung und ist nicht selbsterhaltungsfähig. Ferner verfügt er über keine Einstellzusage. Es wird nicht verkannt, dass der BF derzeit in Österreich den Pflichtschulabschluss nachholt.
Im Strafregister der Republik Österreich scheint keine strafrechtliche Verurteilung des BF auf. Er ist unbescholten.
1.5. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:
Aufgrund der im Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat des BF getroffen:
Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan, Stand 16.09.2021:
COVID-19
Letzte Änderung: 16.09.2021
Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO: https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports oder der Johns-Hopkins-Universität: https://gisanddata.maps.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.html#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.
Über die Auswirkungen der Machtübernahme der Taliban auf medizinische Versorgung, Impfraten und Maßnahmen gegen COVID-19 sind noch keine validen Informationen bekannt.
Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan
Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl UNOCHA 19.12.2020).
Die Zahl der täglich neu bestätigten COVID-19-Fälle in Afghanistan ist in den Wochen nach dem Eid al-Fitr-Fest Mitte Mai 2021 stark angestiegen und übertrifft die Spitzenwerte, die zu Beginn des Ausbruchs in dem Land verzeichnet wurden. Die gestiegene Zahl der Fälle belastet das Gesundheitssystem weiter. Gesundheitseinrichtungen berichten von Engpässen bei medizinischem Material, Sauerstoff und Betten für Patienten mit COVID-19 und anderen Krankheiten (USAID 11.6.2021).
Laut Meldungen von Ende Mai 2021 haben afghanische Ärzte Befürchtungen geäußert, dass sich die erstmals in Indien entdeckte COVID-19-Variante nun auch in Afghanistan verbreiten könnte. Viele der schwerkranken Fälle im zentralen Krankenhaus für COVID-Fälle in Kabul, wo alle 100 Betten belegt seien, seien erst kürzlich aus Indien zurückgekehrte Personen (BAMF 31.5.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021). Seit Ende des Ramadans und einige Wochen nach den Festlichkeiten zu Eid al-Fitr konnte wieder ein Anstieg der COVID-19 Fälle verzeichnet werden. Es wird vom Beginn einer dritten Welle gesprochen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021). Waren die [Anm.: offiziellen] Zahlen zwischen Februar und März relativ niedrig, so stieg die Anzahl zunächst mit April und dann mit Ende Mai deutlich an (WHO 4.6.2021; vgl. TN 3.6.2021, UNOCHA 3.6.2021). Es gibt in Afghanistan keine landeseigenen Einrichtungen, um auf die aus Indien stammende Variante zu testen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).
Die Lücken in der COVID-19-Testung und Überwachung bleiben bestehen, da es an Laborreagenzien für die Tests mangelt und die Dienste aufgrund der jüngsten Unsicherheit möglicherweise nur wenig in Anspruch genommen werden. Der Mangel an Testmaterial in den öffentlichen Labors kann erst behoben werden, wenn die Lieferung von 50.000 Testkits von der WHO im Land eintrifft (WHO 28.8.2021). Mit Stand 4.9.2021 wurden 153.534 COVID-19 Fälle offiziell bestätigt (WHO 6.9.2021). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 13.1.2021; vgl. UNOCHA 18.2.2021, RFE/RL 23.2.2021a).
Maßnahmen der ehemaligen Regierung und der Taliban
Das vormalige afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hatte verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. "Rapid Response Teams" (RRTs) besuchten Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte "Fix-Teams" waren in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.3.2021; vgl. WB 28.6.2020). Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.3.2021; vgl. IDW 17.6.2021).
Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China (BAMF 8.2.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).
Die Taliban erlaubten den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. TG 2.5.2020) und gaben im Januar 2021 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Millionen Dollar unterstützt wird. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion "unterstützen und erleichtern" (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021), wenn der Impfstoff in Abstimmung mit ihrer Gesundheitskommission und in Übereinstimmung mit deren Grundsätzen eingesetzt wird (NH 3.6.2020).
Mit Stand 2.6.2021 wurden insgesamt 626.290 Impfdosen verabreicht (WHO 4.6.2021; vgl UNOCHA 3.6.2021). Etwa 11% der Geimpften haben beide Dosen des COVID-19-Impfstoffs erhalten. Insgesamt gibt es nach wie vor große Bedenken hinsichtlich des gerechten Zugangs zu Impfstoffen für Afghanen, insbesondere für gefährdete Gruppen wie Binnenvertriebene, Rückkehrer und nomadische Bevölkerungsgruppen sowie Menschen, die in schwer zugänglichen Gebieten leben (UNOCHA 3.6.2021).
Gesundheitssystem und medizinische Versorgung
Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, Sauerstoff, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 11.6.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, HRW 13.1.2021). Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (BAMF 8.2.2021). Mit Mai 2021 wird vor allem von einem starken Mangel an Sauerstoff berichtet (TN 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).
In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (IOM 18.3.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, USAID 11.6.2021).
Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).
Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt
Die ohnehin schlechte wirtschaftliche Lage wurde durch die Auswirkungen der Pandemie noch verstärkt (AA 15.7.2021). COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 11.6.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021). Die kürzlich veröffentlichte IPC-Analyse schätzt, dass sich im April 2021 12,2 Millionen Menschen - mehr als ein Drittel der Bevölkerung - in einem Krisen- oder Notfall-Niveau der Ernährungsunsicherheit befinden (UNOCHA 3.6.2021; vgl. IPC 22.4.2021). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020).
Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 18.3.2021).
Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch lang anhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (UNOCHA 19.12.2020).
Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2021 um mehr als 5% geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019 (IOM 18.3.2021).
Frauen, Kinder und Binnenvertriebene
Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die ehemalige Regierung ordnete im März 2020 an, alle Schulen zu schließen (IOM 23.9.2020; vgl. ACCORD 25.5.2021), wobei diese ab August 2020 wieder stufenweise geöffnet wurden (ACCORD 25.5.2021). Angesichts einer zweiten COVID-19-Welle verkündete die Regierung jedoch Ende November die abermalige Schließung der Schulen (SIGAR 30.4.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021) wobei diese im Laufe des ersten Quartals 2021 wieder geöffnet wurden (SIGAR 30.4.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021, UNICEF 4.5.2021). 35 bis 60 Schüler lernen in einem einzigen Raum, weil es an Einrichtungen fehlt und die Richtlinien zur sozialen Distanzierung nicht beachtet werden (IOM 18.3.2021). Ende Mai 2021 wurden die Schulen erneut geschlossen (BAMF 31.5.2021) und und begannen mit Ende Juli langsam wieder zu öffnen (AAN 25.7.2021).
Kinder (vor allem Jungen), die von den Auswirkungen der Schulschließungen im Rahmen von COVID-19 betroffen waren, waren nun auch anfälliger für Rekrutierung durch die Konfliktparteien (IPS 12.11.2020; vgl. UNAMA 10.8.2020, ACCORD 25.5.2021). In den ersten Monaten des Jahres 2021 wurde im Durchschnitt eines von drei Kindern in Afghanistan außer Haus geschickt, um zu arbeiten. Besonders außerhalb der Städte wurde ein hoher Anstieg der Kinderarbeit berichtet (IOM 18.3.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021). Die Krise verschärft auch die bestehende Vulnerabilität von Mädchen betreffend Kinderheirat und Schwangerschaften von Minderjährigen (AA 15.7.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021). Die Pandemie hat auch spezifische Folgen für Frauen, insbesondere während eines Lockdowns, einschließlich eines erhöhten Maßes an häuslicher Gewalt (ACCORD 25.5.2021; vgl. AI 3.2021). Frauen und Mädchen sind durch den generell geringeren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusätzlich betroffen (AI 3.2021; vgl. HRW 13.1.2021, AAN 1.10.2020).
Binnenvertriebene sind besonders gefährdet, sich mit COVID-19 anzustecken, da sie bereits vorher anfällig waren, es keine Gesundheitseinrichtungen gibt, die Siedlungen überfüllt sind und sie nur begrenzten Zugang zu Wasser und sanitären Anlagen haben. Aufgrund ihrer schlechten Lebensbedingungen sind die vertriebenen Gemeinschaften nicht in der Lage, Präventivmaßnahmen wie soziale Distanzierung und Quarantäne zu praktizieren und sind daher anfälliger für die Ansteckung und Verbreitung des Virus (AI 3.2021).
Politische Lage
Letzte Änderung: 16.09.2021
Afghanistan war [vor der Machtübernahme der Taliban] ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 1.3.2021). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen (NSIA 1.6.2020) bis 39 Millionen Menschen (WoM o.D.).
Nachdem der bisherige Präsident Ashraf Ghani am 15.8.2021 aus Afghanistan geflohen war, nahmen die Taliban die Hauptstadt Kabul als die letzte aller großen afghanischen Städte ein (TAG 15.8.2021; vgl. JS 7.9.2021). Ghani gab auf seiner Facebook-Seite eine Erklärung ab, in der er den Sieg der Taliban vor Ort anerkannte (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Diese Erklärung wurde weithin als Rücktritt interpretiert, obwohl nicht klar ist, ob die Erklärung die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für einen Rücktritt des Präsidenten erfüllt. Amrullah Saleh, der erste Vizepräsident Afghanistans unter Ghani, beanspruchte in der Folgezeit das Amt des Übergangspräsidenten für sich (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Er ist Teil des Widerstands gegen die Taliban im Panjshir-Tal (REU 8.9.2021). Ein so genannter Koordinationsrat unter Beteiligung des früheren Präsidenten Hamid Karzai, Abdullah Abdullah (dem früheren Außenminister und Leiter der Delegation der vorigen Regierung bei den letztendlich erfolglosen Friedensverhandlungen) und Gulbuddin Hekmatyar führte mit den Taliban informelle Gespräche über eine Regierungsbeteiligung (FP 23.8.2021), die schließlich nicht zustande kam (TD 10.9.2021). Denn unabhängig davon, wer nach der afghanischen Verfassung das Präsidentenamt innehat, kontrollieren die Taliban den größten Teil des afghanischen Staatsgebiets (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Sie haben das Islamische Emirat Afghanistan ausgerufen und am 7.9.2021 eine neue Regierung angekündigt, die sich größtenteils aus bekannten Taliban-Figuren zusammensetzt (JS 7.9.2021).
Die Taliban lehnen die Demokratie und ihren wichtigsten Bestandteil, die Wahlen, generell ab (AJ 24.8.2021; vgl. AJ 23.8.2021). Sie tun dies oftmals mit Verweis auf die Mängel des demokratischen Systems und der Wahlen in Afghanistan in den letzten 20 Jahren, wie auch unter dem Aspekt, dass Wahlen und Demokratie in der vormodernen Periode des islamischen Denkens, der Periode, die sie als am authentischsten "islamisch" ansehen, keine Vorläufer haben. Sie halten einige Methoden zur Auswahl von Herrschern in der vormodernen muslimischen Welt für authentisch islamisch - zum Beispiel die Shura Ahl al-Hall wa'l-Aqd, den Rat derjenigen, die qualifiziert sind, einen Kalifen im Namen der muslimischen Gemeinschaft zu wählen oder abzusetzen (AJ 24.8.2021). Ende August 2021 kündigten die Taliban an, eine Verfassung auszuarbeiten (FA 23.8.2021), jedoch haben sie sich zu den Einzelheiten des Staates, den ihre Führung in Afghanistan errichten möchte, bislang bedeckt gehalten (AJ 24.8.2021; vgl. ICG 24.8.2021, AJ 23.8.2021).
Im September 2021 kündigten sie die Bildung einer "Übergangsregierung" an. Entgegen früherer Aussagen handelt es sich dabei nicht um eine "inklusive" Regierung unter Beteiligung unterschiedlicher Akteure, sondern um eine reine Talibanregierung. Darin vertreten sind Mitglieder der alten Talibanelite, die schon in den 1990er Jahren zentrale Rollen besetzte, ergänzt mit Taliban-Führern, die im ersten Emirat noch zu jung waren, um zu regieren. Die allermeisten sind Paschtunen. Angeführt wird die neue Regierung von Mohammad Hassan Akhund. Er ist Vorsitzender der Minister, eine Art Premierminister. Akhund ist ein wenig bekanntes Mitglied des höchsten Taliban-Führungszirkels, der sogenannten Rahbari-Shura, besser bekannt als Quetta-Shura (NZZ 7.9.2021; vgl. BBC 8.9.2021a). Einer seiner Stellvertreter ist Abdul Ghani Baradar, der bisher das politische Büro der Taliban in Doha geleitet hat und so etwas wie das öffentliche Gesicht der Taliban war (NZZ 7.9.2021), ein weiterer Stellvertreter ist Abdul Salam Hanafi, der ebenfalls im politischen Büro in Doha tätig war (ORF 7.9.2021). Mohammad Yakub, Sohn des Taliban-Gründers Mullah Omar und einer der Stellvertreter des Taliban-Führers Haibatullah Akhundzada (RFE/RL 6.8.2021), ist neuer Verteidigungsminister. Sirajuddin Haqqani, der Leiter des Haqqani-Netzwerks, wurde zum Innenminister ernannt. Das Haqqani-Netzwerk wird von den USA als Terrororganisation eingestuft. Der neue Innenminister steht auf der Fahndungsliste des FBI und auch der Vorsitzende der Minister, Akhund, befindet sich auf einer Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrates (NZZ 7.9.2021).
Ein Frauenministerium findet sich nicht unter den bislang angekündigten Ministerien, auch wurden keine Frauen zu Ministerinnen ernannt [Anm.: Stand 7.9.2021]. Dafür wurde ein Ministerium für "Einladung, Führung, Laster und Tugend" eingeführt, das die Afghanen vom Namen her an das Ministerium "für die Förderung der Tugend und die Verhütung des Lasters" erinnern dürfte. Diese Behörde hatte während der ersten Taliban-Herrschaft von 1996 bis 2001 Menschen zum Gebet gezwungen oder Männer dafür bestraft, wenn sie keinen Bart trugen (ORF 7.9.2021; vgl. BBC 8.9.2021a). Die höchste Instanz der Taliban in religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten (RFE/RL 6.8.2021), der "Amir al Muminin" oder "Emir der Gläubigen" Mullah Haibatullah Akhundzada (FR 18.8.2021) wird sich als "Oberster Führer" Afghanistans auf religiöse Angelegenheiten und die Regierungsführung im Rahmen des Islam konzentrieren (NZZ 8.9.2021). Er kündigte an, dass alle Regierungsangelegenheiten und das Leben in Afghanistan den Gesetzen der Scharia unterworfen werden (ORF 7.9.2021).
Bezüglich der Verwaltung haben die Taliban Mitte August 2021 nach und nach die Behörden und Ministerien übernommen. Sie riefen die bisherigen Beamten und Regierungsmitarbeiter dazu auf, wieder in den Dienst zurückzukehren, ein Aufruf, dem manche von ihnen auch folgten (AZ 17.8.2021; vgl. ICG 24.8.2021). Es gibt Anzeichen dafür, dass einige Anführer der Gruppe die Grenzen ihrer Fähigkeit erkennen, den Regierungsapparat in technisch anspruchsvolleren Bereichen zu bedienen. Zwar haben die Taliban seit ihrem Erstarken in den vergangenen zwei Jahrzehnten in einigen ländlichen Gebieten Afghanistans eine so genannte Schattenregierung ausgeübt, doch war diese rudimentär und von begrenztem Umfang, und in Bereichen wie Gesundheit und Bildung haben sie im Wesentlichen die Dienstleistungen des afghanischen Staates und von Nichtregierungsorganisationen übernommen (ICG 24.8.2021).
Bis zum Sturz der alten Regierung wurden ca. 75% (ICG 24.8.2021) bis 80% des afghanischen Staatsbudgets von Hilfsorganisationen bereitgestellt (BBC 8.9.2021a), Finanzierungsquellen, die zumindest für einen längeren Zeitraum ausgesetzt sein werden, während die Geber die Entwicklung beobachten (ICG 24.8.2021). So haben die EU und mehrere ihrer Mitgliedsstaaten in der Vergangenheit mit der Einstellung von Hilfszahlungen gedroht, falls die Taliban die Macht übernehmen und ein islamisches Emirat ausrufen sollten, oder Menschen- und Frauenrechte verletzen sollten. Die USA haben rund 9,5 Milliarden US-Dollar an Reserven der afghanischen Zentralbank sofort [nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul] eingefroren, Zahlungen des IWF und der EU wurden ausgesetzt (CH 24.8.2021). Die Taliban verfügen weiterhin über die Einnahmequellen, die ihren Aufstand finanzierten, sowie über den Zugang zu den Zolleinnahmen, auf die sich die frühere Regierung für den Teil ihres Haushalts, den sie im Inland aufbrachte, stark verließ. Ob neue Geber einspringen werden, um einen Teil des Defizits auszugleichen, ist noch nicht klar (ICG 24.8.2021).
Die USA zeigten sich angesichts der Regierungsbeteiligung von Personen, die mit Angriffen auf US-Streitkräfte in Verbindung gebracht werden, besorgt und die EU erklärte, die islamistische Gruppe habe ihr Versprechen gebrochen, die Regierung "integrativ und repräsentativ" zu machen (BBC 8.9.2021b). Deutschland und die USA haben eine baldige Anerkennung der von den militant-islamistischen Taliban verkündeten Übergangsregierung Anfang September 2021 ausgeschlossen (BZ 8.9.2021). China und Russland haben ihre Botschaften auch nach dem Machtwechsel offen gehalten (NYT 1.9.2021).
Vertreter der National Resistance Front (NRF) haben die internationale Gemeinschaft darum gebeten, die Taliban-Regierung nicht anzuerkennen (BBC 8.9.2021b). Ahmad Massoud, einer der Anführer der NRF, kündigte an, nach Absprachen mit anderen Politikern eine Parallelregierung zu der von ihm als illegitim bezeichneten Talibanregierung bilden zu wollen (IT 8.9.2021).
Friedensverhandlungen, Abzug der internationalen Truppen und Machtübernahme der Taliban
Letzte Änderung: 16.09.2021
2020 fanden die ersten ernsthaften Verhandlungen zwischen allen Parteien des Afghanistan-Konflikts zur Beendigung des Krieges statt (HRW 13.1.2021). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 7.5.2020; vgl. NPR 6.5.2020, EASO 8.2020a) - die damalige afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses (EASO 8.2020a). Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthielt das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nicht-amerikanischen NATO-Truppen sollten abgezogen werden (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020; REU 6.10.2020). Dafür hatten die Taliban beispielsweise zugesichert, zu verhindern, dass "irgendeiner ihrer Mitglieder, andere Individuen oder Gruppierungen, einschließlich Al-Qaida, den Boden Afghanistans nutzt, um die Sicherheit der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten zu bedrohen" (USDOS 29.2.2020).
Die Verhandlungen mit den USA lösten bei den Taliban ein Gefühl des Triumphs aus. Indem sie mit den Taliban verhandelten, haben die USA sie offiziell als politische Gruppe und nicht mehr als Terroristen anerkannt [Anm.: das mit den Taliban verbundene Haqqani-Netzwerk wird von den USA mit Stand 7.9.2021 weiterhin als Terrororganisation eingestuft (NZZ 7.9.2021)]. Gleichzeitig unterminierten die Verhandlungen aber auch die damalige afghanische Regierung, die von den Gesprächen zwischen den Taliban und den USA ausgeschlossen wurde (VIDC 26.4.2021).
Im September 2020 starteten die Friedensgespräche zwischen der damaligen afghanischen Regierung und den Taliban in Katar (REU 6.10.2020; vgl. AJ 5.10.2020, BBC 22.9.2020). Der Regierungsdelegation gehörten nur wenige Frauen an, aufseiten der Taliban war keine einzige Frau an den Gesprächen beteiligt. Auch Opfer des bewaffneten Konflikts waren nicht vertreten, obwohl Menschenrechtsgruppen dies gefordert hatten (AI 7.4.2021).
Die Gewalt ließ jedoch nicht nach, selbst als afghanische Unterhändler zum ersten Mal in direkte Gespräche verwickelt wurden (AJ 5.10.2020; vgl. AI 7.4.2021). Insbesondere im Süden, herrscht trotz des Beginns der Friedensverhandlungen weiterhin ein hohes Maß an Gewalt, was weiterhin zu einer hohen Zahl von Opfern unter der Zivilbevölkerung führt (UNGASC 9.12.2020; vgl. AI 7.4.2021).
Mitte Juli 2021 kam es zu einem weiteren Treffen zwischen der ehemaligen afghanischen Regierung und den Vertretern der Taliban in Katar (DW 18.7.2021). In einer Erklärung, die nach zweitägigen Gesprächen veröffentlicht wurde, erklärten beide Seiten, dass sie das Leben der Zivilbevölkerung, die Infrastruktur und die Dienstleistungen schützen wollen (AAN 19.7.2021). Ein Waffenstillstand wurde allerdings nicht beschlossen (DW 18.7.2021; vgl. AAN 19.7.2021).
Abzug der Internationalen Truppen
Im April 2021 kündigte US-Präsident Joe Biden den Abzug der verbleibenden Truppen (WH 14.4.2021; vgl. RFE/RL 19.5.2021) - etwa 2.500-3.500 US-Soldaten und etwa 7.000 NATO-Truppen - bis zum 11.9.2021 an, nach zwei Jahrzehnten US-Militärpräsenz in Afghanistan (RFE/RL 19.5.2021). Er erklärte weiter, die USA würden weiterhin "terroristische Bedrohungen" überwachen und bekämpfen sowie "die Regierung Afghanistans" und "die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte weiterhin unterstützen" (WH 14.4.2021), allerdings ist nicht klar, wie die USA auf wahrgenommene Bedrohungen zu reagieren gedenken, sobald ihre Truppen abziehen (AAN 1.5.2021). Die Taliban zeigten sich von der Ankündigung eines vollständigen und bedingungslosen Abzugs nicht besänftigt, sondern äußerten sich empört über die Verzögerung, da im Doha-Abkommen der 30.4.2021 als Datum für den Abzug der internationalen Truppen festgelegt worden war. In einer am 15.4.2021 veröffentlichten Erklärung wurden Dro