TE Bvwg Erkenntnis 2021/9/27 W257 2186534-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 27.09.2021
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

27.09.2021

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28

Spruch


W257 2186534-1/14E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Herbert MANTLER, MBA als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch RA Dr. Helmut BLUM, LL.M., Mozartstraße 11/6, 4020 Linz, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Wien, vom 12.12.2017, Zahl: XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 20.07.2021, zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides als unbegründet abgewiesen.

II.      Der Beschwerde wird hinsichtlich der Spruchpunkte II. bis IV. des angefochtenen Bescheides stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan erteilt.

III.    Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für ein Jahr erteilt.

IV. Die Spruchpunkte III. bis VI. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I.       Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer (in der Folge kurz „BF“), ein afghanischer Staatsbürger, reiste illegal ins österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 11.07.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Im Rahmen der am 11.07.2015 erfolgten Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der BF an, dass er aus der Provinz Kabul stamme und er sich bis zuletzt dort aufgehalten habe. Er verfüge über eine zehnjährige Schulbildung und habe in Afghanistan Berufserfahrung als Maler gesammelt. Seine Muttersprache sei Farsi/Dari. Er sei Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken und bekenne sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Er sei verheiratet und habe zwei Kinder. In seinem Heimatland würden sich in Kabul noch seine Ehefrau und seine beiden Kinder aufhalten. Das Sorgerecht für diese würde der Vater des BF haben. In Österreich habe er keine Angehörigen, jedoch würden ein Cousin in Deutschland und ein Onkel in Schweden leben.

Zu seinem Fluchtgrund befragt, führte der BF aus, dass er sein Heimatland verlassen habe, weil er von den Taliban bedroht worden wäre. Sein Schwager und dessen Frau hätten Kontakt zu den Taliban, sein Vater arbeite in Kabul für die Regierung. Da zwei nahe Verwandte von Regierungsseite getötet worden wären, würden die Taliban glauben, sein Vater habe sie verraten. Er habe eine Drohanruf erhalten und sei aufgefordert seinen Vater zu verlassen und sich den Taliban anzuschließen. Sein Vater habe daraufhin seine Ausreise organisiert. Im Falle seiner Rückkehr habe er Angst um sein Leben.

3. Bei der Einvernahme durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge kurz „BFA“) am 14.11.2017 gab der BF an, dass er gesund sei und derzeit keine Medikamente benötige. Sein Geburtsdatum sei nicht richtig protokolliert worden. Er könne eine Tazkira, die er im November 2016 zugeschickt bekommen habe, vorlegen. Das Geburtsjahr wurde auf dieser das Jahr 1996 ausweisen. Ebenso legte er eine Fotographie eines Militärausweises seines Vaters, sowie die Heiratsurkunde und die Tazkira seiner Frau, Seines Sohnes und seiner Tochter vor. Als integrationsbegründende Unterlagen legte der BF Teilnahmebestätigungen an Deutschkursen, ein Empfehlungsschreiben und ein Beitrittsurkunde zu einem Fußballverein vor.

Sein Vater sei Offizier beim Militär. Er selbst sei zuletzt zwei Jahre lang Autolackierer gewesen. Zuvor habe er vier Jahre bei der NATO gearbeitet, wo er zumeist Reinigungsarbeiten durchgeführt hätte. Er sei nur elf Jahre in die Schule gegangen, weil sein Vater nicht gewollt hätte, dass er aufs Militärgymnasium gehe.

Derzeit sei er in medizinischer Behandlung wegen Magenschmerzen. Die Medikamente habe er im Oktober verschrieben bekommen.

Er sei afghanischer Staatsbürger, Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken und Moslem, sunnitischer Glaubensrichtung. Er sei in der Stadt Kabul geboren worden und aufgewachsen. Er sei verheiratet und habe zwei Kinder. Die Schule habe er nach zehn Jahren nicht abgeschlossen, er sei aber ausgelernter Autolackierer. In seinem Heimatland würden auch noch seine Eltern, seine beiden Schwestern und sein Bruder leben. Er sei mit seiner Familie in regelmäßigen Kontakt. Er habe Cousinen in Deutschland und einen Onkel in Schweden, jedoch habe er keine Verwandten in Österreich. In Österreich lebe er von der Grundversorgung und verrichte gemeinnützige Tätigkeiten für die er € 150,- erhalte. Er lerne Deutsch, wobei es aber festgehalten wurde, dass es nicht möglich gewesen sei, mit ihm eine Konversation auf Deutsch zu führen.

Zu seinem Fluchtgrund befragt, führte der BF im Wesentlichen aus, dass er sein Heimatland verlassen habe, weil sein Schwager ein Talib gewesen sei. Dieser sei 2011 oder 2012 getötet worden, jedoch denke diese Familie, dass seine Familie hinter diesem Mord gestanden sei. Es wären auch der Schwiegervater und drei Schwager von den Amerikanern inhaftiert worden. Sein Vater habe die Sicherheitsbehörden bezüglich Ermittlungstätigkeiten eingeschalten. Dieser habe jedoch vermeint, dass dies ein Problem sei, dass den BF betreffe und er daher das Land verlassen solle. Nach seiner Ausreise habe seine Familie Drohbriefe erhalten. Es sei im November 2016 auch eine Autobombe auf das Fahrzeug seines Vaters montiert worden, weshalb dieser die Familie des BF für eine Zeit nach Pakistan geschickt habe.

Er selbst sei nie persönlich bedroht worden. Nur sein Vater sei durch die Autobombe bedroht worden. Es werde geglaubt, dass seine Regierungstätigkeit etwas mit der Verhaftung seiner Schwager, die Taliban wären, zusammenhänge. Ebenso würden sie den Tod eines weiteren Bruders rächen wollen. Ebenso sei der BF aufgefordert worden, dass er sich den Taliban anschließen solle. Des Weiteren habe man die Familie beschuldigt, dass sie, aufgrund ihrer Kontakte zu den Amerikanern, ein jüdisches Leben führe. Diesbezüglich habe der BF Drohanrufe erhalten und sei beschimpft worden. Der BF habe gesagt, dass er damit nichts zu tun habe und er sich nicht den Taliban anschließen werde. Als die Anrufe zugenommen hätten, habe der BF schließlich Afghanistan verlassen. Fluchtauslösend sei hierbei gewesen, dass Todesdrohungen ausgesprochen worden wären.

Im Falle einer Rückkehr würde er von seinen Feinden getötet werden. Sie hätten überall Informanten und Kontaktpersonen. Dass sein Vater in Kabul noch leben könne, sei reiner Zufall. Welche Talibangruppe ihn verfolge, wisse er nicht. Dies sei einmal auf einem Zettel gestanden, aber er missbillige sowieso alle Taliban.

Dem BF wurde danach die aktuellen Länderfeststellungen ausgehändigt. Die Rechtsvertretung erbat sich eine Frist zur Abgabe einer Stellungnahme von zwei Wochen und stellte dem BF noch ergänzende Frage, die der BF dahingehend beantwortete, dass sein Vater ihn nicht schützen könne und er auch in Kabul nicht in Sicherheit vor dieser Bedrohung sei. Durch das Einheiraten in eine paschtunische Familie habe es von Anfang an Probleme gegeben.

4. In einer am 27.11.2017 ergangenen Stellungnahme der Rechtsvertretung des BF wurde ausgeführt, dass dieser konkret in den Fokus der Taliban geraten sei und es für ihn in Afghanistan keinen sicheren Aufenthaltsort gäbe. Da sein Vater ein hochrangiger Militär sei, sei der BF auch ein „high profiler“. Ebenso wurde ein weiterer medizinischer Befund vorgelegt.

5.Mit Bescheid vom 12.12.2017 wies das BFA den Antrag des BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.). Ebenso wurde Antrag des BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.). Gemäß § 57 AsylG 2005 wurde dem BF kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt (Spruchpunkt III.). Weiters wurde gegen den BF gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 in Verbindung mit § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des BF 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.). Begründend wurde festgehalten, dass der BF in Bezug auf seine persönlichen Daten und seine Sozialisierung in Afghanistan glaubhaft gewesen sei. Aus den vorgelegten medizinischen Unterlagen geht nicht hervor, dass diese den Bereich einer in Art. 3 EMRK angeführten Erkrankung tangieren würde. Das Fluchtvorbringen über das Verlassen Afghanistans wegen einer Bedrohung durch die Taliban sei hingegen nicht glaubhaft gemacht worden. Der BF habe kein gleichbleibendes und stringentes Vorbringen erstatten können und sich auch in Widersprüche verwickelt. Insbesondere vermeinte der BF unterschiedlich, dass die Bedrohungen einmal die Familie betroffen hätten, dann wieder, dass diese Probleme nur ihn persönlich betreffen würden. Auch verneinte der BF persönliche Bedrohungen, um wenig später anzugeben, dass der BF aufgrund der zunehmenden Drohanrufe an ihn, sein Heimatland verlassen habe. Im Übrigen habe der BF seine Bedrohungen auch nicht durch relevante Fakten, Zahlen und Daten schildern können und sich dabei nur auf oberflächliche Behauptungen berufen, die eine Verfolgung nicht authentisch erscheinen gelassen hätte.

Ebenso habe der BF keine detaillierten Angaben über die Zwangsrekrutierung machen können. Aufgrund des kurzen Zeitraums der Reinigungstätigkeiten für die Amerikaner sei der BF jedenfalls kein „High profiler“. Gehe man davon aus, dass der Vater des BF tatsächlich ein ranghoher Militär sei, dann müsste dieser in den Genuss besonderer Schutzvorkehrungen kommen. Dass der BF aber keineswegs den Amerikaner nahegestanden sei, könne schon daraus geschlossen werden, dass dieser sonst zuletzt nicht als Autolackierer hätte arbeiten müssen.

Der BF verfüge über familiärere Anknüpfungspunkte in Kabul, sodass davon auszugehen sei, dass er von seiner Familie jedenfalls unterstützt werden würde. Eine Ansiedlung in Kabul sei ihm jedenfalls zumutbar, ebenso wie eine solche in einer Stadt wie Herat oder Mazar-e Sharif. Eine Gefahrenlage im Sinne des Art. 3 EMRK würde beim BF im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan nicht vorliegen. Es bestünde daher im Falle seiner Rückkehr auch keine reale Gefahr, die einer Zuerkennung von subsidiärem Schutz rechtfertigen würde. Der BF sei jung, generell gesund und arbeitsfähig sowie in Afghanistan bzw. in einem afghanischen Familienumfeld sozialisiert worden. Er verfüge auch über eine profunde Schulbildung und langjährige Berufserfahrung am afghanischen Arbeitsmarkt. Betreffend den Ausspruch einer Rückkehrentscheidung würden die öffentlichen Interessen überwiegen.

6. Mit Verfahrensanordnung vom 05.01.2018 wurde dem BF gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG die ARGE Rechtsberatung – Diakonie und Volkshilfe für das Beschwerdeverfahren als Rechtsberatung zur Seite gestellt. Ebenso wurde mit Verfahrensanordnung vom 05.01.2018 ein Rückkehrberatungsgespräch gemäß § 52a Abs. 2 BFA-VG angeordnet.

7. Gegen den Bescheid des BFA richtete sich die am 06.02.2018 beim BFA eingelangte und fristgerecht durch seine rechtsfreundliche Vertretung in vollem Umfang erhobene Beschwerde und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragt. In dieser wurde festgehalten, dass der BF sein Vorbringen nicht habe ausreichend schildern können, weshalb der belangten Behörde dahingehend auch ein wesentlicher Verfahrensmangel vorzuwerfen sei. Seine Verfolgungsgefahr sei plausibel, weil er einerseits als Tadschike in eine paschtunische Familie eingeheiratet habe, andererseits seine Familie aufgrund der hohen militärischen Position seines Vaters verdächtig werde, dass sie für die Verhaftung zahlreicher Mitglieder der Schwiegerfamilie verantwortlich sei. Er sei ebenso gefährdet, weil er selbst für amerikanische Einrichtungen gearbeitet hätte. Die Aktualität der Bedrohungen sei durch den Bombenanschlag auf seinen Vater evident. In Afghanistan würden den BF weder sein Vater noch staatliche Stellen ausreichend schützen können. Die belangte Behörde habe es auch unterlassen, Ermittlungsschritte in seinem Heimatland zu setzen, insbesondere auch, weil der BF sein Vorbringen durch Unterlagen stützen habe können. Diese würden bezeugen, dass der BF aus mehreren Umständen in den Fokus der Taliban geraten sei. Dass seine Familie den Schutz der Amerikaner in Anspruch nehmen könne, würde nicht den allgemeinen Gegebenheiten Afghanistans entsprechen.

8. Die gegenständliche Beschwerde und der bezugshabende Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht (in der Folge kurz „BVwG“) am 14.02.2018 vom BFA vorgelegt, wobei die belangte Behörde auf die Durchführung und Teilnahme an einer mündlichen Verhandlung verzichte habe und beantragte, die Beschwerde als unbegründet abzuweisen.

9. Mit Schriftsatz vom 29.10.2018 legte die Rechtsvertretung des BF, auch im Beschwerdeverfahren, RA Dr. Blum, einen aktuellen Befundbericht einer Fachärztin für Neurologie und ein Schreiben über die Durchführung gemeinnütziger Tätigkeiten vor.

10. Mit Schriftsatz vom 04.06.2019 legte die Rechtsvertretung des BF aktuelle Befundberichte und Bestätigungsschreiben der Teilnahme an einer Psychotherapie vor.

11. Mit Schriftsatz vom 29.08.2019 führte die Rechtsvertretung des BF aus, dass der Schwager des BF von der afghanischen Polizei getötet worden sei, wodurch sich die Drohungen gegenüber seiner Familie verstärkt hätten und diese sich in Kabul versteckt halten müsse.

12. Mit Schriftsatz vom 02.10.2020 legte die Rechtsvertretung des BF ein Bestätigungsschreiben der Teilnahme an einer Psychotherapie vor.

13. Das BVwG führte in der gegenständlichen Rechtssache am 20.07.2021, im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari, eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der der BF und seine Rechtsvertretung persönlich teilnahmen. Ein Vertreter der belangten Behörde verzichtete, mit Schreiben vom 28.06.2021 entschuldigt, auf eine Teilnahme an der mündlichen Verhandlung.

Der BF gab an, dass gesund genug sei, um in der Lage zu sein, dass der der Verhandlung folgen könne. Er verzichtete nach eingehender Belehrung auf die Verlesung des Aktes und führte an, dass er gesund sei, aber regelmäßig eine Psychotherapie habe. Er vermeinte, im bisherigen Verfahren Probleme mit dem Dolmetscher gehabt zu haben. Ebenso habe man ihm keinen früheren Einvernahmetermin gegeben und er verstehen es auch nicht, wie man ihm eine negative Entscheidung bescheiden hätte können.

Er sei afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppen der Tadschiken und gehöre der sunnitischen Glaubensrichtung des Islam an. Er sei afghanischer Staatsangehöriger und in Afghanistan in Kabul sowohl geboren worden als auch aufgewachsen und habe dort etwa 30 Jahre gelebt. Er habe zehn Jahre die Schule besucht. Danach habe es ihm sein Vater ein Weitermachen der Schule verwehrt. Danach habe er als Controller für vier Jahre bei der NATO gearbeitet. Zumeist habe er Reinigungstätigkeiten durchgeführt. Es habe einen Supervisor gegeben und dem BF selbst wären drei Personen unterstellt worden.

Er sei seit 2011 verheiratet und mit der Ehe hätten auch seine Probleme begonnen. Er habe einen Sohn und eine Tochter. Vor seiner Ausreise habe er noch zwei Jahre bei seinem Onkel als Autolackierer gearbeitet. Seine Eltern, sein Bruder und drei Schwestern würden zusammen mit seiner Frau und den Kindern in Afghanistan leben. Dort habe er auch noch zahlreiche weitschichtige Verwandte. Einige seiner Onkel und Tanten würden im Ausland leben. Sein Vater arbeite beim Militär, sei aber dort kein Soldat. Er bekomme Geld von der Regierung. Seine Frau verbrauche seiner Ersparnisse. Sein Vater habe es nicht wollen, dass er die Militärakademie besuche, jedoch habe er ihm dann einen Job bei der NATO verschafft. Die Familie könnte den BF nicht unterstützen, weil diese angegriffen werde. Wie könne er dann dort überleben? Ohne Drohungen könnte er in Afghanistan einen Antrag bei den Amerikanern stellen und hätte ein schönes Leben.

Danach stellte die Rechtsvertretung dem BF Fragen. Der BF antwortete dahingehend, dass sein Vater ein General sei. Er sei Kommandant eines Militärkommandos gewesen. Derzeit würde er aber seit 2018 untätig zu Hause sitzen. Vom Militärgymnasium würde man nach der Ausbildung von der Militärpolizei zu Operationen geschickt werden. Sein Vater sei zuletzt Supervisor einer Supportgruppe im Ausbildungsbereich gewesen. Wegen Einsparungsmaßnahmen sei sein Vater aber derzeit bei geringeren Bezügen dienstfrei gestellt. Auf die Frage des Richters, warum der BF keine konkreten Antworten auf seine ihm zuvor gestellte Frage gegeben habe, vermeinte der BF, dass er geantwortet habe, dass er beim Militär gewesen sei und er dies auch schon bei ersten Interview geschildert habe. Die Übersetzung des Militärausweises seines Vaters würde diesen als Oberstleutnant ausweisen, woraufhin festgehalten wurde, dass der Vater des BF 2014 ein Militärangehöriger gewesen sei.

Zu seinen Fluchtgründen befragt, führte der BF aus, dass diese mit seiner Ehe begonnen hätten, weil ein Schwager bei einer namentlich genannten Gruppierung der Taliban gewesen sei und er selbst bei der NATO gearbeitet hätte. Eines Tages hätten die Amerikaner alle acht Bruder seiner Frau festgenommen und befragt. Ein Schwager habe 17 Jahre Haft bekommen, ein anderer Schwager habe Drohanrufe gegenüber dem BF getätigt. Er habe Angst bekommen, als er diesen in den Medien gesehen habe, weil er von diesem Zeitpunkt an gewusst habe, dass dieser Schwager mächtig sei. Ein weiterer Schwager habe ihn angerufen und ihn dahingehend bedroht, dass die Probleme der Familie nur wegen ihm entstanden wären. Denn der BF sei ein Spion, der alles seinem Vater erzählt hätte und dieser hätte diese Informationen erneut weitergegeben. Er habe gesagt, dass er damit nichts zu tun habe, jedoch habe man ihm nicht geglaubt. Sein Vater habe ihm geraten, dass Land zu verlassen, wenn der Druck nicht aufhören sollte. Er sei auch aufgefordert worden, mit ihnen zusammenzuarbeiten, wobei der BF seine Kontrahenten beschimpft hätten. Einer der Schwager sei getötet worden, aber ein anderer, der festgenommen worden wäre, sei das Problem. Im November 2016 sei eine Bombe im Auto des Vaters platziert gewesen und nach der Freilassung des Schwagers habe dieser zu seinem Vater gesagt, dass dieser entweder seinen Sohn oder dessen Frau und die Kinder übergeben müsse.

Er habe 2011 geheiratet. Die Festnahmen der Schwager wären ein Jahr danach erfolgt. Kurz davor sei auch der erste der Schwager getötet worden. Afghanistan habe er erst 2015 verlassen, weil die Schwager solange inhaftiert gewesen wären. Auf Nachfrage gab der BF an, dass einer der Schwager schon nach einem oder eineinhalb Jahren aus der Haft entlassen worden sei. Auf erneute Nachfrage, dass dieser Schwager bereits 2013 freigekommen wäre und der BF 2014 und 2015 noch als Autolackierer gearbeitet hätte, vermeinte der BF, dass die Probleme erst später zugenommen hätten. Außerdem sei sein Vater 2013 noch einflussreich gewesen. Der Schwager habe ihn schon vor seiner Freilassung bedroht. Nachdem dieser bei einer Militäroperation getötet worden sei und dies in den Medien gewesen sei, habe er die Bedrohungen der Familie ernstgenommen. Er wisse nicht mehr genau, wann sich dies zugetragen hätte, aber 2015 wären die Bedrohungen gegen ihn sehr stark gewesen. Ein weiterer Schwager sei 2019 umgekommen. Die starken Bedrohungen seien so formuliert gewesen, dass er und seine Familie getötet werden würden. Auch hätte man ihm gedroht, dass man ihn jederzeit mitnehmen können würde. Seine Frau sein Paschtunin, aber deren Mutter, die seine Tante mütterlicherseits sei, sei Tadschikin.

Er habe bei der NATO aufgehört, weil das Camp geschlossen worden sei. Autolackierer sei er dann geworden, weil er Autos gerne habe. Auf die Frage nach dem fluchtauslösenden Vorfall antwortete der BF, dass die Lage aufgrund der Drohungen nicht absehbar gewesen wäre und die Regierung einem nicht helfen hätte können. Auch auf Nachfrage habe der BF keinen fluchtauslösenden Vorfall darlegen können. Er verneinte auch, dass er attackiert worden sei, sondern man ihn nur angerufen habe. Auf Vorhalt einer Stelle aus dem Protokoll vor dem BFA vermeinte er, dass es nicht möglich sein könne, dass er 2016 bedroht worden sei.

Ihm sei seitens der Familie seiner Frau vorgeworfen worden, dass er diese verraten hätte. So hätte man gewusst, dass sie Taliban wären und welche Operationen sie durchführen würden. Auf Frage, dass ihm die Verwandtschaft dies unterstellen würde, vermeinte der BF, dass dies nicht seine Verwandtschaft sei. In Afghanistan zähle nur die Verwandtschaft hinter dem Vater. Auf Vorhalt, dass es nicht nachvollziehbar ei, dass angeblich mächtige Taliban bei dieser Art von Vorwürfen nur Telefonanrufe tätigen würden, vermeinte der BF, dass dies deren und nicht sein Problem sei. Er habe ihnen Probleme gemacht und deswegen das Land verlassen. Diese Personen wären verrückt. Dass erst 2016 ein Anschlag auf seinen Vater verübt worden sei, begründete der BF dahingehend, dass diese Personen wohl auf die passende Gelegenheit gewartet hätten. Diese Personen hätten ihn haben wollen bzw. zu diesem Zeitpunkt seine Frau und seine Kinder. Seiner Tante sei zuletzt von seinen eigenen Kindern die Hand gebrochen worden, weil sie sich nach der Familie erkundigt hätte.

Er habe rund 24 Monate unregelmäßig drei bis vier Stunden als Autolackierer gearbeitet. Sein Vater, der die Entscheidung getroffen habe, dass er nach Europa gehen müsse, habe dies nicht öfters gewollt. 2015 sei die Lage so schlimm geworden, dass er nicht mehr rausgehen habe können. 2015 habe der Vater auch ermitteln lassen, wer dahintersteckt und ob die seit 2012 angestellten Vermutungen auch richtig gewesen wären. Warum er diese Ermittlungen anstellte und was sich sein Vater dabei erhofft habe, könne der BF aber nicht sagen. Sein Vater habe selbst vier Bodyguards gehabt. Als der Druck größer geworden sei, habe sich der Vater auch an die Polizei und die Miliz gewandt. Sein Vater sei im Jahr 2021 noch ein weiteres Mal angegriffen worden, wobei dieser vermeinte, dass wohl auch diese Familie hinter diesen Angriff stecke.

In Österreich lebe er alleine, habe aber eine Freundin, die für eine Art Ziehmutter sei. Er habe Deutschkurse bis zum Niveau B1 besucht, jedoch keine Prüfungen abgelegt. Er sei gemeinnützig freiwillig tätig, hätte aber bereits eine Einstellungszusage, wenn er einen positiven Bescheid erhalten würde. Er habe keine Angehörigen in Österreich, jedoch in Deutschland, Schweden und in Amerika. Er sei auch krank und benötige Medikamente, um schlafen zu können.

Der Rechtsvertretung werden die aktuellen Länderberichte ausgehändigt und eine Frist von 14 Tagen zur Abgabe einer Stellungnahme eingeräumt. Diese vermeinte, dass sich die Sicherheitslage durch den Truppenabzug und die COVID-Krise drastisch verschlechtert habe. Ebenso gehöre er als Sohn eines Offiziers und bediensteter der NATO zu einer Risikogruppe im Sinne der UNHCR-Richtlinie und der EASO-Guidelines. Danach wurde die mündliche Verhandlung geschlossen. Gemäß § 29 Abs. 3 VwGVG entfiel die Verkündung der Entscheidung.

14. Mit Schriftsatz vom 10.08.2021 vermeinte die Rechtsvertretung des BF, dass die aktuelle Lageentwicklung, die durch einen Zeitungsartikel belegt wurde, in gegenständlichem Verfahren berücksichtigen werden müsse. Ebenso wurde ein Arbeitsvorvertrag, der in aktueller Form in einem Tag später erfolgten Schriftsatz erneut übermittelt wurde, vorgelegt sowie ein Schreiben, dass bezeugen soll, dass der Vater des BF aufgrund seiner Tätigkeit für die NATO am 17.08.2021 einen Interviewtermin zur Erteilung eines Visums für die USA habe.

15. Der BF legte im Lauf des Verfahrens folgende Dokumente vor:

?        Kopie einer afghanischen Tazkira

?        Afghanische Heiratsurkunde

?        Afghanischer Ausweis des Vaters (als Fotographie vorgelegt)

?        Arbeitsbestätigungen der ISAF

?        Afghanische Tazkira seiner Frau, seines Sohnes und seiner Tochter

?        Bilder des Vaters aus Afghanistan

?        Kursbesuchsbestätigungen über Deutschkurse (Niveau A1 und A2)

?        Medizinische Unterlagen (Depression)

?        Zahlreiche Bestätigungsschreiben über eine Psychotherapie

?        Zahlreiche Bestätigungen für die Durchführung gemeinnütziger Tätigkeiten

?        Zeitungsartikel von August 2021 über die aktuelle Sicherheitslage in Afghanistan

?        Einstellungszusage, als arbeitsrechtlicher Vorvertrag bezeichnet

?        Formular des US Department of State, ausgefüllt mit persönlichen Dates des Vaters des BF

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Feststellungen:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest.

1.1.    Zum sozialen Hintergrund des BF:

Der BF führt den Namen XXXX , geboren am XXXX , ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken und Moslem sunnitischer Glaubensrichtung. Die Muttersprache des BF ist Dari. Er ist im erwerbsfähigen Alter und, abgesehen von geringfügigen psychischen Beeinträchtigungen, gesund.

Der BF wurde nach seinen Angaben in Afghanistan in Kabul geboren und wuchs auch in dieser Stadt auf, wo er zehn Jahre in die Schule ging. Danach arbeitet der BF bei der NATO, wo er überwiegend Reinigungsdienste durchführte. In den Jahren 2014 und 2015 arbeitete der BF als Autolackierer. In seinem Heimatland sind noch zahlreiche Verwandte, unter ihnen seine Eltern, sein Bruder und drei Schwestern. Diese leben zusammen mit seiner Frau und den beiden Kindern des BF in Kabul. In Afghanistan hat er auch noch zahlreiche weitschichtige Verwandte. Einige seiner Onkel und Tanten leben im Ausland (Deutschland, Schweden, Amerika) leben. Zu seiner in Afghanistan lebenden Familie hat der BF noch regelmäßigen Kontakt. In Österreich hat der BF keine Angehörigen. Der BF ist verheiratet und hat zwei Kinder.

Der BF ist daher in seinem Herkunftsstaat auch nicht vorbestraft und hatte keine nennenswerten Probleme mit Behörden und war dort politisch nicht aktiv. Der BF ist in Österreich unbescholten.

Der BF ist nach seiner Ausreise aus Afghanistan über den Iran und die Türkei, in Griechenland auf das Gebiet der EU eingereist. Am 11.07.2015 stellte er in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz.

Der BF ist nach den afghanischen Gepflogenheiten und der afghanischen Kultur sozialisiert, er ist mit den afghanischen Gepflogenheiten vertraut.

1.2.    Zu den Fluchtgründen des BF:

Der BF stellte am 11.07.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Seinen Antrag auf internationalen Schutz begründet der BF im Wesentlichen damit, dass er sein Heimatland verlassen habe, weil er von den Taliban bedroht worden wäre. Sein Schwager und dessen Frau hätten Kontakt zu den Taliban, sein Vater arbeite in Kabul für die Regierung. Da zwei nahe Verwandte von Regierungsseite getötet worden wäre, würden die Taliban glauben, sein Vater habe sie verraten. Er habe eine Drohanruf erhalten und sei aufgefordert seinen Vater zu verlassen und sich den Taliban anzuschließen. Sein Vater habe daraufhin seine Ausreise organisiert. Im Falle seiner Rückkehr habe er Angst um sein Leben.

Der BF wurde weder von Privatpersonen noch von den Taliban noch einer sonstiger regierungsfeindlichen Gruppierung entführt, festgehalten oder von diesen oder dieser bedroht noch wird er von den staatlichen Behörden gesucht. Der BF wurde seitens Privatpersonen, der Taliban oder einer sonstiger regierungsfeindlichen Gruppierung nicht aufgefordert mit diesen oder dieser zusammen zu arbeiten oder diese zu unterstützen. Der BF wurde von den Taliban oder einer sonstiger regierungsfeindlichen Gruppierung weder angesprochen noch angeworben noch sonst in irgendeiner Weise bedroht. Er hatte in Afghanistan keinen Kontakt zu den Taliban oder einer sonstiger regierungsfeindlichen Gruppierung, er wird von diesen oder dieser auch nicht gesucht.

Festgestellt wird, dass der BF in Afghanistan keiner landesweiten Verfolgung ausgesetzt ist.

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan drohen dem BF individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch Privatpersonen oder durch Mitglieder der Taliban oder durch eine sonstige regierungsfeindliche Gruppierung oder durch staatliche Behörden.

Dem BF droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan wegen seiner Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft der Sunniten oder zur Volksgruppe der Tadschiken oder der Zugehörigkeit zu einer sonstigen sozialen Gruppe konkret und individuell weder physische noch psychische Gewalt.

Es kann daher festgestellt werden, dass der BF keiner konkreten Verfolgung oder Bedrohung in Afghanistan ausgesetzt ist oder eine solche, im Falle seiner Rückkehr, zu befürchten hätte.

1.3.    Zur Situation im Fall einer Rückkehr des BF:

Afghanistan ist von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und den aufständischen Taliban betroffen. Die Sicherheitslage in Afghanistan verschlechtert sich seit Beginn des Abzuges der internationalen Truppen im Frühjahr 2021 stetig. Es kommt vermehrt zu Auseinandersetzungen zwischen den Regierungstruppen und den Taliban. Mit 15.08.2021 fiel die Hauptstadt Kabul an die Taliban. Im Zuge dessen verließ auch der afghanische Präsident das Land und die Taliban übernahmen den Präsidentenpalast.

Dem BF würde bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund der dort herrschenden allgemeinen schlechten Sicherheitslage und dem stetigen Vorstoß der Taliban mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen. Es kann somit eine Verletzung der körperlichen Unversehrtheit des BF aufgrund der instabilen Sicherheitslage und der damit einhergehenden willkürlichen Gewalt in Afghanistan nicht ausgeschlossen werden.

Dem BF ist es dementsprechend auch nicht möglich und nicht zumutbar sich im Rückkehrfall in einer der bisher als sicher geltenden Großstädte Afghanistans niederzulassen. Insbesondere nicht nachdem die Städte Herat und Kabul, neben vielen Provinzhauptstädten, nun ebenfalls von den Taliban eingenommen wurden und auch die Erreichbarkeit der Stadt Mazar-e Sharif immer schlechter wird. Auch ist es ihm in der Folge nicht möglich grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft befriedigen zu können bzw. ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.

Festgestellt wird, dass die aktuell vorherrschende Pandemie aufgrund des Corona-Virus kein Rückkehrhindernis darstellen würde. Der BF gehört mit Blick auf sein Alter und das Fehlen (chronischer) physischer Vorerkrankungen keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 an. Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde. Jedoch ist die diesbezügliche Situation mit der nun erfolgten Machtübernahme durch die Taliban nicht mehr einschätzbar bzw. der Umgang mit der Corona-Pandemie der Taliban ungewiss.

Im Falle einer Verbringung des BF in seinen Herkunftsstaat würde diesem daher auch ein reales Risiko einer Verletzung der Art. 2 oder 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 210/1958 (in der Folge EMRK), drohen. Der BF verfügt über ein überdurchschnittliches Maß an Anpassungs- und Selbsterhaltungsfähigkeit.

Der BF ist mit den kulturellen Gepflogenheiten und einer Sprache seines Herkunftsstaates als Muttersprache vertraut, weil er in einem afghanisch geprägten Umfeld aufgewachsen und er in Afghanistan zehn Jahre in die Schule gegangen ist und hat in seinem Heimatland auch Berufserfahrung als Reinigungsfachkraft und Autolackierer gesammelt.

1.4.    Zum Leben in Österreich:

Der BF reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und hält sich zumindest seit 11.07.2015 durchgehend in Österreich auf. Er ist nach seinem Antrag auf internationalen Schutz vom 11.07.2015 in Österreich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG durchgehend rechtmäßig aufhältig.

Der BF hat keine weiteren Familienangehörigen in Österreich. Beim BF finden sich keine besonderen Merkmale der Abhängigkeit zu sonstigen in Österreich lebenden Personen.

Der BF pflegt in Österreich freundschaftliche Beziehungen zu Österreichern und anderen Asylwerbern. Darüber hinaus konnten keine weiteren substanziellen Anknüpfungspunkte im Bereich des Privatlebens festgestellt werden. Der BF ist kein Mitglied von politischen Parteien und ist auch sonst nicht politisch aktiv. Neben den erwähnten Freundschaften ist er auch kein Mitglied in einem Verein.

Er besuchte auch zahlreiche Deutschkurse und konnte seine Sprachkenntnisse auch durch Teilnahmebestätigungen und in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG darlegen. Auch wenn der BF keine Prüfungszertifikate vorlegen hat können, ist aber davon auszugehen, dass er in der Lage ist, zumindest auf elementarer Ebene in einfachen, routinemäßigen Situationen des Alltags- und Berufslebens auf Deutsch zu kommunizieren.

Der BF lebt von der Grundversorgung und ist nicht selbsterhaltungsfähig. Er hat sich bei gemeinnützigen bzw. ehrenamtlichen Tätigkeiten engagiert und kann eine Einstellungszusage vorlegen. Eine wirtschaftliche Integration ist dem BF jedoch nicht gelungen.

Im Strafregister der Republik Österreich scheint keine strafrechtliche Verurteilung des BF auf. Er ist unbescholten.

1.5.    Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Aufgrund der im Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat des BF getroffen:

Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan, Stand 16.09.2021:

COVID-19

Letzte Änderung: 16.09.2021

Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO: https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports oder der Johns-Hopkins-Universität: https://gisanddata.maps.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.html#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.

Über die Auswirkungen der Machtübernahme der Taliban auf medizinische Versorgung, Impfraten und Maßnahmen gegen COVID-19 sind noch keine validen Informationen bekannt.

Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl UNOCHA 19.12.2020).

Die Zahl der täglich neu bestätigten COVID-19-Fälle in Afghanistan ist in den Wochen nach dem Eid al-Fitr-Fest Mitte Mai 2021 stark angestiegen und übertrifft die Spitzenwerte, die zu Beginn des Ausbruchs in dem Land verzeichnet wurden. Die gestiegene Zahl der Fälle belastet das Gesundheitssystem weiter. Gesundheitseinrichtungen berichten von Engpässen bei medizinischem Material, Sauerstoff und Betten für Patienten mit COVID-19 und anderen Krankheiten (USAID 11.6.2021).

Laut Meldungen von Ende Mai 2021 haben afghanische Ärzte Befürchtungen geäußert, dass sich die erstmals in Indien entdeckte COVID-19-Variante nun auch in Afghanistan verbreiten könnte. Viele der schwerkranken Fälle im zentralen Krankenhaus für COVID-Fälle in Kabul, wo alle 100 Betten belegt seien, seien erst kürzlich aus Indien zurückgekehrte Personen (BAMF 31.5.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021). Seit Ende des Ramadans und einige Wochen nach den Festlichkeiten zu Eid al-Fitr konnte wieder ein Anstieg der COVID-19 Fälle verzeichnet werden. Es wird vom Beginn einer dritten Welle gesprochen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021). Waren die [Anm.: offiziellen] Zahlen zwischen Februar und März relativ niedrig, so stieg die Anzahl zunächst mit April und dann mit Ende Mai deutlich an (WHO 4.6.2021; vgl. TN 3.6.2021, UNOCHA 3.6.2021). Es gibt in Afghanistan keine landeseigenen Einrichtungen, um auf die aus Indien stammende Variante zu testen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).

Die Lücken in der COVID-19-Testung und Überwachung bleiben bestehen, da es an Laborreagenzien für die Tests mangelt und die Dienste aufgrund der jüngsten Unsicherheit möglicherweise nur wenig in Anspruch genommen werden. Der Mangel an Testmaterial in den öffentlichen Labors kann erst behoben werden, wenn die Lieferung von 50.000 Testkits von der WHO im Land eintrifft (WHO 28.8.2021). Mit Stand 4.9.2021 wurden 153.534 COVID-19 Fälle offiziell bestätigt (WHO 6.9.2021). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 13.1.2021; vgl. UNOCHA 18.2.2021, RFE/RL 23.2.2021a).

Maßnahmen der ehemaligen Regierung und der Taliban

Das vormalige afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hatte verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. "Rapid Response Teams" (RRTs) besuchten Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte "Fix-Teams" waren in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.3.2021; vgl. WB 28.6.2020). Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.3.2021; vgl. IDW 17.6.2021).

Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China (BAMF 8.2.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).

Die Taliban erlaubten den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. TG 2.5.2020) und gaben im Januar 2021 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Millionen Dollar unterstützt wird. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion "unterstützen und erleichtern" (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021), wenn der Impfstoff in Abstimmung mit ihrer Gesundheitskommission und in Übereinstimmung mit deren Grundsätzen eingesetzt wird (NH 3.6.2020).

Mit Stand 2.6.2021 wurden insgesamt 626.290 Impfdosen verabreicht (WHO 4.6.2021; vgl UNOCHA 3.6.2021). Etwa 11% der Geimpften haben beide Dosen des COVID-19-Impfstoffs erhalten. Insgesamt gibt es nach wie vor große Bedenken hinsichtlich des gerechten Zugangs zu Impfstoffen für Afghanen, insbesondere für gefährdete Gruppen wie Binnenvertriebene, Rückkehrer und nomadische Bevölkerungsgruppen sowie Menschen, die in schwer zugänglichen Gebieten leben (UNOCHA 3.6.2021).

Gesundheitssystem und medizinische Versorgung

Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, Sauerstoff, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 11.6.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, HRW 13.1.2021). Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (BAMF 8.2.2021). Mit Mai 2021 wird vor allem von einem starken Mangel an Sauerstoff berichtet (TN 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).

In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (IOM 18.3.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, USAID 11.6.2021).

Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).

Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt

Die ohnehin schlechte wirtschaftliche Lage wurde durch die Auswirkungen der Pandemie noch verstärkt (AA 15.7.2021). COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 11.6.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021). Die kürzlich veröffentlichte IPC-Analyse schätzt, dass sich im April 2021 12,2 Millionen Menschen - mehr als ein Drittel der Bevölkerung - in einem Krisen- oder Notfall-Niveau der Ernährungsunsicherheit befinden (UNOCHA 3.6.2021; vgl. IPC 22.4.2021). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020).

Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 18.3.2021).

Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch lang anhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (UNOCHA 19.12.2020).

Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2021 um mehr als 5% geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019 (IOM 18.3.2021).

Frauen, Kinder und Binnenvertriebene

Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die ehemalige Regierung ordnete im März 2020 an, alle Schulen zu schließen (IOM 23.9.2020; vgl. ACCORD 25.5.2021), wobei diese ab August 2020 wieder stufenweise geöffnet wurden (ACCORD 25.5.2021). Angesichts einer zweiten COVID-19-Welle verkündete die Regierung jedoch Ende November die abermalige Schließung der Schulen (SIGAR 30.4.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021) wobei diese im Laufe des ersten Quartals 2021 wieder geöffnet wurden (SIGAR 30.4.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021, UNICEF 4.5.2021). 35 bis 60 Schüler lernen in einem einzigen Raum, weil es an Einrichtungen fehlt und die Richtlinien zur sozialen Distanzierung nicht beachtet werden (IOM 18.3.2021). Ende Mai 2021 wurden die Schulen erneut geschlossen (BAMF 31.5.2021) und und begannen mit Ende Juli langsam wieder zu öffnen (AAN 25.7.2021).

Kinder (vor allem Jungen), die von den Auswirkungen der Schulschließungen im Rahmen von COVID-19 betroffen waren, waren nun auch anfälliger für Rekrutierung durch die Konfliktparteien (IPS 12.11.2020; vgl. UNAMA 10.8.2020, ACCORD 25.5.2021). In den ersten Monaten des Jahres 2021 wurde im Durchschnitt eines von drei Kindern in Afghanistan außer Haus geschickt, um zu arbeiten. Besonders außerhalb der Städte wurde ein hoher Anstieg der Kinderarbeit berichtet (IOM 18.3.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021). Die Krise verschärft auch die bestehende Vulnerabilität von Mädchen betreffend Kinderheirat und Schwangerschaften von Minderjährigen (AA 15.7.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021). Die Pandemie hat auch spezifische Folgen für Frauen, insbesondere während eines Lockdowns, einschließlich eines erhöhten Maßes an häuslicher Gewalt (ACCORD 25.5.2021; vgl. AI 3.2021). Frauen und Mädchen sind durch den generell geringeren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusätzlich betroffen (AI 3.2021; vgl. HRW 13.1.2021, AAN 1.10.2020).

Binnenvertriebene sind besonders gefährdet, sich mit COVID-19 anzustecken, da sie bereits vorher anfällig waren, es keine Gesundheitseinrichtungen gibt, die Siedlungen überfüllt sind und sie nur begrenzten Zugang zu Wasser und sanitären Anlagen haben. Aufgrund ihrer schlechten Lebensbedingungen sind die vertriebenen Gemeinschaften nicht in der Lage, Präventivmaßnahmen wie soziale Distanzierung und Quarantäne zu praktizieren und sind daher anfälliger für die Ansteckung und Verbreitung des Virus (AI 3.2021).

Politische Lage

Letzte Änderung: 16.09.2021

Afghanistan war [vor der Machtübernahme der Taliban] ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 1.3.2021). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen (NSIA 1.6.2020) bis 39 Millionen Menschen (WoM o.D.).

Nachdem der bisherige Präsident Ashraf Ghani am 15.8.2021 aus Afghanistan geflohen war, nahmen die Taliban die Hauptstadt Kabul als die letzte aller großen afghanischen Städte ein (TAG 15.8.2021; vgl. JS 7.9.2021). Ghani gab auf seiner Facebook-Seite eine Erklärung ab, in der er den Sieg der Taliban vor Ort anerkannte (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Diese Erklärung wurde weithin als Rücktritt interpretiert, obwohl nicht klar ist, ob die Erklärung die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für einen Rücktritt des Präsidenten erfüllt. Amrullah Saleh, der erste Vizepräsident Afghanistans unter Ghani, beanspruchte in der Folgezeit das Amt des Übergangspräsidenten für sich (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Er ist Teil des Widerstands gegen die Taliban im Panjshir-Tal (REU 8.9.2021). Ein so genannter Koordinationsrat unter Beteiligung des früheren Präsidenten Hamid Karzai, Abdullah Abdullah (dem früheren Außenminister und Leiter der Delegation der vorigen Regierung bei den letztendlich erfolglosen Friedensverhandlungen) und Gulbuddin Hekmatyar führte mit den Taliban informelle Gespräche über eine Regierungsbeteiligung (FP 23.8.2021), die schließlich nicht zustande kam (TD 10.9.2021). Denn unabhängig davon, wer nach der afghanischen Verfassung das Präsidentenamt innehat, kontrollieren die Taliban den größten Teil des afghanischen Staatsgebiets (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Sie haben das Islamische Emirat Afghanistan ausgerufen und am 7.9.2021 eine neue Regierung angekündigt, die sich größtenteils aus bekannten Taliban-Figuren zusammensetzt (JS 7.9.2021).

Die Taliban lehnen die Demokratie und ihren wichtigsten Bestandteil, die Wahlen, generell ab (AJ 24.8.2021; vgl. AJ 23.8.2021). Sie tun dies oftmals mit Verweis auf die Mängel des demokratischen Systems und der Wahlen in Afghanistan in den letzten 20 Jahren, wie auch unter dem Aspekt, dass Wahlen und Demokratie in der vormodernen Periode des islamischen Denkens, der Periode, die sie als am authentischsten "islamisch" ansehen, keine Vorläufer haben. Sie halten einige Methoden zur Auswahl von Herrschern in der vormodernen muslimischen Welt für authentisch islamisch - zum Beispiel die Shura Ahl al-Hall wa'l-Aqd, den Rat derjenigen, die qualifiziert sind, einen Kalifen im Namen der muslimischen Gemeinschaft zu wählen oder abzusetzen (AJ 24.8.2021). Ende August 2021 kündigten die Taliban an, eine Verfassung auszuarbeiten (FA 23.8.2021), jedoch haben sie sich zu den Einzelheiten des Staates, den ihre Führung in Afghanistan errichten möchte, bislang bedeckt gehalten (AJ 24.8.2021; vgl. ICG 24.8.2021, AJ 23.8.2021).

Im September 2021 kündigten sie die Bildung einer "Übergangsregierung" an. Entgegen früherer Aussagen handelt es sich dabei nicht um eine "inklusive" Regierung unter Beteiligung unterschiedlicher Akteure, sondern um eine reine Talibanregierung. Darin vertreten sind Mitglieder der alten Talibanelite, die schon in den 1990er Jahren zentrale Rollen besetzte, ergänzt mit Taliban-Führern, die im ersten Emirat noch zu jung waren, um zu regieren. Die allermeisten sind Paschtunen. Angeführt wird die neue Regierung von Mohammad Hassan Akhund. Er ist Vorsitzender der Minister, eine Art Premierminister. Akhund ist ein wenig bekanntes Mitglied des höchsten Taliban-Führungszirkels, der sogenannten Rahbari-Shura, besser bekannt als Quetta-Shura (NZZ 7.9.2021; vgl. BBC 8.9.2021a). Einer seiner Stellvertreter ist Abdul Ghani Baradar, der bisher das politische Büro der Taliban in Doha geleitet hat und so etwas wie das öffentliche Gesicht der Taliban war (NZZ 7.9.2021), ein weiterer Stellvertreter ist Abdul Salam Hanafi, der ebenfalls im politischen Büro in Doha tätig war (ORF 7.9.2021). Mohammad Yakub, Sohn des Taliban-Gründers Mullah Omar und einer der Stellvertreter des Taliban-Führers Haibatullah Akhundzada (RFE/RL 6.8.2021), ist neuer Verteidigungsminister. Sirajuddin Haqqani, der Leiter des Haqqani-Netzwerks, wurde zum Innenminister ernannt. Das Haqqani-Netzwerk wird von den USA als Terrororganisation eingestuft. Der neue Innenminister steht auf der Fahndungsliste des FBI und auch der Vorsitzende der Minister, Akhund, befindet sich auf einer Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrates (NZZ 7.9.2021).

Ein Frauenministerium findet sich nicht unter den bislang angekündigten Ministerien, auch wurden keine Frauen zu Ministerinnen ernannt [Anm.: Stand 7.9.2021]. Dafür wurde ein Ministerium für "Einladung, Führung, Laster und Tugend" eingeführt, das die Afghanen vom Namen her an das Ministerium "für die Förderung der Tugend und die Verhütung des Lasters" erinnern dürfte. Diese Behörde hatte während der ersten Taliban-Herrschaft von 1996 bis 2001 Menschen zum Gebet gezwungen oder Männer dafür bestraft, wenn sie keinen Bart trugen (ORF 7.9.2021; vgl. BBC 8.9.2021a). Die höchste Instanz der Taliban in religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten (RFE/RL 6.8.2021), der "Amir al Muminin" oder "Emir der Gläubigen" Mullah Haibatullah Akhundzada (FR 18.8.2021) wird sich als "Oberster Führer" Afghanistans auf religiöse Angelegenheiten und die Regierungsführung im Rahmen des Islam konzentrieren (NZZ 8.9.2021). Er kündigte an, dass alle Regierungsangelegenheiten und das Leben in Afghanistan den Gesetzen der Scharia unterworfen werden (ORF 7.9.2021).

Bezüglich der Verwaltung haben die Taliban Mitte August 2021 nach und nach die Behörden und Ministerien übernommen. Sie riefen die bisherigen Beamten und Regierungsmitarbeiter dazu auf, wieder in den Dienst zurückzukehren, ein Aufruf, dem manche von ihnen auch folgten (AZ 17.8.2021; vgl. ICG 24.8.2021). Es gibt Anzeichen dafür, dass einige Anführer der Gruppe die Grenzen ihrer Fähigkeit erkennen, den Regierungsapparat in technisch anspruchsvolleren Bereichen zu bedienen. Zwar haben die Taliban seit ihrem Erstarken in den vergangenen zwei Jahrzehnten in einigen ländlichen Gebieten Afghanistans eine so genannte Schattenregierung ausgeübt, doch war diese rudimentär und von begrenztem Umfang, und in Bereichen wie Gesundheit und Bildung haben sie im Wesentlichen die Dienstleistungen des afghanischen Staates und von Nichtregierungsorganisationen übernommen (ICG 24.8.2021).

Bis zum Sturz der alten Regierung wurden ca. 75% (ICG 24.8.2021) bis 80% des afghanischen Staatsbudgets von Hilfsorganisationen bereitgestellt (BBC 8.9.2021a), Finanzierungsquellen, die zumindest für einen längeren Zeitraum ausgesetzt sein werden, während die Geber die Entwicklung beobachten (ICG 24.8.2021). So haben die EU und mehrere ihrer Mitgliedsstaaten in der Vergangenheit mit der Einstellung von Hilfszahlungen gedroht, falls die Taliban die Macht übernehmen und ein islamisches Emirat ausrufen sollten, oder Menschen- und Frauenrechte verletzen sollten. Die USA haben rund 9,5 Milliarden US-Dollar an Reserven der afghanischen Zentralbank sofort [nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul] eingefroren, Zahlungen des IWF und der EU wurden ausgesetzt (CH 24.8.2021). Die Taliban verfügen weiterhin über die Einnahmequellen, die ihren Aufstand finanzierten, sowie über den Zugang zu den Zolleinnahmen, auf die sich die frühere Regierung für den Teil ihres Haushalts, den sie im Inland aufbrachte, stark verließ. Ob neue Geber einspringen werden, um einen Teil des Defizits auszugleichen, ist noch nicht klar (ICG 24.8.2021).

Die USA zeigten sich angesichts der Regierungsbeteiligung von Personen, die mit Angriffen auf US-Streitkräfte in Verbindung gebracht werden, besorgt und die EU erklärte, die islamistische Gruppe habe ihr Versprechen gebrochen, die Regierung "integrativ und repräsentativ" zu machen (BBC 8.9.2021b). Deutschland und die USA haben eine baldige Anerkennung der von den militant-islamistischen Taliban verkündeten Übergangsregierung Anfang September 2021 ausgeschlossen (BZ 8.9.2021). China und Russland haben ihre Botschaften auch nach dem Machtwechsel offen gehalten (NYT 1.9.2021).

Vertreter der National Resistance Front (NRF) haben die internationale Gemeinschaft darum gebeten, die Taliban-Regierung nicht anzuerkennen (BBC 8.9.2021b). Ahmad Massoud, einer der Anführer der NRF, kündigte an, nach Absprachen mit anderen Politikern eine Parallelregierung zu der von ihm als illegitim bezeichneten Talibanregierung bilden zu wollen (IT 8.9.2021).

Friedensverhandlungen, Abzug der internationalen Truppen und Machtübernahme der Taliban

Letzte Änderung: 16.09.2021

2020 fanden die ersten ernsthaften Verhandlungen zwischen allen Parteien des Afghanistan-Konflikts zur Beendigung des Krieges statt (HRW 13.1.2021). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 7.5.2020; vgl. NPR 6.5.2020, EASO 8.2020a) - die damalige afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses (EASO 8.2020a). Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthielt das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nicht-amerikanischen NATO-Truppen sollten abgezogen werden (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020; REU 6.10.2020). Dafür hatten die Taliban beispielsweise zugesichert, zu verhindern, dass "irgendeiner ihrer Mitglieder, andere Individuen oder Gruppierungen, einschließlich Al-Qaida, den Boden Afghanistans nutzt, um die Sicherheit der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten zu bedrohen" (USDOS 29.2.2020).

Die Verhandlungen mit den USA lösten bei den Taliban ein Gefühl des Triumphs aus. Indem sie mit den Taliban verhandelten, haben die USA sie offiziell als politische Gruppe und nicht mehr als Terroristen anerkannt [Anm.: das mit den Taliban verbundene Haqqani-Netzwerk wird von den USA mit Stand 7.9.2021 weiterhin als Terrororganisation eingestuft (NZZ 7.9.2021)]. Gleichzeitig unterminierten die Verhandlungen aber auch die damalige afghanische Regierung, die von den Gesprächen zwischen den Taliban und den USA ausgeschlossen wurde (VIDC 26.4.2021).

Im September 2020 starteten die Friedensgespräche zwischen der damaligen afghanischen Regierung und den Taliban in Katar (REU 6.10.2020; vgl. AJ 5.10.2020, BBC 22.9.2020). Der Regierungsdelegation gehörten nur wenige Frauen an, aufseiten der Taliban war keine einzige Frau an den Gesprächen beteiligt. Auch Opfer des bewaffneten Konflikts waren nicht vertreten, obwohl Menschenrechtsgruppen dies gefordert hatten (AI 7.4.2021).

Die Gewalt ließ jedoch nicht nach, selbst als afghanische Unterhändler zum ersten Mal in direkte Gespräche verwickelt wurden (AJ 5.10.2020; vgl. AI 7.4.2021). Insbesondere im Süden, herrscht trotz des Beginns der Friedensverhandlungen weiterhin ein hohes Maß an Gewalt, was weiterhin zu einer hohen Zahl von Opfern unter der Zivilbevölkerung führt (UNGASC 9.12.2020; vgl. AI 7.4.2021).

Mitte Juli 2021 kam es zu einem weiteren Treffen zwischen der

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten