TE Bvwg Erkenntnis 2021/9/27 W257 2185126-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 27.09.2021
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Entscheidungsdatum

27.09.2021

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28

Spruch


W257 2185126-1/14E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Herbert MANTLER, MBA als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die BBU GmbH – Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen, Leopold-Moses-Gasse 4, 1020 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Kärnten, vom 17.01.2018, Zahl: XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 06.07.2021, zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides als unbegründet abgewiesen.

II.      Der Beschwerde wird hinsichtlich der Spruchpunkte II. bis IV. des angefochtenen Bescheides stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan erteilt.

III.    Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für ein Jahr erteilt.

IV. Die Spruchpunkte III. bis VI. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I.       Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer (in der Folge kurz „BF“), ein afghanischer Staatsbürger, reiste illegal ins österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 26.11.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Im Rahmen der am 26.11.2015 erfolgten Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der BF an, dass er aus der Provinz Kabul stamme und er sich bis zuletzt dort aufgehalten habe. Er verfüge über eine zwölfjährige Schulbildung und eine zweijährige universitäre Ausbildung. Er habe in Afghanistan Berufserfahrung als Angestellter gesammelt. Seine Muttersprache sei Farsi/Dari. Er sei Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken und bekenne sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Er sei ledig und habe keine Kinder. In seinem Heimatland würden sich in Kabul noch seine Eltern, seine drei Brüder und seine vier Schwestern aufhalten. In Österreich habe er keine Angehörigen.

Zu seinem Fluchtgrund befragt, führte der BF aus, dass er sein Heimatland verlassen habe, weil er mit seinem Bruder zusammen für eine NGO gearbeitet habe, die Frauen unterstütze und diese auch in Entwicklungsprojekte aufgenommen habe. Sie wären von den Taliban bedroht worden, wobei sogar ihre Autos angegriffen worden wären. Aus diesem Grund habe er sein Heimatland verlassen. Im Falle seiner Rückkehr habe er Angst vor den Taliban.

3. Bei der Einvernahme durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge kurz „BFA“) am 24.10.2017 gab der BF an, dass er gesund sei und derzeit keine Medikamente benötige. Sein Geburtsdatum sei nicht richtig protokolliert worden. Er könne die Kopie einer englischsprachigen Tazkira, die seine Eltern im Winter 2016 ausstellen lassen haben, vorlegen.

Er sei afghanischer Staatsbürger, Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken und Moslem, sunnitischer Glaubensrichtung. Er sei im Dorf XXXX , Distrikt XXXX , Provinz Parwan geboren worden. Aufgewachsen sei der BF jedoch in der Stadt Kabul. Er sei ledig und habe keine Kinder. In seinem Heimatland würden noch seine Eltern, seine vier Schwestern und zwei Brüder leben. Ein weiterer Bruder sei in Indien aufhältig. Er sei mit seiner Familie in regelmäßigem Kontakt. In Afghanistan habe er noch weitschichtige Verwandte, mit denen er allerdings nicht in Kontakt sei. Er habe keine Verwandten in Österreich. Österreich sei sein Zielland gewesen. Danach legte der BF ein Konvolut afghanischer Urkunden und Dokumente vor. Er habe in der Finanzabteilung einer Einrichtung für junge Witwen gearbeitet. Es seien Kurse, Ausbildungen und zinsenlose Kredite angeboten worden, um diesen Frauen wieder die Rückkehr in die Gesellschaft zu ermöglichen. Diese Organisation würde heute noch Bestand haben. Im Drohbrief der Taliban stehe, dass der BF die Arbeit beenden solle. Den Brief habe er vor etwa zwei Jahren erhalten. Seine Ausreise aus Afghanistan sei dann ein bis eineinhalb Monate später erfolgt. Auf Nachfrage, das Datums des Erhalts des Briefes zu nennen, vermeinte der BF, dass er dies nicht könne, weil die Reise nach Europa anstrengend gewesen sei. Er selbst sei in der Provinz Parwan geboren worden und mit drei Jahren nach Kabul gezogen. Dort habe er die Schule besucht, maturiert und vier Semester Bauwesen studiert. Er habe in Afghanistan immer bei seinen Eltern gelebt. Bei der zuvor genannten NGO habe er von April 2014 bis September 2015 gearbeitet. Seine Flucht habe schlepperunterstützt über Pakistan und den Iran begonnen.

Zu seinem Fluchtgrund befragt, führte der BF im Wesentlichen aus, dass er sein Heimatland verlassen habe, weil er mit seinem Bruder zusammen bei einer landesweit agierenden NGO gearbeitet habe. Sie wären in der Weiterleitung von Projekten an 43 Zweigstellen tätig gewesen. Der Staat hätte diese Projekte, die Frauen unterstützt und weitergebildet hätten, finanziert. Sein Bruder sei der stellvertretende Leiter gewesen. Sie hätten auch Kurse geleitet und wären bei diesen anwesend gewesen. Sie hätten mehrmals Drohbriefe und Drohanrufe bekommen, damit sie mit dieser Tätigkeit aufhören, widrigenfalls sie getötet werden. Als ihr Chauffeur nach einem Raketenangriff im Krankenhaus gestorben sei, habe ihm die Mutter verboten, dass er weiterarbeite und legte ihm nahe, das Land zu verlassen. Sein Bruder habe eine Woche vor ihm Afghanistan verlassen. Der BF habe seinen Vorgesetzten nicht von seiner Ausreise erzählt. Er selbst sei in der Finanzabteilung und der Projektorganisation tätig. Diese Projekte hätten in den größeren Städten stattgefunden.

Den ersten Drohbrief habe er eineinhalb Monate vor seiner Ausreise erhalten. Danach sei er nur mehr mit verwandtschaftlicher Begleitung außer Haus gegangen. Die Drohanrufe hätte sein Bruder immer im Büro entgegengenommen. Es wären insgesamt drei Briefe in kürzeren Abständen binnen dieser eineinhalb Monate gekommen, wobei sich der zweite Brief persönlich an den Bruder des BF und den BF gerichtet hätte.

Sein Chauffeur sei auch in dieser Zeit getötet worden. Nach dem Erhalt des ersten Drohbriefes habe er nicht mehr gearbeitet. Von den Taliban sei er nicht mehr kontaktiert worden, weil er sein Handy ausgeschalten gehabt habe. Die Firma sei danach in Konkurs gegangen. Bereits wie er noch in Afghanistan gewesen wäre, sei die Auftragslage sehr schlecht gewesen. Wie es mit der NGO nach seiner Ausreise weitergegangen sei, wisse er nicht. Im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan würde der BF von den Taliban in jedem Landesteil gefunden werden und die Regierung könne ihm keine Sicherheit garantieren. Die Taliban hätten genügend Personal, um ihn ausfindig zu machen und wären wie wilde Tiere, die einen töten würden. Er sei wegen seiner Tätigkeit für die NGO besonders gefährdet. Sein Bruder habe das Land vor ihm verlassen und danach hätten seine Eltern den BF ins Ausland geschickt. An die afghanischen Behörden habe er sich nicht gewandt, weil diese allesamt Taliban wären.

In Afghanistan habe er keine Probleme aufgrund seiner Volksgruppen- oder Religionszugehörigkeit gehabt. Er habe in seinem Heimatland weder an Kampfhandlungen oder Demonstrationen teilgenommen. Auf eine Ausfolgung der Länderberichte und Abgabe einer schriftlichen Stellungnahme dazu verzichtete der BF nach Erörterung ausdrücklich. Er stimmte einer etwaigen Erörterung des Sachverhaltes in seinem Heimatland zu.

In Österreich wolle er die Sprache lernen und arbeiten. Derzeit besuche er einen Deutschkurs. Er gehe aber nicht in die Schule und sei kein Mitglied in einem Verein.

4. In einer am 15.12.2017 erstellten Anfragebeantwortung der Staatendokumentation wurde festgehalten, dass es die vom BF angeführte Organisation in den Jahren von 1997 bis 2017 operiert habe und diese dann in einem Programm der UN aufgegangen sei. Diese habe sich mit der Unterstützung benachteiligter Frauen befasst und hatte eine Frauenrechtsaktivistin als Direktorin. Eine Internetrecherche ergab, dass der Bruder des BF wohl dort beschäftigt gewesen sei. Anhaltspunkte für eine Tätigkeit des BF ergab die Recherche nicht, jedoch sei es aber nicht auszuschließen, dass der BF dort tatsächlich gearbeitet habe.

5. Mit Bescheid vom 17.01.2018 wies das BFA den Antrag des BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.). Ebenso wurde Antrag des BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.). Gemäß § 57 AsylG 2005 wurde dem BF kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt (Spruchpunkt III.). Weiters wurde gegen den BF gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 in Verbindung mit § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des BF 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.). Begründend wurde festgehalten, dass der BF in Bezug auf seine persönlichen Daten und die Tätigkeit seines Bruders bei einer NGO in Afghanistan glaubhaft gewesen sei. Das Fluchtvorbringen über das Verlassen Afghanistans wegen einer Bedrohung durch die Taliban sei hingegen nicht glaubhaft gewesen. Die vorgelegten Drohbriefe hätten zum Inhalt gehabt, dass der BF seine Tätigkeit bei der NGO niederlegen hätte sollen. Es sei hierbei nicht glaubwürdig, dass der BF danach nicht gleich verlassen habe und noch selbst einkaufen gegangen sei. Ebenso sei der BF nie persönlich von den Taliban bedroht worden oder hätten die Taliban sich bei seinen Verwandten nach ihm erkundigt. Da der BF die Arbeit in dieser NGO beendet hätte und diese NGO mittlerweile auch nicht mehr existieren würde, würde dies belegen, dass der BF weder zum Zeitpunkt der Ausreise noch im Falle einer Rückkehr des BF einer asylrechtlich relevanten Verfolgung in Afghanistan ausgesetzt (gewesen) sei.

Im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan habe der BF nicht glaubhaft darlegen können, dass ihn die Taliban aufspüren können würde. Der BF verfüge sogar über dichtmaschige familiärere Anknüpfungspunkte in den Provinzen Parwan und Kabul, sodass er von seiner Familie jedenfalls unterstützt werden würde. Eine Ansiedlung in Kabul sei ihm jedenfalls zumutbar. Eine Gefahrenlage im Sinne des Art. 3 EMRK würde beim BF im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan nicht vorliegen. Es bestünde daher im Falle seiner Rückkehr auch keine reale Gefahr, die einer Zuerkennung von subsidiärem Schutz rechtfertigen würde. Der BF sei jung, gesund und arbeitsfähig sowie in Afghanistan bzw. in einem afghanischen Familienumfeld sozialisiert worden. Er verfüge auch über einen Schulabschluss mit Matura und habe vier Semester lang studiert. Hinzu komme beim BF noch seine Arbeitserfahrung. Betreffend den Ausspruch einer Rückkehrentscheidung würden die öffentlichen Interessen überwiegen.

6. Mit Verfahrensanordnung vom 17.01.2018 wurde dem BF gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG der Verein Menschenrechte Österreich für das Beschwerdeverfahren als Rechtsberatung zur Seite gestellt. Ebenso wurde mit Verfahrensanordnung vom 17.01.2018 ein Rückkehrberatungsgespräch gemäß § 52a Abs. 2 BFA-VG angeordnet.

7. Gegen den Bescheid des BFA richtete sich die am 30.01.2018 beim BFA eingelangte und fristgerecht durch seine rechtsfreundliche Vertretung in vollem Umfang erhobene Beschwerde und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragt. In dieser wurde festgehalten, dass der BF sein Vorbringen plausibel geschildert und am Verfahren mitgewirkt habe. Er habe auch einen Drohbrief vorlegen und glaubhaft darlegen können, dass er sofort nach der Bedrohung die Tätigkeit für diese NGO eingestellt habe und er wenige Wochen nach der Bedrohung das Land aus wohlbegründeter Furcht verlassen habe. Daher habe sich die belangte Behörde nicht ausreichend mit dem Vorbringen des BF auseinandergesetzt, mangelhafte Ermittlungsschritte sowie eine fehlerhafte Beweiswürdigung getätigt.

Aufgrund der individuellen Verhältnisse des BF und der schlechten Sicherheitslage in Afghanistan, sei dem BF auch keine Rückkehr nach Kabul zumutbar. Die aktuelle Sicherheitslage in Afghanistan würde jedenfalls, aufgrund der langen Abwesenheit aus Afghanistan, ein Rückkehrhindernis für den BF darstellen.

8. Die gegenständliche Beschwerde und der bezugshabende Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht (in der Folge kurz „BVwG“) am 31.01.2018 vom BFA vorgelegt, wobei die belangte Behörde auf die Durchführung und Teilnahme an einer mündlichen Verhandlung verzichte habe.

9. Mit Schriftsatz vom 06.07.2021 legte die Rechtsvertretung des BF, nunmehr die BBU GmbH, ein Konvolut an integrationsbegründenden Unterlagen vor und führte aus, dass die Taliban auch noch heute gezielt gegen Personen, die sich für die Rechte von afghanischen Frauen eingesetzt hätten, suchen würden. Ebenso sei zu bedenken, dass die Sicherheitslage aufgrund des baldigen Abzugs der internationalen Truppen aus Afghanistan derzeit nicht vorhersehbar und instabil sei. Bei einer Machterlangung der Taliban würde der BF als politischer Gegner betrachtet werden. Aufgrund seines langen Aufenthalts im Westen wäre der BF nicht nur bei den Taliban, sondern auch beim Rest der Bevölkerung stigmatisiert. Der soziale Ausschluss des BF aus der Gesellschaft würde bei ihm ein Vulnerabilitätsmerkmal darstellen, dass zur Gewährung von subsidiärem Schutz führen müsse.

10. Das BVwG führte in der gegenständlichen Rechtssache am 06.07.2021, im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari, eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der der BF und seine Rechtsvertretung persönlich teilnahmen. Ein Vertreter der belangten Behörde verzichtete, wie bereits in der Beschwerdevorlage angekündigt, auf eine Teilnahme an der mündlichen Verhandlung.

Der BF gab an, dass gesund und in der Lage der Verhandlung folgen zu können. Er berief sich darauf, dass er im Verlauf des bisherigen Verfahrens immer die Wahrheit gesagt habe, jedoch habe er bei der Erstbefragung den Dolmetscher nicht gut verstanden. Er verzichtete nach eingehender Belehrung auf die Verlesung des Aktes und führte an, dass er im Jahr 1994 geboren worden sei, obgleich die von ihm vorgelegte Tazkira XXXX als Geburtsjahr ausweisen würde.

Er sei afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppen der Tadschiken und gehöre der sunnitischen Glaubensrichtung des Islam an. Er sei afghanischer Staatsangehöriger, in Afghanistan in der Parwan, im Distrikt XXXX , im Dorf XXXX geboren worden und in Kabul aufgewachsen. Er habe von 2000 bis 20013 die Schule gesucht und sei danach eineinhalb Jahre auf der Universität gewesen. Von April 2014 bis Ende September 2015 habe der BF bei einer NGO, neben der universitären Ausbildung, gearbeitet.

Die NGO habe sich um Projekte für Frauen gekümmert. Die Frauen hätten dadurch besser durch das Leben finden und Bildungschancen erhalten sollen. Ein Projekt habe zwei Monate gedauert.

Zuerst habe die NGO einen Drohbrief erhalten, dann sei einer an den BF und seinen Bruder adressiert worden. Das dritte Mal habe er ein Drohbrief erhalten, der persönlich an ihn adressiert gewesen sei. Er habe im Finanzbereich gearbeitet, aber auch Projekte organisiert. Diese seien von der Regierung aufgetragen worden und hätten zumeist in Kabul oder Balkh stattgefunden. Sie hätten Damen anheuern müssen, die diese Projekte schließlich mit den Frauen durchgeführt hätten. Es sei in Dörfer gefahren worden und die Abwicklung mit den Personen abgesprochen worden. Dem Grunde nach hätten sie die Frauen geschult. Die Zentrale sei in Kabul gewesen und die Projekte seien vor Ort in einem provisorischen Büro durchgeführt worden. Es wurde der Umgang mit Kühen, Teppichknüpfen und das Erwirtschaften von Geld gelehrt. Die Regierung habe hierzu auch zinsenlose Mikrokredite vergeben. Der Dolmetscher habe beim BFA vergessen zu übersetzten, dass die Taliban gedacht hätten, dass sie die Frauen gegen sie schulen würden und sie zum Christentum bekehren hätten wollen. Aus diesem Grund seien auch die Ermahnungen gekommen. Der Chauffeur sei bei einem Raketenangriff verstorben. Seine Leiche habe man dennoch in Spital gebracht, wo er offiziell verstorben sei. Danach habe seine Familie gemeint, dass sein Leben wichtiger sei als Geld und ihn nicht mehr arbeiten und außer Haus gehen lassen. Sein Bruder sei zwei Tage vor ihm nach Indien ausgereist. Die Taliban wären sehr sensibel, wenn es um Frauen und das Christentum gehen würde.

In den Drohbriefen sei gestanden, dass der BF und sein Bruder die Arbeit zu beenden hätten. Sie wären skeptisch, wenn sich viele Frauen in einem Büro ansammeln würden. Daher sei auch der Chauffeur getötet worden. Die Taliban würden über die NGOs so denken, weil es eine geben würde, die in Afghanistan auch für das Christentum missionieren würde. Die meisten Frauen wären Analphabetinnen gewesen und deren Männer wären größtenteils bei den Taliban gewesen. So hätten die Taliban dies leicht in Erfahrung bringen können. Er sehe einen Zusammenhang mit der Angst der Taliban, dass sie die Frauen bekehren würden und dem Raketenangriff auf den Chauffeur.

Auf Nachfrage, warum der BF dann keinen Drohbrief hat vorlegen können, wo die christliche Missionierung beinhaltet sei, vermeinte er, dass er zahlreiche Dokumente auf der Reise verloren hätte.

Den ersten Drohbrief habe er eineinhalb Monate vor der Beendigung seiner Arbeit erhalten. Dies sei im Jahr 2015 gewesen, wobei der BF aber nicht wisse, in welchem Monat dies gewesen sei. Diesen ersten Drohbrief habe er bereits verloren. Er sei auf der Scheibe des Autos abgelegt worden. Er habe nach der Tötung des Chauffeurs die Arbeit beendet. Über den ersten Drohbrief, der an die NGO gerichtet gewesen wäre, habe er sich mit niemandem unterhalten. Den zweiten Drohbrief habe sein Bruder erhalten. Der dritte Drohbrief sei dann an ihn persönlich adressiert worden. Ein genaues Datum, wann der Chauffeur getötet worden sei, könne er nicht nennen, jedoch sie dieser Vorfall fluchtauslösend gewesen. Wo genau er umgebracht worden sei, wisse er nicht mehr. Er habe diesen aber noch im Spital besucht, jedoch sei er schon tot gewesen. Er wisse auch nicht mehr, wo er gewesen sei, wie er die Nachricht seines Todes erhalten hätte.

Auf Nachfrage, dass es ungewöhnlich sei, dass jemand mit einer Rakete getötet werde, vermeinte der BF, dass die Taliban nichts dem Zufall überlassen würden und dies aus ihrer Sicht wegen der Bedrohung durch das Christentum jedenfalls gerechtfertigt gewesen sei. Der BF vermeinte auf Nachfrage, dass der Chauffeur total zerfetzt gewesen sei, ihn die Polizei aber noch ins Krankenhaus gebracht habe. Dort habe er seine letzten Atemzüge gemacht. Die Motivation für seine Tätigkeit sei es gewesen, dass er alleinstehenden Frauen ohne Ehemännern hätte helfen können. Die Taliban würden noch immer gegen ihn sein, weil diese ihn als Christen und Missionar ansehen würden.

Auf Nachfrage, dass sich der BF über Ablebenszeitpunkt des BF widersprochen habe, vermeinte dieser, dass es in Afghanistan üblich sei, dass die Polizei Personen ins Krankenhaus überstellen lassen, um dort die Identität feststellen zu können. Als er den Chauffeur gesehen habe, sei dieser bereits tot gewesen.

Seine Familienangehörigen würden, abgesehen von seinem Bruder, noch in Afghanistan leben. Es hätten aber nur der BF und sein Bruder Probleme mit den Taliban gehabt, wodurch es keine Racheaktionen gegen die sonstigen Angehörigen gegeben hätte. Mit den Taliban habe er keinen persönlichen Kontakt gehabt, weil diese ihn sonst sofort töten würden.

Er sei etwas weniger als zwei Wochen nach der Tötung des Chauffeurs aus Afghanistan geflohen. Nur wegen der Drohbriefe hätte er Afghanistan nicht verlassen, weil ihm die Aufgabe bei der NGO zu wichtig gewesen wäre. Wenn er in Afghanistan nicht bedroht werden würde, dann würde er dort leben können.

In Österreich lebe er alleine in einer kleinen Mietwohnung. Er helfe einer Frau beim Austragen von Zeitungen und erhalte dafür monatlich 400,- Euro. Er über seine selbstständige Tätigkeit aus. Er habe den Sprachkurs auf dem Niveau A2 absolviert. Er besuche eine Abendschule und wolle ab September den Pflichtschulabschluss nachholen. Er werde auch im Bälde ein Empfehlungsschreiben vorlegen. Ansonsten führe er auch noch gemeinnützige Tätigkeiten durch und möchte in naher Zukunft gänzlich selbsterhaltungsfähig sein.

Der Rechtsvertretung legte einen aktuellen Zeitungsbericht über die Lage in Afghanistan vor und einen Bericht aus dem Jahr 2016 über Drohbriefe. Es wurde festgehalten, dass man sich mit dem BF ausreichend auf Deutsch unterhalten könne. Danach wurde die mündliche Verhandlung geschlossen. Gemäß § 29 Abs. 3 VwGVG entfiel die Verkündung der Entscheidung.

11. Der BF legte im Lauf des Verfahrens folgende Dokumente vor:

?        Kopie einer afghanischen Tazkira

?        Afghanisches Maturazeugnis

?        Afghanische Sprachzertifikate (Englisch)

?        Afghanische Bestätigungen über Computerkurse

?        Afghanische Arbeitsbestätigung

?        Drohbrief der Taliban

?        Anmelde- und Kursbesuchsbestätigungen über Deutschkurse (Niveau A1 und A2)

?        Mietvertrag

?        Bestätigung über Vorbereitungslehrgang zum Pflichtschulabschluss

?        Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe über die Drohbriefe der Taliban

?        Zeitungsartikel von Juli 2021 über die aktuelle Sicherheitslage in Afghanistan

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Feststellungen:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest.

1.1.    Zum sozialen Hintergrund des BF:

Der BF führt den Namen XXXX , geboren am XXXX , ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken und Moslem sunnitischer Glaubensrichtung. Die Muttersprache des BF ist Dari. Er ist im erwerbsfähigen Alter und gesund.

Der BF wurde nach seinen Angaben in Afghanistan im Dorf XXXX , Distrikt XXXX , Provinz Parwan geboren und wuchs in Kabul auf, wo er zwölf Jahre in die Schule ging. Danach studierte in Kabul eineinhalb Jahre an einer Universität. Zeitgleich zu seinem Studium sammelte er Berufserfahrung als Mitarbeiter in einer NGO. In seinem Heimatland sind noch zahlreiche Verwandte, unter ihnen seine Eltern, seine vier Schwestern und zwei Brüder, aufhältig. Ein weiterer Bruder lebt in Indien. Zu diesen hat der BF noch regelmäßigen Kontakt. In Österreich hat der BF keine Angehörigen. Der BF ist ledig und hat keine Kinder.

Der BF ist daher in seinem Herkunftsstaat auch nicht vorbestraft und hatte keine nennenswerten Probleme mit Behörden und war dort politisch nicht aktiv. Der BF ist in Österreich unbescholten.

Der BF ist nach seiner Ausreise aus Afghanistan über Pakistan, den Iran und die Türkei, in Griechenland auf das Gebiet der EU eingereist. Am 26.11.2015 stellte er in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz.

Der BF ist nach den afghanischen Gepflogenheiten und der afghanischen Kultur sozialisiert, er ist daher mit den afghanischen Gepflogenheiten vertraut.

1.2.    Zu den Fluchtgründen des BF:

Der BF stellte am 26.11.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Seinen Antrag auf internationalen Schutz begründet der BF im Wesentlichen damit, dass er sein Heimatland verlassen habe, weil er mit seinem Bruder zusammen für eine NGO gearbeitet habe, die Frauen unterstütze und diese auch in Entwicklungsprojekte aufgenommen habe. Sie wären von den Taliban bedroht worden, wobei sogar ihre Autos angegriffen worden wären. Aus diesem Grund habe er sein Heimatland verlassen. Im Falle seiner Rückkehr habe er Angst vor den Taliban.

Der BF wurde weder von Privatpersonen noch von den Taliban noch einer sonstiger regierungsfeindlichen Gruppierung entführt, festgehalten oder von diesen oder dieser bedroht noch wird er von den staatlichen Behörden gesucht. Der BF wurde seitens Privatpersonen, der Taliban oder einer sonstiger regierungsfeindlichen Gruppierung nicht aufgefordert mit diesen oder dieser zusammen zu arbeiten oder diese zu unterstützen. Der BF wurde von den Taliban oder einer sonstiger regierungsfeindlichen Gruppierung weder angesprochen noch angeworben noch sonst in irgendeiner Weise bedroht. Er hatte in Afghanistan keinen Kontakt zu den Taliban oder einer sonstiger regierungsfeindlichen Gruppierung, er wird von diesen oder dieser auch nicht gesucht.

Es wird festgestellt, dass der BF durch eine „verwestlichte Lebensweise im Falle seiner Rückkehr einer landesweiten asylrechtlich relevanten Verfolgung ausgesetzt ist. Der BF hat eine „verwestlichte Lebensweise“ nicht derart verinnerlicht, dass sich dieser in seiner inneren Einstellung derart manifestiert hätte, dass es dem BF unmöglich macht, mit seinen Ansichten im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan leben zu können.

Festgestellt wird, dass der BF in Afghanistan keiner landesweiten Verfolgung ausgesetzt ist.

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan drohen dem BF individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch Privatpersonen oder durch Mitglieder der Taliban oder durch eine sonstige regierungsfeindliche Gruppierung oder durch staatliche Behörden.

Dem BF droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan wegen seiner Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft der Sunniten als Atheist oder zur Volksgruppe der Tadschiken oder der Zugehörigkeit zu einer sonstigen sozialen Gruppe konkret und individuell weder physische noch psychische Gewalt.

Es kann daher festgestellt werden, dass der BF keiner konkreten Verfolgung oder Bedrohung in Afghanistan ausgesetzt ist oder eine solche, im Falle seiner Rückkehr, zu befürchten hätte.

1.3.    Zur Situation im Fall einer Rückkehr des BF:

Afghanistan ist von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und den aufständischen Taliban betroffen. Die Sicherheitslage in Afghanistan verschlechtert sich seit Beginn des Abzuges der internationalen Truppen im Frühjahr 2021 stetig. Es kommt vermehrt zu Auseinandersetzungen zwischen den Regierungstruppen und den Taliban. Mit 15.08.2021 fiel die Hauptstadt Kabul an die Taliban. Im Zuge dessen verließ auch der afghanische Präsident das Land und die Taliban übernahmen den Präsidentenpalast.

Dem BF würde bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund der dort herrschenden allgemeinen schlechten Sicherheitslage und dem stetigen Vorstoß der Taliban mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen. Es kann somit eine Verletzung der körperlichen Unversehrtheit des BF aufgrund der instabilen Sicherheitslage und der damit einhergehenden willkürlichen Gewalt in Afghanistan nicht ausgeschlossen werden.

Dem BF ist es dementsprechend auch nicht möglich und nicht zumutbar sich im Rückkehrfall in einer der bisher als sicher geltenden Großstädte Afghanistans niederzulassen. Insbesondere nicht nachdem die Städte Herat und Kabul, neben vielen Provinzhauptstädten, nun ebenfalls von den Taliban eingenommen wurden und auch die Erreichbarkeit der Stadt Mazar-e Sharif immer schlechter wird. Auch ist es ihm in der Folge nicht möglich grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft befriedigen zu können bzw. ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.

Festgestellt wird, dass die aktuell vorherrschende Pandemie aufgrund des Corona-Virus kein Rückkehrhindernis darstellen würde. Der BF gehört mit Blick auf sein Alter und das Fehlen (chronischer) physischer Vorerkrankungen keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 an. Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde. Jedoch ist die diesbezügliche Situation mit der nun erfolgten Machtübernahme durch die Taliban nicht mehr einschätzbar bzw. der Umgang mit der Corona-Pandemie der Taliban ungewiss.

Im Falle einer Verbringung des BF in seinen Herkunftsstaat würde diesem daher auch ein reales Risiko einer Verletzung der Art. 2 oder 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 210/1958 (in der Folge EMRK), drohen.

Der BF verfügt über ein überdurchschnittliches Maß an Anpassungs- und Selbsterhaltungsfähigkeit. Er ist mit den kulturellen Gepflogenheiten und einer Sprache seines Herkunftsstaates als Muttersprache vertraut, weil er in einem afghanisch geprägten Umfeld aufgewachsen und er in Afghanistan zwölf Jahre in die Schule gegangen ist und dort ein Bachelor-Studium abgeschlossen hat sowie er in seinem Heimatland auch Berufserfahrung als Verkäufer gesammelt hat.

1.4.    Zum Leben in Österreich:

Der BF reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und hält sich zumindest seit 26.11.2015 durchgehend in Österreich auf. Er ist nach seinem Antrag auf internationalen Schutz vom 26.11.2015 in Österreich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG durchgehend rechtmäßig aufhältig.

Der BF hat keine weiteren Familienangehörigen in Österreich. Beim BF finden sich keine besonderen Merkmale der Abhängigkeit zu sonstigen in Österreich lebenden Personen.

Der BF pflegt in Österreich freundschaftliche Beziehungen zu Österreichern und anderen Asylwerbern. Darüber hinaus konnten keine weiteren substanziellen Anknüpfungspunkte im Bereich des Privatlebens festgestellt werden. Der BF ist kein Mitglied von politischen Parteien und ist auch sonst nicht politisch aktiv. Neben den erwähnten Freundschaften ist er auch kein Mitglied in einem Verein.

Er besuchte auch zahlreiche Deutschkurse und konnte seine Sprachkenntnisse auch durch Teilnahmebestätigungen und Prüfungszertifikate sowie in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG darlegen. Er ist in der Lage, bei klarer Standardsprache über vertraute Dinge aus Arbeit, Schule, Freizeit usw. auf Deutsch zu reden. Darüber hinaus kann er über Erfahrungen und Ereignisse berichten, Träume, Hoffnungen und Ziele beschreiben und zu Plänen und Ansichten kurze Begründungen oder Erklärungen geben.

Der BF lebt von Einkünften einer selbstständigen Tätigkeit als Zusteller für Drucksorten. Auch wenn der BF nicht mehr von der Grundversorgung abhängig ist, ist er nicht selbsterhaltungsfähig, weil er nur Einkünfte unter der Geringfügigkeitsgrenze erzielt. Er hat sich bei gemeinnützigen bzw. ehrenamtlichen Tätigkeiten engagiert. Eine wirtschaftliche Integration ist dem BF nur bedingt gelungen.

Im Strafregister der Republik Österreich scheint keine strafrechtliche Verurteilung des BF auf. Er ist unbescholten.

1.5.    Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Aufgrund der im Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat des BF getroffen:

Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan, Stand 16.09.2021:

COVID-19

Letzte Änderung: 16.09.2021

Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO: https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports oder der Johns-Hopkins-Universität: https://gisanddata.maps.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.html#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.

Über die Auswirkungen der Machtübernahme der Taliban auf medizinische Versorgung, Impfraten und Maßnahmen gegen COVID-19 sind noch keine validen Informationen bekannt.

Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl UNOCHA 19.12.2020).

Die Zahl der täglich neu bestätigten COVID-19-Fälle in Afghanistan ist in den Wochen nach dem Eid al-Fitr-Fest Mitte Mai 2021 stark angestiegen und übertrifft die Spitzenwerte, die zu Beginn des Ausbruchs in dem Land verzeichnet wurden. Die gestiegene Zahl der Fälle belastet das Gesundheitssystem weiter. Gesundheitseinrichtungen berichten von Engpässen bei medizinischem Material, Sauerstoff und Betten für Patienten mit COVID-19 und anderen Krankheiten (USAID 11.6.2021).

Laut Meldungen von Ende Mai 2021 haben afghanische Ärzte Befürchtungen geäußert, dass sich die erstmals in Indien entdeckte COVID-19-Variante nun auch in Afghanistan verbreiten könnte. Viele der schwerkranken Fälle im zentralen Krankenhaus für COVID-Fälle in Kabul, wo alle 100 Betten belegt seien, seien erst kürzlich aus Indien zurückgekehrte Personen (BAMF 31.5.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021). Seit Ende des Ramadans und einige Wochen nach den Festlichkeiten zu Eid al-Fitr konnte wieder ein Anstieg der COVID-19 Fälle verzeichnet werden. Es wird vom Beginn einer dritten Welle gesprochen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021). Waren die [Anm.: offiziellen] Zahlen zwischen Februar und März relativ niedrig, so stieg die Anzahl zunächst mit April und dann mit Ende Mai deutlich an (WHO 4.6.2021; vgl. TN 3.6.2021, UNOCHA 3.6.2021). Es gibt in Afghanistan keine landeseigenen Einrichtungen, um auf die aus Indien stammende Variante zu testen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).

Die Lücken in der COVID-19-Testung und Überwachung bleiben bestehen, da es an Laborreagenzien für die Tests mangelt und die Dienste aufgrund der jüngsten Unsicherheit möglicherweise nur wenig in Anspruch genommen werden. Der Mangel an Testmaterial in den öffentlichen Labors kann erst behoben werden, wenn die Lieferung von 50.000 Testkits von der WHO im Land eintrifft (WHO 28.8.2021). Mit Stand 4.9.2021 wurden 153.534 COVID-19 Fälle offiziell bestätigt (WHO 6.9.2021). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 13.1.2021; vgl. UNOCHA 18.2.2021, RFE/RL 23.2.2021a).

Maßnahmen der ehemaligen Regierung und der Taliban

Das vormalige afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hatte verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. "Rapid Response Teams" (RRTs) besuchten Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte "Fix-Teams" waren in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.3.2021; vgl. WB 28.6.2020). Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.3.2021; vgl. IDW 17.6.2021).

Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China (BAMF 8.2.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).

Die Taliban erlaubten den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. TG 2.5.2020) und gaben im Januar 2021 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Millionen Dollar unterstützt wird. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion "unterstützen und erleichtern" (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021), wenn der Impfstoff in Abstimmung mit ihrer Gesundheitskommission und in Übereinstimmung mit deren Grundsätzen eingesetzt wird (NH 3.6.2020).

Mit Stand 2.6.2021 wurden insgesamt 626.290 Impfdosen verabreicht (WHO 4.6.2021; vgl UNOCHA 3.6.2021). Etwa 11% der Geimpften haben beide Dosen des COVID-19-Impfstoffs erhalten. Insgesamt gibt es nach wie vor große Bedenken hinsichtlich des gerechten Zugangs zu Impfstoffen für Afghanen, insbesondere für gefährdete Gruppen wie Binnenvertriebene, Rückkehrer und nomadische Bevölkerungsgruppen sowie Menschen, die in schwer zugänglichen Gebieten leben (UNOCHA 3.6.2021).

Gesundheitssystem und medizinische Versorgung

Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, Sauerstoff, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 11.6.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, HRW 13.1.2021). Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (BAMF 8.2.2021). Mit Mai 2021 wird vor allem von einem starken Mangel an Sauerstoff berichtet (TN 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).

In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (IOM 18.3.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, USAID 11.6.2021).

Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).

Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt

Die ohnehin schlechte wirtschaftliche Lage wurde durch die Auswirkungen der Pandemie noch verstärkt (AA 15.7.2021). COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 11.6.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021). Die kürzlich veröffentlichte IPC-Analyse schätzt, dass sich im April 2021 12,2 Millionen Menschen - mehr als ein Drittel der Bevölkerung - in einem Krisen- oder Notfall-Niveau der Ernährungsunsicherheit befinden (UNOCHA 3.6.2021; vgl. IPC 22.4.2021). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020).

Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 18.3.2021).

Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch lang anhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (UNOCHA 19.12.2020).

Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2021 um mehr als 5% geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019 (IOM 18.3.2021).

Frauen, Kinder und Binnenvertriebene

Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die ehemalige Regierung ordnete im März 2020 an, alle Schulen zu schließen (IOM 23.9.2020; vgl. ACCORD 25.5.2021), wobei diese ab August 2020 wieder stufenweise geöffnet wurden (ACCORD 25.5.2021). Angesichts einer zweiten COVID-19-Welle verkündete die Regierung jedoch Ende November die abermalige Schließung der Schulen (SIGAR 30.4.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021) wobei diese im Laufe des ersten Quartals 2021 wieder geöffnet wurden (SIGAR 30.4.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021, UNICEF 4.5.2021). 35 bis 60 Schüler lernen in einem einzigen Raum, weil es an Einrichtungen fehlt und die Richtlinien zur sozialen Distanzierung nicht beachtet werden (IOM 18.3.2021). Ende Mai 2021 wurden die Schulen erneut geschlossen (BAMF 31.5.2021) und und begannen mit Ende Juli langsam wieder zu öffnen (AAN 25.7.2021).

Kinder (vor allem Jungen), die von den Auswirkungen der Schulschließungen im Rahmen von COVID-19 betroffen waren, waren nun auch anfälliger für Rekrutierung durch die Konfliktparteien (IPS 12.11.2020; vgl. UNAMA 10.8.2020, ACCORD 25.5.2021). In den ersten Monaten des Jahres 2021 wurde im Durchschnitt eines von drei Kindern in Afghanistan außer Haus geschickt, um zu arbeiten. Besonders außerhalb der Städte wurde ein hoher Anstieg der Kinderarbeit berichtet (IOM 18.3.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021). Die Krise verschärft auch die bestehende Vulnerabilität von Mädchen betreffend Kinderheirat und Schwangerschaften von Minderjährigen (AA 15.7.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021). Die Pandemie hat auch spezifische Folgen für Frauen, insbesondere während eines Lockdowns, einschließlich eines erhöhten Maßes an häuslicher Gewalt (ACCORD 25.5.2021; vgl. AI 3.2021). Frauen und Mädchen sind durch den generell geringeren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusätzlich betroffen (AI 3.2021; vgl. HRW 13.1.2021, AAN 1.10.2020).

Binnenvertriebene sind besonders gefährdet, sich mit COVID-19 anzustecken, da sie bereits vorher anfällig waren, es keine Gesundheitseinrichtungen gibt, die Siedlungen überfüllt sind und sie nur begrenzten Zugang zu Wasser und sanitären Anlagen haben. Aufgrund ihrer schlechten Lebensbedingungen sind die vertriebenen Gemeinschaften nicht in der Lage, Präventivmaßnahmen wie soziale Distanzierung und Quarantäne zu praktizieren und sind daher anfälliger für die Ansteckung und Verbreitung des Virus (AI 3.2021).

Politische Lage

Letzte Änderung: 16.09.2021

Afghanistan war [vor der Machtübernahme der Taliban] ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 1.3.2021). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen (NSIA 1.6.2020) bis 39 Millionen Menschen (WoM o.D.).

Nachdem der bisherige Präsident Ashraf Ghani am 15.8.2021 aus Afghanistan geflohen war, nahmen die Taliban die Hauptstadt Kabul als die letzte aller großen afghanischen Städte ein (TAG 15.8.2021; vgl. JS 7.9.2021). Ghani gab auf seiner Facebook-Seite eine Erklärung ab, in der er den Sieg der Taliban vor Ort anerkannte (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Diese Erklärung wurde weithin als Rücktritt interpretiert, obwohl nicht klar ist, ob die Erklärung die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für einen Rücktritt des Präsidenten erfüllt. Amrullah Saleh, der erste Vizepräsident Afghanistans unter Ghani, beanspruchte in der Folgezeit das Amt des Übergangspräsidenten für sich (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Er ist Teil des Widerstands gegen die Taliban im Panjshir-Tal (REU 8.9.2021). Ein so genannter Koordinationsrat unter Beteiligung des früheren Präsidenten Hamid Karzai, Abdullah Abdullah (dem früheren Außenminister und Leiter der Delegation der vorigen Regierung bei den letztendlich erfolglosen Friedensverhandlungen) und Gulbuddin Hekmatyar führte mit den Taliban informelle Gespräche über eine Regierungsbeteiligung (FP 23.8.2021), die schließlich nicht zustande kam (TD 10.9.2021). Denn unabhängig davon, wer nach der afghanischen Verfassung das Präsidentenamt innehat, kontrollieren die Taliban den größten Teil des afghanischen Staatsgebiets (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Sie haben das Islamische Emirat Afghanistan ausgerufen und am 7.9.2021 eine neue Regierung angekündigt, die sich größtenteils aus bekannten Taliban-Figuren zusammensetzt (JS 7.9.2021).

Die Taliban lehnen die Demokratie und ihren wichtigsten Bestandteil, die Wahlen, generell ab (AJ 24.8.2021; vgl. AJ 23.8.2021). Sie tun dies oftmals mit Verweis auf die Mängel des demokratischen Systems und der Wahlen in Afghanistan in den letzten 20 Jahren, wie auch unter dem Aspekt, dass Wahlen und Demokratie in der vormodernen Periode des islamischen Denkens, der Periode, die sie als am authentischsten "islamisch" ansehen, keine Vorläufer haben. Sie halten einige Methoden zur Auswahl von Herrschern in der vormodernen muslimischen Welt für authentisch islamisch - zum Beispiel die Shura Ahl al-Hall wa'l-Aqd, den Rat derjenigen, die qualifiziert sind, einen Kalifen im Namen der muslimischen Gemeinschaft zu wählen oder abzusetzen (AJ 24.8.2021). Ende August 2021 kündigten die Taliban an, eine Verfassung auszuarbeiten (FA 23.8.2021), jedoch haben sie sich zu den Einzelheiten des Staates, den ihre Führung in Afghanistan errichten möchte, bislang bedeckt gehalten (AJ 24.8.2021; vgl. ICG 24.8.2021, AJ 23.8.2021).

Im September 2021 kündigten sie die Bildung einer "Übergangsregierung" an. Entgegen früherer Aussagen handelt es sich dabei nicht um eine "inklusive" Regierung unter Beteiligung unterschiedlicher Akteure, sondern um eine reine Talibanregierung. Darin vertreten sind Mitglieder der alten Talibanelite, die schon in den 1990er Jahren zentrale Rollen besetzte, ergänzt mit Taliban-Führern, die im ersten Emirat noch zu jung waren, um zu regieren. Die allermeisten sind Paschtunen. Angeführt wird die neue Regierung von Mohammad Hassan Akhund. Er ist Vorsitzender der Minister, eine Art Premierminister. Akhund ist ein wenig bekanntes Mitglied des höchsten Taliban-Führungszirkels, der sogenannten Rahbari-Shura, besser bekannt als Quetta-Shura (NZZ 7.9.2021; vgl. BBC 8.9.2021a). Einer seiner Stellvertreter ist Abdul Ghani Baradar, der bisher das politische Büro der Taliban in Doha geleitet hat und so etwas wie das öffentliche Gesicht der Taliban war (NZZ 7.9.2021), ein weiterer Stellvertreter ist Abdul Salam Hanafi, der ebenfalls im politischen Büro in Doha tätig war (ORF 7.9.2021). Mohammad Yakub, Sohn des Taliban-Gründers Mullah Omar und einer der Stellvertreter des Taliban-Führers Haibatullah Akhundzada (RFE/RL 6.8.2021), ist neuer Verteidigungsminister. Sirajuddin Haqqani, der Leiter des Haqqani-Netzwerks, wurde zum Innenminister ernannt. Das Haqqani-Netzwerk wird von den USA als Terrororganisation eingestuft. Der neue Innenminister steht auf der Fahndungsliste des FBI und auch der Vorsitzende der Minister, Akhund, befindet sich auf einer Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrates (NZZ 7.9.2021).

Ein Frauenministerium findet sich nicht unter den bislang angekündigten Ministerien, auch wurden keine Frauen zu Ministerinnen ernannt [Anm.: Stand 7.9.2021]. Dafür wurde ein Ministerium für "Einladung, Führung, Laster und Tugend" eingeführt, das die Afghanen vom Namen her an das Ministerium "für die Förderung der Tugend und die Verhütung des Lasters" erinnern dürfte. Diese Behörde hatte während der ersten Taliban-Herrschaft von 1996 bis 2001 Menschen zum Gebet gezwungen oder Männer dafür bestraft, wenn sie keinen Bart trugen (ORF 7.9.2021; vgl. BBC 8.9.2021a). Die höchste Instanz der Taliban in religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten (RFE/RL 6.8.2021), der "Amir al Muminin" oder "Emir der Gläubigen" Mullah Haibatullah Akhundzada (FR 18.8.2021) wird sich als "Oberster Führer" Afghanistans auf religiöse Angelegenheiten und die Regierungsführung im Rahmen des Islam konzentrieren (NZZ 8.9.2021). Er kündigte an, dass alle Regierungsangelegenheiten und das Leben in Afghanistan den Gesetzen der Scharia unterworfen werden (ORF 7.9.2021).

Bezüglich der Verwaltung haben die Taliban Mitte August 2021 nach und nach die Behörden und Ministerien übernommen. Sie riefen die bisherigen Beamten und Regierungsmitarbeiter dazu auf, wieder in den Dienst zurückzukehren, ein Aufruf, dem manche von ihnen auch folgten (AZ 17.8.2021; vgl. ICG 24.8.2021). Es gibt Anzeichen dafür, dass einige Anführer der Gruppe die Grenzen ihrer Fähigkeit erkennen, den Regierungsapparat in technisch anspruchsvolleren Bereichen zu bedienen. Zwar haben die Taliban seit ihrem Erstarken in den vergangenen zwei Jahrzehnten in einigen ländlichen Gebieten Afghanistans eine so genannte Schattenregierung ausgeübt, doch war diese rudimentär und von begrenztem Umfang, und in Bereichen wie Gesundheit und Bildung haben sie im Wesentlichen die Dienstleistungen des afghanischen Staates und von Nichtregierungsorganisationen übernommen (ICG 24.8.2021).

Bis zum Sturz der alten Regierung wurden ca. 75% (ICG 24.8.2021) bis 80% des afghanischen Staatsbudgets von Hilfsorganisationen bereitgestellt (BBC 8.9.2021a), Finanzierungsquellen, die zumindest für einen längeren Zeitraum ausgesetzt sein werden, während die Geber die Entwicklung beobachten (ICG 24.8.2021). So haben die EU und mehrere ihrer Mitgliedsstaaten in der Vergangenheit mit der Einstellung von Hilfszahlungen gedroht, falls die Taliban die Macht übernehmen und ein islamisches Emirat ausrufen sollten, oder Menschen- und Frauenrechte verletzen sollten. Die USA haben rund 9,5 Milliarden US-Dollar an Reserven der afghanischen Zentralbank sofort [nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul] eingefroren, Zahlungen des IWF und der EU wurden ausgesetzt (CH 24.8.2021). Die Taliban verfügen weiterhin über die Einnahmequellen, die ihren Aufstand finanzierten, sowie über den Zugang zu den Zolleinnahmen, auf die sich die frühere Regierung für den Teil ihres Haushalts, den sie im Inland aufbrachte, stark verließ. Ob neue Geber einspringen werden, um einen Teil des Defizits auszugleichen, ist noch nicht klar (ICG 24.8.2021).

Die USA zeigten sich angesichts der Regierungsbeteiligung von Personen, die mit Angriffen auf US-Streitkräfte in Verbindung gebracht werden, besorgt und die EU erklärte, die islamistische Gruppe habe ihr Versprechen gebrochen, die Regierung "integrativ und repräsentativ" zu machen (BBC 8.9.2021b). Deutschland und die USA haben eine baldige Anerkennung der von den militant-islamistischen Taliban verkündeten Übergangsregierung Anfang September 2021 ausgeschlossen (BZ 8.9.2021). China und Russland haben ihre Botschaften auch nach dem Machtwechsel offen gehalten (NYT 1.9.2021).

Vertreter der National Resistance Front (NRF) haben die internationale Gemeinschaft darum gebeten, die Taliban-Regierung nicht anzuerkennen (BBC 8.9.2021b). Ahmad Massoud, einer der Anführer der NRF, kündigte an, nach Absprachen mit anderen Politikern eine Parallelregierung zu der von ihm als illegitim bezeichneten Talibanregierung bilden zu wollen (IT 8.9.2021).

Friedensverhandlungen, Abzug der internationalen Truppen und Machtübernahme der Taliban

Letzte Änderung: 16.09.2021

2020 fanden die ersten ernsthaften Verhandlungen zwischen allen Parteien des Afghanistan-Konflikts zur Beendigung des Krieges statt (HRW 13.1.2021). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 7.5.2020; vgl. NPR 6.5.2020, EASO 8.2020a) - die damalige afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses (EASO 8.2020a). Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthielt das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nicht-amerikanischen NATO-Truppen sollten abgezogen werden (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020; REU 6.10.2020). Dafür hatten die Taliban beispielsweise zugesichert, zu verhindern, dass "irgendeiner ihrer Mitglieder, andere Individuen oder Gruppierungen, einschließlich Al-Qaida, den Boden Afghanistans nutzt, um die Sicherheit der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten zu bedrohen" (USDOS 29.2.2020).

Die Verhandlungen mit den USA lösten bei den Taliban ein Gefühl des Triumphs aus. Indem sie mit den Taliban verhandelten, haben die USA sie offiziell als politische Gruppe und nicht mehr als Terroristen anerkannt [Anm.: das mit den Taliban verbundene Haqqani-Netzwerk wird von den USA mit Stand 7.9.2021 weiterhin als Terrororganisation eingestuft (NZZ 7.9.2021)]. Gleichzeitig unterminierten die Verhandlungen aber auch die damalige afghanische Regierung, die von den Gesprächen zwischen den Taliban und den USA ausgeschlossen wurde (VIDC 26.4.2021).

Im September 2020 starteten die Friedensgespräche zwischen der damaligen afghanischen Regierung und den Taliban in Katar (REU 6.10.2020; vgl. AJ 5.10.2020, BBC 22.9.2020). Der Regierungsdelegation gehörten nur wenige Frauen an, aufseiten der Taliban war keine einzige Frau an den Gesprächen beteiligt. Auch Opfer des bewaffneten Konflikts waren nicht vertreten, obwohl Menschenrechtsgruppen dies gefordert hatten (AI 7.4.2021).

Die Gewalt ließ jedoch nicht nach, selbst als afghanische Unterhändler zum ersten Mal in direkte Gespräche verwickelt wurden (AJ 5.10.2020; vgl. AI 7.4.2021). Insbesondere im Süden, herrscht trotz des Beginns der Friedensverhandlungen weiterhin ein hohes Maß an Gewalt, was weiterhin zu einer hohen Zahl von Opfern unter der Zivilbevölkerung führt (UNGASC 9.12.2020; vgl. AI 7.4.2021).

Mitte Juli 2021 kam es zu einem weiteren Treffen zwischen der ehemaligen afghanischen Regierung und den Vertretern der Taliban in Katar (DW 18.7.2021). In einer Erklärung, die nach zweitägigen Gesprächen veröffentlicht wurde, erklärten beide Seiten, dass sie das Leben der Zivilbevölkerung, die Infrastruktur und die Dienstleistungen schützen wollen (AAN 19.7.2021). Ein Waffenstillstand wurde allerdings nicht beschlossen (DW 18.7.2021; vgl. AAN 19.7.2021).

Abzug der Internationalen Truppen

Im April 2021 kündigte US-Präsident Joe Biden den Abzug der verbleibenden Truppen (WH 14.4.2021; vgl. RFE/RL 19.5.2021) - etwa 2.500-3.500 US-Soldaten und etwa 7.000 NATO-Truppen - bis zum 11.9.2021 an, nach zwei Jahrzehnten US-Militärpräsenz in Afghanistan (RFE/RL 19.5.2021). Er erklärte weiter, die USA würden weiterhin "terroristische Bedrohungen" überwachen und bekämpfen sowie "die Regierung Afghanistans" und "die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte weiterhin unterstützen" (WH 14.4.2021), allerdings ist nicht klar, wie die USA auf wahrgenommene Bedrohungen zu reagieren gedenken, sobald ihre Truppen abziehen (AAN 1.5.2021). Die Taliban zeigten sich von der Ankündigung eines vollständigen und bedingungslosen Abzugs nicht besänftigt, sondern äußerten sich empört über die Verzögerung, da im Doha-Abkommen der 30.4.2021 als Datum für den Abzug der internationalen Truppen festgelegt worden war. In einer am 15.4.2021 veröffentlichten Erklärung wurden Drohungen angedeutet: Der "Bruch" des Doha-Abkommens "öffnet den Mudschaheddin des Islamischen Emirats den Weg, jede notwendige Gegenmaßnahme zu ergreifen, daher wird die amerikanische Seite für alle zukünftigen Konsequenzen verantwortlich gemacht werden, und nicht das Islamische Emirat" (AAN 1.5.2021). Am 31.8.2021 zog schließlich der letzte US-amerikanische Soldat aus Afghanistan ab (DP 31.8.2021). Schon zuvor verließ der bis dahin amtierende afghanische Präsident Ashraf Ghani das Land und die Taliban übernahmen die Hauptstadt Kabul am 15.8.2021 kampflos (AAN 17.8.2021).

US-amerikanische, britische und deutsche Beamte sowie internationale NGOs wie Human Rights Watch (HRW) äußerten sich besorgt über die Sicherheit von ehemaligen Mitarbeitern der internationalen Streitkräfte (RFE/RL 19.5.2021; BAMF 17.5.2021; BBC 27.4.2021; HRW 8.6.2021), während die Taliban angaben, nicht gegen (ehemalige) Mitarbeiter der internationalen Truppen vorgehen zu wollen. Die Taliban behaupteten in der Erklärung, dass Afghanen, die für die ausländischen "Besatzungstruppen" gearbeitet hätten, "irregeführt" worden seien und "Reue" für ihre vergangenen Handlungen zeigen sollten, da diese einem "Verrat" am Islam und an Afghanistan gleichkämen (VOA 7.6.2021; vgl. MENAFN 7.6.2021, DZ 7.6.2021, HRW 8.6.2021).

icherheitslage

Letzte Änderung: 16.09.2021

Jüngste Entwicklungen - Machtübernahme der Taliban

Mit April bzw. Mai 2021 nahmen die Kampfhandlungen zwischen Ta

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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