Entscheidungsdatum
20.10.2021Norm
Ausstellung von Behindertenpässen und von Parkausweisen §1Spruch
W265 2243096-1/4E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag.a Karin RETTENHABER-LAGLER als Vorsitzende und die Richterin Mag.a Karin GASTINGER, MAS sowie die fachkundige Laienrichterin Dr.in Christina MEIERSCHITZ als Beisitzerinnen über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , vertreten durch den Verein ChronischKrank Österreich, gegen den Bescheid des Sozialministeriumservice, Landesstelle Niederösterreich, vom 23.04.2021 betreffend die Abweisung des Antrages auf Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung“ in den Behindertenpass zu Recht erkannt:
A)
Der Beschwerde wird stattgegeben und der angefochtene Bescheid wird behoben.
Die Voraussetzungen für die Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung“ in den Behindertenpass liegen vor.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
Die Beschwerdeführerin stellte am 09.11.2020 durch ihre bevollmächtigte Vertretung beim Sozialministeriumservice (in der Folge auch als belangte Behörde bezeichnet) Anträge auf Ausstellung eines Ausweises gemäß § 29b StVO (Parkausweis) und eines Behindertenpasses samt Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel“ in den Behindertenpass, und legte den ausgefüllten Antragsformularen medizinische Befunde bei.
Die belangte Behörde gab in der Folge ein Sachverständigengutachten eines Arztes für Allgemeinmedizin unter Anwendung der Bestimmungen der Einschätzungsverordnung in Auftrag.
In diesem auf einer persönlichen Untersuchung der Beschwerdeführerin am 08.02.2021 basierenden Gutachten vom 15.02.2021 wurde Folgendes – hier in den wesentlichen Teilen wiedergegeben – ausgeführt:
„Anamnese:
Mb. Crohn, Erstdiagnose 1997
Zustand nach rezidivierenden Darmoperationen 1997, 2malig 1998, zuletzt 10.3.2020, Adhäsiolyse und Anastomosenresektion mit Ileosigmoidostomie, neuerlichem Anastomosenrezidiv
Derzeitige Beschwerden:
Im Laufe der letzten 3 Jahre habe eine Engstelle immer wieder Beschwerden gemacht, sei mehrmals aufgedehnt worden und zuletzt am 10.3.2020 ein großer Teil des Dickdarms entfernt worden.
Seither habe sie anhaltend erhöhte Stuhlfrequenzen, 10-15mal pro Tag. Der Stuhl ist immer dünnflüssig, schleimig, manchmal auch blutig, manchmal ohne Blut und ohne Schleim, jedoch immer dünnflüssig. Wenn sie auswärts weitere Wege habe verwende sie Vorlagen zur Sicherheit, ansonsten brauche sie innerhalb des Wohnbereiches keine Vorlagen.
Das Körpergewicht sei seit der letzten Operation im Wesentlichen stabil. Sie halte eine entsprechende Diät. Nach mehreren Therapieumstellungen laufe sie derzeit unter Stelara. Sie bekomme das alle 12 Wochen.
Wenn sie auf das Klo müsse, müsse sie rasch zur Toilette gehen, sonst könne es auch zu spät sein.
Sie habe regelmäßige Ausfälle im Berufsalltag wegen der gastroentestinalen Beschwerden, der Operation bzw. immer wieder auftretenden Schüben. Sie arbeite beim Schwager in dessen Betrieb und dieser würde entsprechend der Krankheit sehr entgegenkommen.
Behandlung(en) / Medikamente / Hilfsmittel:
Stelara alle 12 Wochen
Buscopan Plus 1x1 bis 3x1 bei Bedarf
Sozialanamnese:
Tätig als Bürofachkraft in der Buchhaltung, 25 Std. pro Woche in der Fa. des Schwagers - Entgegenkommen des Dienstgebers
Verheiratet, wohnt gemeinsam mit dem Gatten und 1 Tochter im gemeinsamen Haushalt
Zusammenfassung relevanter Befunde (inkl. Datumsangabe):
Ambulanter Befund Chirurgische Abteilung LKH XXXX , 14.10.2020: Zustand wegen mehrfachen Darmoperationen wegen Mb. Crohn, zuletzt am 10.3.2020 mit Adhäsiolyse und Anastomosenresektion mit Ileosigmoidostomie wegen neuerlichem
Anastomosenrezidiv. Es besteht eine subtotale Kolektomie mit einer entsprechend deutlich erhöhten Stuhlfrequenz mit 10-15 Stuhlgängen pro Tag angeführt, flüssige Konsistenz, die anhaltende erhöhte Stuhlfrequenz mit dünnflüssigen Stühlen ist als unvermeidbar und dauerhaft bleibend angeführt aufgrund der Tatsache der anatomischen Entfernung. Es wird auch angeführt eine durch die erhöhte Stuhlfrequenz intensivere Analpflege notwendig und eine eingeschränkte körperliche Belastbarkeit ist attestiert worden.
Untersuchungsbefund:
Allgemeinzustand:
Antragsteller kommt selbständig gehend mit festem Schuhwerk ohne Hilfsmittel mit ausreichend sicherem Gangbild in die Ordination.
Be- und Entkleiden selbständig möglich ohne wesentliche Einschränkung.
Kommunikation: uneingeschränkt
Ernährungszustand:
Normal
Größe: 160,00 cm Gewicht: 56,00 kg Blutdruck:
Klinischer Status – Fachstatus:
Caput/Collum: Sehvermögen regelrecht/ausreichend korrigiert- Fingerzählen auf 3 m bds möglich
Hörvermögen/Sprachverständnis: regelrecht
Obere Extremitäten:
Schulter bds: frei beweglich
Funktionsgriffe: Kopf/Nackengriff bds: frei Schürzengriff bds: frei
Faustschluss: bds. komplett- Greiffunktion erhalten
allgemeine Kraft: KG: 5/5
Herz: rein, rhythmisch, kein Strömungsgeräusch, normofrequent
Pulmo: VA bds., kreislaufkompensiert
Abdomen: Zustand nach medianer Oberbauch- und Unterbauchlaparotomie, Narbe reizlos, diffuse Druckdolenz gesamtes Abdomen, keine Abwehrspannung, keine Resistenzen palpabel, Darmperistaltik vorhanden
Untere Extremitäten:
Hüfte rechts: Bewegungsumfang frei, Rotation 40-0-30°, positiver Endlagenschmerz, kein Druckschmerz am Trochanter
Hüfte links: frei beweglich, kein Endlagenschmerz
Knie bds: frei beweglich, bandstabil, kein Erguss
Allgemeine Kraft: KG: 5/5
Wirbelsäule:
Untere Abschnitte der BWS: diskrete rechtskonvexe Fehlhaltung mit paravertebralem Muskelhartspann, Klopf- und Druckschmerz gesamte Wirbelsäule, paravertebral positiv
Funktion: FBA 15cm
ISG: druckdolent plus Vorlaufphänomen
Harn: kontinent
Stuhl: Durchfall - Dranginkontinenz
Gesamtmobilität – Gangbild:
Gangbild: regelrecht, ohne Hilfsmittel selbständig
Transfer: uneingeschränkt
Fersenstand: beidseits frei
Zehenstand: beidseits frei
Einbeinstand: beidseits frei
Status Psychicus:
Psychopathologischer Status:
Orientierung: zeitlich, örtlich, personell, situativ regelrecht
Gedankenductus: kohärent
Antrieb: regelrecht
Stimmungslage: euthym
Lfd. Nr.
Bezeichnung der körperlichen, geistigen oder sinnesbedingten Funktionseinschränkungen, welche voraussichtlich länger als sechs Monate andauern werden:
Begründung der Positionsnummer und des Rahmensatzes:
Pos.Nr.
Gdb %
1
Chronisch entzündliche Darmerkrankung (Morbus Crohn)
Wahl dieser Position, da eine jahrelange chronisch entzündliche Darmerkrankung vorhanden ist mit Teilentfernung des Dickdarms und anhaltender Durchfallsymptomatik.
Unterer Rahmensatz, da stabiles Körpergewicht und stabile Ernährungsverhältnisse vorhanden sind.
07.04.06
50
2
Abnützung der Wirbelsäule
Unterer Rahmensatz, da diskrete Fehlhaltung der Brustwirbelsäule und
ausreichende Funktion und Bewegungsumfang zum Untersuchungszeitpunkt.
02.01.01
10
Gesamtgrad der Behinderung 50 v. H.
Begründung für den Gesamtgrad der Behinderung:
Leiden 1 bestimmt den Gesamtgrad der Behinderung.
Leiden 2 erhöht nicht weiter, da nicht schwerwiegend.
Folgende beantragten bzw. in den zugrunde gelegten Unterlagen diagnostizierten Gesundheitsschädigungen erreichen keinen Grad der Behinderung:
keine
Stellungnahme zu gesundheitlichen Änderungen im Vergleich zum Vorgutachten:
entfällt
Änderung des Gesamtgrades der Behinderung im Vergleich zu Vorgutachten:
entfällt
?
Dauerzustand
?
Nachuntersuchung -
…
1. Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel - Welche der festgestellten Funktionsbeeinträchtigungen lassen das Zurücklegen einer kurzen Wegstrecke, das Ein- und Aussteigen sowie den sicheren Transport in einem öffentlichen Verkehrsmittel nicht zu und warum?
keine
2. Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel - Liegt eine schwere Erkrankung des Immunsystems vor?
nein
…
Begründung:
Aus den vorliegenden Befunden und dem erhobenen klinischen Untersuchungsbefund geht bei den vorliegenden Leiden kein Hinweis auf eine maßgeblich eingeschränkte Mobilität, eine maßgebliche psychische oder neurologische Erkrankung bzw. auch nicht auf ein intellektuelles Defizit hervor, sodass die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel zumutbar ist.
Die rasche Erreichbarkeit einer Toilette ist von Vorteil und empfehlenswert. Die entsprechende Gewährung eines Euroschlüssels wird empfohlen.“
Mit Schreiben vom 15.02.2021 brachte die belangte Behörde der Beschwerdeführerin das Ergebnis des Ermittlungsverfahrens in Wahrung des Parteiengehörs gemäß § 45 AVG zur Kenntnis und räumte ihr die Möglichkeit einer Stellungnahme ein. Mit einem Grad der Behinderung von 50 v. H. werde ihrem Antrag auf Ausstellung eines Behindertenpasses stattgegeben. Die Voraussetzungen für die Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel“ würden nicht vorliegen. Ihr Ansuchen wäre daher abzuweisen.
Mit Eingabe vom 21.03.2021 erstattete die Beschwerdeführerin durch ihre bevollmächtigte Vertretung eine Stellungnahme, in der im Wesentlichen ausgeführt wurde, dass in den vorgelegten Befunden eindeutig festgehalten werde, dass eine deutlich erhöhte Stuhlfrequenz mit 10-15 Stuhlgängen (flüssiger Konsistenz) und ein imperativer Stuhlgang vorliege. Dies werde auch im eingeholten Gutachten nicht bestritten, trotzdem werde vom Gutachter in keiner Weise in Bezug auf das Darmleiden auf die Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel eingegangen, sondern nur darauf hingewiesen, dass die Gewährung eines Euroschlüssels empfohlen werde. Die Gesamtheit der Leiden und Diagnosen stelle bei der Beschwerdeführerin eine erhebliche Beeinträchtigung ihres Alltagslebens dar, welche nach der Judikatur sehr wohl den Passus der Unzumutbarkeit begründe.
Der befasste Arzt für Allgemeinmedizin nahm in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 26.03.2021 zu den erhobenen Einwendungen Stellung und führte aus wie folgt:
„Antwort(en):
Die in der Einwendung vom 15.3.2021 vorgebrachte erhöhte Stuhlfrequenz von 10-15 x/Tag wurde in der Einschätzung ebenso wie die in der Einwendung vorgebrachten Befunde bereits berücksichtigt.
Eine Versorgung mit Einlagen ist selbstständig zumutbar. Dadurch ist das Verschmutzen von Kleidung vermeidbar und somit eine Benützung öffentlicher Verkehrsmittel mit der Auflage einer erleichterten Erreichbarkeit einer Toilette (Euroschlüssel), wie im Gutachten bereits angeführt, aus allgemeinmedizinischer zumutbar.
Nach nochmaliger Durchsicht und Berücksichtigung aller vorliegenden Befunde und unter Berücksichtigung der Einwendung vom 15.3.2021 ergibt sich keine Änderung der erfolgten Einschätzung im Gutachten vom 15.2.2021, da keine neuen Erkenntnisse aus der Einwendung resultieren und keine neuen Leiden vorhanden sind bzw. kein höherer Schweregrad der bereits eingeschätzten Leiden ablesbar ist.
Die juristische Beurteilung bzw. Interpretation der medizinischen Einschätzung gemäß der in der Einwendung angeführten Judikatur obliegt nicht dem Fachbereich der Medizin bzw. Allgemeinmedizin- diesbezüglich wird auf den zuständigen Ausschuss verwiesen.“
Mit Schreiben vom 23.04.2021 teilte die belangte Behörde der Beschwerdeführerin mit, dass im medizinischen Ermittlungsverfahren ein Grad der Behinderung von 50 % festgestellt worden sei. Die Voraussetzungen für die Zusatzeintragung „Gesundheitsschädigung gem. § 2 Abs. 1 dritter Teilstrich VO 303/1996 liegt vor“ würden vorliegen. Ihr werde daher ein unbefristeter Behindertenpass ausgestellt, der in den nächsten Tagen übermittelt werde.
Mit angefochtenem Bescheid vom 23.04.2021 wies die belangte Behörde den Antrag der Beschwerdeführerin auf Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung auf Grund einer Behinderung“ in den Behindertenpass ab. Im Ermittlungsverfahren sei ein Gutachten eingeholt worden, nach dem die Voraussetzungen für diese Zusatzeintragung nicht vorliegen würden. Die wesentlichen Ergebnisse des ärztlichen Begutachtungsverfahrens seien der Beilage, die einen Bestandteil der Begründung bilde, zu entnehmen. Der Beschwerdeführerin sei Gelegenheit gegeben worden, dazu Stellung zu nehmen. Die von ihr erhobenen Einwände seien nicht geeignet gewesen, eine Änderung der Entscheidung zu bewirken. Die Ergebnisse des ärztlichen Begutachtungsverfahrens seien als schlüssig erkannt und in freier Beweiswürdigung der Entscheidung zu Grund gelegt worden. Mit dem Bescheid wurden der Beschwerdeführerin das Sachverständigengutachten vom 15.02.2021 und die ärztliche Stellungnahme vom 26.03.2021 übermittelt.
Mit Begleitschreiben vom 26.04.2021 übermittelte die belangte Behörde der Beschwerdeführerin den Behindertenpass.
Mit Eingabe vom 01.06.2021 erhob die Beschwerdeführerin durch ihre bevollmächtigte Vertretung gegen diesen Bescheid fristgerecht Beschwerde. Darin wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass sie mehr als 10-15 Mal täglich an schubartigen Durchfällen leide und das Einsetzen eines Stuhldrangs den sofortigen Gang zur Toilette erfordere. Auch der Sachverständige habe nicht bestritten, dass eine subtotale Kolektomie mit entsprechend deutlich erhöhter Stuhlfrequenz flüssiger Konsistenz vorliege. Ebenso sei dieses Leiden aufgrund der anatomischen Entfernung unvermeidbar und dauerhaft. Eine Windel oder auch Alternativen wie Analtampons seien gegen flüssigen Stuhl in größeren Mengen wirkungslos. Die Ausführungen des Sachverständigen, wonach die angegebene häufige Stuhlfrequenz kein Kriterium für die Unzumutbarkeit sei, stehe in Widerspruch zu näher zitierter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes. Die konkreten Auswirkungen der Erkrankung der Beschwerdeführerin auf die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel insbesondere betreffend eine gewisse Häufigkeit, Unvorhersehbarkeit und Unabwendbarkeit der Zustände seien im eingeholten Gutachten völlig unbeachtet geblieben. Nach § 1 Abs. 2 Z 3 der Erläuterungen zur Ausstellung von Behindertenpässen sei bei anhaltenden schweren Erkrankungen des Verdauungstraktes in Ausnahmefällen die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel unzumutbar. Im konkreten Fall sei nicht geprüft worden, ob ein derartiger Ausnahmefall vorliege. Die belangte Behörde habe den Sachverhalt daher nicht ausreichend ermittelt. Die Gesamtheit der Leiden und Diagnosen stelle bei der Beschwerdeführerin eine erhebliche Beeinträchtigung ihres Alltagslebens dar, welche nach der Judikatur sehr wohl den Passus der Unzumutbarkeit begründe. Im konkreten Fall sei die Frequenz des Stuhlgangs zumindest gleich hoch wie in näher zitierten Entscheidungen.
Mit Schreiben vom 04.06.2021 legte die belangte Behörde die Beschwerde und den Verwaltungsakt dem Bundesverwaltungsgericht vor, wo diese am selben Tag einlangten.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Die Beschwerdeführerin ist Inhaberin eines Behindertenpasses mit einem festgestellten Grad der Behinderung von 50 v. H.
Sie stellte am 09.11.2020 beim Sozialministeriumservice einen Antrag auf Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung“ in den Behindertenpass bzw. auf Ausstellung eines Ausweises gemäß § 29b StVO (Parkausweis).
Bei der Beschwerdeführerin bestehen folgende Funktionseinschränkungen, die voraussichtlich länger als sechs Monate andauern werden:
- Chronisch entzündliche Darmerkrankung (Morbus Crohn)
- Abnützung der Wirbelsäule
Die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel ist der Beschwerdeführerin nicht zumutbar. Infolge ihres Morbus Crohn und einer operativen Verkürzung des Dickdarms leidet sie an einer deutlich erhöhten Stuhlfrequenz mit 10-15 dünnflüssigen und imperativen Stuhlgängen täglich (Dranginkontinenz).
2. Beweiswürdigung:
Die Feststellungen zum Behindertenpass und zur Antragsstellung ergeben sich aus dem Akteninhalt.
Hinsichtlich der bei der Beschwerdeführerin bestehenden Funktionseinschränkungen wird der im oben wiedergegebenen allgemeinmedizinischen Sachverständigengutachten vom 15.02.2021 aufgenommene Untersuchungsbefund, basierend auf einer persönlichen Untersuchung der Beschwerdeführerin am 08.02.2021 sowie den von ihr vorgelegten medizinischen Befunden, zu Grunde gelegt. Der Sachverständige hielt fest, dass die Beschwerdeführerin an Dranginkontinenz bzw. anhaltender Durchfallsymptomatik leide (vgl. AS 25, 24). Er stützte sich dabei im Wesentlichen auf den fachärztlichen Befund des Landesklinikums XXXX vom 14.10.2020, aus dem auch die festgestellte Stuhlfrequenz und deren Ursache hervorgehen (vgl. AS 17). Diese Feststellungen decken sich auch mit den eigenen Angaben der Beschwerdeführerin.
Die Feststellung der Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel folgt aus den auch vom Sachverständigen festgestellten Funktionseinschränkungen und deren Ausmaß im konkreten Fall. Den Einschätzungen des allgemeinmedizinischen Sachverständigengutachtens zur Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel kann unter Zugrundelegung dieser Einschränkungen, insbesondere bei Berücksichtigung der deutlich erhöhten Stuhlfrequenz der Beschwerdeführerin, jedoch nicht gefolgt werden. Im Gutachten selbst führte der Sachverständige zur Frage der Zumutbarkeit lediglich aus, dass bei den vorliegenden Leiden kein Hinweis auf eine maßgeblich eingeschränkte Mobilität, eine maßgebliche psychische oder neurologische Erkrankung bzw. auch nicht auf ein intellektuelles Defizit hervorgehe, sodass die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel zumutbar sei. Die rasche Erreichbarkeit einer Toilette sei von Vorteil und empfehlenswert, weshalb die Gewährung eines Euroschlüssels empfohlen werde (vgl. AS 23). In seiner ergänzenden Stellungnahme vom 26.03.2021 führte der Sachverständige im Wesentlichen aus, dass eine Versorgung mit Einlagen selbstständig zumutbar sei. Dadurch sei das Verschmutzen von Kleidung vermeidbar und somit eine Benützung öffentlicher Verkehrsmittel mit der Auflage einer erleichterten Erreichbarkeit einer Toilette (Euroschlüssel) aus allgemeinmedizinischer Sicht zumutbar (vgl. AS 35).
Eine nachvollziehbare Begründung dafür, dass der Beschwerdeführerin trotz Art und Ausmaß ihres Leidens die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel zumutbar wäre, ist darin aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts aber nicht zu erkennen. Dass die rasche Erreichbarkeit einer Toilette empfehlenswert sei und ein Eurokey gewährt werden sollte, spricht eher für als gegen das Vorliegen die Mobilität im Alltag durchaus einschränkender Beschwerden. Auch das Argument, dass durch Einlagen eine Verschmutzung vermieden werden könne, überzeugt im vorliegenden Fall nicht. Angesichts der unstrittigen sehr hohen Frequenz und flüssigen Konsistenz der Stuhlgänge ist der Beschwerde darin zuzustimmen, dass Einlagen oder auch andere Hilfsmittel bei der Beschwerdeführerin nicht zuverlässig wirksam wären. Wie der Sachverständige in seiner ergänzenden Stellungnahme selbst ausführte, obliegt die juristische Beurteilung der Zumutbarkeit nicht dem Fachbereich der Medizin. Es handelt sich dabei um eine vom Bundesverwaltungsgericht zu lösende Rechtsfrage. Unter Berücksichtigung der bisher ergangenen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel bei Inkontinenz (siehe dazu noch in der rechtlichen Beurteilung) war daher festzustellen, dass der Beschwerdeführerin die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel nicht zumutbar ist.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu Spruchteil A)
1. Zur Entscheidung in der Sache
Die gegenständlich maßgeblichen Bestimmungen des Bundesbehindertengesetzes (BBG) lauten:
§ 42. (1) Der Behindertenpass hat den Vornamen sowie den Familien- oder Nachnamen, das Geburtsdatum, eine allfällige Versicherungsnummer, den Wohnort und einen festgestellten Grad der Behinderung oder der Minderung der Erwerbsfähigkeit zu enthalten und ist mit einem Lichtbild auszustatten. Zusätzliche Eintragungen, die dem Nachweis von Rechten und Vergünstigungen dienen, sind auf Antrag des behinderten Menschen zulässig. Die Eintragung ist vom Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen vorzunehmen.
…
§ 45. (1) Anträge auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme einer Zusatzeintragung oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung sind unter Anschluss der erforderlichen Nachweise bei dem Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen einzubringen.
(2) Ein Bescheid ist nur dann zu erteilen, wenn einem Antrag gemäß Abs. 1 nicht stattgegeben, das Verfahren eingestellt (§ 41 Abs. 3) oder der Pass eingezogen wird. Dem ausgestellten Behindertenpass kommt Bescheidcharakter zu.
(3) In Verfahren auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme von Zusatzeintragungen oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung hat die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts durch den Senat zu erfolgen.
(4) Bei Senatsentscheidungen in Verfahren gemäß Abs. 3 hat eine Vertreterin oder ein Vertreter der Interessenvertretung der Menschen mit Behinderung als fachkundige Laienrichterin oder fachkundiger Laienrichter mitzuwirken. Die fachkundigen Laienrichterinnen oder Laienrichter (Ersatzmitglieder) haben für die jeweiligen Agenden die erforderliche Qualifikation (insbesondere Fachkunde im Bereich des Sozialrechts) aufzuweisen.
…
§ 46. Die Beschwerdefrist beträgt abweichend von den Vorschriften des Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetzes, BGBl. I Nr. 33/2013, sechs Wochen. Die Frist zur Erlassung einer Beschwerdevorentscheidung beträgt zwölf Wochen. In Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht dürfen neue Tatsachen und Beweismittel nicht vorgebracht werden.
§ 47. Der Bundesminister für Arbeit und Soziales ist ermächtigt, mit Verordnung die näheren Bestimmungen über den nach § 40 auszustellenden Behindertenpaß und damit verbundene Berechtigungen festzusetzen.“
§ 1 Abs. 4 der Verordnung des Bundesministers für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz über die Ausstellung von Behindertenpässen und von Parkausweisen, idg F BGBl II Nr. 263/2016 lautet – soweit im gegenständlichen Fall relevant - auszugsweise:
„§ 1 ….
(4) Auf Antrag des Menschen mit Behinderung ist jedenfalls einzutragen:
1. …….
2. ……
3. die Feststellung, dass dem Inhaber/der Inhaberin des Passes die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung nicht zumutbar ist; die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel ist insbesondere dann nicht zumutbar, wenn das 36. Lebensmonat vollendet ist und
- erhebliche Einschränkungen der Funktionen der unteren Extremitäten oder
- erhebliche Einschränkungen der körperlichen Belastbarkeit oder
- erhebliche Einschränkungen psychischer, neurologischer oder intellektueller
Fähigkeiten, Funktionen oder
- eine schwere anhaltende Erkrankung des Immunsystems oder
- eine hochgradige Sehbehinderung, Blindheit oder Taubblindheit nach § 1
Abs. 2 Z 1 lit. b oder d vorliegen.
(5) Grundlage für die Beurteilung, ob die Voraussetzungen für die in Abs. 4 genannten Eintragungen erfüllt sind, bildet ein Gutachten eines/einer ärztlichen Sachverständigen des Sozialministeriumservice. Soweit es zur ganzheitlichen Beurteilung der Funktionsbeeinträchtigungen erforderlich erscheint, können Experten/Expertinnen aus anderen Fachbereichen beigezogen werden. Bei der Ermittlung der Funktionsbeeinträchtigungen sind alle zumutbaren therapeutischen Optionen, wechselseitigen Beeinflussungen und Kompensationsmöglichkeiten zu berücksichtigen.
(6)……“
In den Erläuterungen zu § 1 Abs. 2 Z 3 zur Stammfassung der Verordnung über die Ausstellung von Behindertenpässen und von Parkausweisen BGBl. II Nr. 495/2013 wird unter anderem – soweit im gegenständlichen Fall relevant – Folgendes ausgeführt:
„Zu § 1 Abs. 2 Z 3 (neu nunmehr § 1 Abs. 4 Z. 3, BGBl. II Nr. 263/2016):
…
Durch die Verwendung des Begriffes „dauerhafte Mobilitätseinschränkung“ hat schon der Gesetzgeber (StVO-Novelle) zum Ausdruck gebracht, dass es sich um eine Funktionsbeeinträchtigung handeln muss, die zumindest 6 Monate andauert. Dieser Zeitraum entspricht auch den grundsätzlichen Voraussetzungen für die Erlangung eines Behindertenpasses.
…
Unter erheblicher Einschränkung der Funktionen der unteren Extremitäten sind ungeachtet der Ursache eingeschränkte Gelenksfunktionen, Funktionseinschränkungen durch Erkrankungen von Knochen, Knorpeln, Sehnen, Bändern, Muskeln, Nerven, Gefäßen, durch Narbenzüge, Missbildungen und Traumen zu verstehen.
Komorbiditäten der oberen Extremitäten und eingeschränkte Kompensationsmöglichkeiten sind zu berücksichtigen. Eine erhebliche Funktionseinschränkung wird in der Regel ab einer Beinverkürzung von 8 cm vorliegen.
Erhebliche Einschränkungen der körperlichen Belastbarkeit betreffen vorrangig cardiopulmonale Funktionseinschränkungen. Bei den folgenden Einschränkungen liegt jedenfalls eine Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel vor:
- arterielle Verschlusskrankheit ab II/B nach Fontaine bei fehlender therapeutischer Option
- Herzinsuffizienz mit hochgradigen Dekompensationszeichen
- hochgradige Rechtsherzinsuffizienz
- Lungengerüsterkrankungen unter Langzeitsauerstofftherapie
- COPD IV mit Langzeitsauerstofftherapie
- Emphysem mit Langzeitsauerstofftherapie
- mobiles Gerät mit Flüssigsauerstoff muss nachweislich benützt werden
Erhebliche Einschränkungen psychischer, neurologischer oder intellektueller Funktionen umfassen im Hinblick auf eine Beurteilung der Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel folgende Krankheitsbilder:
- Klaustrophobie, Soziophobie und phobische Angststörungen als Hauptdiagnose nach ICD 10 und nach Ausschöpfung des therapeutischen Angebotes und einer nachgewiesenen Behandlung von mindestens 1 Jahr,
- hochgradige Entwicklungsstörungen mit gravierenden Verhaltensauffälligkeiten,
- schwere kognitive Einschränkungen, die mit einer eingeschränkten Gefahreneinschätzung des öffentlichen Raumes einhergehen,
- nachweislich therapierefraktäres, schweres, cerebrales Anfallsleiden – Begleitperson ist erforderlich.
Eine schwere anhaltende Erkrankung des Immunsystems, die eine Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel wegen signifikanter Infektanfälligkeit einschränkt, liegt vor bei:
- anlagebedingten, schweren Erkrankungen des Immunsystems (SCID – sever combined immundeficiency),
- schweren, hämatologischen Erkrankungen mit dauerhaftem, hochgradigem Immundefizit (z.B: akute Leukämie bei Kindern im 2. Halbjahr der Behandlungsphase, Nachuntersuchung nach Ende der Therapie),
- fortgeschrittenen Infektionskrankheiten mit dauerhaftem, hochgradigem Immundefizit,
- selten auftretenden chronischen Abstoßungsreaktion nach Nierentransplantationen, die zu zusätzlichem Immunglobulinverlust führen.
Bei Chemo- und/oder Strahlentherapien im Rahmen der Behandlung onkologischer Erkrankungen, kommt es im Zuge des zyklenhaften Therapieverlaufes zu tageweisem Absinken der Abwehrkraft. Eine anhaltende Funktionseinschränkung resultiert daraus nicht.
Anzumerken ist noch, dass in dieser kurzen Phase die Patienten in einem stark reduzierten Allgemeinzustand sind und im Bedarfsfall ein Krankentransport indiziert ist.
Bei allen frisch transplantierten Patienten kommt es nach einer anfänglichen Akutphase mit hochdosierter Immunsuppression, nach etwa 3 Monaten zu einer Reduktion auf eine Dauermedikation, die keinen wesentlichen Einfluss auf die Abwehrkräfte bei üblicher Exposition im öffentlichen Raum hat.
Keine Einschränkung im Hinblick auf die Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel haben:
- vorübergehende Funktionseinschränkungen des Immunsystem als Nebenwirkung im Rahmen von Chemo-und /oder Strahlentherapien,
- laufende Erhaltungstherapien mit dem therapeutischen Ziel, Abstoßreaktionen von Transplantaten zu verhindern oder die Aktivität von Autoimmunerkrankungen einzuschränken,
- Kleinwuchs,
- gut versorgte Ileostoma, Colostoma und Ähnliches mit dichtem Verschluss. Es kommt weder zu Austritt von Stuhl oder Stuhlwasser noch zu Geruchsbelästigungen. Lediglich bei ungünstiger Lokalisation und deswegen permanent undichter Versorgung ist in Ausnahmefällen die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel unzumutbar,
- bei Inkontinenz, da die am Markt üblichen Inkontinenzprodukte ausreichend sicher sind und Verunreinigungen der Person durch Stuhl oder Harn vorbeugen. Lediglich bei anhaltend schweren Erkrankungen des Verdauungstraktes ist in Ausnahmefällen die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel unzumutbar.“
…“
Um die Frage der Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel beurteilen zu können, hat die Behörde nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu ermitteln, ob der Antragsteller dauernd an seiner Gesundheit geschädigt ist und wie sich diese Gesundheitsschädigung nach ihrer Art und ihrer Schwere auf die Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel auswirkt. Sofern nicht die Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel auf Grund der Art und der Schwere der Gesundheitsschädigung auf der Hand liegt, bedarf es in einem Verfahren über einen Antrag auf Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung“ regelmäßig eines ärztlichen Sachverständigengutachtens, in dem die dauernde Gesundheitsschädigung und ihre Auswirkungen auf die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel in nachvollziehbarer Weise dargestellt werden. Nur dadurch wird die Behörde in die Lage versetzt, zu beurteilen, ob dem Betreffenden die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauernder Gesundheitsschädigung unzumutbar ist (vgl. VwGH 23.02.2011, 2007/11/0142, und die dort zitierten Erkenntnisse vom 18.12.2006, 2006/11/0211, und vom 17.11.2009, 2006/11/0178, jeweils mwN.).
Der Verwaltungsgerichtshof hatte sich bereits wiederholt mit der Frage zu beschäftigen, ob die Inkontinenz zur Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel führt und eine entsprechende Zusatzeintragung in den Behindertenpass rechtfertigt (vgl. VwGH 17.06.2013, Zl. 2010/11/0021, VwGH 23.02.2011, Zl. 2007/11/0142). In beiden Erkenntnissen hielt der Verwaltungsgerichtshof die Annahme der dort belangten Behörden, die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel durch den Betroffenen sei zumutbar, im Hinblick auf Art und Ausmaß der Inkontinenz für nicht nachvollziehbar. Die konkrete Auswirkung dieses Aspekts von Erkrankungen auf die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel sei insbesondere betreffend eine gewisse Häufigkeit, Unvorhersehbarkeit und Unabwendbarkeit der behaupteten Zustände zu beachten (vgl. VwGH 17.06.2013, Zl. 2010/11/0021).
In einem weiteren Erkenntnis vom 21.04.2016, Zl. Ra 2016/11/0018, hielt der Verwaltungsgerichtshof daran anschließend zum Fall einer Betroffenen, die an einer Durchfallerkrankung mit häufigem und imperativem Stuhlgang (mindestens 20 Mal pro Tag) leidet, fest, dass es „geradezu offenkundig“ sei und „keiner weiteren Erörterung“ bedürfe, dass die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel bei diesem Krankheitsbild unzumutbar sei. Daran würden angesichts der schweren Ausprägung der Erkrankung die im Handel erhältlichen, vom Verwaltungsgericht angesprochenen Inkontinenzprodukte (saugfähige Einmalhosen) nichts ändern. Der Verwaltungsgerichtshof entschied in der Folge in der Sache selbst und gab dem Antrag auf Vornahme der Zusatzeintragung wegen offenkundigen Vorliegens der Voraussetzungen statt.
Zurecht verweist die Beschwerde auf die Ähnlichkeit des vorliegenden Sachverhalts mit jenen Konstellationen, die den beiden zuletzt zitierten Erkenntnissen des Verwaltungsgerichtshofes zugrunde lagen. Unter Heranziehung der nach dieser Judikatur besonders zu beachtenden Kriterien der Häufigkeit, Unvorhersehbarkeit und Unabwendbarkeit (der Stuhl- bzw. Harnabgänge) ist auch im vorliegenden Fall, in dem es bei der Beschwerdeführerin zu 10-15 dünnflüssigen und imperativen Stuhlgängen täglich kommt, davon auszugehen, dass die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel nicht zumutbar ist. Die Häufigkeit der Stuhlgänge der Beschwerdeführerin kommt auch bereits jener Konstellation, in der nach oben zitiertem Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes die Unzumutbarkeit „geradezu offenkundig“ ist, sehr nahe. Die zum gegenteiligen Ergebnis gelangenden Ausführungen des ärztlichen Sachverständigen vermochten vor diesem Hintergrund, wie in der Beweiswürdigung bereits ausgeführt, nicht zu überzeugen.
Auch der Hinweis in den oben zitierten Erläuterungen zur Verordnung BGBl. II Nr. 495/2013, dass bei Inkontinenz keine Einschränkung im Hinblick auf die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel bestehe, „da die am Markt üblichen Inkontinenzprodukte ausreichend sicher sind und Verunreinigungen der Person durch Stuhl oder Harn vorbeugen“, steht dieser Einschätzung nicht entgegen. Von dieser allgemeinen Vorgabe werden nämlich zugleich anhaltend schwere Erkrankungen des Verdauungstraktes ausgenommen, bei denen in Ausnahmefällen die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel sehr wohl unzumutbar sei (vgl. erneut VwGH 21.04.2016, Ra 2016/11/0018). Im Fall der an Morbus Crohn leidenden Beschwerdeführerin liegt unstrittig eine solche anhaltend schwere Erkrankung des Verdauungstraktes vor.
Mit dem Vorliegen der bei der Beschwerdeführerin objektivierten, auch vom Sachverständigen festgehaltenen aktuellen Funktionsbeeinträchtigungen ist ihr somit aus rechtlicher Sicht nicht zumutbar, öffentliche Verkehrsmittel zu benützen.
Da festgestellt worden ist, dass die dauernden Gesundheitsschädigungen der Beschwerdeführerin ein Ausmaß erreichen, welches die Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung" in den Behindertenpass rechtfertigt, war spruchgemäß zu entscheiden und der Beschwerde stattzugeben.
Die genannte Zusatzeintragung in den Behindertenpass der Beschwerdeführerin – sowie die Beurteilung des beantragten Ausweises gemäß § 29 b StVO – wird daher in weiterer Folge von der belangten Behörde vorzunehmen sein.
2. Zum Entfall einer mündlichen Verhandlung
Gemäß § 24 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht auf Antrag oder, wenn es dies für erforderlich hält, von Amts wegen eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen.
Gemäß § 24 Abs. 2 VwGVG kann die Verhandlung entfallen, wenn
1. der das vorangegangene Verwaltungsverfahren einleitende Antrag der Partei oder die Beschwerde zurückzuweisen ist oder bereits auf Grund der Aktenlage feststeht, dass der mit Beschwerde angefochtene Bescheid aufzuheben, die angefochtene Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt oder die angefochtene Weisung für rechtswidrig zu erklären ist oder
2. die Säumnisbeschwerde zurückzuweisen oder abzuweisen ist;
3. wenn die Rechtssache durch einen Rechtspfleger erledigt wird.
Gemäß § 24 Abs. 3 VwGVG hat der Beschwerdeführer die Durchführung einer Verhandlung in der Beschwerde oder im Vorlageantrag zu beantragen. Den sonstigen Parteien ist Gelegenheit zu geben, binnen angemessener, zwei Wochen nicht übersteigender Frist einen Antrag auf Durchführung einer Verhandlung zu stellen. Ein Antrag auf Durchführung einer Verhandlung kann nur mit Zustimmung der anderen Parteien zurückgezogen werden.
Gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG kann, soweit durch Bundes- oder Landesgesetz nicht anderes bestimmt ist, das Verwaltungsgericht ungeachtet eines Parteiantrags von einer Verhandlung absehen, wenn die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, und einem Entfall der Verhandlung weder Art. 6 Abs. 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 210/1958, noch Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, ABl. Nr. C 83 vom 30.03.2010 S. 389 entgegenstehen.
Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung wurde iSd § 24 Abs. 1 VwGVG weder beantragt, noch hält Bundesverwaltungsgericht eine solche für erforderlich. Die Beschwerdeführerin beantragte eine mündliche Verhandlung lediglich „in eventu“ für den Fall der Nichtstattgabe ihrer Beschwerde.
Die Frage der Feststellung des Gesamtgrades der Behinderung wurde unter Mitwirkung einer ärztlichen Sachverständigen geprüft. Die strittigen Tatsachenfragen (Art und Ausmaß der Funktionseinschränkungen) gehören dem Bereich zu, der vom Sachverständigen zu beleuchten ist. Der entscheidungsrelevante Sachverhalt ist vor dem Hintergrund der vorliegenden, nicht substantiiert bestrittenen schlüssigen Sachverständigengutachten geklärt, sodass im Sinne der Judikatur des EGMR und der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. VwGH 16.12.2013, 2011/11/0180) und des Verfassungsgerichtshofes (vgl. VfGH 09.06.2017, E 1162/2017) eine mündliche Verhandlung nicht geboten war. Art. 6 EMRK bzw. Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union stehen somit dem Absehen von einer mündlichen Verhandlung gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG nicht entgegen. Dies lässt die Einschätzung zu, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten ließ und eine Entscheidung ohne vorherige Verhandlung im Beschwerdefall nicht nur mit Art. 6 EMRK und Art. 47 GRC kompatibel ist, sondern auch im Sinne des Gesetzes (§ 24 Abs. 1 VwGVG) liegt, weil damit dem Grundsatz der Zweckmäßigkeit, Raschheit, Einfachheit und Kostenersparnis (§ 39 Abs. 2a AVG) gedient ist, gleichzeitig aber das Interesse der materiellen Wahrheit und der Wahrung des Parteiengehörs nicht verkürzt wird.
Zu Spruchteil B)
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
Konkrete Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung sind weder in der gegenständlichen Beschwerde vorgebracht worden noch im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht hervorgekommen. Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen.
Schlagworte
Behindertenpass öffentliche Verkehrsmittel Sachverständigengutachten Unzumutbarkeit ZusatzeintragungEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2021:W265.2243096.1.00Im RIS seit
11.11.2021Zuletzt aktualisiert am
11.11.2021