TE Vfgh Beschluss 2021/9/22 G311/2020

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Veröffentlicht am 22.09.2021
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Index

25/01 Strafprozess

Norm

B-VG Art140 Abs1 Z1 litc
StPO §210 Abs3
VfGG §7 Abs2, §62 Abs1

Leitsatz

Zurückweisung eines Individualantrages auf Aufhebung einer Bestimmung der StPO betreffend Anträge auf Einstellung des Strafverfahrens mangels Darlegung der unmittelbaren und aktuellen Betroffenheit

Spruch

Der Antrag wird zurückgewiesen.

Begründung

Begründung

I. Antrag

Mit dem vorliegenden, auf Art140 Abs1 B-VG gestützten Antrag begehren die Antragsteller, der Verfassungsgerichtshof möge "§210 Abs3 letzter Satz StPO […] als verfassungswidrig […] auf[…]heben".

II. Rechtslage

Die maßgeblichen Bestimmungen der Strafprozeßordnung 1975 (StPO), BGBl 631/1975 idF BGBl I 159/2021, lauten (die angefochtene Wortfolge ist hervorgehoben):

"Antrag auf Einstellung

§108. (1) Das Gericht hat das Ermittlungsverfahren auf Antrag des Beschuldigten einzustellen, wenn

1. auf Grund der Anzeige oder der vorliegenden Ermittlungsergebnisse feststeht, dass die dem Ermittlungsverfahren zu Grunde liegende Tat nicht mit gerichtlicher Strafe bedroht oder die weitere Verfolgung des Beschuldigten sonst aus rechtlichen Gründen unzulässig ist, oder

2. der bestehende Tatverdacht nach Dringlichkeit und Gewicht sowie im Hinblick auf die bisherige Dauer und den Umfang des Ermittlungsverfahrens dessen Fortsetzung nicht rechtfertigt und von einer weiteren Klärung des Sachverhalts eine Intensivierung des Verdachts nicht zu erwarten ist.

(2) Der Antrag ist bei der Staatsanwaltschaft einzubringen. Ein Antrag auf Einstellung gemäß Abs1 Z2 darf frühestens drei Monate, wird dem Beschuldigten jedoch ein Verbrechen zur Last gelegt, sechs Monate ab Beginn des Strafverfahrens eingebracht werden. Die Staatsanwaltschaft hat das Verfahren einzustellen (§§190, 191) oder den Antrag längstens binnen vier Wochen mit einer allfälligen Stellungnahme an das Gericht weiterzuleiten. §106 Abs5 letzter Satz gilt sinngemäß.

(3) Das Gericht hat den Antrag als unzulässig zurückzuweisen, wenn er nicht vom Beschuldigten oder vor Ablauf der im Abs2 erwähnten Fristen eingebracht wurde, und im Übrigen in der Sache zu entscheiden.

(4) Die Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen einen Beschluss auf Einstellung des Verfahrens hat aufschiebende Wirkung.

[…]

Die Anklage

§210. (1) Wenn auf Grund ausreichend geklärten Sachverhalts eine Verurteilung nahe liegt und kein Grund für die Einstellung des Verfahrens oder den Rücktritt von Verfolgung vorliegt, hat die Staatsanwaltschaft bei dem für das Hauptverfahren zuständigen Gericht Anklage einzubringen; beim Landesgericht als Geschworenen- oder Schöffengericht mit Anklageschrift, beim Landesgericht als Einzelrichter und beim Bezirksgericht mit Strafantrag.

(2) Durch das Einbringen der Anklage beginnt das Hauptverfahren, dessen Leitung dem Gericht obliegt. Die Staatsanwaltschaft wird zur Beteiligten des Verfahrens.

(3) Die Festnahme des Angeklagten ist auf Antrag der Staatsanwaltschaft vom Gericht anzuordnen, auch andere Zwangsmittel und Beweisaufnahmen, die im Ermittlungsverfahren einer Anordnung oder Genehmigung der Staatsanwaltschaft bedürfen, sind nach Einbringen der Anklage durch das Gericht anzuordnen oder zu bewilligen. Die Durchführung obliegt weiterhin der Kriminalpolizei; Berichte und Verständigungen hat sie an das Gericht zu richten. Anträge auf Einstellung des Verfahrens (§108) sind nach dem Einbringen der Anklage nicht mehr zulässig, bereits eingebrachte werden gegenstandslos.

(4) Außerhalb der Hauptverhandlung bestimmt sich die Zuständigkeit des Landesgerichts als Geschworenen- oder Schöffengericht nach §32 Abs3."

III. Anlassverfahren und Antragsvorbringen

1. Zum Anlassverfahren ist dem Antrag Folgendes zu entnehmen (Zitat ohne die Hervorhebungen im Original):

"Im Verfahren zu (nunmehr) 34 Hv 119/17y des LG Leoben wurde durch die Staatsanwaltschaft Graz zu 4 St 53/17v am 28.11.2017 Strafantrag gegen die AntragstellerInnen eingebracht. Mit Verfügung vom 1.2.2019 wurde betreffend den gesamten Strafantrag die Hauptverhandlung für 7.3.2019 anberaumt. Mit Eingabe vom 17.9.2019 beantragten die […] Beschwerdeführer die Einstellung des Hauptverfahrens in einigen Anklagepunkten wegen des Grundsatzes 'ne bis in idem'. Mit Beschluss vom 7.10.2019 wies das LG Leoben den Einstellungsantrag ab. Dagegen wurde durch die hier Beschwerdeführer Beschwerde erhoben. Das OLG Graz gab mit Beschluss vom 13.11.2019 zu 8 Bs 392/19m der Beschwerde nicht Folge. Gegen diese Entscheidung steht ein weiterer Rechtszug nicht zu.

[…]

Der Einstellungsbeschluss der Staatsanwaltschaft Graz zu 10 St 61/17v vom 14.10.2019 ist eine Aburteilung in der Sache (ein Strafanklageverbrauch), also eine endgültige Einstellung aus Beweis- oder rechtlichen Gründen nach materiell-rechtlicher Prüfung des Sachverhalts durch die Staatsanwaltschaft […].

[…]

[Zudem ist] im gegenständlichen Fall bereits eine Hauptverhandlung anberaumt worden […] – welche im Übrigen wieder abberaumt wurde und [es wurde] bis zur Antragstellung auch keine neue ausgeschrieben […]".

2. Mit dem vorliegenden, seinem Wortlaut nach auf Art140 Abs1 Z1 litc B-VG gestützten Antrag begehren die Antragsteller, §210 Abs3 letzter Satz StPO als verfassungswidrig aufzuheben.

2.1. Zu ihrer Antragslegitimation führen die Antragsteller Folgendes aus (Zitat ohne die Hervorhebungen im Original):

"Die AntragstellerInnen sind direkt durch die als verfassungswidrig bekämpfte Bestimmung betroffen.

Es ist den AntragstellerInnen nicht zumutbar, dass sie sich zuerst einer Hauptverhandlung mit ungewissem Ausgang und der damit einhergehenden Ruf- und Vermögensschädigung unterwerfen müssen, bevor sie ihre Recht vor dem Verfassungsgerichtshof nach Ausschöpfung des Instanzenzuges geltend machen können.

[G]egenständlicher Antrag ist daher jedenfalls zulässig.

[…]

Durch die als verfassungswidrig bekämpfte Bestimmung werden die verfassungsrechtlich geschützten Interessen der AntragstellerInnen nicht nur potentiell, sondern tatsächlich beeinträchtigt. Die angefochtene Norm entfaltet für die AntragstellerInnen nicht nur faktische (wirtschaftliche, rufschädigende, freiheitsbeschränkende), sondern auch rechtliche Wirkung.

Die AntragstellerInnen sind also nicht nur von wirtschaftlichen, sozialen und rechtlichen Nachteilen und anderen möglichen Sanktionen bedroht, sondern in ihren subjektiven verfassungsrechtlich geschützten Rechten verletzt.

Die AntragstellerInnen sind die Normadressaten der prüfungsgegenständlichen Bestimmung und aufgrund der Tatsache, dass eine Hauptverhandlung anberaumt wurde, vom Verstoß gegen das Doppelverfolgungsverbot, auch aktuell betroffen.

Es besteht für die AntragstellerInnen kein zumutbarer 'Um'weg[,] eine entsprechende Entscheidung zu erlangen.

Jedweder (weiterer) Gerichtsweg ist ausgeschlossen.

Der gestellte Antrag auf Einstellung und nachfolgende Beschwerde wurde abgewiesen. Ein weiterer innerstaatlicher Rechtszug steht hier nicht zu. Eine Beschwerde an den EGMR wurde erhoben.

Es kann den AntragstellerInnen nicht zugemutet werden – und dies in ständiger gefestigter Rechtsprechung – eine mündliche öffentliche Hauptverhandlung über sich ergehen lassen zu müssen, um möglicherweise in der Folge eine (negative) Entscheidung wegen subjektiv-verfassungswidrigen Gesetzen bekämpfen zu können."

2.2. In der Sache behaupten die Antragsteller, §210 Abs3 letzter Satz StPO verstoße, weil er der – allenfalls neuerlichen – Verfahrenseinstellung entgegenstehe, gegen das Recht gemäß Art4 7. ZPEMRK, wegen derselben Sache nicht zweimal vor Gericht gestellt oder bestraft zu werden, sowie gegen weitere näher bezeichnete Rechte.

IV. Zulässigkeit

1. Der Antrag ist unzulässig.

2. Gemäß Art140 Abs1 Z1 litc B-VG erkennt der Verfassungsgerichtshof über die Verfassungswidrigkeit von Gesetzen auf Antrag einer Person, die unmittelbar durch diese Verfassungswidrigkeit in ihren Rechten verletzt zu sein behauptet, wenn das Gesetz ohne Fällung einer gerichtlichen Entscheidung oder ohne Erlassung eines Bescheides für diese Person wirksam geworden ist. Wie der Verfassungsgerichtshof in seiner mit VfSlg 8009/1977 und 8058/1977 beginnenden ständigen Rechtsprechung ausgeführt hat, ist daher grundlegende Voraussetzung für die Antragslegitimation, dass das Gesetz in die Rechtssphäre der betroffenen Person unmittelbar eingreift und sie – im Falle seiner Verfassungswidrigkeit – verletzt. Hiebei hat der Verfassungsgerichtshof vom Antragsvorbringen auszugehen und lediglich zu prüfen, ob die vom Antragsteller ins Treffen geführten Wirkungen solche sind, wie sie Art140 Abs1 Z1 litc B-VG als Voraussetzung für die Antragslegitimation fordert (vgl zB VfSlg 10.353/1985, 15.306/1998, 16.890/2003).

2.1. Es ist darüber hinaus erforderlich, dass das Gesetz selbst tatsächlich in die Rechtssphäre des Antragstellers unmittelbar eingreift. Ein derartiger Eingriff ist nur dann anzunehmen, wenn dieser nach Art und Ausmaß durch das Gesetz selbst eindeutig bestimmt ist, wenn er die (rechtlich geschützten) Interessen des Antragstellers nicht bloß potentiell, sondern aktuell beeinträchtigt und wenn dem Antragsteller kein anderer zumutbarer Weg zur Abwehr des – behaupteterweise – rechtswidrigen Eingriffes zur Verfügung steht (VfSlg 11.868/1988, 15.632/1999, 16.616/2002, 16.891/2003).

2.2. Nach §62 Abs1 letzter Satz VfGG hat ein Antrag auf Normenkontrolle, der von einer Person gestellt wurde, die unmittelbar durch die Rechtswidrigkeit einer Norm in ihren Rechten verletzt zu sein behauptet, demgemäß darzutun, inwieweit die Norm ohne Fällung einer gerichtlichen Entscheidung oder ohne Erlassung eines Bescheides für die Person wirksam geworden ist, inwiefern die Norm also in die Rechtssphäre des Antragstellers unmittelbar nachteilig eingreift. Wird durch einen Antrag nicht konkret dargetan, inwieweit durch das bekämpfte Gesetz ein unmittelbarer und aktueller Eingriff in die Rechtssphäre des Antragstellers erfolgt, so leidet der Antrag an einem inhaltlichen, nicht verbesserungsfähigen Mangel (zB VfSlg 18.187/2007; VfGH 21.11.2013, G85/2013; 8.10.2014, G65/2014).

3. Die Antragsteller haben es entgegen §62 Abs1 letzter Satz VfGG unterlassen, ihre unmittelbare und aktuelle Betroffenheit in Bezug auf die angefochtene Bestimmung im Einzelnen darzulegen: Sie beschränken sich auf die pauschale Behauptung, "direkt durch die als verfassungswidrig bekämpfte Bestimmung" und "aufgrund der Tatsache, dass eine Hauptverhandlung anberaumt wurde […], auch aktuell betroffen" zu sein, sowie auf den Hinweis, ein zumutbarer anderer Weg zur Herantragung ihrer Bedenken an den Verfassungsgerichtshof stünde ihnen nicht offen (Pkt. 2.1.). Nachvollziehbare Angaben, anhand derer widerspruchsfrei beurteilt werden könnte, ob die angefochtene Norm unmittelbar und aktuell in die Rechtssphäre der Antragsteller eingreift, sind dem gesamten Antrag indes nicht zu entnehmen. Aufgabe des Verfassungsgerichtshofes kann es nicht sein, über das Vorliegen der Anwendbarkeit der angefochtenen Bestimmungen auf die Antragsteller Vermutungen anzustellen und allenfalls an Hand bloßer Mutmaßungen die Antragsvoraussetzungen zu beurteilen (VfSlg 17.064/2003). Dem Antrag steht schon aus diesem Grund ein nicht behebbares Prozesshindernis entgegen (VfSlg 19.435/2011).

4. Der Antrag ist somit als unzulässig zurückzuweisen, ohne dass das Vorliegen der übrigen Prozessvoraussetzungen näher zu prüfen ist.

V. Ergebnis

Der Antrag ist daher zurückzuweisen.

Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs3 Z2 lite VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

Schlagworte

Strafprozessrecht, Anklage, Einstellung, VfGH / Formerfordernisse, VfGH / Individualantrag, VfGH / Legitimation

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2021:G311.2020

Zuletzt aktualisiert am

26.11.2021
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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