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L92003 Sozialhilfe Grundsicherung Mindestsicherung NiederösterreichNorm
AVG §13Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Rigler und die Hofräte Dr. Lukasser, Dr. Hofbauer und Dr. Fasching sowie die Hofrätin Dr. Leonhartsberger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Tscheließnig, über die Revision der Niederösterreichischen Landesregierung, gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichtes Niederösterreich vom 31. Juli 2020, Zl. LVwG-AV-614/001-2020, betreffend Leistungen nach dem NÖ Sozialhilfe-Ausführungsgesetz (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bürgermeister der Landeshauptstadt St. Pölten; mitbeteiligte Parteien: 1. M J, 2. R J, 3. H J, 4. M J, 5. M J, 6. A J, 7. B J und 8. E J, die minderjährigen dritt- bis achtmitbeteiligten Parteien vertreten durch ihren Vater M J, alle in S), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird, soweit damit über Leistungen zur Deckung des Wohnbedarfs an die erst- und zweitmitbeteiligten Parteien abgesprochen wird, wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Im Übrigen - somit hinsichtlich der allen mitbeteiligten Parteien zuerkannten Leistungen für den allgemeinen Lebensunterhalt - wird die Revision zurückgewiesen.
Begründung
1 Mit Bescheid vom 13. Mai 2020 erkannte die belangte Behörde den mitbeteiligten Parteien jeweils Geldleistungen zur Unterstützung des allgemeinen Lebensunterhalts und der erst- und zweitmitbeteiligten Partei darüber hinaus Geldleistungen zur Befriedigung des Wohnbedarfs für den Zeitraum von 1. Mai 2020 bis 30. April 2021 in näher bestimmter Höhe zu.
2 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich (Verwaltungsgericht) die dagegen von den mitbeteiligten Parteien erhobene Beschwerde als unbegründet ab und bestätigte den angefochtenen Bescheid mit der Maßgabe, dass in den Spruchpunkten I. bis VIII. jeweils die Wortfolge „... erhält folgende Geldleistungen ...“ durch die Wortfolge „erhält folgende monatliche Geldleistungen...“ ersetzt werde. Weiters sprach es aus, dass die ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
3 Begründend führte das Verwaltungsgericht aus, der Antrag der mitbeteiligten Parteien sei am 24. April 2020 gestellt worden, weshalb das NÖ Sozialhilfe-Ausführungsgesetz (NÖ SAG) heranzuziehen sei. Die mitbeteiligten Parteien hätten dem Grunde nach Anspruch auf Leistungen gemäß § 12 Abs. 1 NÖ SAG. Strittig sei lediglich die Höhe der Leistungen gewesen. Diesbezüglich sei - so das Verwaltungsgericht mit näherer Begründung - jedoch keine Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides zu erkennen. Die Spruchkorrektur diene lediglich der Klarstellung, dass die zukommenden Geldleistungen im Sinne des § 12 Abs. 5 NÖ SAG monatlich auszuzahlen seien.
4 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Amtsrevision. Die mitbeteiligten Parteien erstatteten eine Revisionsbeantwortung.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
5 Zur Zulässigkeit der Amtsrevision wird vorgebracht, es fehle Rechtsprechung zur Frage, unter welchen Voraussetzungen die Leistungen zur Befriedigung des Wohnbedarfs als Geld- statt als Sachleistung zu gewähren seien. Die Rechtsfrage liege im Interesse der Allgemeinheit an einer einheitlichen Rechtsprechung. Das Verwaltungsgericht habe erkannt, dass den mitbeteiligten Parteien Leistungen zur Unterstützung des allgemeinen Lebensunterhalts und Leistungen zur Befriedigung des Wohnbedarfs zustünden. Leistungen zur Befriedigung des Wohnbedarfs seien gemäß § 12 Abs. 4 zweiter Satz NÖ SAG vorrangig als Sachleistungen zu gewähren, sofern dies nicht unwirtschaftlich bzw. unzweckmäßig sei. Das Verwaltungsgericht habe keine Feststellungen dazu getroffen, ob die Gewährung einer Sachleistung im konkreten Fall unwirtschaftlich bzw. unzweckmäßig gewesen sei. Trotzdem habe es Geldleistungen zugesprochen und somit die Bestimmung des § 12 Abs. 4 NÖ SAG rechtswidrig angewendet.
6 Da sich die Zulässigkeitsbegründung der Revision ausschließlich gegen die Zuerkennung von Leistungen zur Deckung des Wohnbedarfs wendet, ist die Revision hinsichtlich der minderjährigen mitbeteiligten Parteien, welchen solche Leistungen nicht zuerkannt wurden, zurückzuweisen, weil das Schicksal der Revision insoweit nicht von der Lösung dieser Rechtsfrage abhängt.
7 Dagegen erweist sich die Revision als zulässig und berechtigt, soweit sie die Zuerkennung von Leistungen zur Deckung des Wohnbedarfs an die erst- und zweitmitbeteiligten Parteien betrifft. Soweit dagegen Leistungen zur Deckung des Lebensunterhalts an die erst- und zweitmitbeteiligten Parteien zuerkannt wurden, erweist sich die Revision insoweit aus dem im vorstehenden Absatz genannten Grund als unzulässig und ist aufgrund der Teilbarkeit der in Rede stehenden Sozialhilfeleistungen in diesem Umfang zurückzuweisen.
8 Der in der Revisionsbeantwortung von den mitbeteiligten Parteien vertretenen Auffassung, die Frage des Vorrangs von Sachleistungen sei nicht Gegenstand des Verfahrens gewesen, weil nur die Höhe der Geldleistung festzusetzen gewesen sei, während die Entscheidung dem Grunde nach, ob eine Sach- oder Geldleistung zu gewähren sei, dem Verwaltungsgericht mangels Anfechtung nicht zugestanden sei, ist zu entgegnen, dass „Sache“ des Beschwerdeverfahrens vor dem Verwaltungsgericht jene Angelegenheit ist, die den Inhalt des Spruchs der belangten Behörde gebildet hat. Dabei bestimmt der Antrag grundsätzlich den Umfang der Sache (vgl. Köhler in Köhler/Brandtner/Schmelz (Hrsg), VwGVG Kommentar § 28 VwGVG Rz 35, 36; Leeb in Hengstschläger/Leeb, AVG ErgBd (2017) § 28 VwGVG Rz 36, 37). Die mitbeteiligten Parteien haben - entgegen der aktenwidrigen Feststellung des Verwaltungsgerichts, die von der ausdrücklichen Beantragung der Zuerkennung von Geldleistungen ausgeht (vgl. zur fehlenden Bindung des Verwaltungsgerichtshofs an aktenwidrige Feststellungen etwa VwGH 10.3.1994, 94/19/0274; 31.1.2013, 2012/04/0078-0079) - einen Antrag auf „monatliche Leistungen nach dem NÖ SAG“ gestellt, der mit der Zuerkennung monatlicher Geldleistungen zur Deckung des Lebensunterhalts und Wohnbedarfs (letztere nur hinsichtlich der erst- und zweitmitbeteiligten Parteien) durch Bescheid der belangten Behörde vollinhaltlich erledigt wurde. Das Verwaltungsgericht hatte daher über diese Angelegenheit (Zuerkennung von monatlichen Sozialhilfeleistungen nach dem NÖ SAG) zu entscheiden. Dabei war es auch nicht an das (allenfalls eingeschränkte) Beschwerdevorbringen gebunden (vgl. dazu VwGH 23.2.2018, Ro 2017/03/0025).
9 Es liegt mangels Trennbarkeit des Spruchs keine Teilrechtskraft hinsichtlich der Zuerkennung von Geldleistungen dem Grunde nach vor, weil es sich bei der Entscheidung über die Zuerkennung von Sozialhilfeleistungen hinsichtlich der Leistungsart und des Leistungsumfangs aufgrund des inneren Zusammenhangs um einen einheitlichen, nicht teilbaren Abspruch handelt. Eine Trennbarkeit von Absprüchen wäre dagegen dann gegeben, wenn jeder Teil für sich allein ohne einen inneren Zusammenhang mit anderen Teilen einem gesonderten Abspruch zugänglich ist (vgl. etwa VwGH 28.1.2020, Ra 2019/03/0076; 25.9.2019, Ra 2019/19/0399, jeweils mwN).
10 Die Revision ist auch nicht deshalb unzulässig, weil sich nach dem Vorbringen der mitbeteiligten Parteien im Verfahren keine Anhaltspunkte dafür ergeben hätten, dass eine Sachleistung eine höhere Effizienz der Erfüllung der Leistungsziele hätte erwarten lassen, weshalb eine diesbezügliche Negativfeststellung nicht erforderlich gewesen sei. Die mitbeteiligten Parteien übersehen dabei, dass speziell für Leistungen für den Wohnbedarf - um die es nach der Revision ausschließlich geht - gilt, dass solche in Form von Sachleistungen zu gewähren sind, sofern sie nicht unwirtschaftlich oder unzweckmäßig sind. Zu diesen Voraussetzungen bringt die Revisionsbeantwortung nichts vor.
11 Schließlich vertreten die mitbeteiligten Parteien die Auffassung, die Revision sei in Ermangelung einer Anfechtungserklärung zurückzuweisen. Dem ist entgegen zu halten, dass - selbst wenn eine Anfechtungserklärung fehlte, was vorliegend nicht der Fall ist - zunächst gemäß § 34 Abs. 2 VwGG mit einem Mängelbehebungsauftrag vorzugehen wäre, nicht aber mit einer sofortigen Zurückweisung der Revision.
12 Dem Gebot der Erklärung über den Umfang der Anfechtung ist nach ständiger Rechtsprechung bereits dann entsprochen, wenn die Revision die Angabe enthält, dass das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes wegen Rechtswidrigkeit angefochten werde (vgl. VwGH 28.2.2019, Ra 2018/12/0002; 20.9.2018, Ro 2018/17/0009; 26.6.2014, Ra 2014/03/0004). Da die vorliegende Revision die Angabe enthält, dass das verwaltungsgerichtliche Erkenntnis wegen rechtswidriger Gewährung von Leistungen zur Befriedigung des Wohnbedarfs als Geld- anstatt als Sachleistung an Rechtswidrigkeit leide, erweist sie sich als zur ordnungsgemäßen Behandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof geeignet.
13 § 3 Abs. 5 Sozialhilfe-Grundsatzgesetz, BGBl. I Nr. 41/2019, lautet:
„(5) Leistungen der Sozialhilfe sind vorrangig als Sachleistungen vorzusehen, soweit dadurch eine höhere Effizienz der Erfüllung der Leistungsziele zu erwarten ist. Leistungen für den Wohnbedarf sind, sofern dies nicht unwirtschaftlich oder unzweckmäßig ist, in Form von Sachleistungen zu gewähren. Als Sachleistung gilt auch die unmittelbare Entgeltzahlung an eine Person, die eine Sachleistung zugunsten eines Bezugsberechtigten erbringt.“
14 In den Erläuterungen zur Regierungsvorlage zur Einführung des Sozialhilfe-Grundsatzgesetzes, BGBl. I Nr. 41/2019, wird dazu ausgeführt (ErläutRV 514 BlgNR 26. GP 4):
„Abs. 5 normiert einen Vorrang von Sachleistungen, der insbesondere in Bezug auf die Befriedigung des Wohnbedarfs gelten soll. Die begriffliche Unterscheidung zwischen Geld- und Sachleistungen orientiert sich am Sozialversicherungsrecht. Das Wesen der Sachleistung besteht darin, dass der Bezugsberechtigte weder mittelbar noch unmittelbar Geld empfängt, sondern durch Sachleistungen versorgt wird. Als Sachleistung gilt somit auch die unmittelbare Bezahlung entgeltlicher Sachleistungen an Dritte, beispielsweise allgemeine Wohnkosten an den Vermieter einer Wohnung, Stromkosten an ein Versorgungsunternehmen oder die Bezahlung von Kaufpreisen für die Überlassung von Hausrat.“
15 § 12 Abs. 4 NÖ SAG, LGBl. Nr. 70/2019, lautet:
„(4) Leistungen der Sozialhilfe sind vorrangig als Sachleistungen zu gewähren, soweit dadurch eine höhere Effizienz der Erfüllung der Leistungsziele zu erwarten ist. Leistungen für den Wohnbedarf sind, sofern dies nicht unwirtschaftlich oder unzweckmäßig ist, in Form von Sachleistungen zu gewähren. Als Sachleistung gilt auch die unmittelbare Entgeltzahlung an eine Person, die eine Sachleistung zugunsten eines Bezugsberechtigten erbringt.“
16 In den Gesetzesmaterialien (Initiativantrag) zu § 12 Abs. 4 NÖ SAG wird ausgeführt (Ltg.-690/A-1/50-2019, S. 22):
„Abs. 4 normiert, dass entsprechend § 3 Abs. 5 des Sozialhilfe-Grundsatzgesetzes Leistungen der Sozialhilfe vorrangig als Sachleistungen zu gewähren sind. Dies gilt insbesondere für Leistungen zur Befriedigung des Wohnbedarfs, hier sind primär Sachleistungen zu gewähren, sofern dies nicht unwirtschaftlich oder unzweckmäßig ist. Als Sachleistungen gelten alle Leistungen, durch welche der Bezugsberechtigte weder mittelbar noch unmittelbar Geld empfängt, weshalb auch die unmittelbare Bezahlung an einen Dritten - zB zur Abdeckung der Wohnkosten an den Vermieter oder der Energiekosten an das Versorgungsunternehmen - als Sachleistung gilt.“
17 In der Revision wird vorgebracht, das Verwaltungsgericht hätte zu prüfen gehabt, ob die gewährten Leistungen zur Deckung des Wohnbedarfs nicht anstelle von Geldleistungen in Form von Sachleistungen gewährt hätten werden können bzw. müssen.
18 Bei der Interpretation einer Gesetzesnorm - wie hier der Bestimmung des § 12 Abs. 4 NÖ SAG - ist auf den Wortsinn und insbesondere auch den Zweck der Regelung, auf den Zusammenhang mit anderen Normen sowie die Absicht des Gesetzgebers abzustellen. Erläuterungen zur Regierungsvorlage können im Rahmen der Interpretation des Gesetzes einen Hinweis auf das Verständnis des Gesetzes bieten (vgl. VwGH 19.4.2021, Ro 2020/10/0024).
19 § 12 Abs. 4 zweiter Satz NÖ SAG normiert, dass Leistungen für den Wohnbedarf, sofern dies nicht unwirtschaftlich oder unzweckmäßig ist, in Form von Sachleistungen zu gewähren sind. Nach dem klaren Wortlaut dieser Bestimmung ist daher zunächst davon auszugehen, dass Leistungen zur Deckung des Wohnbedarfs als Sachleistungen zugesprochen werden müssen. Dies ist nur dann nicht der Fall, wenn Umstände hervorkommen, die zur Beurteilung führen, dass Sachleistungen unwirtschaftlich oder unzweckmäßig sind. Die Abweichung vom Grundsatz des Vorrangs von Sachleistungen ist daher vom Verwaltungsgericht nachvollziehbar zu begründen.
20 Ergänzend zum eindeutigen Wortlaut des § 12 Abs. 4 NÖ SAG sprechen sowohl die Materialien zu dieser Bestimmung als auch jene zum wortgleichen § 3 Abs. 5 Sozialhilfe-Grundsatzgesetz eindeutig dafür, dass nunmehr - entgegen der früheren Rechtslage - zwingend primär Sachleistungen zur Befriedigung des Wohnbedarfs gewährt werden sollen (vgl. zur Rechtslage vor dem 1.1.2020: § 9 Abs. 3 NÖ Mindestsicherungsgesetz). Nur wenn sich diese als unwirtschaftlich oder unzweckmäßig erweisen, sind Geldleistungen zuzusprechen.
21 Im konkreten Fall hat sich das Verwaltungsgericht, das die einschlägige Norm des § 12 Abs. 4 NÖ SAG nicht einmal erwähnt hat, mit diesen Voraussetzungen jedoch nicht auseinandergesetzt. Weder wurden diesbezügliche Feststellungen getroffen, noch wurde begründet, warum der Wohnbedarf im konkreten Fall als Geldleistung anstelle einer Sachleistung zu gewähren war.
22 Ausgehend von der unzutreffenden Annahme, dass Geldleistungen zur Deckung des Wohnbedarfs zugesprochen werden können, ohne die Unwirtschaftlichkeit oder Unzweckmäßigkeit des Zuspruchs von Sachleistungen zu prüfen und zu begründen, inwiefern eine solche vorliegt, hat das Verwaltungsgericht die Rechtslage verkannt und das angefochtene Erkenntnis, soweit es sich auf die Zuerkennung von Leistungen zur Deckung des Wohnbedarfs an die erst- und zweitmitbeteiligten Parteien bezieht, mit Rechtswidrigkeit seines Inhaltes belastet, weshalb es insoweit gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben war.
Wien, am 5. Oktober 2021
Schlagworte
Anzuwendendes Recht Maßgebende Rechtslage VwRallg2 Auslegung Anwendung der Auslegungsmethoden Verhältnis der wörtlichen Auslegung zur teleologischen und historischen Auslegung Bedeutung der Gesetzesmaterialien VwRallg3/2/2 Besondere Rechtsgebiete Mängelbehebung Rechtskraft Umfang der Rechtskraftwirkung Allgemein Bindung der Behörde Trennbarkeit gesonderter AbspruchEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020100134.L00Im RIS seit
06.12.2021Zuletzt aktualisiert am
05.04.2022