TE Vwgh Erkenntnis 2021/10/14 Ra 2021/19/0027

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Veröffentlicht am 14.10.2021
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Index

E1P
001 Verwaltungsrecht allgemein
40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §12a Abs2
AsylG 2005 §12a Abs2 Z2
AsylG 2005 §20 Abs1
AsylG 2005 §20 Abs2
AsylG 2005 §22 Abs10
AVG §68 Abs1
BFA-VG 2014 §22 Abs1
BFA-VG 2014 §22 Abs3
FrPolG 2005 §46
VwGVG 2014 §28 Abs3
VwRallg
12010P/TXT Grundrechte Charta Art47

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Büsser, die Hofräte Dr. Pürgy, Dr. Faber und Dr. Chvosta sowie die Hofrätin Dr. Funk-Leisch als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Seiler, über die Revision des S D, vertreten durch Ing. Mario Laimgruber, LL.M., Rechtsanwalt in 1010 Wien, Mölker Bastei 5, gegen den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 15. Dezember 2020, W105 2114279-6/3E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Beschluss wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Der Revisionswerber, ein guineischer Staatsangehöriger, stellte am 16. März 2014 einen Antrag auf internationalen Schutz, den er damit begründete, dass im Zuge einer Demonstration gegen die Regierung Guineas seine Eltern und ein Bruder von Soldaten getötet worden seien. Ein weiterer Bruder sei verhaftet worden, wogegen es dem Revisionswerber gelungen sei zu entkommen.

2        Mit Bescheid vom 10. August 2015 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten ab. Unter einem sprach das BFA aus, dass dem Revisionswerber ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt, gegen ihn eine Rückkehrentscheidung erlassen sowie festgestellt werde, dass seine Abschiebung nach Guinea zulässig sei. Weiters legte das BFA die Frist für die freiwillige Ausreise mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest.

3        Eine dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit Erkenntnis vom 7. Juni 2016 als unbegründet ab.

4        Am 29. März 2018 stellte der Revisionswerber einen (Folge-)Antrag auf internationalen Schutz, den er mit den Fluchtgründen des ersten Antrages und der nunmehrigen Verfügbarkeit schriftlicher Beweismittel, die sein Vorbringen untermauern sollten, begründete.

5        Mit Bescheid vom 28. Juli 2018 wies das BFA diesen Antrag sowohl hinsichtlich des Status des Asylberechtigten als auch des subsidiär Schutzberechtigten wegen entschiedener Sache zurück. Es sprach ferner aus, dass dem Revisionswerber ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt, gegen ihn eine Rückkehrentscheidung erlassen sowie festgestellt werde, dass seine Abschiebung nach Guinea zulässig sei. Weiters wurde keine Frist für die freiwillige Ausreise eingeräumt.

6        Eine dagegen erhobene Beschwerde wies das BVwG mit Erkenntnis vom 10. September 2018 neuerlich als unbegründet ab.

7        Im Hinblick auf eine strafgerichtliche Verurteilung des Revisionswerbers erließ das BFA mit Bescheid vom 24. Oktober 2018 gegen ihn eine Rückkehrentscheidung und ein auf die Dauer von fünf Jahren befristetes Einreiseverbot, sprach aus, dass ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt werde und eine Frist für die freiwillige Ausreise nicht bestehe, stellte fest, dass die Abschiebung nach Guinea zulässig sei, und erkannte einer Beschwerde gegen die Rückkehrentscheidung die aufschiebende Wirkung ab.

8        Mit Teilerkenntnis vom 11. Dezember 2018 wies das BVwG die Beschwerde zunächst hinsichtlich der Aberkennung der aufschiebenden Wirkung und schließlich mit Teilerkenntnis vom 19. Dezember 2018 bezüglich der übrigen Spruchpunkte als unbegründet ab.

9        Am 20. Oktober 2020 stellte der Revisionswerber während seiner Anhaltung in der Schubhaft den vorliegenden (zweiten) Folgeantrag auf internationalen Schutz, den er im Rahmen seiner Erstbefragung, die von einem weiblichen Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes durchgeführt wurde, im Wesentlichen mit seinen „alten Fluchtgründen“ begründete.

10       Mit Verfahrensanordnung vom 2. November 2020 gab das BFA dem Revisionswerber bekannt, dass es beabsichtige, den Antrag auf internationalen Schutz wegen entschiedener Sache nach § 68 Abs. 1 AVG zurückzuweisen und den faktischen Abschiebeschutz mit mündlich zu verkündendem Bescheid aufzuheben. Somit gelte nicht länger die 20-Tages-Frist für das Zulassungsverfahren. Weiters wurde dem Revisionswerber zur Kenntnis gebracht, dass er verpflichtet sei, an einem Rückkehrberatungsgespräch teilzunehmen.

11       Im Zuge der Einvernahme am 30. November 2020, die von einer weiblichen Organwalterin im Beisein einer weiblichen Dolmetscherin durchgeführt wurde, nahm der Revisionswerber nicht nur auf die schon im ersten Verfahren erwähnte Demonstration, bei der er auch einen Polizisten verletzt habe, Bezug, sondern brachte überdies vor, bisexuell zu sein und wegen des Verbotes der Homosexualität in seiner Heimat Probleme zu befürchten. Er habe dies bereits im ersten Verfahren angegeben, es sei jedoch nicht protokolliert worden. Auf Nachfrage des an der Einvernahme teilnehmenden Rechtsberaters erklärte der Revisionswerber, seine Bisexualität in Österreich nicht „publik“ gemacht zu haben, aber hier „Kontakte“ zu haben.

12       Nach Abschluss der Vernehmung sowie nach Unterbrechung und Fortsetzung der Amtshandlung hob das BFA mit dem am 30. November 2020 mündlich verkündeten Bescheid den faktischen Abschiebeschutz des Revisionswerbers gemäß § 12a Abs. 2 AsylG 2005 auf. In der (im Protokoll wiedergegebenen) Begründung traf das BFA Länderfeststellungen zur allgemeinen Situation in Guinea und verwies nach Darstellung des Verfahrensganges darauf, dass der Revisionswerber seinen neuerlichen Antrag einerseits auf die Fluchtgründe des ersten Verfahrens gestützt und andererseits sein Vorbringen gesteigert habe. In seiner Beweiswürdigung legte das BFA die Gründe für seine Annahme dar, weshalb es das Vorbringen des Revisionswerbers, insbesondere jenes über seine Bisexualität, nicht als glaubwürdig erachtete. Da kein glaubhafter Kern des neuen Vorbringens ersichtlich sei und sich der maßgebliche Sachverhalt seit Rechtskraft des Vorverfahrens nicht geändert habe, werde der Antrag voraussichtlich wegen entschiedener Sache zurückzuweisen sein. Die Voraussetzungen für die Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes lägen daher vor.

13       Mit Schreiben vom 30. November 2020 legte das BFA den Verwaltungsakt dem BVwG zur Entscheidung vor.

14       Mit dem durch einen männlichen Richter erlassenen, angefochtenen Beschluss vom 15. Dezember 2020 sprach das BVwG aus, dass die Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes gemäß § 12a Abs. 2 AsylG 2005 iVm § 22 Abs. 10 AsylG 2005 und § 22 BFA-VG rechtmäßig und die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei. Der Revisionswerber habe sich - so das BVwG - auf dieselben Gründe gestützt, die er in seinem Erstverfahren angegeben habe und die bereits rechtskräftig abgehandelt worden seien. Des Weiteren habe der Revisionswerber nunmehr „zentral“ geltend gemacht, bisexuell zu sein. Dieses Vorbringen sei „durch nichts bescheinigt“. Eine Änderung der Sachlage sei nicht ersichtlich. Die Voraussetzungen für die Aberkennung des faktischen Abschiebeschutzes nach § 12a Abs. 2 AsylG 2005 lägen somit vor.

15       Gegen diesen Beschluss richtet sich die vorliegende Revision, welche das BVwG unter Anschluss der Akten vorlegte. Das BFA erstattete keine Revisionsbeantwortung.

16       Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

17       Die Revision bringt zur Begründung ihrer Zulässigkeit unter anderem vor, das BVwG sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, weil es nicht berücksichtigt habe, dass der Revisionswerber im Verfahren vor dem BFA nicht von einem Organwalter desselben Geschlechts einvernommen worden sei. Dazu führte die Revision weiters aus, dass das Vorbringen zur Bisexualität bei Durchführung einer Verhandlung durch einen Richter männlichen Geschlechts als glaubwürdig erachtet und dadurch erkannt worden wäre, dass eine voraussichtliche Zurückweisung des Folgeantrages nicht auf der Hand liege, weil das Ermittlungsergebnis „die einwandfreie Beurteilung im Rahmen einer Grobprüfung“ nicht zulasse. Die von der Behörde zu vertretende Mangelhaftigkeit könne nicht zum Nachteil des Fremden durchschlagen.

18       Die Revision ist zulässig und auch begründet.

19       Die maßgeblichen Bestimmungen des § 12a Abs. 2 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 in der Fassung BGBl. I Nr. 70/2015, § 20 AsylG 2005 idF BGBl. I Nr. 68/2013 und § 22 AsylG 2005 in der Stammfassung lauten auszugsweise folgendermaßen:

„Faktischer Abschiebeschutz bei Folgeanträgen

§ 12a. (1) ...

(2) Hat der Fremde einen Folgeantrag (§ 2 Abs. 1 Z 23) gestellt und liegt kein Fall des Abs. 1 vor, kann das Bundesamt den faktischen Abschiebeschutz des Fremden aufheben, wenn

1.   gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG besteht,

2.   der Antrag voraussichtlich zurückzuweisen ist, weil keine entscheidungswesentliche Änderung des maßgeblichen Sachverhalts eingetreten ist, und

3.   die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung keine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2, 3 oder 8 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten und für ihn als Zivilperson keine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

[...]

Einvernahmen von Opfern bei Eingriffen in die sexuelle Selbstbestimmung

§ 20. (1) Gründet ein Asylwerber seine Furcht vor Verfolgung (Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention) auf Eingriffe in seine sexuelle Selbstbestimmung, ist er von einem Organwalter desselben Geschlechts einzuvernehmen, es sei denn, dass er anderes verlangt. Von dem Bestehen dieser Möglichkeit ist der Asylwerber nachweislich in Kenntnis zu setzen.

(2) Für Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht gilt Abs. 1 nur, wenn der Asylwerber den Eingriff in seine sexuelle Selbstbestimmung bereits vor dem Bundesamt oder in der Beschwerde behauptet hat. Diesfalls ist eine Verhandlung von einem Einzelrichter desselben Geschlechts oder einem aus Richtern desselben Geschlechts bestehenden Senat durchzuführen. Ein Verlangen nach Abs. 1 ist spätestens gleichzeitig mit der Beschwerde zu stellen.

[...]

Faktischer Abschiebeschutz bei Folgeanträgen

§ 22. [...]

(10) Entscheidungen des Bundesamtes über die Aufhebung des Abschiebeschutzes gemäß § 12a Abs. 2 ergehen mündlich in Bescheidform. Die Beurkundung gemäß § 62 Abs. 2 AVG gilt auch als schriftliche Ausfertigung gemäß § 62 Abs. 3 AVG. Die Verwaltungsakten sind dem Bundesverwaltungsgericht unverzüglich zur Überprüfung gemäß § 22 BFA-VG zu übermitteln. Diese gilt als Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht; dies ist in der Rechtsmittelbelehrung anzugeben. Über die Rechtmäßigkeit der Aufhebung des Abschiebeschutzes hat das Bundesverwaltungsgericht im Rahmen der Überprüfung gemäß § 22 BFA-VG mit Beschluss zu entscheiden.“

20       § 22 BFA-VG, BGBl. I Nr. 87/2012, lautet in der Fassung BGBl. I Nr. 68/2013:

Überprüfung der Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes

§ 22. (1) Eine Entscheidung des Bundesamtes, mit der der faktische Abschiebeschutz eines Fremden aufgehoben wurde (§ 12a Abs. 2 AsylG 2005), ist vom Bundesverwaltungsgericht unverzüglich einer Überprüfung zu unterziehen. Das Verfahren ist ohne Abhaltung einer mündlichen Verhandlung zu entscheiden. § 20 gilt sinngemäß. § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG ist nicht anzuwenden.

(2) Die Aufhebung des Abschiebeschutzes gemäß § 12a Abs. 2 AsylG 2005 und eine aufrechte Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG oder eine Ausweisung gemäß § 66 FPG sind mit der Erlassung der Entscheidung gemäß § 12a Abs. 2 AsylG 2005 durchsetzbar. Mit der Durchführung der die Rückkehrentscheidung oder Ausweisung umsetzenden Abschiebung gemäß § 46 FPG ist bis zum Ablauf des dritten Arbeitstages ab Einlangen der gemäß § 22 Abs. 10 AsylG 2005 zu übermittelnden Verwaltungsakten bei der zuständigen Gerichtsabteilung des Bundesverwaltungsgerichtes zuzuwarten. Das Bundesverwaltungsgericht hat das Bundesamt unverzüglich vom Einlangen der Verwaltungsakten bei der zuständigen Gerichtsabteilung und von der im Rahmen der Überprüfung gemäß Abs. 1 getroffenen Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Aufhebung des Abschiebeschutzes zu verständigen.

(3) Über die Rechtmäßigkeit der Aufhebung des Abschiebeschutzes im Rahmen der Überprüfung gemäß Abs. 1 hat das Bundesverwaltungsgericht binnen acht Wochen zu entscheiden.“

21       Der Verwaltungsgerichtshof hat zu § 20 Abs. 2 AsylG 2005 bereits ausgesprochen, dass die Durchführung der mündlichen Verhandlung durch einen Richter desselben Geschlechts den Abbau von Hemmschwellen bei der Schilderung von Eingriffen in die sexuelle Selbstbestimmung bewirken soll, wobei dies auch für die Furcht vor noch nicht stattgefundenen, sondern drohenden Eingriffen in die sexuelle Selbstbestimmung gilt (vgl. VwGH 26.5.2021, Ro 2020/19/0002, mwN). Die selbe Zielsetzung liegt auch § 20 Abs. 1 AsylG 2005 zugrunde, der die Einvernahme im verwaltungsbehördlichen Verfahren regelt und auf dem § 20 Abs. 2 leg. cit. aufbaut (vgl. VwGH 12.10.2016, Ra 2016/18/0119).

22       Verfahren über Folgeanträge sind von der Bestimmung des § 20 Abs. 1 und 2 AsylG 2005 nicht ausgenommen (vgl. VfGH 9.10.2018, E 1297/2018). Der Verwaltungsgerichtshof hat zu einem Beschwerdeverfahren, dessen Gegenstand die Zurückweisung eines Folgeantrages wegen entschiedener Sache war, bereits ausgesprochen, dass § 20 Abs. 2 AsylG 2005 nach seinem insoweit nicht differenzierenden Wortlaut in allen Verfahren vor dem BVwG zur Anwendung gelangt (vgl. nochmals VwGH Ro 2020/19/0002, Rn. 19, mwN). Auch der Wortlaut des § 20 Abs. 1 AsylG 2005 differenziert nicht hinsichtlich des Gegenstandes der Einvernahme durch einen Organwalter des BFA. Die Entscheidung, den faktischen Abschiebeschutz gemäß § 12a Abs. 2 AsylG 2005 aufzuheben, ist insofern eng mit der Entscheidung über den Folgeantrag verbunden, als die Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes gemäß § 12a Abs. 2 Z 2 AsylG 2005 voraussetzt, dass der Folgeantrag wegen entschiedener Sache voraussichtlich zurückzuweisen sein wird. Somit ist nicht nur bei der Zulässigkeit des Folgeantrages zu beurteilen, ob infolge des nunmehrigen Vorbringens, mit dem eine Verfolgung wegen eines Eingriffs in die sexuelle Selbstbestimmung behauptet wird, im Vergleich zum zuletzt rechtskräftig in der Sache entschiedenen Asylverfahren eine wesentliche Änderung des maßgeblichen Sachverhalts eingetreten ist. Dies hat auch bei der Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes im Zuge einer Grobprüfung in Form einer Prognose über die Zulässigkeit des Antrags zu erfolgen (vgl. VwGH 12.12.2018, Ra 2018/19/0010, Rn. 32, mwN). Demnach gelangt § 20 Abs. 1 AsylG 2005 auch in Bezug auf Einvernahmen, die einer Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes bei Folgeanträgen gemäß § 12a Abs. 2 AsylG 2005 vorausgehen, zur Anwendung.

23       Die Missachtung des § 20 Abs. 1 AsylG 2005 im Verfahren vor dem BFA führt zu einem Verfahrensmangel, der - wie der Verwaltungsgerichtshof bereits mehrfach klargestellt hat - durch ein im Einklang mit § 20 Abs. 2 AsylG 2005 von einem Richter desselben Geschlechts geführtes verwaltungsgerichtliches Verfahren vor dem BVwG geheilt wird (vgl. VwGH 5.2.2021, Ra 2018/19/0685, mwN).

24       Im Revisionsfall machte der Revisionswerber im Rahmen seiner Einvernahme am 30. November 2020 mit der Befürchtung, wegen seiner Bisexualität in seiner Heimat Verfolgung ausgesetzt zu sein, einen Eingriff in die sexuelle Selbstbestimmung im Sinn des § 20 Abs. 1 AsylG 2005 geltend. Daraus ergab sich gemäß dieser Bestimmung die Notwendigkeit, den Revisionswerber durch eine Person männlichen Geschlechts (im Beisein eines männlichen Dolmetschers) einzuvernehmen, da der Revisionswerber anderes nicht verlangt hat. Dem trug das BFA jedoch nicht Rechnung und unterließ es, die Befragung mit einem Organwalter männlichen Geschlechts durchzuführen.

25       Das BVwG entschied zwar entsprechend der Regelung des § 20 Abs. 2 AsylG 2005 über die Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes durch einen Richter männlichen Geschlechts. Die Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes ist gemäß § 22 Abs. 1 zweiter Satz BFA-VG ohne Abhaltung einer mündlichen Verhandlung zu überprüfen. Wenn auch diese Bestimmung unionsrechtskonform so zu verstehen ist, dass damit kein „Verhandlungsverbot“ statuiert ist, so kann das BVwG ohne Verhandlung entscheiden (vgl. VwGH 12.12.2018, Ra 2018/19/0010, Rn. 34, mwN). Da das BVwG im vorliegenden Fall keine Verhandlung, die eine Einvernahme des Revisionswerbers ermöglicht hätte, durchführte, ist eine Sanierung des aus der Nichtbeachtung des § 20 Abs. 1 AsylG 2005 resultierenden Verfahrensmangels des BFA nicht eingetreten.

26       Mit den in § 22 Abs. 1 und Abs. 3 BFA-VG enthaltenen Anordnungen, wonach ohne Abhaltung einer mündlichen Verhandlung zu entscheiden ist, eine auf § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG gestützte Zurückverweisung nicht ergehen darf und die Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Aufhebung des Abschiebeschutzes binnen acht Wochen zu ergehen hat, aber mit der Durchführung der die Rückkehrentscheidung oder Ausweisung umsetzenden Abschiebung gemäß § 46 FPG (nur) bis zum Ablauf des dritten Arbeitstages ab Einlangen der gemäß § 22 Abs. 10 AsylG 2005 zu übermittelnden Verwaltungsakten bei der zuständigen Gerichtsabteilung des BVwG zuzuwarten ist, hatte der Gesetzgeber offenkundig vor Augen, dass im Rahmen der bei der Aberkennung des faktischen Abschiebeschutzes vorzunehmenden Grobprüfung die Ergänzung des maßgeblichen Sachverhalts durch das BVwG die Ausnahme bleiben soll und die beschleunigte Abwicklung des Verfahrens vor dem BVwG in erster Linie anhand des Ergebnisses der vom BFA bis dahin vorgenommenen Ermittlungen zu erfolgen hat (vgl. nochmals VwGH Ra 2018/19/0010, Rn. 38). Lässt dieses Ermittlungsergebnis die einwandfreie Beurteilung im Rahmen der Grobprüfung nicht zu, sondern bedarf es dafür erheblicher ergänzender Ermittlungen, kann nicht mehr davon gesprochen werden, es liege noch eine Grobprüfung vor und die (spätere) Zurückweisung des Folgeantrags liege auf der Hand.

27       Im vorliegenden Fall hat das BFA die Einvernahme des Revisionswerbers über den von ihm vorgebrachten Eingriff in die sexuelle Selbstbestimmung entgegen § 20 Abs. 1 AsylG 2005 durchgeführt, weswegen das BVwG die Grobprüfung der Aberkennung des faktischen Abschiebeschutzes nicht anhand des Ergebnisses der vom BFA vorgenommenen Ermittlungen vornehmen konnte. Das BVwG hätte daher die Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes als nicht rechtmäßig zu erkennen und den Bescheid des BFA vom 30. November 2020 ersatzlos aufzuheben gehabt.

28       Da das BVwG insoweit die Rechtslage verkannt hat, war der angefochtene Beschluss daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit aufzuheben.

29       Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014. Von der Durchführung der beantragten Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 VwGG abgesehen werden.

Wien, am 14. Oktober 2021

Schlagworte

Auslegung Anwendung der Auslegungsmethoden Verhältnis der wörtlichen Auslegung zur teleologischen und historischen Auslegung Bedeutung der Gesetzesmaterialien VwRallg3/2/2

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021190027.L01

Im RIS seit

11.11.2021

Zuletzt aktualisiert am

11.11.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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