TE Bvwg Erkenntnis 2021/8/11 W107 2179147-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 11.08.2021
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Entscheidungsdatum

11.08.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs2

Spruch


W107 2179147-1/31E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Sibyll BÖCK über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die Caritas, Österreichische Caritaszentrale, Albrechtskreithgasse 19-21, 1160 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 24.10.2017, ZI. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 20.04.2021, 26.04.2021 und 01.06.2021 zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsbürger Afghanistans, reiste gemeinsam mit XXXX (Beschwerdeführer zu XXXX ) schlepperunterstützt und unter Umgehung der Einreisebestimmungen in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 14.10.2015 gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Eine durchgeführte Eurodac-Abfrage ergab einen Treffer am 29.09.2015 mit Griechenland.

3. Am 11.11.2015 wurde der Beschwerdeführer von einem Organwalter des öffentlichen Sicherheitsdienstes im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari zu seiner Identität, seiner Reiseroute, seinem Fluchtgrund und allfälligen Rückkehrgefährdungen befragt. Er gab an, in XXXX , Afghanistan geboren zu sein; sein Vater, XXXX , seine Mutter, XXXX , sein jüngerer Bruder, XXXX , und seine vier jüngeren Schwestern - XXXX , XXXX , XXXX und XXXX - seien alle im Herkunftsstaat aufhältig; er habe zehn Jahre die Grundschule in Kabul besucht, anschließend als Soldat und dann als Polizist gearbeitet. Angaben zu einem Bruder namens XXXX sowie zu Familienangehörige in Österreich oder einem EU- Staat machte er keine.

Zu seinem Fluchtgrund gab er zusammengefasst an, dass er in der Stadt XXXX als Polizist stationiert gewesen und diese durch eine Offensive der Taliban eingenommen worden sei. Auf seinem Posten seien 15 Personen stationiert gewesen, wovon 13 Personen getötet worden seien. Er sei vom Militär beschuldigt worden, an der Offensive beteiligt gewesen zu sein; er sei der Korruption und Mittäterschaft beschuldigt und mit dem Tod gedroht worden. Daher habe er seine Heimat am 07.09.2015 mit dem PKW illegal verlassen.

Der Beschwerdeführer gab am Ende der Befragung explizit an, dass es keine Verständigungsprobleme gegeben habe (BFA-Akt, AS. 33); er unterzeichnete das Protokoll nach Rückübersetzung auf jeder Seite.

4. Am 18.10.2017 wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA, belangte Behörde) im Beisein eines Dolmetschers seiner Muttersprache und seines damaligen Rechtsvertreters niederschriftlich einvernommen. Hierbei gab der Beschwerdeführer an, er spreche neben seiner Muttersprache Dari auch Farsi, Paschtu und ein wenig Deutsch. Der Beschwerdeführer führte im Wesentlichen aus, er gehöre der Volksgruppe der Tadschiken an, sei sunnitischer Moslem und sei am XXXX in der Provinz XXXX , Distrikt XXXX , Ort XXXX geboren. Im Alter von ungefähr eineinhalb Jahren sei er mitsamt seiner Familie nach Kabul gezogen, dort aufgewachsen und 10 Jahre die Schule besucht, danach habe er als Schweißer bei der Firma XXXX in einer Militärschule gearbeitet. Mit 18 Jahren habe er als Polizeisoldat bei einem Bekannten in Kabul gearbeitet und für rund 15 Monate Bürotätigkeiten verrichtet. Ohne weitere Ausbildung habe er aufgrund seiner Erfahrung bei der Polizei und der Büroarbeit als Unteroffizier in Kabul begonnen. Im Zuge seiner Tätigkeit sei er in die Provinz XXXX , in die 8. Einheit, überstellt worden und habe dort ungefähr 3 Monate gearbeitet. In Kabul habe es keine freie Stelle als Unteroffizier gegeben, deswegen sei er nach XXXX überstellt worden. Dann sei er von XXXX Richtung Kabul geflüchtet. Zudem gab der Beschwerdeführer an, er sei an der Waffe ausgebildet worden, habe sowohl mit der Pistole als auch mit der Kalaschnikow gelernt zu schießen, wobei die Ausbildung drei Stunden gedauert habe.

Seine Familie lebe in der Provinz XXXX , Distrikt XXXX , da sein Vater zwei Mal abgeholt und geschlagen worden sei. Sein Vater sei Schweißer gewesen und habe früher als Fahrer bei der XXXX gearbeitet, seine Mutter sei Hausfrau. Viel Kontakt habe er zu seiner Familie nicht. Seine Eltern, einer seiner Brüder und die vier Schwestern seien in der Provinz XXXX , Distrikt XXXX aufhältig. Seinen Bruder XXXX (Beschwerdeführer zu XXXX ) habe er zufällig in Griechenland in einer Flüchtlingsunterkunft getroffen.

Zu seinem Fluchtgrund gab der Beschwerdeführer zusammengefasst an, er habe in der Provinz XXXX , einen Stützpunkt im Distrikt XXXX , im Dorf XXXX , zugewiesen bekommen und sei dort als zuständiger Kommandant stationiert gewesen. Der Stützpunkt sei von den Taliban angegriffen worden und nach diversen Schusswechseln hätten nur noch er und ein anderer Unteroffizier namens XXXX überlebt. Gemeinsam mit diesem habe der Beschwerdeführer zu einem anderen Stützpunkt fliehen können. Als er seinem Vorgesetzten, einem Kommandanten namens XXXX berichtet habe, was passiert sei, habe dieser den Befehl gegeben, ihn und den anderen Überlebenden festzunehmen. Man habe ihm vorgeworfen, den Stützpunkt verkauft zu haben. Er sei geschlagen, gefesselt und in einem Zimmer eingesperrt worden. Ein Soldat habe ihn und XXXX befreit; sie seien geflohen und in die Stadt XXXX zu einem Stützpunkt eines Freundes gefahren. Dort habe der Beschwerdeführer zivile Kleidung erhalten und Geld, um die Fahrt nach Kabul finanzieren zu können. Daraufhin sei er aus Afghanistan in den Iran ausgereist. Zudem befürchte der Beschwerdeführer Rache von den Familien der verstorbenen Soldaten seines Stützpunktes. Ein bekannter Kommandant namens XXXX habe ihm telefonisch im Iran mitgeteilt, dass die Familien der Verstorbenen bereits in ganz Afghanistan nach ihm suchen würden. Außerdem fürchte der Beschwerdeführer, dass ihn die Polizei festnehmen würde und ihn die Todesstrafe im Falle seiner Rückkehr erwarte.

Im Rahmen der Einvernahme legte der Beschwerdeführer einen Polizeiausweis, eine Kopie einer Arbeitsbestätigung als Schweißer, ein Empfehlungsschreiben, eine Bestätigung hinsichtlich ehrenamtlicher Arbeit, zwei Deutschkursbestätigungen sowie eine Bestätigung, dass er als Polizist gearbeitet habe, vor.

5. Am 20.10.2017 übermittelte der Beschwerdeführer, vertreten durch seinen damaligen Rechtsvertreter, eine Stellungnahme zu den Länderfeststellungen und beantragte die Einholung eines länderkundigen Sachverständigengutachtens.

6. Mit nunmehr angefochtenem Bescheid vom 24.10.2017, ZI. XXXX , wies die belangte Behörde den Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.), ab. Gemäß § 57 AsylG wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt; gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und festgestellt, dass die Abschiebung des Antragstellers gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Unter Spruchpunkt IV. wurde die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG mit 2 Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt.

7. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer, damals vertreten durch den MigrantInnenverein St. Marx, vollumfängliche Beschwerde.

8. Die Beschwerde und der bezughabende Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vorgelegt.

9. Am 04.12.2017 gab der damalige Rechtsvertreter die Auflösung der ihm erteilten Vollmacht bekannt.

10. Mit Verständigung der Behörde von der Anklageerhebung der Staatsanwaltschaft XXXX vom 13.11.2019 wurde die belangte Behörde von der wider den Beschwerdeführer erhobenen Anklage wegen der Verletzung von den Bestimmungen gemäß §§ 28 (1) 2. Fall, 28 (1) 3. Fall, 27 (1) Z 1 8. Fall, 27 (3) SMG informiert.

11. Mit Verständigung der Behörde von der Verhängung der Untersuchungshaft des XXXX 04.11.2019 wurde die belangte Behörde darüber informiert, dass der Beschwerdeführer wegen Verletzung der Bestimmungen der §§ 27 (2a,3), 28 (1) SMG in Untersuchungshaft genommen wurde.

12. Mit Schreiben vom 23.1.2020 wurde der belangten Behörde das ergangene Strafurteil des XXXX vom 02.12.2019, GZ: XXXX , übermittelt.

13. Mit Schreiben vom 02.09.2020 wurde der belangten Behörde der Abschluss-Bericht der Landespolizeidirektion XXXX vom 05.08.2020 übermittelt, wonach der Beschwerdeführer verdächtig sei, das Vergehen der sexuellen Belästigung und öffentlichen geschlechtlichen Handlungen gemäß § 218 StGB zum Nachteil von XXXX verübt zu haben.

14. Mit Schreiben des Bundesverwaltungsgerichts vom 30.10.2020 wurde der Beschwerdeführer, vertreten durch den damaligen Rechtsvertreter, vom Ergebnis der bisherigen Beweisaufnahme in Kenntnis gesetzt und diesem eine Gesamtaktualisierung des Länderinformationsblatts zu Afghanistan vom 13.11.2019 (mit Kurzinformationen bis einschließlich 21.07.2020) mit der Möglichkeit zur Stellungnahme übermittelt.

15. Mit Eingabe vom 04.03.2021 nahm der Beschwerdeführer zum Ergebnis der bisherigen Beweisaufnahme Stellung.

16. Am 15.04.2021 brachte der Beschwerdeführer durch seine nunmehrige Rechtsvertretung, eine Stellungnahme ein. Dem Schreiben wurden die erteilte Vollmacht, ein psychiatrischer Befund sowie eine Bestätigung über die ehrenamtliche Tätigkeit des Beschwerdeführers, beigelegt.

17. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 20.04.2021 in Anwesenheit des gegenständlichen Beschwerdeführers und des Beschwerdeführers zu XXXX , XXXX , deren Rechtsvertretung, einer Vertrauensperson, eines Dolmetschers für die Sprache Dari sowie eines länderkundigen Sachverständigen (im Folgenden: SV) eine öffentliche, mündliche Beschwerdeverhandlung durch. Das Verfahren des gegenständlichen Beschwerdeführers wurde mit dem Verfahren von XXXX zur gemeinsamen Verhandlung verbunden. Im Rahmen der mündlichen Verhandlung wurde zunächst XXXX einvernommen. Vertreter der belangten Behörde sind nicht erschienen. Die Befragung betreffend den gegenständlichen Beschwerdeführer wurde auf den 26.04.2021 unter gleichzeitigem Ladungsverzicht vertagt.

Im Rahmen der mündlichen Verhandlung wurden zwei Unterstützungsschreiben der anwesenden Vertrauensperson sowie mehrere Fotos (VP, 20.04.2021, Beilage ./4) vorgelegt.

Zudem legte der gegenständliche Beschwerdeführer eine Tazkira im Original (VP, 20.04.2021, Beilage ./5), Nachweise zur beruflichen Tätigkeit als Polizist in Afghanistan (VP, 20.04.2021, Beilage ./6) und Integrationsunterlagen sowie einen arbeitsrechtlichen Vorvertrag des Restaurants „ XXXX in Wien (VP, 20.04.2021, Beilage ./7), vor.

18. Das Bundesverwaltungsgericht führte (fortgesetzt) die öffentliche, mündliche Verhandlung am 26.04.2021 in Anwesenheit von XXXX (Beschwerdeführer zu XXXX ), eines Dolmetschers für die Sprache Dari, einer Vertrauensperson, der ausgewiesenen Rechtsvertretung des Beschwerdeführers sowie des länderkundigen Sachverständigen fort. Der Beschwerdeführer ist unentschuldigt nicht erschienen. Von der Rechtsvertretung des Beschwerdeführers wurde unmittelbar vor der Verhandlung mitgeteilt, dass der Beschwerdeführer trotz Nachforschung an seiner Wohnsitzadresse nicht ausfindig gemacht werden konnte. Die mündliche Verhandlung wurde daraufhin auf den 01.06.2021 vertagt. Die Ladungen ergingen gesondert.

19. Mit Meldung der Landespolizeidirektion XXXX vom 26.04.2021 wurde das Bundesverwaltungsgericht von einer Amtshandlung gegen den Beschwerdeführer verständigt, wonach der Beschwerdeführer am 25.04.2021 von der Staatsanwaltschaft XXXX aufgrund des Verdachts wegen Verletzung der Bestimmung nach § 27 (2a) SMG in die Justizanstalt XXXX eingeliefert und in Untersuchungshaft genommen wurde.

20. Am 07.05.2021 langte die vom Beschwerdeführer unterfertigte Übernahmeverständigung der Ladung beim Bundesverwaltungsgericht, zugestellt durch die Justizanstalt XXXX , ein.

21. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 01.06.2021 (fortgesetzt) die öffentliche, mündliche Beschwerdeverhandlung in Anwesenheit des gegenständlichen, aus dem Stande der Untersuchungshaft vorgeführten Beschwerdeführers, des XXXX , eines Dolmetschers für die Sprache Dari, einer Vertrauensperson, der ausgewiesenen Rechtsvertretung des Beschwerdeführers sowie eines länderkundigen Sachverständigen durch. Im Zuge der Verhandlung wurde der Beschwerdeführer zu seinem Antrag auf internationalen Schutz einvernommen und zu seiner Lebenssituation in Österreich befragt. Vertreter der belangten Behörde sind nicht erschienen. Der länderkundige Sachverständige erstattete ein mündliches Gutachten. Den Parteien wurde in der Verhandlung die Gelegenheit gegeben zum Gutachten des SV Stellung zu nehmen und Fragen an den SV zu richten.

In der Verhandlung wurde ein Nachweis, dass sich der Beschwerdeführer derzeit in der JA XXXX befindet (VP, 01.06.2021, Beilage ./1), eine Verständigung einer Amtshandlung gegen den Beschwerdeführer, datiert mit 26.04.2021 (VP, 01.06.2021, Beilage ./2), eine Krankengeschichte mit psychiatrischem Befund (VP, 01.06.2021, Beilage ./3), eine Medikamentenliste (VP, 01.06.2021, Beilage ./4) und ein Schreiben des psychologischen Dienstes der JA XXXX (VP, 01.06.2021, Beilage ./5) vorgelegt. Die bereits vorgelegten Dokumente (Tazkira, Empfehlungsschreiben, Arbeitsvorvertrag) wurden ebenfalls zum Verhandlungsprotokoll genommen (VP, 01.06.2021, Beilagen ./6 -./8).

Dem Beschwerdeführer wurde über Ersuchen der Rechtsvertretung die Möglichkeit eingeräumt, binnen drei Wochen schriftlich zu dem Gutachten des SV Stellung zu nehmen.

22. Mit Schreiben vom 21.06.2021 beantragte die Rechtsvertretung des Beschwerdeführers eine mehrwöchige Erstreckung der Stellungnahmefrist. Diese wurde bis zum 30.06.2021 gewährt. Eine Stellungnahme wurde fristgerecht abgegeben. Dieser wurde eine aktuelle Zustellvollmacht und eine Kopie inklusive beglaubigter Übersetzung der originalen Tazkira des Beschwerdeführers beigelegt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Beweis wurde erhoben durch Einsicht in den zugrundeliegenden Verwaltungsakt, insbesondere durch Einsicht in die im Verfahren vorgelegten Dokumente, Unterlagen und Befragungsprotokolle, Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht und Erstattung eines mündlichen Gutachtens des länderkundigen Sachverständigen, Einsicht in die ins Verfahren eingebrachten Länderberichte, in das Zentrale Melderegister, das Strafregister und das Grundversorgungssystem.

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers und seinem Fluchtvorbringen:

Der Beschwerdeführer führt den im Spruch angeführten Namen und ist volljähriger Staatsangehöriger von Afghanistan. Seine Muttersprache ist Dari. Er kann in Dari lesen und schreiben. Zudem spricht er Paschtu und Englisch. Der Beschwerdeführer ist der Volksgruppe der Tadschiken zugehörig und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensgemeinschaft des Islam. Er ist ledig und hat keine Kinder.

Der Beschwerdeführer legte im Zuge seines Verfahrens eine Tazkira im Original vor (VP, 01.06.2021, Beilage ./6). Mit den gutachterlichen Ausführungen wird festgestellt, dass die vorgelegte Tazkira präpariert wurde (wörtlich, auszugsweise):

„[…] Die Tazkira weist drei verschiedene Schriftformen auf, außerdem wurde in der Tazkira sein Beruf korrigiert. Bei Korrekturen wird in AFG hinten auf der Tazkira eine entsprechende Anmerkung gemacht. Meiner Sachverständigenkenntnis nach wurde sie präpariert […]. Die Farbe auf der Kante des Fotos ist keine Stempelfarbe, sondern ist der Stempel zwar auf dem Dokument, aber über dem Foto ist der Teil des Stempels nachgemalt worden. Dies ist leicht und mit freiem Auge zu erkennen. Das Anbringen von drei Stempel auf der Tazkira ist in AFG nicht üblich, nur ein Stempel befindet sich auf einer echten Tazkira. Unverständlich ist zudem, dass auf der Tazkira ein Datum auf gregorianisch angebracht ist. […]“

Die vorgelegte Tazkira weist in der Rubrik „Nationalität“ die Bezeichnung „Tadschik“ auf. Mit den gutachterlichen Ausführungen des Sachverständigen wird festgestellt, dass in dieser Rubrik üblicherweise die Bezeichnung „Afghan“ steht (VP 01.06.2021, S.5; Beilage ./6). Ebenso wird festgestellt, dass die Rubrik „Muttersprache“ nicht befüllt bzw. leer ist (VP 01.06.2021, S. 6; Beilage ./6).

Der Beschwerdeführer wurde in der Provinz XXXX , Distrikt Jabel Saraj, geboren. Als der Beschwerdeführer etwa zwei Jahre alt war, zog die Familie nach XXXX Afghanistan, später nach Kabul; sie lebten dort gemeinsam in einem Mietshaus im 17. Bezirk. Der Vater des Beschwerdeführers, XXXX , war zuletzt als Schweißer in Kabul tätig und lebt aktuell mit der Ehefrau, XXXX , Hausfrau, und den fünf Kindern in der Provinz Kapisa (BFA-Akt, AS 62; VP 01.06.2021, S. 6,7). Eine Schwester ist verheiratet, die anderen Geschwister gehen noch zu Schule (VP S. 6). Die Großeltern sind, bis aus die Großmutter ms – sie lebt in Afghanistan; wo ist dem Beschwerdeführer nicht bekannt – verstorben (S. 6).

Der Beschwerdeführer besuchte etwa bis zur 11. Klasse die Schule und arbeitete während dieser Zeit nebenbei am Nachmittag als Schweißer in einer Militärschule in Kabul (VP 01.06.2021, S. 14); mit 18 Jahren ging er zur Polizei. Er hat ein staatliches Grundstück in Kabul im 17. Bezirk zugewiesen bekommen, auf dem ein Haus errichtete und während seines Dienstes im Innenministerium darin zwei Jahre wohnte. Seine Familie hat nicht in diesem Haus gewohnt. Seine Adresse lautete 17. Bezirk, XXXX . Für den Bau des Hauses bekam er Geld von seinem Onkel vs, Kommandant XXXX , der Cousin seines Vaters vs. Dieser lebt mit seiner Familie (er ist zweimal verheiratet und hat auch Kinder) aktuell in XXXX Afghanistan. Er ist der Vorsitzende für gesellschaftliche Angelegenheiten im Bezirksamt in XXXX . Der Beschwerdeführer lebte etwa 15 bis 17 Jahre in Kabul, die letzten beiden Jahre davon in seinem eigenen Haus; im Innenministerium war er zuständig für Verwaltungsangelegenheiten; er war im Büro tätig, speziell in der Abteilung für Logistik und verdiente in dieser Zeit XXXX Afghani (ca. XXXX Euro); später wurde er nach XXXX , Afghanistan, geschickt und hat dort als Kommandant eines Stützpunktes gearbeitet.

Nicht festgestellt werden kann mit den gutachterlichen Ausführungen des Sachverständigen, dass der Beschwerdeführer, als Unteroffizier in XXXX Afghanistan, dreizehn Leute geführt und dabei in einen Krieg verwickelt war (wörtlich, auszugsweise):

„ [….] Der BF hat auch keinen Monat festlegen wollen; als Saisonangabe hat er erst nach einigen Hinweisen des SV angeben können, dass dieser Krieg „Ende Sommer“ gewesen sein könnte. Zudem führe ich aus, dass zu der Zeit, als der BF gekämpft hat, in XXXX ein Generalangriff der Taliban aber auch des Staates auf die Taliban im Gange war. Dabei wurden 100e Soldaten getötet und sind Dutzende geflüchtet. […]“

Es kann mit den gutachterlichen Ausführungen des Sachverständigen nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Herkunftsland des „Verrats“ und des „Verlustes der Kriegsausrüstung“ verdächtigt wird (wörtlich, auszugsweise):

„[…] Die Angaben des BF, dass er nach dem Krieg geflüchtet sei, als 12 seiner Kameraden getötet worden waren und er sich bei der zuständigen Armeestelle in XXXX gemeldet habe, entsprechen den afghanischen Armeevorgaben, Es ist nicht nachvollziehbar, dass er von den Vorgesetzten in der Einheit, wo er sich gemeldet hat, bestraft und verdächtigt wird. Wenn tatsächlich ein begründeter Verdacht gegen ihn bestanden hätte, wäre er nach Kabul überstellt worden. Personen, die sich der afghanischen Armeegesetzgebung gefügt haben, werden nicht mehr verfolgt. Als SV weise ich darauf hin, dass täglich 100e Soldaten aufgrund kriegerischer Auseinandersetzungen zwangsweise flüchten, manchmal haben sie nicht einmal die Möglichkeit, sich bei der nächsten Einheit zu melden, da diese nicht mehr existiert. Nach meiner Sachkenntnis wird der Staat 1000e Soldaten deswegen nicht belangen bzw. nicht suchen.

Aber es gibt Soldaten bzw. Offiziere, die sich samt Ausrüstung, die ihnen von der Armee anvertraut wurde, von der Armee entfernt haben; diese Personen werden von der Sonderstaatsanwaltschaft der Armee belangt. Auch jene Offiziere und Soldaten, die mit dem Staat einen Vertrag haben, aber in keiner kriegerischen Auseinandersetzung beteiligt waren, können unter Umständen von der Regierung belangt werden, wenn ihr Vertrag mit dem Staat nicht beendet ist. In AFG ist die Armee freiwillig und Soldaten werden bezahlt und deswegen machen sie einen Vertrag über die Zeit, die sie dienen. Wenn sie vorzeitig ohne Gründe die Armee verlassen, werden sie verfolgt; wenn die Regierung sie erwischt. Soldaten, die in einen Krieg involviert waren und sich, ohne zu melden, entfernt haben, werden nicht in jeden Fall von der Regierung belangt, sonst müsste AFG mittlerweile über 1 Mio. gefangene Soldaten haben. Die Armee ist der größte Arbeitgeber in AFG, inzwischen sind mehr als 2 Mio. Menschen bei der Armee im Dienst, die sich später unberechtigt entfernt haben […]“

Mit den gutachterlichen Ausführungen des länderkundigen Sachverständigen wird festgestellt, dass in Afghanistan jene Familien der an einer Front getöteten Soldaten deren Kameraden, die zufällig überlebt haben, nicht verraten und auch nicht verfolgen (VP 01.06.2021, S 22).

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer persönlich einen Talib getötet hat (S. 12).

Im Jahr 2015 verließ der Beschwerdeführer Afghanistan und flüchtete nach Europa, stellte am 29.09.2015 in Griechenland einen Asylantrag (BFA Akt, AS 13) über den nicht entschieden wurde, reiste im Jahr 2015 illegal in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte hier am 14.10.2015 gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer in seinem Herkunftsstaat jemals einer konkret gegen seine Person gerichteten Bedrohung oder Verfolgung aufgrund seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder seiner politischen Gesinnung ausgesetzt gewesen wäre oder ihm im Falle seiner Rückkehr eine solche droht.

Beim Beschwerdeführer wurde eine Posttraumatische Belastungsreaktion, Depressio und Angststörung diagnostiziert. Er nimmt regelmäßig Medikamente, um besser einschlafen zu können und wird in der Untersuchungshaft regelmäßig psychologisch betreut (S. 19). Er leidet an keiner lebensbedrohlichen Erkrankung. Er ist arbeitsfähig und arbeitswillig (S. 19).

Festgestellt wird, dass der Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung sehr konzentriert war und auf die ihm gestellten Fragen ohne Nachfrage selbstsicher antwortete. Der Beschwerdeführer tätigte eigene Ausführungen und wirkte an der Verhandlung bzw. an der Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts aktiv mit.

1.2. Zum Leben des Beschwerdeführers in Österreich:

Der Beschwerdeführer hält sich seit Oktober 2015 durchgehend im Bundesgebiet auf. Der Beschwerdeführer besuchte einen Deutschkurs auf dem Niveau A1 (BFA-Akt, AS 83). Im Zeitraum Dezember 2015 bis März 2016 besuchte der Beschwerdeführer den Kurs „Deutsch als Fremdsprache“ des Vereines Menschen.Leben (BFA-Akt, AS 85). Der Beschwerdeführer spricht sehr gut Deutsch (VP, 01.06.2021, S. 20).

Der Beschwerdeführer lebt in einer privaten Wohnung eines afghanischen Freundes namens XXXX im 17. Bezirk als Untermieter. Für die Miete zahlt der Beschwerdeführer anteilig EUR XXXX -- pro Monat (VP, 01.06.2021, S. 18).

Der Beschwerdeführer ist nicht erwerbstätig, bezieht nach wie vor Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung und finanziert seinen Lebensunterhalt durch soziale Unterstützungsleistungen des Staates.

In seiner Freizeit trifft er sich mit Bekannten, aus dem gleichen Wohngebäude, die er alle „Bro“ nennt, deren konkrete Namen sind dem Beschwerdeführer nicht bekannt. Mit ihnen unterhält er sich und lernt dabei Deutsch (VP, 01.06.2021, S. 18). Der Beschwerdeführer hat eine Freundin, deren Namen ihm nicht bekannt ist, er nennt diese nur „Schatz“; er wohnt nicht mit ihr gemeinsam in einer Wohnung.

Beschwerdeführer ist nicht Mitglied in einem Verein. Besonders verfestige Sozialkontakte zu anderen Personen wurden weder behauptet, noch sind welche hervorgekommen.

Der vom Beschwerdeführer als Bruder bezeichnete XXXX (Beschwerdeführer zu XXXX ) lebt in Österreich und verfügt über eine Aufenthaltsberechtigung. Der Beschwerdeführer hat zu diesem kaum Kontakt. Er besteht kein (finanzielles) Abhängigkeitsverhältnis.

In Österreich leben eine Tante namens XXXX , die Schwester der Mutter des Beschwerdeführers, ihr Ehemann lebt nicht in Österreich. und deren acht Kinder (Cousins und Cousinen des Beschwerdeführers, darunter auch die während der Verhandlung anwesende Vertrauensperson XXXX ) sowie ein Onkel (ledig), die alle über die österreichische Staatsbürgerschaft verfügen (VP 01.06.2021, S. 20). Der Beschwerdeführer lebt nicht mit diesen Personen im gemeinsamen Haushalt; es besteht kein (finanzielles Abhängigkeitsverhältnis.

Dem Beschwerdeführer liegt ein Arbeitsvorvertrag des Restaurants XXXX vor, demzufolge der Beschwerdeführer im Falle der Erteilung eines Aufenthaltstitels als Küchenhilfe mit einem Bruttomonatsgehalt XXXX , -- angestellt wird. Angaben zur konkreten Tätigkeiten oder ein Datum enthält die Einstellungszusage nicht (VP Beilage ./7).

Der Beschwerdeführer engagierte sich sowohl im Juni 2016 als auch Anfang 2017 in seiner Freizeit ehrenamtlich beim Verein namens „START UP“ (BFA-Akt, AS 81), indem er Waren in die Regale schlichtete und Reinigungsarbeiten durchführte. Der Beschwerdeführer ist darüber hinaus nicht ehrenamtlich tätig geworden. Er liest gerne persisch-sprachige Bücher und hört deutsche und afghanische Musik (VP S. 18).

Der Beschwerdeführer wurde mit Urteil des XXXX , GZ: XXXX vom 02.12.2019, rechtskräftig wegen Verletzung von Bestimmungen der §§ 28 (1) 2. und 3. Fall, 27 (1) Z 1 8. Fall SMG zu einer Freiheitsstrafe von 12 Monaten verurteilt, wobei ein Teil der Freiheitsstrafe im Ausmaß von neun Monaten unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde. Dem Urteil liegt zugrunde, dass der Beschwerdeführer vorschriftswidrig Suchtgift mit dem Vorsatz besessen und befördert, dass es in Verkehr gesetzt werde, indem er das Suchtgift verpackt in einem Papiertragesack mit sich führte und zudem im Zeitraum September bis Oktober 2019 in Wien gewerbsmäßig einem anderen durch drei Übergaben Suchtgift durch gewinnbringenden Verkauf überlassen hat. Als mildernd wurde der bisherige ordentliche Lebenswandel des Beschwerdeführers gewertet, erschwerend hingegen das Zusammentreffen von zwei Vergehen.

Gegen den Beschwerdeführer wurde durch die Landespolizeidirektion XXXX wegen des Verdachts auf sexuelle Belästigung und öffentlichen geschlechtlichen Handlungen zum Nachteil von XXXX ermittelt. Die Anzeige wurde zurückgezogen (VP, 01.06.2021, S. 19).

Der Beschwerdeführer befindet sich aktuell seit 26.04.2021 in Wien in Untersuchungshaft (Justizanstalt XXXX ) wegen des Verdachtes der Begehung einer Straftat nach § 27 Abs. 2a SMG.

1.3. Zur Lage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers – Afghanistan:

Bezogen auf die Situation des Beschwerdeführers sind folgende Länderfeststellungen als relevant zu werten (Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 01.04.2021):

Länderspezifische Anmerkungen

COVID-19:

Aktueller Stand der COVID-19 Krise in Afghanistan

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl UNOCHA19.12.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (Afghan MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 2.9.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.9.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 14.1.2021; cf. UNOCHA 18.2.2021, USAID 12.1.2021, UNOCHA 19.12.2020, RFE/RL 23.2.2021a). Bis Dezember 2020 gab es insgesamt 50.536 [Anmerkung: offizielle] Fälle im Land. Davon ein Drittel in Kabul. Die tatsächliche Zahl der positiven Fälle wird jedoch weiterhin deutlich höher eingeschätzt (IOM 18.3.2021; vgl. HRW 14.1.2021).

Die fortgesetzte Ausbreitung der Krankheit in den letzten Wochen des Jahres 2020 hat zu einem Anstieg der Krankenhauseinweisungen geführt, wobei jene Einrichtungen die als COVID-19- Krankenhäuser in den Provinzen Herat, Kandahar und Nangarhar gelten, nach Angaben von Hilfsorganisationen seit Ende Dezember voll ausgelastet sind. Gesundheitseinrichtungen sehen sich auch zu Beginn des Jahres 2021 großen Herausforderungen bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung ihrer Kapazitäten zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung grundlegender Gesundheitsdienste gegenüber, insbesondere, wenn sie in Konfliktgebieten liegen (BAMF 8.2.2021; cf. IOM 18.3.2021).

Die Infektionen steigen weiter an und bis zum 17.3.2021 wurden der WHO 56.016 bestätigte Fälle von COVID-19 mit 2.460 Todesfällen gemeldet (IOM 18.3.2021; WHO 17.3.2021), wobei die tatsächliche Zahl der positiven Fälle um ein Vielfaches höher eingeschätzt wird. Bis zum 10.03.2021 wurden insgesamt 34.743 Impfstoffdosen verabreicht (IOM 18.3.2021)).

Maßnahmen der Regierung und der Taliban

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams" (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams" sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID- 19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.3.2021; vgl. WB 28.6.2020). Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.3.2021; vgl. IOM 1.2021).

Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden (IOM 18.3.2021).

Laut IOM sind Hotels, Teehäuser und andere Unterkunftsmöglichkeiten derzeit [Anm.: März 2021] nur für Geschäftsreisende geöffnet. Für eine Person, die unter der Schirmherrschaft der IOM nach Afghanistan zurückkehrt und eine vorübergehende Unterkunft benötigt, kann IOM ein Hotel buchen. Personen, die ohne IOM nach Afghanistan zurückkehren, können nur in einer Unterkunftseinrichtung übernachten, wenn sie fälschlicherweise angeben, ein Geschäftsreisender zu sein. Da die Hotels bzw. Teehäuser die Gäste benötigen, um wirtschaftlich überleben zu können, fragen sie nicht genau nach. Wird dies durch die Exekutive überprüft, kann diese - wenn der Aufenthalt auf der Angabe von falschen Gründen basiert - diesen jederzeit beenden. Die betreffenden Unterkunftnehmer landen auf der Straße und der Unterkunftsbetreiber muss mit einer Verwaltungsstrafe rechnen (IOM AUT 22.3.2021). Laut einer anderen Quelle gibt es jedoch aktuell [Anm.: März 2021] keine Einschränkungen bei der Buchung eines Hotels oder der Unterbringung in einem Teehaus und es ist möglich, dass Rückkehrer und Tagelöhner die Unterbringungsmöglichkeiten nutzen (RA KBL 22.3.2021).

Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China (BAMF 8.2.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).

Die Taliban erlauben den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. Guardian 2.5.2020) und gaben im Januar 2020 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Millionen Dollar unterstützt wird. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion „unterstützen und erleichtern". Offizielle Stellen glauben, dass die Aufständischen die Impfteams nicht angreifen würden, da sie nicht von Tür zu Tür gehen würden (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021).

Bei der Bekanntgabe der Finanzierung sagte ein afghanischer Gesundheitsbeamter, dass das COVAX-Programm 20% der 38 Millionen Einwohner des Landes abdecken würde (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021, IOM 18.3.2021). Die Weltbank und die asiatische Entwicklungsbank gaben laut einer Sprecherin des afghanischen Gesundheitsministeriums an, dass sie bis Ende 2022 Impfstoffe für weitere 20% der Bevölkerung finanzieren würden (REU 26.1.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).

Im Februar 2021 hat Afghanistan mit seiner COVID-19-Impfkampagne begonnen, bei der zunächst Mitglieder der Sicherheitskräfte, Mitarbeiter des Gesundheitswesens und Journalisten geimpft werden (RFE/RL 23.2.2021a). Die Regierung kündigte an, 60% der Bevölkerung zu impfen, als die ersten 500.000 Dosen COVID-19-Impfstoff aus Indien in Kabul eintrafen. Es wurde angekündigt, dass zuerst 150.000 Mitarbeiter des Gesundheitswesens geimpft werden sollten, gefolgt von Erwachsenen mit gesundheitlichen Problemen. Die Impfungen haben in Afghanistan am 23.2.2021 begonnen (IOM 18.3.2021).

Gesundheitssystem und medizinische Versorgung

COVID-19-Patienten können in öffentlichen Krankenhäusern stationär diagnostiziert und behandelt werden (bis die Kapazitäten für COVID-Patienten ausgeschöpft sind). Staatlich geführte Krankenhäuser bieten eine kostenlose Grundversorgung im Zusammenhang mit COVID-19 an, darunter auch einen molekularbiologischen COVID-19-Test (PCR-Test). In den privaten Krankenhäusern, die von der Regierung autorisiert wurden, COVID-19-infizierte Patienten zu behandeln, werden die Leistungen in Rechnung gestellt. Ein PCR-Test auf COVID-19 kostet 500 Afghani (AFN) (IOM 18.3.2021).

Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 12.1.2021; vgl. UNOCHA 12.11.2020, HRW 13.1.2021, AA 16.7.2020, WHO 8.2020). Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (BAMF 8.2.2021).

Während öffentliche Krankenhäuser im März 2021 weiterhin unter einem Mangel an ausreichenden Testkapazitäten für die gesamte Bevölkerung leiden, können stationäre Patienten während ihres Krankenhausaufenthalts kostenfreie PCR-Tests erhalten. Generell sind die Tests seit Februar 2021 leichter zugänglich geworden, da mehr Krankenhäuser von der Regierung die Genehmigung erhalten haben, COVID-19-Tests durchzuführen. In Kabul werden die Tests beispielsweise im Afghan-Japan Hospital, im Ali Jennah Hospital, im City Hospital, im Alfalah-Labor oder in der deutschen Klinik durchgeführt (IOM 18.3.2021).

In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (IOM 18.3.2021; vgl. UNOCHA 12.11.2020, UNOCHA 18.2.2021, USAID 12.1.2021).

Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).

Sozioökonimische Auswirkungen und Arbeitsmarkt

COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 12.1.2021; vgl. UNOCHA 18.2.2021, UNOCHA 19.12.2020). Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018 (USAID, 12.1.2021; vgl. UNOCHA 19.12.2020, UNOCHA 12.11.2020). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maß- nahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020). Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (AA 16.7.2020).

Die Lebensmittelpreise haben sich mit Stand März 2021 auf einem hohen Niveau stabilisiert: Nach Angaben des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht waren die Preise für Weizenmehl von November bis Dezember 2020 stabil, blieben aber auf einem Niveau, das 11 %, über dem des Vorjahres und 27 % über dem Dreijahresdurchschnitt lag. Insgesamt blieben die Lebensmittelpreise auf den wichtigsten Märkten im Dezember 2020 überdurchschnittlich hoch, was hauptsächlich auf höhere Preise für importierte Lebensmittel zurückzuführen ist (IOM 18.3.2021).

Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der CO- VID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 18.3.2021; vgl. WB 15.7.2020).

Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes (IOM 23.9.2020; vgl. AA 16.7.2020). Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.9.2020). Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (IOM 23.9.2020; vgl. Martin/Parto 11.2020).

Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch lang anhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (UNOCHA 19.12.2020).

Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2020 um mehr als 5 % geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019 (IOM 18.3.2021).

Nach einer Einschätzung des Afghanistan Center for Excellence sind die am stärksten von der COVID-19-Krise betroffenen Sektoren die verarbeitende Industrie (Non-Food), das Kunsthandwerk und die Bekleidungsindustrie, die Agrar- und Lebensmittelverarbeitung, der Fitnessbereich und das Gesundheitswesen sowie die NGOs (IOM 18.3.2021).

Bewegungsfreiheit

Im Zuge der COVID-19 Pandemie waren verschiedene Grenzübergänge und Straßen vorübergehend gesperrt (RFE/RL 21.8.2020; vgl. NYT 31.7.2020, IMPACCT 14.8.2020, UNOCHA 30.06.2020), wobei aktuell alle Grenzübergänge geöffnet sind (IOM 18.3.2021). Im Juli 2020 wurden auf der afghanischen Seite der Grenze mindestens 15 Zivilisten getötet, als pakistanische Streitkräfte angeblich mit schwerer Artillerie in zivile Gebiete schossen, nachdem Demonstranten auf beiden Seiten die Wiedereröffnung des Grenzübergangs gefordert hatten und es zu Zusammenstößen kam (NYT 31.7.2020).

Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen statt (F 24 o.D.; vgl. IOM 18.3.2021). Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (IOM 18.3.2021).

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr und Teilnahme an Reintegrationsprogrammen. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (STDOK 14.7.2020). Von 1.1.2020 bis 22.9.2020 wurden 70 Teilnahmen an dem Reintegrationsprojekt Restart III akzeptiert und sind 47 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt (IOM 23.9.2020). Mit Stand 18.3.2021 wurden insgesamt 105 Teilnahmen im Rahmen von Restart III akzeptiert und sind 86 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt (IOM 18.3.2021).

Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2020). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen, welche in der Nähe von Provinzhauptstädten stationiert sind - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hochburg in der Provinz Nangarhar im November 2019) Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (USDOD 1.7.2020). Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach im Jahr 2020 dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.7.2020; vgl. REU 6.10.2020).

Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum „vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte“ gemacht (SIGAR 30.7.2020).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt (BBC 1.4.2020). Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020; vgl. HRW 13.1.2021), was den afghanischen Friedensprozess gefährden könnte (SIGAR 30.1.2021).

Die Sicherheitslage im Jahr 2020

Vom 1.1.2020 bis zum 31.12.2020 verzeichnete UNAMA die niedrigste Zahl ziviler Opfer seit 2013 (UNAMA 2.2021). Laut AAN (Afghanistan Analysts Network) war 2020 in Afghanistan genauso gewalttätig wie 2019, trotz des Friedensprozesses und der COVID-19-Pandemie. Seit dem Abkommen zwischen den Taliban und den USA vom 29. Februar haben sich jedoch die Muster und die Art der Gewalt verändert. Das US-Militär spielt jetzt nur noch eine minimale direkte Rolle in dem Konflikt, so dass es sich fast ausschließlich um einen afghanischen Krieg handelt, in dem sich Landsleute gegenseitig bekämpfen, wenn auch mit erheblicher ausländischer Unterstützung für beide Seiten. Seit der Vereinbarung vom 29.2.2020 haben die Taliban und die afghanische Regierung ihre Aktionen eher heruntergespielt als übertrieben, und die USA haben die Veröffentlichung von Daten zu Luftangriffen eingestellt (AAN 16.8.2020).

Die Taliban starteten wie üblich eine Frühjahrsoffensive, wenn auch unangekündigt, und verursachten in den ersten sechs Monaten des Jahres 2020 43 Prozent aller zivilen Opfer, ein größerer Anteil als 2019 und auch mehr in absoluten Zahlen (AAN 16.8.2020). Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu (SIGAR 30.7.2020). Während im Jahr 2020 Angriffe der Taliban auf größere Städte und Luftangriffe der US-Streitkräfte zurückgingen, wurden von den Taliban durch improvisierte Sprengsätze (IEDs) eine große Zahl von Zivilisten getötet, ebenso wie durch Luftangriffe der afghanischen Regierung. Entführungen und gezielte Tötungen von Politikern, Regierungsmitarbeitern und anderen Zivilisten, viele davon durch die Taliban, nahmen zu (HRW 13.1.2021; vgl. AAN 16.8.2020).

In der zweiten Jahreshälfte 2020 nahmen insbesondere die gezielten Tötungen von Personen des öffentlichen Lebens (Journalisten, Menschenrechtler usw.) zu. Personen, die offen für ein modernes und liberales Afghanistan einstehen, werden derzeit landesweit vermehrt Opfer von gezielten Attentaten (AA 14.1.2021, vgl. AIHRC 28.1.2021).

Obwohl sich die territoriale Kontrolle kaum verändert hat, scheint es eine geografische Verschiebung gegeben zu haben, mit mehr Gewalt im Norden und Westen und weniger in einigen südlichen Provinzen, wie Helmand (AAN 16.8.2020).

Zivile Opfer

Vom 1.1.2020 bis zum 31.12.2020 dokumentierte UNAMA 8.820 zivile Opfer (3.035 Getötete und 5.785 Verletzte), während AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) für das gesamte Jahr 2020 insgesamt 8.500 zivile Opfer registrierte, darunter 2.958 Tote und 5.542 Verletzte. Das ist ein Rückgang um 15% (21% laut AIHRC) gegenüber der Zahl der zivilen Opfer im Jahr 2019 (UNAMA2.2021; vgl. AIHRC 28.1.2021) und die geringste Zahl ziviler Opfer seit 2013 (UNAMA 2.2021).

Nach dem Abkommen zwischen den USA und den Taliban dokumentierte UNAMA einen Rückgang der Opfer unter der Zivilbevölkerung bei groß angelegten Angriffen in städtischen Zentren durch regierungsfeindliche Elemente, insbesondere die Taliban, und bei Luftangriffen durch internationale Streitkräfte. Dies wurde jedoch teilweise durch einen Anstieg der Opfer unter der Zivilbevölkerung durch gezielte Tötungen von regierungsfeindlichen Elementen, durch Druck- platten-IEDs der Taliban und durch Luftangriffe der afghanischen Luftwaffe sowie durch ein weiterhin hohes Maß an Schäden für die Zivilbevölkerung bei Bodenkämpfen ausgeglichen (UNAMA 2.2021).

Die Ergebnisse des AIHRC zeigen, dass Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger das häufigste Ziel von gezielten Angriffe waren. Im Jahr 2020 verursachten gezielte Angriffe 2.250 zivile Opfer, darunter 1.078 Tote und 1.172 Verletzte. Diese Zahl macht 26% aller zivilen Todesopfer im Jahr 2020 aus (AIHRC 28.1.2021).

Die von den Konfliktparteien eingesetzten Methoden, die die meisten zivilen Opfer verursacht haben, sind in der jeweiligen Reihenfolge folgende: IEDs und Straßenminen, gezielte Tötungen, Raketenbeschuss, komplexe Selbstmordanschläge, Bodenkämpfe und Luftangriffe (AIHRC 28.01.2021). Während des gesamten Jahres 2020 dokumentierte UNAMA Schwankungen in der Zahl der zivilen Opfer parallel zu den sich entwickelnden politischen Ereignissen. Die „Woche der Gewaltreduzierung“ vor der Unterzeichnung des Abkommens zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban in Doha am 29.2.2020 zeigte, dass die Konfliktparteien die Macht haben, Schaden an der Zivilbevölkerung zu verhindern und zu begrenzen, wenn sie sich dazu entschließen, dies zu tun. Ab März wuchs dann die Besorgnis über ein steigendes Maß an Gewalt, da UNAMA zu Beginn des Ausbruchs der COVID-19-Pandemie eine steigende Zahl von zivilen Opfern und Angriffen auf Gesundheitspersonal und -einrichtungen dokumentierte. Regierungsfeindliche Elemente verursachten mit 62% weiterhin die Mehrzahl der zivilen Opfer im Jahr 2020. Während UNAMA weniger zivile Opfer dem Islamischen Staat im Irak und in der Levante - Provinz Chorasan (ISIL-KP, ISKP) und den Taliban zuschrieb, hat sich die Zahl der zivilen Opfer, die durch nicht näher bestimmte regierungsfeindliche Elemente verursacht wurden (diejenigen, die UNAMA keiner bestimmten regierungsfeindlichen Gruppe zuordnen konnte), im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppelt (UNAMA 2.2021; vgl. AAN 16.8.2020). Pro-Regierungskräfte verursachten ein Viertel der getöteten und verletzten Zivilisten im Jahr 2020 (UNAMA 2.2021; vgl. HRW 13.1.2021). Nach den Erkenntnissen der AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) sind von allen zivilen Opfern in Afghanistan im Jahr 2020 die Taliban für 53 % verantwortlich, regierungsnahe und verbündete internationale Kräfte für 15 % und ISKP (ISIS) für fünf Prozent. Bei 25 % der zivilen Opfer sind die Täter unbekannt und 2 % der zivilen Opfer wurden durch pakistanischen Raketenbeschuss in Kunar, Chost, Paktika und Kandahar verursacht (AIHRC 28.1.2021).

High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 1.7.2020). Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 1.6.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17) (USDOD 12.2019), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019). Angriffe auf hochrangige Ziele setzen sich im Jahr 2021 fort (BAMF 18.1.2021).

ÖffentlichkeitswirksameAngriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich fort. Der Großteil der Anschläge richtet sich gegen dieANDSF und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexerAngriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in der Provinz Nangarhar zu einer sogenannten ’green-on-blue-attack’: der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens sechs Personen getötet und mehr als zehn verwundet (UNGASC 17.3.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.2.2020; vgl. UNGASC 17.3.2020). Seit Februar haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen dieANDSF aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen um Provinzhauptstädte - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden (USDOD 1.7.2020). Die Taliban setzten außerdem bei Selbstmordanschlägen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh an Fahrzeugen befestigte improvisierte Sprengkörper (SVBIEDs) ein (UNGASC 17.3.2020).

Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten

Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020). Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt (BBC 6.3.2020) und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020).

Am 25.3.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, 8 weitere wurden verletzt (NYT 26.3.2020; vgl. TN 26.3.2020; BBC 25.3.2020). Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien (AJ 27.3.2020; vgl. TTI 26.3.2020). Die Taliban distanzierten sich von dem Angriff (NYT 26.3.2020). Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte, detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt (TTI 26.3.2020; vgl. NYT 26.3.2020). Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger waren im Jahr 2020 ein häufiges Ziel gezielter Anschläge (AIHRC 28.1.2021).

Parwan

Letzte Änderung: 11.03.2021

Parwan liegt im zentralen Teil Afghanistans. Die Provinz grenzt an Baghlan im Norden, Panjshir und Kapisa im Osten, Kabul und Wardak im Süden und Südosten und Bamyan im Westen (NPS Parwan o.D.; vgl. UNOCHA Parwan 4.2014). Die Provinz ist in die folgenden Distrikte unterteilt: Bagram, der Provinzhauptstadt Charikar, Syahgird (oder Ghurband), Jabulussaraj, Koh-e-Safi, Salang, Sayyid Khel, Shaykh Ali, Shinwari und Surkhi Parsa (NSIA 1.6.2020; vgl. UNOCHA Parwan 4.2014, OPr Parwan 1.2.2017, IEC Parwan 2019). Die National Statistics and Information Authority of Afghanistan (NSIA) schätzt die Bevölkerung in Parwan im Zeitraum 2020/21 auf 737.700 Personen (NSIA 1.6.2020). Ethnische Gruppen in der Provinz umfassen Paschtunen, Tadschiken, Usbeken, Qizilbash, Kutschi und Hazara (NPS o.D.pw). Die Zahl der Dari-Sprecher ist etwa 2,5 mal höher als die der Paschtu-Sprecher. Die Population der Kutschi- Nomaden beträgt ca. 30.000 im Winter und ca. 120.000 im Sommer. Von den Kutschi in Parwan sind 2/3 Kurzstreckennomaden und 1/3 Fernwanderer (MoF/ADB 7.2019).

Ein Abschnitt der Ring Road (MoPW 16.10.2015; vgl ESCAP 8.8.2019) führt durch die Distrikte Charikar, Jabulussaraj und Salang (UNOCHA 4.2014pw). Der auf dieser Strecke liegende 2,7 km lange Salang-Tunnel zwischen den Provinzen Parwan und Baghlan ist die einzige Straßenverbindung Kabuls mit Nordafghanistan (TN 15.9.2020; vgl. USAID 5.12.2019, DR o.D.). Die Zulaufstrecken sind in schlechtem Zustand und die Straßenerhaltungsarbeiten mangelhaft (Telegraph 10.6.2020; vgl. XI 17.9.2019, DR o.D.). Es kommt häufig zu Unfällen und zu Sperren aufgrund von Lawinenabgängen (DR o.D.; vgl. LCA 24.4.2019). Im Zuge des Trans-Hindukush Road Connectivity Project wird die Straße über den Salang-Pass mitsamt dem Tunnel bis 2022 renoviert werden (WB 4.2020)

Eine weitere Hauptverbindungsstraße verbindet Parwan mit der Nachbarprovinz Bamyan und verläuft durch das Ghorband-Tal und die Distrikte Charikar, Jabalussaraj, Shinwari, Syahgird, Shaykh Ali zum Shibar-Pass (UNOCHA Parwan 4.2014; vgl. MoPW 16.10.2015, ESCAP

8.8.2019) . Diese Straße ist asphaltiert und in gutem Zustand (OTWA 5.2.2020). Daran anschließend wird die derzeit unbefestigte, 152 km lange Sekundärstraße zwischen Baghlan und Bamyan (auch: B2B-Straße) asphaltiert (WB 4.2020; vgl. TN 15.9.2020) und als Ausweichroute für den Salang-Pass ausgebaut (TN 15.9.2020).

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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