TE Bvwg Erkenntnis 2021/8/24 W261 2205099-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 24.08.2021
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

24.08.2021

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art133 Abs4

Spruch


W261 2205099-1/29E
W261 2205083-1/35E
W261 2205087-1/28E
W261 2205089-1/25E
W261 2205085-1/24E
W261 2205092-1/25E
W261 2205096-1/25E
W261 2205094-1/26E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag.a Karin GASTINGER, MAS als Einzelrichterin über die Beschwerden von

1.        XXXX , geb. XXXX auch XXXX , StA. Afghanistan

2.        XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan,

3.        XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan,

4.        XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan,

5.       mj. XXXX , geb. XXXX , vertreten durch seine Eltern, XXXX und XXXX , als gesetzliche Vertreter, StA. Afghanistan,

6.       mj. XXXX , geb. XXXX , vertreten durch seine Eltern, XXXX und XXXX , als gesetzliche Vertreter, StA. Afghanistan,

7.       mj. XXXX , geb. XXXX , vertreten durch seine Eltern, XXXX und Abdul XXXX als gesetzliche Vertreter, StA. Afghanistan,

8.       mj. XXXX , geb. XXXX , vertreten durch seine Eltern, XXXX und XXXX , als gesetzliche Vertreter, StA. Afghanistan,

alle vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, jeweils gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Kärnten, Außenstelle Klagenfurt, vom

16.08.2018, Zl. XXXX

16.08.2018, Zl. XXXX

16.08.2018, Zl. XXXX

16.08.2018, Zl. XXXX

16.08.2018, Zl. XXXX

16.08.2018, Zl. XXXX

16.08.2018, Zl. XXXX

16.08.2018, Zl. XXXX

nach Durchführung von mündlichen Beschwerdeverhandlungen zu Recht:

A)

Den Beschwerden wird stattgegeben und den Beschwerdeführern wird gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt.

Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass den Beschwerdeführern damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I.       Verfahrensgang:

1. Die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer, beide Staatsangehörige Afghanistans, reisten am 13.06.2016 gemeinsam mit ihren sechs, zum damaligen Zeitpunkt allesamt minderjährigen, ehelichen Söhnen, den Dritt- bis Achtbeschwerdeführern, in Österreich ein. Die Familie versuchte nach Deutschland weiter zu reisen, ihnen wurde jedoch an der deutschen Grenze die Einreise verweigert. Die Familie wurde in weiterer Folge nach Österreich zurückgewiesen, wo diese am 17.06.2016 Anträge auf internationalen Schutz stellten.

2. Die Erstbefragungen der Erst- und Zweitbeschwerdeführer fanden am 18.06.2016 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes jeweils im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari statt. Dabei gab die Erstbeschwerdeführerin unter anderem an, dass zwei weitere eheliche Söhne in Deutschland leben würden. Sie habe Afghanistan verlassen, weil ihr Ehemann von Kriminellen bedroht worden sei. Diese hätten mit der Entführung der Kinder gedroht, wenn er nicht Geld zahle. Außerdem sei ihr Ehemann von den Taliban bedroht worden, dies seien ihre einzigen Fluchtgründe. Auch der Zweitbeschwerdeführer gab sinngemäß das an, was die Erstbeschwerdeführerin ausgesagt hatte.

3. Am 19.04.2018 fanden die Ersteinvernahmen der Erst- und Zweitbeschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge belangte Behörde) statt, jeweils im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari. Die Erstbeschwerdeführerin gab dabei an, dass ihr Mann in Afghanistan eine Firma gehabt habe. Die Taliban hätten gewollt, dass er mit diesen zusammenarbeite, ansonsten würden diese ihn töten. Die Taliban hätten einen Drohbrief ins Haus geworfen. Der Cousin ihres Ehemannes sei in einer Nacht von Männern getötet worden, die nach ihrem Ehemann gesucht hätten. Sie sei in Afghanistan Hausfrau gewesen, und ihr Leben habe sich in Österreich insoweit verändert, als sie nicht mehr kochen müsse. Ihr Tagesablauf sei im Wesentlichen gleich jenem, wie sie in Afghanistan gelebt habe. Ihr Leben sei in Österreich leichter, weil sie hier in Sicherheit leben könne.

Der Zweitbeschwerdeführer führte im Rahmen seiner Ersteinvernahme im Wesentlichen das aus, was die Erstbeschwerdeführerin bereits dargelegt hatte. Er wisse nicht, ob die Personen, die seinen Cousin getötet hätten, die Feinde seiner Familie gewesen seien. Es seien bereits davor zwei seiner Onkel väterlicherseits von diesen Feinden getötet worden. Er persönlich sei in Afghanistan nie konkret bedroht oder verfolgt worden. Seine zum Zeitpunkt der Antragstellung minderjährigen Söhne hätten keine eigenen Fluchtgründe.

4. Mit Schreiben vom 07.05.2018 räumte die belangte Behörde der Erstbeschwerdeführerin im Rahmen eines Parteiengehörs die Möglichkeit ein, zu ihrem Geburtsdatum und jenem ihrer Kinder eine Stellungnahme abzugeben.

5. Mit Eingaben vom 08.05.2018 und 11.05.2018 übermittelte die Erstbeschwerdeführerin einen Befundbericht über ein Wirbelsäulensyndrom, Spannungskopfschmerz, Gastritis sowie Ein- und Durchschlafstörungen, die aufgrund der psychischen Belastung bestehen würden, jedoch nicht lebensbedrohlich seien. Gleichzeitig gab sie eine Stellungnahme zu den Fragen der belangten Behörde ab und legte eine Kopie ihrer Tazkira vor. Die belangte Behörde korrigierte in weiterer Folge die Geburtsdaten der Beschwerdeführer.

6. Mit Schreiben vom 03.07.2018 übermittelte die belangte Behörde der Erstbeschwerdeführerin die aktuellen Länderinformationen zu Afghanistan und räumte ihr die Möglichkeit ein, hierzu eine schriftliche Stellungnahme abzugeben.

7. Mit Eingabe vom 08.07.2018 erstattete die Erstbeschwerdeführerin eine schriftliche Stellungnahme, in der sie im Wesentlichen vorbrachte, dass es in Afghanistan Entführungen von Kindern gäbe. Auch ihre Familie habe Angst davor gehabt, da sie eine große Familie mit vielen Kindern gewesen seien.

8. Am 25.07.2018 fand eine weitere Einvernahme des Zweitbeschwerdeführers vor der belangten Behörde statt. Im Zuge dieser Einvernahme beschrieb er seine Tätigkeiten in Afghanistan. Er gab ergänzend zu seinen Fluchtgründen befragt an, dass er seine Heimat verlassen habe, da er von Kriminellen bedroht worden sei. Sie hätten mit der Entführung der Kinder gedroht. Zudem sei er von den Taliban bedroht worden, weil er als Unternehmer mit der afghanischen Regierung zusammengearbeitet habe. Es sei auch dem Sohn eines Bekannten passiert, dass er entführt worden sei. Die Entführer hätten dem Kind den Finger abgeschnitten und hätten dieses dann getötet. Er legte Kopien von zwei Drohbriefen und Anzeigen samt Übersetzungen ins Deutsche sowie Integrationsunterlagen vor.

9. Mit den nunmehr angefochtenen Bescheiden jeweils vom 16.08.2018 wies die belangte Behörde die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) ab. Gemäß § 57 AsylG 2005 erteilte die belangte Behörde den Beschwerdeführern keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III.) und erließ gegen diese gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG Rückkehrentscheidungen gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG (Spruchpunkt IV.). Die belangte Behörde stellte fest, dass die Abschiebung der Beschwerdeführer gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Weiters sprach die belangte Behörde aus, dass die Frist für die freiwillige Ausreise der Beschwerdeführer gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI).

Begründend führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, dass es den Beschwerdeführern nicht gelungen sei, glaubhaft darzutun, dass sie Afghanistan aus wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung verlassen hätten. Der Zweitbeschwerdeführer besitze in Kabul zwei Häuser und verfüge dort über Verwandte, wie Eltern, Schwiegereltern, Geschwister, Schwager und Schwägerinnen, Onkel und Tanten, Cousins und Cousinen. Dieser sei beruflich viel gereist, es sei ihm aufgrund seiner bisherigen beruflichen Tätigkeit und der damit einhergehenden Arbeitserfahrung möglich, auch an anderen Orten die bisher ausgeübte Arbeit aufzunehmen. Es bestünde daher eine innerstaatliche Fluchtalternative in den Städten Mazar-e Sharif und Herat. Bei der Erstbeschwerdeführerin sei eine Verwestlichung ihrer Person nicht feststellbar gewesen. Sie habe sich immer den Wünschen ihres Ehemannes gefügt und habe auch vor, dies in Zukunft zu tun. Eine Verinnerlichung einer Lebensweise, die einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellen würde, sei nicht feststellbar gewesen. Den Beschwerdeführern sei eine Rückkehr nach Afghanistan zumutbar.

10. Mit Eingabe vom 28.08.2018 erhoben die Beschwerdeführer, alle bevollmächtigt vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich, gegen diese Bescheide jeweils fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde. Darin brachten die Beschwerdeführer vor, dass die belangte Behörde es unterlassen habe, sich hinreichend mit ihrem Vorbringen auseinanderzusetzen. Die belangte Behörde habe keine ausreichenden Länderinformationen zu Afghanistan im Zusammenhang mit ihrer Situation ins Verfahren eingebracht. Die belangte Behörde hätte den Beschwerdeführern zumindest den Status der subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen müssen. Es werde daher beantragt, den Beschwerdeführern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, in eventu den Status der subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, in eventu einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen zu erteilen, darüber hinaus die Rückkehrentscheidung und die Zulässigkeit der Abschiebung aufzuheben, in eventu, den Bescheid zur Gänze zu beheben und zur Verfahrensergänzung und neuerlichen Entscheidung an die belangte Behörde zurückzuverweisen und eine mündliche Beschwerdeverhandlung anzuberaumen.

11. Mit Schreiben vom 31.08.2018 legte belangte Behörde die Beschwerden samt den Verwaltungsakten jeweils dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vor, wo diese am 06.09.2018 einlangten.

12. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 30.01.2019 eine öffentliche mündliche Verhandlung im Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Dari durch, zu der die Beschwerdeführer gemeinsam mit ihrem Rechtsvertreter erschienen. Die belangte Behörde nahm an der mündlichen Verhandlung entschuldigt nicht teil. Im Zuge der mündlichen Beschwerdeverhandlung führten die Beschwerdeführer im Wesentlichen das aus, was sie bereits vor der belangten Behörde aussagten, und legten Integrationsunterlagen vor. Das Bundesverwaltungsgericht legte aktuelle Länderinformationen zu Afghanistan vor und räumte den Beschwerdeführer die Möglichkeit ein, hierzu Stellung zu nehmen. Ihr Rechtsvertreter führte in seiner Stellungnahme in der Verhandlung aus, dass die Erstbeschwerdeführerin in der Verhandlung ein Verhalten gezeigt habe, dass jenem einer westlich orientierten Frau gleichkomme, und eine Rückführung der Beschwerdeführer aus diesem Grunde nicht möglich sei.

13. Am 15.03.2019 fand eine weitere öffentliche mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht statt, in der der Zweitbeschwerdeführer erneut zu den Fluchtgründen der Familie einvernommen wurde.

14. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 20.03.2019, Zl. W261 2205099-1/9E ua, wurde den Beschwerden der Beschwerdeführer stattgegeben und ihnen gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt I.), gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 festgestellt, dass den Beschwerdeführern damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt (Spruchpunkt II.) und den Beschwerdeführern gemäß § 3 Abs. 4 iVm Abs. 4b AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 20.03.2021 erteilt (Spruchpunkt III.). Die Revision wurde für nicht zulässig erklärt.

Begründend führte das Bundesverwaltungsgericht im Wesentlichen aus, dass mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen sei, dass die Beschwerdeführer Afghanistan aus begründeter Furcht vor einer erpresserischen Entführung eines der sechs Söhne (Dritt- bis Achtbeschwerdeführer) durch nichtstaatliche Akteure verlassen hätten. Die staatlichen Behörden könnten und/oder wollten die Beschwerdeführer in der Stadt Kabul bzw. in Afghanistan nicht vor dieser Bedrohung schützen. Ihnen stehe auch keine zumutbare innerstaatliche Flucht- bzw. Schutzalternative in Afghanistan zur Verfügung. Die Dritt- bis Achtbeschwerdeführer würden als Söhne des wohlhabenden Zweitbeschwerdeführers der sozialen Gruppe der Familienangehörigen von wohlhabenden Geschäftsleuten angehören, die dem Risiko erpresserischer Entführung ausgesetzt sind.

15. Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 22.03.2019, Zl. W261 2205099-1/11Z ua, wurde dieses Erkenntnis insoweit berichtigt, als im Spruchpunkt III. (Erteilung einer befristeten Aufenthaltsberechtigung) das Datum von 20.03.2021 auf 20.03.2022 geändert wurde. Das fehlerhafte Datum sei auf einen Schreibfehler zurückzuführen und daher von Amts wegen zu berichtigen gewesen.

16. Mit Eingabe vom 24.04.2019 erhob die belangte Behörde gegen dieses Erkenntnis fristgerecht eine außerordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof. Darin wurde im Wesentlichen vorgebracht, es sei zweifelhaft, ob es sich auch bei einer von der sie umgebenden Gesellschaft nicht als andersartig wahrgenommenen Familie um eine soziale Gruppe iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK handle. Es liege somit eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung vor, da der Verwaltungsgerichtshof seine diesbezügliche Rechtsprechung klarstellen könne. Das Bundesverwaltungsgericht habe weiters nicht ausreichend begründet, warum es sich bei „Familienangehörigen von wohlhabenden Geschäftsleuten, die dem Risiko erpresserischer Entführung ausgesetzt sind“ um eine soziale Gruppe handle, auch diesbezüglich fehle es an Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes.

17. Mit Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 21.05.2021, Zl. Ra 2019/19/0428-6, wurde das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründend führte der Gerichtshof im Wesentlichen aus, das Bundesverwaltungsgericht habe seiner Entscheidung über die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten als Verfolgungshandlung (iSd. Art. 9 Status-RL) eine Entführung zwecks Erpressung von Lösegeld zu Grunde gelegt. Den Länderfeststellungen sei zwar zu entnehmen, dass es in Afghanistan immer wieder zu erpresserischen Entführungen von (vermeintlich) wohlhabenden Geschäftsleuten komme und dass davon auch deren Kinder betroffen sein könnten. Den Feststellungen sei aber nicht zu entnehmen, dass Kinder wie die Dritt- bis Achtmitbeteiligten von einer gezielten und systematischen Verfolgung durch erpresserische Entführung bedroht wären. Das Bundesverwaltungsgericht habe aber auch nicht dargelegt, dass und warum gerade die Dritt- bis Achtmitbeteiligten im Fall einer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat Opfer einer Entführung zwecks Erpressung von Lösegeld werden könnten. Einer solchen Annahme stünden im Übrigen auch die Ausführungen im angefochtenen Erkenntnis entgegen, die Mitbeteiligten wären – was eine innerstaatliche Fluchtalternative ausschließe – im Fall einer Rückkehr in die Städte Herat oder Mazar-e Sharif mangels finanzieller Mittel der Gefahr ausgesetzt, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse nicht befriedigen zu können.

18. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 14.07.2021 eine weitere öffentliche mündliche Verhandlung durch, zu der die Beschwerdeführer gemeinsam mit ihrer Rechtsvertreterin erschienen. Die belangte Behörde nahm an der mündlichen Verhandlung entschuldigt nicht teil. Im Zuge der mündlichen Beschwerdeverhandlung führten die Beschwerdeführer im Wesentlichen das aus, was sie bereits vor der belangten Behörde aussagten, und legten Integrationsunterlagen vor. Das Bundesverwaltungsgericht legte aktuelle Länderinformationen zu Afghanistan vor und räumte den Beschwerdeführer die Möglichkeit ein, hierzu Stellung zu nehmen.

19. Mit Eingabe vom 29.07.2021 erstatteten die Beschwerdeführer durch ihre bevollmächtigte Vertretung eine Stellungnahme, in der im Wesentlichen ausgeführt wurde, dass die Erstbeschwerdeführerin eine selbstbewusste Frau sei, die sich bereits sehr gut in Österreich integriert habe. Sie habe in der Verhandlung geschildert, dass sie sich seit ihrer Ankunft in Österreich erstmals frei fühle, dass sie es schätze, lernen, einkaufen und sich kleiden zu können, wie sie möchte. Sie wolle sich in Österreich ein Berufsleben aufbauen und sei bereit, jeder Tätigkeit (Putztätigkeiten) nachzugehen. Dass die Erstbeschwerdeführerin nach wie vor ein Kopftuch trage, sei allein ihre freie Entscheidung. Sie habe sich aufgrund ihres Aufenthaltes in Österreich in einem Entwicklungsprozess an eine Lebensführung ohne religiös-motivierte Einschränkungen angepasst. Die Erstbeschwerdeführerin und ihr Ehemann würden eine Ehe auf Augenhöhe führen und er unterstütze sie bei allen Veränderungen, die sie durchlebe. Sie gehe in Österreich selbständig einkaufen, zum Arzt, treffe familiäre und finanzielle Entscheidungen und verfüge über ein eigenes Konto. Der Erstbeschwerdeführerin würde im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan eine Ablehnung der konservativ-islamischen Wertevorstellungen zumindest unterstellt werden und sie wäre längerfristig auch nicht in der Lage, ihre nunmehr westlich orientierten Wertevorstellungen zu verbergen. Aus diesem Grund drohe ihr asylrelevante Verfolgung aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der am westlichen Frauen- und Gesellschaftsbild orientierten afghanischen Frauen. Zur Situation von Frauen und Kindern wurde auch auf diverse Länderberichte verwiesen.

II.     Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Feststellungen:

1.1.    Zur Person der Beschwerdeführer:

Die Erstbeschwerdeführerin führt den Namen XXXX und ist am XXXX im Dorf XXXX im Distrikt XXXX in der Provinz Parwan geboren. Sie ist afghanische Staatsangehörige, Angehörige der Volksgruppe der Tadschiken und sunnitische Muslimin.

Der Zweitbeschwerdeführer führt den Namen XXXX und ist am XXXX in der Stadt Kabul geboren. Er ist afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken und sunnitischer Muslim.

Die Erst- und Zweitbeschwerdeführer heirateten 1371 (= 1992/93) traditionell in Kabul. Die Erstbeschwerdeführerin ist eine Cousine mütterlicherseits des Zweitbeschwerdeführers.

Der Ehe entstammen insgesamt acht Söhne. Die beiden ältesten Söhne, XXXX , ca. 26 Jahre alt, und XXXX , ca. 25 Jahre alt, reisten bereits ca. vier bis fünf Monate vor dem Rest der Familie aus Afghanistan aus und leben in Deutschland. Die weiteren sechs ehelichen Söhne der Erst- und Zweitbeschwerdeführer sind die Dritt- bis Achtbeschwerdeführer.

Der Drittbeschwerdeführer führt den Namen XXXX und ist am XXXX in der Stadt Kabul geboren. Er ist afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken und sunnitischer Muslim.

Der Viertbeschwerdeführer führt den Namen XXXX und ist am XXXX in der Stadt Kabul geboren. Er ist afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken und sunnitischer Muslim.

Der minderjährige Fünftbeschwerdeführer führt den Namen XXXX und ist am XXXX in der Stadt Kabul geboren. Er ist afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken und sunnitischer Muslim.

Der minderjährige Sechstbeschwerdeführer führt den Namen XXXX und ist am XXXX in der Stadt Kabul geboren. Er ist afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken und sunnitischer Muslim.

Der minderjährige Siebtbeschwerdeführer führt den Namen XXXX und ist am XXXX in der Stadt Kabul geboren. Er ist afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken und sunnitischer Muslim.

Der minderjährige Achtbeschwerdeführer führt den Namen XXXX und ist am XXXX in der Stadt Kabul geboren. Er ist afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken und sunnitischer Muslim.

Der Vater der Erstbeschwerdeführerin arbeitete für die Regierung, weswegen ihre Familie von der Provinz Parwan nach Kabul zog, wo sie bis zu ihrer Ausreise lebte. Die Erstbeschwerdeführerin wuchs in einem sehr konservativen Haushalt mit einem strengen Vater auf, der es ihr nicht erlaubte, die Schule zu besuchen. Sie ist in ihrer Muttersprache Analphabetin. Nach ihrer Heirat mit dem Zweitbeschwerdeführer lebte sie zurückgezogen als Hausfrau und Mutter mit ihren insgesamt acht Söhnen im Haus ihres Ehemannes.

Die Eltern der Erstbeschwerdeführerin leben nach wie vor in Kabul. Sie hat drei Brüder, die zuletzt in der Türkei lebten. Sie hat auch drei Schwestern, von denen zwei im Iran verheiratet sind. Eine Schwester ist noch ledig und lebt bei den Eltern. Die Erstbeschwerdeführerin hat zwei Onkel väterlicherseits im Iran, einen Onkel, zwei Tanten mütterlicherseits und eine Tante väterlicherseits in der Provinz Parwan. Sie hat gelegentlich Kontakt zu ihren Eltern.

Die Erstbeschwerdeführerin besuchte in Österreich zwei A1-Deutschkurse, infolge der COVID-19-Pandemie standen ihr dann längere Zeit keine weiteren Deutschkurse zur Verfügung. Zuletzt besuchte sie einen Alphabetisierungskurs. Sie ist noch nicht in der Lage, sich gut auf Deutsch auszudrücken. Sie hat in Österreich Freunde und Bekannte gefunden, in ihrer Freizeit geht sie spazieren. Sie strebt eine Arbeit als Reinigungskraft oder eine geringfügige Arbeit für die Gemeinde an. Die Erstbeschwerdeführerin ist gesund.

Der Zweitbeschwerdeführer wuchs in Kabul auf. Er besuchte zehn Jahre lang die Schule. Er besaß ein Transportunternehmen namens „ XXXX “ mit ca. 15 Mitarbeitern. Der Hauptsitz dieser Firma war in Kabul, in XXXX . Die Firma hatte eine Filiale in Ghazni. Diese Firma transportierte Mehl, Holz, Reis und anderes zwischen der Provinz Ghazni, wo sie ebenfalls einen Firmensitz hatte, Kabul und anderen Regionen Afghanistans. Der älteste Sohn des Zweitbeschwerdeführers, XXXX , war auch in dieser Firma tätig, er war sein Stellvertreter. Der Zweitbeschwerdeführer kaufte und sanierte alte Häuser und verkaufte diese dann weiter. Er kaufte auch Autos, die er reparierte und ebenfalls weiterverkaufte. Er war beruflich sehr erfolgreich und für afghanische Verhältnisse wohlhabend.

Der Zweitbeschwerdeführer ist Eigentümer von zwei Häusern in Kabul. In einem Haus lebte er gemeinsam mit seiner Familie, seinem Onkel väterlicherseits und dessen Familie, bestehend aus dessen Frau, zwei Söhnen und einer Tochter. Dieses Haus befindet sich im Stadtteil XXXX in der Stadt Kabul. Sein Onkel lebt nach wie vor mit seiner Frau und deren gemeinsamer Tochter in diesem Haus. Der Sohn dieses Onkels, XXXX , floh gemeinsam mit den Beschwerdeführern nach Europa und lebt derzeit in Deutschland. Das zweite Haus des Zweitbeschwerdeführer liegt in der Region XXXX in der Stadt Kabul. In diesem Haus leben seine Eltern. Der Vater des Zweitbeschwerdeführers war freiberuflicher Metzger, er ist jedoch bereits in Pension. Das Geschäft ist verpachtet und seine Eltern leben von den Einnahmen aus dieser Pacht.

Der Zweitbeschwerdeführer hat insgesamt sieben jüngere Brüder, von denen einer im Iran und einer in Deutschland lebt. Ein Bruder, der Soldat war, ist schon lange verschollen. Von den restlichen Brüdern weiß er nicht, wo sie sich derzeit aufhalten. Er hat einen Onkel und drei Tanten mütterlicherseits sowie drei Onkel und zwei Tanten väterlicherseits, von denen ein Onkel im Iran und eine Tante in den Vereinigten Staaten lebt. Er hat gelegentlich Kontakt zu seinen Eltern.

Der Zweitbeschwerdeführer besuchte in Österreich mehrere A1-Deutschkurse und bemühte sich wiederholt erfolglos um die Aufnahme in einen A2-Kurs. In seiner Freizeit spielt er mit seinen Söhnen Fußball und geht mit seiner Frau spazieren. In XXXX hat er immer wieder ehrenamtlich für die Gemeinde und bei archäologischen Ausgrabungen gearbeitet. Er würde sich gerne selbstständig machen und ein Geschäft eröffnen. Er ist gesund.

Der Drittbeschwerdeführer besuchte in Kabul sechs Jahre lang die Schule. Er ist ledig und kinderlos. Er hat keine Berufserfahrung. Er lebte und lebt mit seinen Eltern und Brüdern in einem gemeinsamen Haushalt. Er besuchte in Österreich als außerordentlicher Schüler die HLW XXXX und besucht seit Jänner 2021 einen Pflichtschulabschlusslehrgang der VHS XXXX . Der Drittbeschwerdeführer bestand am 22.07.2020 die Integrationsprüfung auf B1-Niveau. Er war aktives Mitglied in einem Fußballverein. Er half bei Bedarf in der Gemeinde aus. Er ist gesund.

Der Viertbeschwerdeführer besuchte in Kabul vier Jahre lang die Schule. Er besuchte in Österreich zunächst die Polytechnische Schule XXXX und schloss diese ab. Er bestand am 05.03.2020 die Integrationsprüfung auf B1-Niveau und am 22.12.2020 die Pflichtschulabschlussprüfung. Seit 15.03.2021 absolviert der eine Lehre als Kfz-Techniker und besucht die Berufsschule XXXX . Er ist gesund.

Der minderjährige Fünftbeschwerdeführer besuchte in Kabul keine Schule. In Österreich besuchte er zunächst die Volksschule XXXX und absolvierte zuletzt die erste Klasse der Mittelschule XXXX in XXXX . Er ist gesund.

Der minderjährige Sechstbeschwerdeführer besuchte in Kabul keine Schule. In Österreich besuchte er zunächst die Volksschule XXXX und absolvierte zuletzt die vierte Klasse der Volksschule XXXX in XXXX . Er leidet seit seiner Geburt an einer flachen Nase und Problemen beim Atmen. Es ist eine Operation an seiner Nasenscheidewand geplant, sobald er volljährig ist.

Der minderjährige Siebtbeschwerdeführer besuchte in Kabul keine Schule. In Österreich besuchte er zunächst die Volksschule XXXX und absolvierte zuletzt die dritte Klasse der Volksschule XXXX in XXXX . Er ist gesund.

Der minderjährige Achtbeschwerdeführer besuchte in Kabul keine Schule. In Österreich besuchte er zunächst den Pfarrkindergarten in XXXX und absolvierte zuletzt die erste Klasse der Volksschule XXXX in XXXX . Er ist gesund.

Die Beschwerdeführer stellten nach gemeinsamer Einreise am 17.06.2016 Anträge auf internationalen Schutz in Österreich.

Die Erstbeschwerdeführerin, der Drittbeschwerdeführer und der Viertbeschwerdeführer sind in Österreich strafrechtlich unbescholten. Die minderjährigen Fünft- bis Achtbeschwerdeführer sind noch nicht strafmündig.

Der Zweitbeschwerdeführer wurde mit Urteil des Bezirksgerichts XXXX vom 08.06.2020, Zl. XXXX , wegen des Vergehens der Urkundenfälschung nach § 223 Abs. 2 StGB und des Vergehens der mittelbaren unrichtigen Beurkundung oder Beglaubigung nach §§ 15, 228 Abs. 1 StGB zu einer Geldstrafe von 80 Tagessätzen à 4,00 Euro (320,00 Euro) verurteilt. Davon abgesehen ist er in Österreich strafrechtlich unbescholten.

1.2.    Zu den Fluchtgründen der Beschwerdeführer:

Die Erstbeschwerdeführerin ist eine Frau, welche in ihrer Wertehaltung und in ihrer Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist. Sie lebt in Österreich nicht mehr nach der konservativ-afghanischen Tradition, lehnt die Umstände und Lebensverhältnisse für Frauen in Afghanistan ab und kann sich nicht vorstellen, nach der konservativ-afghanischen Tradition zu leben. Sie trägt aus freiem Willen weiter ein Kopftuch, ist ansonsten aber westlich gekleidet. Sie beabsichtigt, in Österreich beruflich tätig zu sein, wenn sie auch – aus eigenem Wunsch – vorrangig Hausfrau und Mutter ist. Das Verhältnis zu ihrem Ehemann ist ein partnerschaftliches. Die Erstbeschwerdeführerin führt bereits jetzt in Österreich ein freies, selbstbestimmtes Leben. Diese Einstellung steht im Widerspruch zu den nach den Länderfeststellungen im Herkunftsstaat bestehenden traditionalistisch-religiös geprägten gesellschaftlichen Auffassungen hinsichtlich Bewegungsfreiheit und Zugang zur Erwerbstätigkeit für Frauen.

Es liegen keine Gründe vor, nach denen die Beschwerdeführer von der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten auszuschließen sind oder nach denen ein Ausschluss zu erfolgen hat. Solche Gründe sind im Verfahren nicht hervorgekommen.

1.3.    Zur Situation im Herkunftsstaat:

Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:

?        Länderinformation der Staatendokumentation Afghanistan mit Stand 11.06.2021, Version 4 - auszugsweise (LIB)

?        UNHCR-Position zur Rückkehr nach Afghanistan, August 2021 (UNHCR 2021)

?        Kurzinformation der Staatendokumentation, Aktuelle Entwicklungen und Informationen in Afghanistan, Stand 20.08.2021 (KI Staatendokumentation)

1.3.1   Allgemeine aktuelle Sicherheitslage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (LIB).

Als Folge des Rückzugs der internationalen Truppen aus Afghanistan hat sich die Sicherheits- und Menschenrechtslage in großen Teilen des Landes rapide verschlechtert. Die Taliban haben in einer schnell wachsenden Anzahl an Provinzen die Kontrolle übernommen, wobei sich ihr Vormarsch im August 2021 nochmals beschleunigte, als sie 26 von 34 Provinzhauptstädten innerhalb von zehn Tagen einnahmen und schließlich den Präsidentenpalast in Kabul unter ihre Kontrolle brachten. Die stark zunehmende Gewalt hat schwerwiegende Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung, einschließlich Frauen und Kindern (UNHCR 2021).

Aufgrund des Konflikts sind seit Anfang 2021 Schätzungen zufolge über 550.000 Afghan*innen innerhalb des Landes neu vertrieben worden, davon 126.000 neue Binnenvertriebene allein zwischen 7. Juli und 9. August 2021. Während es bis dato noch keine genauen Zahlen gibt, wie viele Afghan*innen das Land aufgrund der Kampfhandlungen und Menschenrechtsverletzungen verlassen haben, haben Berichten zufolge zehntausende Afghan*innen in den letzten Wochen die Landesgrenzen überschritten. (UNHCR 2021)

Die Spitzenpolitiker der Taliban sind aus Katar, wo viele von ihnen im Exil lebten, nach Afghanistan zurückgekehrt. Frauen werden Rechte gemäß der Scharia [islamisches Recht] genießen, so der Sprecher der Taliban. Nach Angaben des Weißen Hauses haben die Taliban versprochen, dass Zivilisten sicher zum Flughafen von Kabul reisen können. Berichten zufolge wurden Afghanen auf dem Weg dorthin von Taliban-Wachen verprügelt. Lokalen Berichten zufolge sind die Straßen von Kabul ruhig. Die Militanten sind in der ganzen Stadt unterwegs und besetzen Kontrollpunkte (KI Staatendokumentation).

Die internationalen Evakuierungsmissionen von Ausländerinnen und Ausländern sowie Ortskräften aus Afghanistan gehen weiter, immer wieder gibt es dabei Probleme. Die Angaben darüber, wie viele Menschen bereits in Sicherheit gebracht werden konnten, gehen auseinander, die Rede ist von 2.000 bis 4.000, hauptsächlich ausländisches Botschaftspersonal. Es mehren sich aktuell Zweifel, dass auch der Großteil der Ortskräfte aus dem Land gebracht werden kann. Bei Protesten gegen die Taliban in Jalalabad wurden unterdessen laut Augenzeugen drei Menschen getötet (KI Staatendokumentation).

Jalalabad wurde kampflos von den Taliban eingenommen. Mit ihrer Einnahme sicherte sich die Gruppe wichtige Verbindungsstraßen zwischen Afghanistan und Pakistan. Am Mittwoch (18.08.2021) wurden jedoch Menschen in der Gegend dabei gefilmt, wie sie zur Unterstützung der alten afghanischen Flagge marschierten, bevor Berichten zufolge in der Nähe Schüsse abgefeuert wurden, um die Menschenmenge zu zerstreuen. Das von den Taliban neu ausgerufene Islamische Emirat Afghanistan hat bisher eine weiße Flagge mit einer schwarzen Schahada (Glaubensbekenntnis) verwendet. Die schwarz-rot-grüne Trikolore, die von den Demonstranten verwendet wurde, gilt als Symbol für die abgesetzte Regierung. Der Sprecher der Taliban erklärte, dass derzeit Gespräche über die künftige Nationalflagge geführt werden, wobei eine Entscheidung von der neuen Regierung getroffen werden soll (KI Staatendokumentation).

Während auf dem Flughafen der afghanischen Hauptstadt Kabul weiter der Ausnahmezustand herrscht, hat es bei einer Kundgebung in einer Provinzhauptstadt erneut Tote gegeben. In der Stadt Asadabad in der Provinz Kunar wurden nach Angaben eines Augenzeugen mehrere Teilnehmer einer Kundgebung zum afghanischen Nationalfeiertag getötet. Widerstand bildete sich auch im Panjshirtal, eine Hochburg der Tadschiken nordöstlich von Kabul. In der „Washington Post“ forderte ihr Anführer Ahmad Massoud, Chef der Nationalen Widerstandsfront Afghanistans, Waffen für den Kampf gegen die Taliban. Er wolle den Kampf für eine freiheitliche Gesellschaft fortsetzen (KI Staatendokumentation).

Einem Geheimdienstbericht für die UN zufolge verstärken die Taliban die Suche nach „Kollaborateuren“. In mehreren Städten kam es zu weiteren Anti-Taliban-Protesten. Nach Angaben eines Taliban-Beamten wurden seit Sonntag mindestens 12 Menschen auf dem Flughafen von Kabul getötet. Westliche Länder evakuieren weiterhin Staatsangehörige und Afghanen, die für sie arbeiten. Der IWF erklärt, dass Afghanistan keinen Zugang mehr zu seinen Geldern haben wird (KI Staatendokumentation).

Vor den Taliban in Afghanistan flüchtende Menschen sind in wachsender medizinischer Not. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) berichtete, dass in Kliniken in Kabul und anderen afghanischen Städten immer mehr Fälle von Durchfallerkrankungen, Mangelernährung, Bluthochdruck und Corona-Symptomen aufträten. Dazu kämen vermehrt Schwangerschaftskomplikationen. Die WHO habe zwei mobile Gesundheitsteams bereitgestellt, aber der Einsatz müsse wegen der Sicherheitslage immer wieder unterbrochen werden (KI Staatendokumentation).

Priorität für die Vereinten Nationen (VN) hat derzeit, dass die UNAMA-Mission in Kabul bleibe. Derzeit befindet sich ein Teil des VN-Personals am Flughafen, um einen anderen Standort (unklar ob in AF) aufzusuchen und von dort die Tätigkeit fortzuführen. Oberste Priorität der VN sei es die Präsenz im Land sicherzustellen. Zwecks Sicherstellung der humanitären Hilfe werde auch mit den Taliban verhandelt (? Anerkennung). Ein Schlüsselelement dabei ist die VN-Sicherheitsrat Verlängerung des UNAMA-Mandats am 17. September 2021 (KI Staatendokumentation).

1.3.2 Allgemeine Wirtschaftslage

Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt. Die Grundversorgung ist für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung, dies gilt in besonderem Maße für Rückkehrer. Diese bereits prekäre Lage hat sich seit März 2020 durch die COVID-19-Pandemie stetig weiter verschärft. Das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten bleibt eklatant. Während in ländlichen Gebieten bis zu 60 % der Bevölkerung unter der Armutsgrenze leben, so leben in urbanen Gebieten rund 41,6 % unter der nationalen Armutsgrenze (LIB).

1.3.3. Ethnische Gruppen

In Afghanistan leben laut Schätzungen zwischen 32 und 36 Millionen Menschen. Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht. Schätzungen zufolge sind 40 bis 42 % Paschtunen, 27 bis 30 % Tadschiken, 9 bis 10 % Hazara, 9 % Usbeken, ca. 4 % Aimaken, 3 % Turkmenen und 2 % Belutschen. Weiters leben in Afghanistan eine große Zahl an kleinen und kleinsten Völkern und Stämmen, die Sprachen aus unterschiedlichsten Sprachfamilien sprechen (LIB).

Artikel 4 der Verfassung Afghanistans besagt: „Die Nation Afghanistans besteht aus den Völkerschaften der Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Paschai, Nuristani, Aimak, Araber, Kirgisen, Qizilbasch, Gojar, Brahui und anderen Völkerschaften. Das Wort ‚Afghane‘ wird für jeden Staatsbürger der Nation Afghanistans verwendet“ (LIB)

Der Gleichheitsgrundsatz ist in der afghanischen Verfassung rechtlich verankert, wird allerdings in der gesellschaftlichen Praxis immer wieder konterkariert. Soziale Diskriminierung und Ausgrenzung anderer ethnischer Gruppen und Religionen im Alltag bestehen fort und werden nicht zuverlässig durch staatliche Gegenmaßnahmen verhindert. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (LIB).

Die Volksgruppe der Tadschiken ist die zweitgrößte Volksgruppe in Afghanistan und hat einen deutlichen politischen Einfluss im Land. Sie machen etwa 27 bis 30 % der afghanischen Bevölkerung aus. Außerhalb der tadschikischen Kerngebiete in Nordafghanistan (Provinzen Badakhshan, Takhar, Baghlan, Parwan, Kapisa und Kabul) bilden Tadschiken in weiten Teilen des Landes ethnische Inseln, namentlich in den größeren Städten. In der Hauptstadt Kabul sind sie knapp in der Mehrheit (LIB).

Als rein sesshaftes Volk kennen die Tadschiken im Gegensatz zu den Paschtunen keine Stammesorganisation. Heute werden unter dem Terminus t?jik „Tadschike“ fast alle dari/persisch sprechenden Personen Afghanistans, mit Ausnahme der Hazara, zusammengefasst (LIB).

Tadschiken dominierten die „Nordallianz“, eine politisch-militärische Koalition, welche die Taliban bekämpfte und nach dem Fall der Taliban die international anerkannte Regierung Afghanistans bildete. Tadschiken sind in zahlreichen politischen Organisationen und Parteien, die dominanteste davon ist die Jamiat-e Islami, vertreten. Die Tadschiken sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 25 % in der Afghan National Army (ANA) und der Afghan National Police (ANP) repräsentiert (LIB).

1.3.4. Taliban

In Afghanistan sind unterschiedliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (LIB).

Die Taliban sind seit Jahrzehnten in Afghanistan aktiv. Die Taliban-Führung regierte Afghanistan zwischen 1996 und 2001, als sie von US-amerikanischen/internationalen Streitkräften entmachtet wurde; nach ihrer Entmachtung hat sie weiterhin einen Aufstand geführt. Seit 2001 hat die Gruppe einige Schlüsselprinzipien beibehalten, darunter eine strenge Auslegung der Scharia in den von ihr kontrollierten Gebieten. Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert, welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (LIB).

Die Taliban sind eine religiös motivierte, religiös konservative Bewegung, die das, was sie als ihre zentralen „Werte“ betrachten, nicht aufgeben wird. Wie sich diese Werte in einer künftigen Verfassung widerspiegeln und in der konkreten Politik einer eventuellen Regierung der Machtteilung, die die Taliban einschließt, zum Tragen kommen, hängt von den täglichen politischen Verhandlungen zwischen den verschiedenen politischen Kräften und dem Kräfteverhältnis zwischen ihnen ab. Sie sehen sich nicht als bloße Rebellengruppe, sondern als eine Regierung im Wartestand und bezeichnen sich selbst als „Islamisches Emirat Afghanistan“, der Name, den sie benutzten, als sie von 1996 bis zu ihrem Sturz nach den Anschlägen vom 11.09.2001 an der Macht waren (LIB).

Die Anführer der Taliban

Mit der Eroberung Kabuls haben die Taliban 20 Jahre nach ihrem Sturz wieder die Macht in Afghanistan übernommen. Dass sie sich in ersten öffentlichen Statements gemäßigter zeigen, wird von internationalen Beobachtern mit viel Skepsis beurteilt. Grund dafür ist unter anderem auch, dass an der Spitze der Miliz vor allem jene Männer stehen, die in den vergangenen Jahrzehnten für Terrorangriffe und Gräueltaten im Namen des Islam verantwortlich gemacht werden. Geheimdienstkreisen zufolge führen die Taliban derzeit Gespräche, wie ihre Regierung aussehen wird, welchen Namen und Struktur sie haben soll und wer sie führen wird. Demzufolge könnte Abdul Ghani Baradar einen Posten ähnlich einem Ministerpräsidenten erhalten („Sadar-e Asam“) und allen Ministern vorstehen. Er trat in den vergangenen Jahren als Verhandler und Führungsfigur als einer der wenigen Taliban Führer auch nach außen auf (KI Staatendokumentation).

Wesentlich weniger international im Rampenlicht steht der eigentliche Taliban-Chef und „Anführer der Gläubigen“ (arabisch: amir al-mu’minin), Haibatullah Akhundzada. Er soll die endgültigen Entscheidungen über politische, religiöse und militärische Angelegenheiten der Taliban treffen. Der religiöse Hardliner gehört ebenfalls zur Gründergeneration der Miliz, während der ersten Taliban-Herrschaft fungierte er als oberster Richter des SchariaGerichts, das für unzählige Todesurteile verantwortlich gemacht wird (KI Staatendokumentation).

Der Oberste Rat der Taliban ernannte 2016 zugleich Mohammad Yaqoob und Sirajuddin Haqqani zu Akhundzadas Stellvertretern. Letzterer ist zugleich Anführer des für seinen Einsatz von Selbstmordattentätern bekannten Haqqani-Netzwerks, das von den USA als Terrororganisation eingestuft wird. Es soll für einige der größten Anschläge der vergangenen Jahre in Kabul verantwortlich sein, mehrere ranghohe afghanische Regierungsbeamte ermordet und etliche westliche Bürger entführt haben. Vermutet wird, dass es die TalibanEinsätze im gebirgigen Osten des Landes steuert und großen Einfluss in den Führungsgremien der Taliban besitzt. Der etwa 45-jährige Haqqani wird von den USA mit einem siebenstelligen Kopfgeld gesucht (KI Staatendokumentation).

Zur alten Führungsriege gehört weiters Sher Mohammad Abbas Stanikzai. In der Taliban Regierung bis 2001 war er stellvertretender Außen- und Gesundheitsminister. 2015 wurde er unter Mansoor Akhtar Büroleiter der Taliban. Als Chefunterhändler führte er später die Taliban-Delegationen bei den Verhandlungen mit den USA und der afghanischen Regierung an (KI Staatendokumentation).

Ein weiterer offenkundig hochrangiger Taliban ist der bereits seit Jahren als Sprecher der Miliz bekannte Zabihullah Mujahid. In einer ersten Pressekonferenz nach der Machtübernahme schlug er, im Gegensatz zu seinen früheren Aussagen, versöhnliche Töne gegenüber der afghanischen Bevölkerung und der internationalen Gemeinschaft an (KI Staatendokumentation).

Obwohl in den vergangenen Jahren 100.000 ausländische Soldaten im Land waren, konnten die Taliban-Führer eine offenkundig von ausländischen Geheimdiensten unterschätzte Kampftruppe zusammenstellen. Laut BBC geht man derzeit von rund 60.000 Kämpfern aus, mit Unterstützern aus anderen Milizen sollen fast 200.000 Männer aufseiten der Taliban den Sturz der Regierung ermöglicht haben. Völlig unklar ist noch, wie viele Soldaten aus der Armee übergelaufen sind (KI Staatendokumentation).

1.3.5. Frauen

Während sich die Situation der Frauen seit dem Ende der Taliban-Herrschaft insgesamt ein wenig verbessert hat, können sie ihre gesetzlichen Rechte innerhalb der konservativ-islamischen, durch Stammestraditionen geprägten afghanischen Gesellschaft oft nur eingeschränkt verwirklichen. Viele Frauen sind sich ihrer in der Verfassung garantierten und auch gewisser vom Islam vorgegebenen Rechte nicht bewusst. Dennoch arbeiten Frauen als Gesetzgeberinnen, Richterinnen, Lehrerinnen, Gesundheitsarbeiterinnen, Beamtinnen, Journalistinnen und Führungskräfte in Wirtschaft und Zivilgesellschaft. Von den etwa 9 Millionen eingeschriebenen Schülern sind 3,5 Millionen Mädchen. Der gesetzliche Rahmen Afghanistans bietet Frauen – zumindest auf dem Papier – viele Schutzmaßnahmen, einschließlich gleicher Rechte für Frauen und Männer. Eine Verteidigung ihrer Rechte ist in einem Land, in dem die Justiz stark konservativ-traditionell geprägt und überwiegend von männlichen Richtern oder traditionellen Stammesstrukturen bestimmt wird, nur in eingeschränktem Maße möglich. Staatliche Akteure aller drei Gewalten sind häufig nicht in der Lage oder aufgrund tradierter Wertevorstellungen nicht gewillt, Frauenrechte zu schützen. Gesetze zum Schutz und zur Förderung der Rechte von Frauen werden nur langsam umgesetzt. Das Personenstandsgesetz enthält diskriminierende Vorschriften für Frauen, insbesondere in Bezug auf Heirat, Erbschaft und Bewegungsfreiheit. (LIB)

Im Zuge der Friedensverhandlungen bekannten sich die Taliban zu jenen Frauenrechten, die im Islam vorgesehen sind, wie zu lernen, zu studieren und sich den Ehemann selbst auszuwählen. Zugleich kritisierten sie, dass 'im Namen der Frauenrechte' Unmoral verbreitet und afghanische Werte untergraben würden. Die Taliban haben während ihres Regimes afghanischen Frauen und Mädchen Regeln aufoktroyiert, die auf ihren extremistischen Interpretationen des Islam beruhen, und die ihnen ihre Rechte – einschließlich des Rechts auf Schulbesuch und Arbeit – vorenthalten und Gewalt gegen sie gerechtfertigt haben. Die afghanischen Frauen sind jedoch ob der Verhandlungen mit den Taliban besorgt und fürchten um ihre mühsam erkämpften Rechte. Eine jener vier Frauen, die an den Verhandlungen mit den Taliban teilnehmen, glaubt nicht, dass sich die Taliban-Kämpfer, die an der Frontlinie stehen, geändert hätten. (LIB)

Restriktive Einstellung und Gewalt gegenüber Frauen betreffen jedoch nicht nur Gegenden, welche schon bisher unter Taliban-Herrschaft standen, sondern hängen grundsätzlich mit der Tatsache zusammen, dass die afghanische Gesellschaft zum Großteil sehr konservativ ist. Gewalt gegenüber Frauen ist sehr oft auch innerhalb der Familien gebräuchlich. So kann bezüglich der Behandlung von Frauen insbesondere in ländlichen Gebieten grundsätzlich kein großer Unterschied zwischen den Taliban und der Bevölkerung verzeichnet werden. In den Städten hingegen ist die Situation ganz anders. (LIB)

Auch im Jahr 2020 wurden Frauen durch den bewaffneten Konflikt in vielfältiger Weise geschädigt, unter anderem durch Tod, Verletzungen und sexuelle Gewalt. Frauen trugen auch die Hauptlast der breiteren Auswirkungen des bewaffneten Konflikts, die sich negativ auf die Wahrnehmung einer breiten Palette von Menschenrechten auswirkten, einschließlich der Bewegungsfreiheit und des Zugangs zu Bildung, Gesundheitsversorgung und Justiz sowie des Rechts, nicht aufgrund des Geschlechts oder der sexuellen Orientierung diskriminiert zu werden. Frauen waren auch im Jahr 2020 konfliktbedingter sexueller Gewalt ausgesetzt. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass die gemeldeten Zahlen das wahre Ausmaß der konfliktbedingten sexuellen Gewalt in Afghanistan widerspiegeln. Tief konservative Geschlechternormen, Stigmatisierung und ein Mangel an speziell auf Opfer ausgerichteten Diensten tragen dazu bei, dass wahrscheinlich eine hohe Dunkelziffer gibt. (LIB)

Einigen Schätzungen zufolge haben in den letzten sechs Jahren mindestens 900 afghanische Journalistinnen ihre Arbeit aufgegeben, weil sie unter Druck gesetzt wurden, hauptsächlich aus Sicherheitsgründen. Viele haben das Land in den letzten Jahren aufgrund von Sicherheitsbedenken, einschließlich gezielter Tötungen, verlassen. Das CPAWJ (Zentrum zum Schutz afghanischer Journalistinnen) hat in den vergangenen zwölf Monaten [Anm.: März 2020 - März 2021] mehr als 100 Fälle von Aggression gegen Journalistinnen registriert – darunter Beleidigungen, körperliche Angriffe, Morddrohungen und Morde. Von den 21 Fällen, die von den betroffenen Frauen an das Zentrum verwiesen wurden, wurden zehn vom Innenministerium bewertet, fünf wurden von der Polizei untersucht und vier der Frauen wurden in Zufluchtsorten untergebracht. (LIB)

In vielen Fällen haben Aufständische Frauen beschuldigt, durch die Übernahme einer öffentlichen Rolle gegen gesellschaftliche Normen zu verstoßen. Es ist oft nicht klar, ob die ISKP, die Taliban oder andere Gruppen für die Drohungen und Angriffe verantwortlich sind. (LIB)

Berufstätigkeit von Frauen

Das Gesetz sieht die Gleichstellung von Mann und Frau im Beruf vor, sagt jedoch nichts zu gleicher Bezahlung bei gleicher Arbeit. Das Gesetz untersagt Eingriffe in das Recht von Frauen auf Arbeit; dennoch werden diese beim Zugang zu Beschäftigung und bei den Anstellungsbedingungen diskriminiert. Viele afghanische Männer teilen die Ansicht, Frauen sollen das Haus nicht verlassen, geschweige denn politisch aktiv sein. Die Akzeptanz der Berufstätigkeit von Frauen variiert je nach Region und ethnischer bzw. Stammeszugehörigkeit. Die städtische Bevölkerung hat im Vergleich zur Bevölkerung auf dem Land weniger ein Problem mit der Berufstätigkeit ihrer Ehefrauen oder Töchter. In den meisten ländlichen Gemeinschaften sind konservative Einstellungen nach wie vor präsent und viele Frauen gehen aus Furcht vor sozialer Ächtung keiner Arbeit außerhalb des Hauses nach. In den meisten Teilen Afghanistans ist es Tradition, dass Frauen und Mädchen selten von außerhalb des Hauses gesehen oder gehört werden sollten. Zusätzlich zu patriarchalen Normen, Diskriminierung und Stigmatisierung schränkt der anhaltende Konflikt die Bewegungsfreiheit von Frauen ein, was wiederum ihren ohnehin schon eingeschränkten Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung und dem Arbeitsmarkt untergräbt. (LIB)

Die Erwerbsbeteiligung von Frauen hat sich auf 27 % erhöht wobei nach Angaben der Weltbank der Anteil der arbeitenden Frauen im Jahr 2020 mit 22,8 % angegeben wurde. Erfolgreiche afghanische Frauen arbeiten als Juristinnen, Filmemacherinnen, Pädagoginnen und in anderen Berufen. Ob Frauen berufstätig sind oder nicht, hängt vor allem vom Verhalten ihrer Familien, wie auch ihrem Ausbildungsniveau ab. Neben dem allgemeinen Mangel an Arbeitsmöglichkeiten aufgrund der Arbeitsmarktlage und Jobvoraussetzungen, welche Frauen aufgrund der historischen Benachteiligung bei der Ausbildung von Mädchen schwerer erfüllen können als Männer, sind es vor allem kulturelle Hindernisse die, als Problemfelder gelten und Frauen von einer (bezahlten) Arbeitstätigkeit abhalten. Frauen berichten weiterhin, mit Missgunst konfrontiert zu sein, wenn sie nach beruflicher oder finanzieller Unabhängigkeit streben – sei es von konservativen Familienmitgliedern, Hardlinern islamischer Gruppierungen oder gewöhnlichen afghanischen Männern. Frauen, die sich in nicht-traditionelle und historisch männerdominierte Bereiche – wie Medien, Sicherheitskräfte und Politik – vorgewagt haben, sind einem höheren Risiko von Vergeltungsmaßnahmen durch die Taliban und regierungsfeindliche Elemente ausgesetzt (LIB)

Viele Frauen werden von der Familie unter Druck gesetzt, nicht arbeiten zu gehen; traditionell wird der Mann als Ernährer der Familie betrachtet, während Frauen Tätigkeiten im Haushalt verrichten. Dies bedeutet für die Frauen eine gewisse Sicherheit, macht sie allerdings auch wirtschaftlich abhängig – was insbesondere bei einem Partnerverlust zum Problem wird. Auch werden bei der Anstellung Männer bevorzugt. Es ist schwieriger für ältere und verheiratete Frauen, Arbeit zu finden, als für junge alleinstehende. Berufstätige Frauen berichten über Beleidigungen, sexuelle Belästigung, fehlende Fahrgelegenheiten und fehlende Kinderbetreuungseinrichtungen. Auch wird von Diskriminierung beim Gehalt berichtet. Das hohe Ausmaß an sexueller Belästigung am Arbeitsplatz ist ein Grund, warum Familien ihren weiblichen Mitgliedern eine Arbeitstätigkeit außerhalb des Hauses, oder ein Studium nicht erlauben. Mittlerweile wurden landesweit mehr als 1.000 Unternehmen von Frauen gegründet, die sie selbst auch leiten. (LIB)

2.       Beweiswürdigung

2.1.    Zur Person der Beschwerdeführer:

Die Angaben zu den persönlichen Verhältnissen der Beschwerdeführer ergeben sich aus dem Akt, insbesondere auch aus ihren persönlichen Einvernahmen vor dem Bundesverwaltungsgericht am 30.01.2019 und 14.07.2021 sowie vor der belangten Behörde. Das Vorbringen der Beschwerdeführer hinsichtlich ihrer Lebensumstände sind für das erkennende Gericht über weite Strecken glaubhaft und nachvollziehbar und, insoweit es die Feststellungen zu deren Leben in Österreich betrifft, auch durch die von den Beschwerdeführern im Laufe des Verfahrens vorgelegten Integrationsunterlagen belegt.

Die Feststellungen zur Situation der Beschwerdeführer in Österreich beruhen auf deren eigenen Angaben in der mündlichen Beschwerdeverhandlung, bzw. sind diese durch die im Rahmen der mündlichen Verhandlung vorgelegten Integrationsunterlagen belegt (vgl. Beilagen ./1 bis ./15 zur Niederschrift vom 30.01.2019, Beilagen ./1 bis ./19 zur Niederschrift vom 14.07.2021).

Die Feststellung zu den Deutschkenntnissen der Erstbeschwerdeführerin gründet auf der persönlichen Wahrnehmung der erkennenden Richterin in der mündlichen Verhandlung (vgl. Niederschrift vom 14.07.2021, S. 8-9).

Die Feststellungen zum Gesundheitszustand der Beschwerdeführer ergeben sich jeweils aus deren diesbezüglich glaubhaften Angaben vor dem Bundesverwaltungsgericht (vgl. Niederschrift vom 14.07.2021, S. 5).

Die Feststellungen zur strafrechtlichen Unbescholtenheit der Erstbeschwerdeführerin, des Drittbeschwerdeführers und des Viertbeschwerdeführers sowie der Verurteilung des Zweitbeschwerdeführers beruhen auf vom Bundesverwaltungsgericht eingeholten Auszügen aus dem Strafregister.

2.2.    Zu den Fluchtgründen der Beschwerdeführer:

Die getroffenen Feststellungen betreffend die überwiegende Orientierung der Erstbeschwerdeführerin an einem allgemein als „westlich“ zu bezeichnenden Frauen- und Gesellschaftsbild ergibt sich primär aus ihrem selbstsicheren und natürlichen Auftreten und ihren diesbezüglich glaubhaften Angaben in der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht (vgl. Niederschrift vom 14.07.2021, S. 7-13).

Dabei stach für die erkennende Richterin insbesondere hervor, wie viel selbstbewusster, stärker und offener als noch in der ersten mündlichen Verhandlung am 30.01.2019 sich die Erstbeschwerdeführerin nun präsentierte. Diese Entwicklung spricht dafür, dass sie die vergangenen zweieinhalb Jahre ihres Aufenthalts in Österreich genutzt hat, um sich – deutlicher als zuvor – an die Lebensweise „westlicher“ Frauen anzupassen und die ihr in Österreich zukommenden Rechte und Freiheiten stärker in Anspruch zu nehmen.

Die Erstbeschwerdeführerin vermochte in der Beschwerdeverhandlung zu überzeugen, dass sie in Österreich nicht mehr nach der, in ihrer Herkunftsfamilie sehr streng gelebten, konservativ-afghanischen Tradition lebt, sondern diese vielmehr ablehnt, sich aufgrund ihres Aufenthaltes in Österreich an die Lebensführung ohne religiös-motivierte Einschränkungen angepasst hat und sich auch weiterhin anpassen will. Sie hat in den nunmehr über vier Jahren ihres Aufenthalts die zugrundeliegenden Werte mittlerweile verinnerlicht. Die Erstbeschwerdeführerin lebt bereits heute selbstbestimmt und eigenständig, auch wenn sie als Mutter von acht Kindern nachvollziehbarerweise in gewisser Hinsicht gebunden ist. Für sie ist es selbstverständlich, alleine außer Haus zu gehen, diversen Freizeitaktivitäten nachzugehen und sich ohne Orientierung an den traditionellen afghanischen Kleidungsvorschriften zu kleiden. Sie trifft wichtige Entscheidungen für sich und ihre Familie selbst oder gemeinsam mit ihrem Ehemann.

Das Verhältnis zu ihrem Ehemann ist ein partnerschaftliches, sie teilen sich die Erziehungs- und Hausarbeit auf und er unterstützt sie in ihren Plänen für die Zukunft. Fünf ihrer sechs einvernommenen Kinder bezeichneten sie in der mündlichen Verhandlung als das Familienoberhaupt. Eine gute Bildung ihrer Kinder ist ihr wichtig, alle ihre in Österreich lebenden Söhne besuchen erfolgreich ihre jeweiligen Schulen. Ihr Leben in Österreich unterscheidet sich nicht wesentlich von dem Leben, welches auch eine andere verheiratete Frau mit acht Kindern, von denen sechs noch im gemeinsamem Haushalt leben, führen würde. Die Erstbeschwerdeführerin weiß, dass sie sich für den theoretischen Fall, dass ihr Ehemann gewalttätig werden oder ihr Leben übermäßig kontrollieren sollte, an die Behörden wenden und auf österreichische Gesetze verweisen kann.

Die Erstbeschwerdeführerin hat zwei A1-Deutschkurse und einen Alphabetisierungskurs besucht und beabsichtigt, in Österreich in Zukunft eine berufliche Selbstständigkeit, etwa als Reinigungskraft, zu erlangen. Zwar ist sie derzeit wie festgestellt noch nicht in der Lage, sich gut auf Deutsch auszudrücken, was auch ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt mindert. Angesichts ihrer gänzlich fehlenden Schulbildung, der Tatsache, dass sie in ihrer Muttersprache Analphabetin ist, und des Umstands, dass sie nach wie vor eine achtköpfige Familie mit vier minderjährigen Kindern versorgt, können aber auch keine überzogenen Erwartungen an ihren Lernfortschritt gestellt werden. Die Erstbeschwerdeführerin konnte in der Verhandlung glaubhaft vermitteln, dass sie derzeit unter großen Anstrengungen die deutsche Schrift und Sprache erlernt und durch die COVID-19-Pandemie, das mangelnde Angebot an Deutschkursen und ihren Analphabetismus in ihrem Bemühen behindert wurde. Allein der Umstand, dass eine Asylwerberin die deutsche Sprache nicht ausreichend beherrscht, spricht allgemein noch nicht gegen eine „westliche“ Lebensweise (vgl. VwGH 22.02.2018, Ra 2017/18/0357).

Zur mündlichen Verhandlung erschien die Erstbeschwerdeführerin mit einer schwarzen, langen Hose, einer türkisen, kurzärmeligen Bluse und einem bunten Kopftuch. Sie war dezent geschminkt und trug Schmuck, nämlich Ohrringe und einen goldenen Armreifen. Sie trug ihr Kopftuch so, dass ihr Gesicht und auch der Halsbereich sichtbar waren, das Kopftuch bedeckte lediglich die Haare (vgl. Niederschrift vom 14.07.2021, S. 13). Die Erstbeschwerdeführerin unterscheidet sich äußerlich damit nicht von einer modernen europäischen Frau mit Kopftuch. Sie kann sich nicht vorstellen, jemals wieder eine Burka zu tragen oder sich sonst nach afghanischer Tradition zu verhüllen. Das Kopftuch trägt sie auf eigenen Wunsch und aus alter Gewohnheit, obwohl ihr Ehemann dafür wäre, dass sie es ablegt. Auch darin kommt daher gerade kein Verharren in konservativ-afghanischen Traditionen, sondern vielmehr ihre Eigenständigkeit zum Ausdruck.

Aus all dem ergibt sich, dass Erstbeschwerdeführerin als eine Frau anzusehen ist, die in einer Weise lebt, die nicht mit den traditionellen, konservativen Ansichten betreffend die Rolle der Frau in der afghanischen Gesellschaft übereinstimmt. Sie hat ihre Lebenseinstellung und ihr Leben glaubhaft so grundlegend geändert, dass sie nicht mehr in der Lage und willens wäre, sich einem Mann bedingungslos unterzuordnen, wie dies in Afghanistan als Frau von ihr verlangt werden würde. Es ist daher davon auszugehen, dass der Erstbeschwerdeführerin eine Ablehnung der konservativ-islamischen Wertvorstellungen im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund ihres Aufenthaltes im Ausland und ihrer Anpassung an das hier bestehende Gesellschaftssystem zumindest unterstellt würde.

Im gesamten Verfahren sind keine Gründe zu Tage getreten, welche die Beschwerdeführer von der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten ausschließen würden.

2.3.    Zur Situation im Herkunftsstaat:

Die Feststellungen zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die zitierten Länderberichte. Da diese aktuellen Länderberichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen von regierungsoffiziellen und nicht-regierungsoffiziellen Stellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche bieten, besteht im vorliegenden Fall für das Bundesverwaltungsgericht kein Anlass, an der Richtigkeit der herangezogenen Länderinformationen zu zweifeln. Die den Feststellungen zugrundeliegenden Länderberichte sind in Bezug auf die Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan aktuell.

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten