TE Bvwg Erkenntnis 2021/9/1 W189 2231497-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 01.09.2021
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Entscheidungsdatum

01.09.2021

Norm

AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §7 Abs1 Z2
AsylG 2005 §7 Abs4
AsylG 2005 §8 Abs1 Z2
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z3
FPG §52 Abs9

Spruch


W189 2231497-1/26E

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Irene RIEPL als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, vertreten durch RA Dr. Eva Jana MESSERSCHMIDT, gegen die Spruchpunkte I. – II. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , berichtigt am XXXX , Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am XXXX , zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer (in der Folge: der BF) reiste im XXXX im Alter von XXXX mit seinen Eltern und Geschwister in das Bundesgebiet ein. Er stellte am XXXX bei der Einreise einen Antrag auf internationalen Schutz.

Der BF begründete die Asylantragstellung im Wesentlichen dahingehend, dass er mit seinen Eltern das Heimatland verlassen habe, weil deren Leben dort in Gefahr sei. Da sein Vater im Heimatland nicht mehr habe leben können, habe der Vater die Familie im Jahr XXXX aufgefordert die Russische Föderation zu verlassen. Nach Asylgewährung an den Vater des Beschwerdeführers wurde mit Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenates (in der Folge: UBAS) vom XXXX auch diesem Asyl gemäß § 7 AsylG 1997 gewährt.

2. Der BF wurde in weiterer Folge mit Urteil des Landesgerichtes XXXX , GZ. XXXX , vom XXXX wegen des Vergehens des betrügerischen Datenverarbeitungsmissbrauchs als Beteiligter gemäß §§ 12, 148a Abs. 1 und Abs. 2 zweiter Fall StGB zu einer bedingten Freiheitsstrafe in der Dauer von acht Monaten unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren rechtskräftig verurteilt.

3. In weiterer Folge leitete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: BFA) ein Aberkennungsverfahren gegen den BF ein. Am XXXX wurde dieser im Verfahren betreffend Aberkennung des internationalen Schutzes durch die belangte Behörde persönlich einvernommen.

4. Mit Bescheid vom XXXX erkannte das BFA dem BF den Status des Asylberechtigen gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 ab und stellte fest, dass dem BF die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zu komme (Spruchpunkt I.). Dem BF wurde der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt (Spruchpunkt II.) und ihm kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 erteilt (Spruchpunkt III). Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung wurde gemäß § 9 Abs. 2 und 3 BFA-VG auf Dauer für unzulässig erklärt und dem BF gemäß § 55 Abs.1 AsylG 2005 eine Aufenthaltsberechtigung plus erteilt (Spruchpunkt IV).

5. Gegen diese Entscheidung brachte der BF fristgerecht Beschwerde hinsichtlich der Spruchpunkte I. und II. ein. Im Wesentlichen wurde vorgebracht, dass laut Spruch im bekämpften Bescheid der Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs.1 Z 1 AsylG 2005 aberkannt worden sei und sich laut Akteninhalt kein Hinweis auf das Vorliegen eines besonders schweren Verbrechens ergäbe. In der Begründung des verfahrensgegenständlichen Bescheides stütze die Behörde die Aberkennung jedoch auf § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005, wobei die belangte Behörde die Gründe, die zur Zuerkennung des Status des Asylberechtigten geführt hätten, mit keinem Wort geprüft habe und insbesondere den Vater des BF zum Bestehen der Fluchtgründe nicht einvernommen habe, da der BF selbst angegeben habe, den Status des Asylberechtigten aufgrund seines Vaters erhalten zu haben, weshalb der Bescheid einen gravierenden Verfahrensmangel aufweise.

6. Mit Bescheid des BFA vom XXXX wurde gegenständlicher Bescheid vom XXXX insoweit gemäß § 62 Abs. 4 AVG berichtigt, als Spruchpunkt I. des bekämpften Bescheides den zuerkannten Status des BF als Asylberechtigten gemäß § 7 Abs.1 Z 2 AsylG 2005 aberkannte.

7. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom XXXX wurde die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. und II. des angefochtenen Bescheides als unbegründet abgewiesen.

8. Gegen dieses Erkenntnis brachte der BF fristgerecht eine außerordentliche Revision ein, wobei im Wesentlichen eine Verletzung der Verhandlungspflicht geltend gemacht wurde.

9. Das BFA legte am XXXX eine Benachrichtigung der Landespolizeidirektion XXXX über eine Reisebewegung des BF in vom XXXX in die XXXX vor. Der Benachrichtigung beigelegt wurden eine Kopie eines vom BF verwendeten, am XXXX ausgestellten russischen Auslandsreisepasses.

10. Mit Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofs vom XXXX wurde das angefochtene Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben. Begründend wurde ausgeführt, dass der Revisionswerber in seiner Beschwerde die Beweiswürdigung des BFA nicht bloß unsubstantiiert bestritten und dargelegt habe, dass eine Auseinandersetzung mit dem ursprünglichen Zuerkennungsgrund unterblieben sei. Die Voraussetzungen für eine Abstandnahme von einer Verhandlung seien daher nicht vorgelegen. Es fehle eine Auseinandersetzung mit dem Sachverhalt, aufgrund dessen der Revisionswerber Asyl zuerkannt bekommen habe, finde sich im angefochtenen Erkenntnis doch keine Auseinandersetzung mit der Frage, ob der Revisionswerber mit Sippenhaftung zu rechnen habe.

11. Am XXXX langte eine Beschwerdeergänzung des BF ein, wonach dieser seit spätestens XXXX einen näher genannten Kritiker von Kadyrow zu seinen geschäftlichen Stammkunden zähle. Dieser habe den BF gebeten, kritische Videos im Internet zu teilen und mit Untertiteln zu versehen, wozu der BF aufgrund des Inhalts der Videos jedoch nicht bereit gewesen sei. Der BF sei im XXXX von einer Person angerufen worden und zu seinem Kontakt mit jener Person befragt worden. Der BF befürchte daher, dass er aufgrund einer möglicherweise zugeschriebenen Nähe zu dieser kritischen Person im Falle einer Rückkehr einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt wäre. Der Beschwerdeergänzung beigelegt wurde ein Screenshot aus einem WhatsApp-Chat.

12. Am XXXX wurde dem BF das aktuelle Länderinformationsblatt der Staatendokumentation über die Lage in der Russischen Föderation vom XXXX übermittelt.

13. Das Bundesverwaltungsgericht führte am XXXX eine öffentliche, mündliche Verhandlung unter Beiziehung einer geeigneten Dolmetscherin der russischen Sprache durch, an welcher der BF und seine Rechtsvertretung teilnahmen. Das BFA bliebt der Verhandlung entschuldigt fern.

14. Mit Schriftsatz vom XXXX legte der BF einen Länderbericht über die Lage ehemaliger Widerstandskämpfer und ihrer Familienmitglieder im Falle einer Rückkehr nach Tschetschenien bzw. Russland vor und verwies auf eine als relevant erachtete Passage im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen (Sachverhalt)

1.1 Zur Person des BF

Der BF ist russischer Staatsangehöriger und gehört der Volksgruppe der Tschetschenen sowie der Religionsgemeinschaft der Muslime an. Er ist volljährig und im erwerbsfähigen Alter. Er spricht Tschetschenisch, Russisch und Deutsch.

Der BF wurde in XXXX , Republik Tschetschenien, geboren und ist in Tschetschenien aufgewachsen. Er hat in seiner Heimat von XXXX bis XXXX die Grundschule besucht. Im XXXX verließ er mit seinen Eltern und Geschwistern erstmals Tschetschenien. Nach etwa XXXX kehrten sie dorthin zurück, um nach ungefähr XXXX aus der Russischen Föderation auszureisen. Im XXXX reiste der BF mit seiner Familie in das österreichische Bundesgebiet ein.

Der BF hat in Tschetschenien einen Onkel und vier Tanten väterlicherseits, drei Onkel und vier Tanten mütterlicherseits sowie zahlreiche Cousins und Cousinen, wobei jedenfalls der Onkel und die Tanten väterlicherseits im Heimatort des BF leben. Sein Onkel väterlicherseits arbeitet als XXXX , seine Tanten väterlicherseits als XXXX . Der BF hat jedenfalls zu allen seinen Verwandten väterlicherseits regelmäßigen Kontakt via WhatsApp.

In Österreich leben die Eltern, die drei volljährigen Brüder, die Ehefrau und die beiden minderjährigen Töchter des BF. Sein Vater ist XXXX und auch die drei Brüder des BF sind erwerbstätig. Der BF arbeitet seit XXXX als XXXX . Der BF ist gesund.

Der BF besitzt seit zumindest XXXX einen russischen Auslandsreisepass, den er im XXXX noch verwendete.

Der BF wurde mit Urteil des Landesgerichtes XXXX , vom XXXX wegen des Vergehens des betrügerischen Datenverarbeitungsmissbrauchs als Beteiligter gemäß §§ 12, 148a Abs. 1 und Abs. 2 zweiter Fall StGB zu einer bedingten Freiheitsstrafe in der Dauer von acht Monaten unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren rechtskräftig verurteilt.

1.2. Zur den Gründen für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten

Dem Vater des BF wurde mit Bescheid des UBAS vom XXXX , gemäß § 7 AsylG 1997 Asyl gewährt und gemäß § 12 AsylG 1997 festgestellt, dass ihm kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme. Der UBAS ging davon aus, dass der Vater des BF insbesondere aufgrund seiner politischen Einstellung, seiner Beteiligung als Widerstandskämpfer am ersten Tschetschenienkrieg sowie durch die militärischen Aktivitäten seines Cousins ins Blickfeld der Behörden seines Heimatlandes geraten sei.

Dem BF wurde mit Bescheid des UBAS vom XXXX , gemäß § 7 AsylG 1997 Asyl gewährt und gemäß § 12 AsylG 1997 festgestellt, dass ihm kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme. Der UBAS ging davon aus, dass dem BF aufgrund seiner Eigenschaft als Angehöriger seines Vaters Sippenhaftung drohe.

1.3. Zu den Gründen für die Aberkennung des Status des Asylberechtigten

Die Lage im Herkunftsstaat des BF hat sich seit Zuerkennung des Status maßgeblich und nachhaltig geändert. Der BF unterliegt in der Russischen Föderation daher keiner aktuellen Bedrohung aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung.

1.4. Zur Situation des BF im Falle einer Rückkehr

Dem BF ist die Rückkehr in die Russische Föderation – etwa in den Heimatort XXXX – zumutbar.

Im Falle einer Rückkehr würde er in keine existenzgefährdende Notlage geraten bzw. es würde ihm nicht die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen werden. Er läuft nicht Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose Situation zu geraten.

Im Falle einer Abschiebung in den Herkunftsstaat ist der BF nicht in seinem Recht auf Leben gefährdet, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen oder von der Todesstrafe bedroht.

Außergewöhnliche Gründe, die eine Rückkehr ausschließen, konnten nicht festgestellt werden.

1.5. Zur maßgeblichen Situation in der Russischen Föderation

1.5.1. Covid-19-Situation

Russland ist von Covid-19 landesweit stark betroffen. Regionale Schwerpunkte sind Moskau und St. Petersburg (AA 15.2.2021). Aktuelle und detaillierte Zahlen bietet unter anderem die Weltgesundheitsorganisation WHO (https://covid19.who.int/region/euro/country/ru). Die Regionalbehörden in der Russischen Föderation sind für Maßnahmen zur Eindämmung von Covid-19 zuständig, beispielsweise betreffend Mobilitätseinschränkungen, medizinische Versorgung und soziale Maßnahmen (RAD 15.2.2021; vgl. CHRR 12.3.2021). Die Maßnahmen der Regionen sind unterschiedlich, richten sich nach der epidemiologischen Situation in der jeweiligen Region und ändern sich laufend (WKO 9.3.2021; vgl. AA 15.2.2021). Es herrscht eine soziale Distanzierungspflicht für öffentliche Plätze und öffentliche Verkehrsmittel. Der verpflichtende Mindestabstand zwischen Personen beträgt 1,5 Meter (WKO 9.3.2021).

Die regierungseigene Covid-19-Homepage gibt Auskunft über die vom russischen Gesundheitsministerium empfohlenen Covid-19-Medikamente, nämlich Favipiravir, Hydroxychloroquin, Mefloquin, Azithromycin, Lopinavir/Ritonavir, rekombinantes Interferon-beta-1b und Interferon-alpha, Umifenovir, Tocilizumab, Sarilumab, Olokizumab, Canakinumab, Baricitinib und Tofacitinib. Der in Moskau entwickelte Covid-19-Krankenhausbehandlungsstandard umfasst folgende vier Komponenten: Antivirale Therapie, Antithrombose-Medikation, Sauerstoffmangelbehebung und Prävention/Behandlung von Komplikationen. Auf Anordnung des Arztes wird Patienten ein Pulsoxymeter ausgehändigt (Gerät zur Messung des Blutsauerstoffsättigungsgrades). Die medizinische Covid-Versorgung erfolgt für die Bevölkerung kostenlos (CHRR o.D.a).

Folgende Impfstoffe wurden in der Russischen Föderation entwickelt: Gam-COVID-Vac ('Sputnik V'), EpiVacCorona, CoviVac und Ad5-nCoV (CHRR o.D.b). Mittlerweile sind in der Russischen Föderation drei heimische Impfstoffe zugelassen (Sputnik V, EpiVacCorona und CoviVac). Groß angelegte klinische Studien gibt es bisher nicht (DS 20.2.2021; vgl. RFE/RL 21.2.2021). Impfungen erfolgen kostenlos (Mos.ru o.D.). In Moskau wurden bisher mehr als 700.000 Personen geimpft (Mos.ru 8.3.2021). Obwohl Russland als weltweit erstes Land seinen Covid-Impfstoff Sputnik V registrierte, haben die Impfungen effizient gerade erst begonnen (DS 12.2.2021). Bisher wurden in der Russischen Föderation in etwa 2,2 Millionen Personen (ca. 1,5% der Bevölkerung) geimpft bzw. erhielten zumindest eine der zwei Teilimpfungen (RFE/RL 21.2.2021).

Für die Einreise nach Russland wird grundsätzlich ein COVID-19-Testergebnis (PCR) benötigt. Russische Staatsbürger müssen bei der Grenzkontrolle keinen COVID-Test vorlegen, dieser muss jedoch spätestens drei Tage nach der Einreise nachgeholt werden. Russische Staatsbürger, die nach der Einreise ein positives Testergebnis erhalten, müssen sich in Quarantäne begeben. Die Ausreise aus Russland ist bis auf unbestimmte Zeit eingeschränkt und nur in bestimmten Ausnahmefällen möglich. Die internationalen Flugverbindungen wurden teilweise wieder aufgenommen. Direktflüge zwischen Österreich und Russland werden derzeit ein- bis zweimal wöchentlich von Austrian Airlines und Aeroflot angeboten. Russische Inlandsflüge wurden während der ganzen Pandemiezeit aufrecht erhalten (WKO 9.3.2021). Der internationale Zugverkehr – mit Ausnahme der Strecke zwischen Russland und Belarus - und der Fährverkehr sind eingestellt (AA 15.2.2021).

Staatliche Unterstützungsmaßnahmen für die russische Wirtschaft sind unterschiedlich und an viele Bedingungen gebunden. Zu den ersten staatlichen Hilfsmaßnahmen zählten Kredit-, Miet- und Steuerstundungen (ausgenommen Mehrwertsteuer), Sozialabgabenreduktion sowie Kreditgarantien und zinslose Kredite. Später kamen Steuererleichterungen sowie direkte Zuschüsse dazu. Viele der Maßnahmen sind nur für kleine und mittlere Unternehmen oder bestimmte Branchen zugänglich und haben einen zweckgebundenen Charakter (beispielsweise gebunden an Gehaltszahlungen oder Arbeitsplatzerhalt) (WKO 9.3.2021). Die Regierung bietet Exporteuren Hilfe an, die Möglichkeit eines Konkursmoratoriums, zinslose Kredite für Gehaltsauszahlungen usw. (CHRR o.D.c). Jänner bis Oktober 2020 ist die Industrieproduktion pandemiebedingt um 3,1% zurückgegangen. Besonders die Rohstoffproduktion ist um 6,6% gefallen, während die verarbeitende Industrie mit 0,3% praktisch stagnierte. Die im Jahr 2020 sehr stark fallenden Ölpreise waren unter anderem eine Auswirkung der Covid-19-Pandemie und mit einem globalen Nachfragerückgang verbunden und führten zu einer Rubelabwertung von 25%. Nach leichter Erholung verlor der Rubel unter anderem wegen der anhaltenden geringen Rohstoffnachfrage Mitte 2020 erneut an Wert und lag Anfang Dezember bei ca. 90 Rubel je Euro (WKO 12.2020). Das Realwachstum des Bruttoinlandsprodukts betrug im Jahr 2020 -3,1%. Im Vergleich dazu betrug der entsprechende Wert im Jahr 2019 2%. Die öffentliche Verschuldung betrug im Jahr 2020 17,8% des Bruttoinlandsprodukts (2019: 12,4%) (WIIW o.D.).

Moskau:

In Moskau herrscht an öffentlichen Orten eine Masken- und Handschuhpflicht. Das Tragen von Masken auf Straßen wird empfohlen. Kultur- und Bildungsveranstaltungen dürfen stattfinden, wenn maximal 50% der Zuschauerplätze belegt sind. Bürgern über 65 Jahren und chronisch Kranken wird Selbstisolierung empfohlen (CHRR 12.3.2021; vgl. WKO 9.3.2021, AA 15.2.2021). Empfohlen wird Fernarbeit für mindestens 30% der Mitarbeiter. Am Arbeitsplatz sind vorgeschriebene Hygienevorschriften (unter anderem Temperaturmessungen, Mund- und Handschutz, Desinfektionsmittel, Mindestabstand etc.) einzuhalten (WKO 9.3.2021). Gemäß dem Moskauer Bürgermeister verbessert sich die Pandemielage in Moskau. Ein Großteil der Einschränkungen wurde aufgehoben. Gastronomiebetriebe sind wieder geöffnet. Für Schüler höherer Klassen und Studierende findet nun wieder Präsenzunterricht statt (Mos.ru 7.3.2021; vgl. Mos.ru 8.3.2021, LM 8.2.2021, Russland Analysen 19.2.2021). In der Oblast [Gebiet] Moskau wurde die Mehrzahl der wegen Covid geltenden Einschränkungen zurückgenommen. Einzig Massenveranstaltungen bleiben fast ausnahmslos verboten (Russland Analysen 19.2.2021).

St. Petersburg:

Auch in St. Petersburg herrscht an öffentlichen Orten eine Masken- und Handschuhpflicht. Die für gastronomische Betriebe geltenden Beschränkungen der Öffnungszeiten wurden aufgehoben. Kulturveranstaltungen dürfen stattfinden, wenn maximal 75% der Zuschauerplätze belegt sind. Empfohlen wird Fernarbeit für mindestens 30% der Mitarbeiter. Für über 65-Jährige und chronisch Kranke sind Selbstisolierung und Fernarbeit verpflichtend (CHRR 12.3.2021; vgl. Gov.spb 5.3.2021, WKO 9.3.2021, Russland Analysen 8.2.2021).

Tschetschenien:

An öffentlichen Orten wird das Tragen von Masken empfohlen. Für über 65-Jährige und chronisch Kranke ist Selbstisolierung vorgesehen (CHRR 12.3.2021; vgl. Chechnya.gov 10.2.2021, Ria.ru 10.2.2021, KMS 10.2.2021). Bisher wurden mehr als 19.000 Personen geimpft (Chechnya.gov 26.2.2021). Mitarbeitern staatlich finanzierter Organisationen in Tschetschenien wurde mit Entlassung gedroht, sollten sie die Covid-Impfung verweigern. Bewohner in Tschetschenien berichten, ihnen seien Sanktionen angedroht worden, sollten sie sich nicht impfen lassen (CK 23.1.2021). Reisebeschränkungen wurden aufgehoben (Ria.ru 10.2.2021; vgl. Chechnya.gov 10.2.2021, KMS 10.2.2021).

Dagestan:

An öffentlichen Orten herrscht Maskenpflicht. Einstweilen dürfen keine Massenveranstaltungen stattfinden. Für über 65-Jährige und chronisch Kranke wird Selbstisolierung empfohlen (CHRR 12.3.2021). Es finden Massenimpfungen statt, und verwendet wird der Impfstoff Sputnik V (E-dag.ru 23.2.2021). Bisher wurden mehr als 18.000 Personen (2,4%) geimpft (E-dag.ru 12.3.2021).

Quellen:

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?        Chechnya.gov – ????? ????????? ?????????? [Oberhaupt der Tschetschenischen Republik] [Russische Föderation] (10.2.2021): ? ???????: «?? ??????? ? ????????? ?????????? ???????????? ??????? ????? ? ???????????? ??????» [R Kadyrow: „Wir heben die Maskenpflicht an öffentlichen Orten in der Tschetschenischen Republik auf“], http://chechnya.gov.ru/novosti/r-kadyrov-my-snimaem-v-chechenskoj-respublike-obyazatelnoe-noshenie-masok-v-obshhestvennyh-mestah/, Zugriff 12.3.2021

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1.5.2. Politische Lage in Tschetschenien

Die Einwohnerzahl Tschetscheniens liegt bei ca. 1,5 Millionen. Laut Aussagen des Republikoberhauptes Ramsan Kadyrow sollen rund 600.000 Tschetschenen außerhalb der Region leben – die Hälfte davon in der Russischen Föderation, die andere Hälfte im Ausland. Experten zufolge hat ein Teil von ihnen Tschetschenien während der Kriege nach dem Zerfall der Sowjetunion verlassen, beim anderen Teil handelt es sich um Siedlungsgebiete außerhalb Tschetscheniens. Diese entstanden bereits vor über einem Jahrhundert, teilweise durch Migration aus dem Russischen in das Osmanische Reich, und zwar über Anatolien bis in den arabischen Raum. Was die Anzahl von Tschetschenen in anderen russischen Landesteilen anbelangt, so ist es aufgrund der öffentlichen Datenlage schwierig, verlässliche Aussagen zu treffen (ÖB Moskau 6.2020).

In Tschetschenien gilt Ramsan Kadyrow als Garant Moskaus für Stabilität. Mit Duldung der russischen Staatsführung hat er in der Republik ein autoritäres Herrschaftssystem geschaffen, das vollkommen auf seine eigene Person ausgerichtet ist und weitgehend außerhalb des föderalen Rechtsrahmens funktioniert (ÖB Moskau 6.2020; vgl. AA 2.2.2021, FH 3.3.2021). Fraglich bleibt auch die föderale Kontrolle über die tschetschenischen Sicherheitskräfte, deren faktische Loyalität vorrangig dem Oberhaupt der Republik gilt. Ramsan Kadyrow wurde bei den Wahlen vom 18. September 2016 laut offiziellen Angaben bei hoher Wahlbeteiligung mit überwältigender Mehrheit für eine weitere Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Unabhängige Medien berichteten über Unregelmäßigkeiten bei den Wahlen, in deren Vorfeld Human Rights Watch über massive Druckausübung auf Kritiker des derzeitigen Machthabers berichtet hatte. Das tschetschenische Oberhaupt bekundet immer wieder seine absolute Loyalität gegenüber dem Kreml (ÖB Moskau 6.2020). In Tschetschenien regiert Kadyrow unangefochten autoritär. Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen politische Gegner, wird rigoros vorgegangen (ÖB Moskau 6.2020; vgl. AA 2.2.2021). Um die Kontrolle über die Republik zu behalten, wendet Kadyrow unterschiedliche Formen von Gewalt an, wie z.B. Entführungen, Folter und außergerichtliche Tötungen (FH 3.3.2021; vgl. AA 2.2.2021). Dies kann manchmal auch außerhalb Russlands stattfinden. Kadyrow wird verdächtigt, die Ermordung von unliebsamen Personen, die ins Ausland geflohen sind, angeordnet zu haben (FH 3.3.2021).

Während der mittlerweile über zehn Jahre andauernden Herrschaft des amtierenden Republikführers Ramsan Kadyrow gestaltete sich Tschetscheniens Verhältnis zur Russischen Föderation ambivalent. Einerseits ist Kadyrow bemüht, die Zugehörigkeit der Republik zu Russland mit Nachdruck zu bekunden, tschetschenischen Nationalismus mit russischem Patriotismus zu verbinden, Russlands Präsidenten in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny als Staatsikone auszustellen und sich als „Fußsoldat Putins“ zu präsentieren. Andererseits hat er das Föderationssubjekt Tschetschenien so weit in einen Privatstaat verwandelt, dass in der Umgebung des russischen Präsidenten die Frage gestellt wird, inwieweit sich die von Wladimir Putin ausgebaute 'föderale Machtvertikale' dorthin erstreckt. Zu Kadyrows Eigenmächtigkeit gehört auch eine Außenpolitik, die sich vor allem an den Mittleren Osten und die gesamte islamische Welt richtet. Kein anderer regionaler Führer beansprucht eine vergleichbare, über sein eigenes Verwaltungsgebiet und die Grenzen Russlands hinausreichende Rolle. Kadyrow inszeniert Tschetschenien als Anwalt eines russischen Vielvölker-Zusammenhalts, ist aber längst zum 'inneren Ausland' Russlands geworden. Deutlichster Ausdruck dieser Entwicklung ist ein eigener Rechtszustand, in dem islamische und gewohnheitsrechtliche Regelungssysteme sowie die Willkür des Republikführers in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands geraten (SWP 3.2018).

Ein Abkommen von September 2018 über die Abtretung von umstrittenem Territorium von Inguschetien an Tschetschenien hatte politische Unruhen in Inguschetien zur Folge (ÖB Moskau 12.2019). Der Konflikt um die Grenzziehung flammt immer wieder auf. Im März 2019 wurden Proteste in Inguschetien gewaltsam aufgelöst, wobei manche Teilnehmer körperlich gegen die Polizei Widerstand leisteten. 33 Personen wurden festgenommen (HRW 14.1.2020). Die Proteste hatten außerdem den Rücktritt des inguschetischen Präsidenten Junus-bek Jewkurow im Juni 2019 zur Folge (ÖB Moskau 12.2019). Jewkurows Nachfolger ist Machmud-Ali Kalimatow (NZZ 29.6.2019).

Quellen:

?        AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf, Zugriff 23.2.2021

?        FH – Freedom House (3.3.2021): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2020 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2046536.html, Zugriff 5.3.2021

?        HRW – Human Rights Watch (14.1.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2022681.html, Zugriff 3.3.2020

?        NZZ – Neue Zürcher Zeitung (29.6.2019): Die Nordkaukasus-Republik Inguschetien ist innerlich zerrissen, https://www.nzz.ch/international/nordkaukasus-inguschetien-nach-protesten-innerlich-zerrissen-ld.1492435?reduced=true, Zugriff 11.3.2020

?        ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025975/RUSS_%C3%96B_Bericht_2019_12.pdf, Zugriff 10.3.2020

?        ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2020): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2046141/RUSS_%C3%96B_Bericht_2020_06.pdf, Zugriff 17.2.2021

?        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (3.2018): Tschetscheniens Stellung in der Russischen Föderation. Ramsan Kadyrows Privatstaat und Wladimir Putins föderale Machtvertikale, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2018S01_hlb.pdf, Zugriff 10.3.2020

1.5.3. Sicherheitslage im Nordkaukasus

Die Sicherheitslage im Nordkaukasus hat sich verbessert, wenngleich das nicht mit einer nachhaltigen Stabilisierung gleichzusetzen ist (ÖB Moskau 6.2020; vgl. AA 2.2.2021). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff 'low level insurgency' umschrieben (SWP 4.2017).

Ein Risikomoment für die Stabilität in der Region ist die Verbreitung des radikalen Islamismus. Innerhalb der extremistischen Gruppierungen verschoben sich etwa ab 2014 die Sympathien zur regionalen Zweigstelle des sogenannten Islamischen Staates (IS), der mittlerweile das Kaukasus-Emirat praktisch vollständig verdrängt hat. Dabei sorgen nicht nur Propaganda und Rekrutierung des sogenannten IS im Nordkaukasus für Besorgnis der Sicherheitskräfte. So wurden Mitte Dezember 2017 im Nordkaukasus mehrere Kämpfer getötet, die laut Angaben des Anti-Terrorismuskomitees dem sogenannten IS zuzurechnen waren. Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak, haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist. 2018 wurde laut dem Inlandsgeheimdienst FSB die Anzahl terroristisch motivierter Verbrechen mehr als halbiert. Auch 2019 nahm die Anzahl bewaffneter Vorfälle im Vergleich zum Vorjahr weiter ab. Jedoch stellt ein Sicherheitsrisiko für Russland die Rückkehr terroristischer Kämpfer nordkaukasischer Provenienz aus Syrien und dem Irak dar. Laut diversen staatlichen und nicht-staatlichen Quellen ist davon auszugehen, dass die Präsenz militanter Kämpfer aus Russland in den Krisengebieten Syrien und Irak mehrere Tausend Personen umfasste. Gegen IS-Kämpfer, die aus den Krisengebieten im Nahen Osten nach Russland zurückkehren, wird gerichtlich vorgegangen (ÖB Moskau 6.2020).

Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpften Tschetschenen in zunehmender Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat – etwa in der Ostukraine sowohl aufseiten pro-russischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite sowie in Syrien und im Irak (SWP 4.2015). In Tschetschenien konnte der Kriegszustand überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet werden. In einem Prozess der 'Tschetschenisierung' wurde die Aufstandsbekämpfung im zweiten Tschetschenienkrieg an lokale Sicherheitskräfte delegiert, die sogenannten Kadyrowzy. Diese auf den ersten Blick erfolgreiche Strategie steht aber kaum für eine nachhaltige Befriedung (SWP 4.2017).

Die russische Teilrepublik Dagestan im Nordkaukasus gilt seit einigen Jahren als Brutstätte von Terrorismus. Mehr als 1.000 Kämpfer aus dem Land sollen sich dem sog. Islamischen Staat in Syrien und im Irak angeschlossen haben. Terroristen aus Dagestan sind auch in anderen Teilen Russlands und im Ausland aktiv. Viele Radikale aus Dagestan sind außerdem in den Nahen Osten ausgereist. In den Jahren 2013 und 2014 brachen ganze salafistische Familien dorthin auf. Die russischen Behörden halfen den Radikalen damals sogar bei der Ausreise. Vor den Olympischen Spielen in Sotschi wollte Russland möglichst viele Gefährder loswerden (Deutschlandfunk 28.6.2017). Den russischen Sicherheitskräften werden schwere Menschenrechtsverletzungen bei der Durchführung der Anti-Terror-Operationen in Dagestan vorgeworfen. Das teils brutale Vorgehen der Sicherheitsdienste, gekoppelt mit der noch immer instabilen sozialwirtschaftlichen Lage in Dagestan, schafft wiederum weiteren Nährboden für die Radikalisierung innerhalb der dortigen Bevölkerung (ÖB Moskau 6.2020). Laut dem Leiter des dagestanischen Innenministeriums gab es bei der Bekämpfung des Aufstands in Dagestan einen Durchbruch. Die Aktivitäten der Gruppen, die in der Republik aktiv waren, sind seinen Angaben zufolge praktisch komplett unterbunden worden. Nach acht Mitgliedern des Untergrunds, die sich Berichten zufolge im Ausland verstecken, wird gefahndet. Trotzdem besteht laut Analysten und Journalisten weiterhin die Möglichkeit von Anschlägen durch einzelne Täter (ACCORD 13.1.2020).

[Anmerkung Staatendokumentation:] Bitte vergleichen Sie hierzu auch alle Kapitel zur Allgemeinen Menschenrechtslage (einschließlich der Kapitel zu Tschetschenien, Dagestan und Dschihadistische Kämpfer und ihre Unterstützer, Kämpfer des ersten und zweiten Tschetschenien-Krieges, Kritiker allgemein).

Im Jahr 2020 liegt die Gesamtopferzahl des Konfliktes im gesamten Nordkaukasus [Anm.: durch Addieren aller verfügbaren Quartals- und Monatsberichte von Caucasian Knot] bei 56 Personen, davon wurden 45 getötet und 11 verwundet. 42 der Getöteten gehören bewaffneten Gruppierungen an, alle anderen Getöteten und Verwundeten sind den Exekutivkräften zuzurechnen. In Tschetschenien sind im Jahr 2020 insgesamt 18 Personen getötet und zwei verwundet worden. 15 der Getöteten gehören bewaffneten Gruppierungen an, alle anderen Getöteten und Verwundeten sind den Exekutivkräften zuzurechnen. In Dagestan sind im Jahr 2020 insgesamt neun Personen getötet und eine verwundet worden. Alle Getöteten gehören bewaffneten Gruppierungen an, die verwundete Person ist den Exekutivkräften zuzurechnen. Drei Getötete gab es in Kabardino-Balkarien und einen Getöteten in Inguschetien (Caucasian Knot 2.7.2020a, Caucasian Knot 2.7.2020b, Caucasian Knot 27.10.2020, Caucasian Knot 24.12.2020, Caucasian Knot 20.2.2021).

Quellen:

?        AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf, Zugriff 8.4.2021

?        ACCORD – Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (19.6.2019): Themendossier Sicherheitslage in Dagestan, Zeitachse von Angriffen, https://www.ecoi.net/de/laender/russische-foederation/themendossiers/sicherheitslage-in-dagestan-zeitachse-von-angriffen/#Toc489358424, Zugriff 9.4.2021

?        Caucasian Knot (2.7.2020a): In January 2020, there were no victims of armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/51356/, Zugriff 8.4.2021

?        Caucasian Knot (2.7.2020b): In February and March 2020, four people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/51357/, Zugriff 8.4.2021

?        Caucasian Knot (27.10.2020): In Quarter 2 of 2020, 11 people suffered in armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/52582/, Zugriff 8.4.2021

?        Caucasian Knot (24.12.2020): 15 people suffered in armed conflict in Northern Caucasus in Q3 2020, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/53177/, Zugriff 8.4.2021

?        Caucasian Knot (20.2.2021): In Quarter 4 of 2020, 26 persons fell victim to armed conflict in North Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/53738/, Zugriff 8.4.2021

?        Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden, https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russische-methoden.724.de.html?dram:article_id=389824, Zugriff 9.4.2021

?        ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2020): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2046141/RUSS_%C3%96B_Bericht_2020_06.pdf, Zugriff 8.4.2021

?        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan: Russlands schwierigste Teilrepublik, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 9.4.2021

?        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 8.4.2021

1.5.4. Rechtsschutz / Justizwesen in Tschetschenien und Dagestan

Das russische föderale Recht gilt für die gesamte Russische Föderation, einschließlich Tschetscheniens und Dagestans. Neben dem russischen föderalen Recht spielen sowohl Adat als auch Scharia eine wichtige Rolle in Tschetschenien. Republiksoberhaupt Ramsan Kadyrow unterstreicht die Bedeutung, die der Einhaltung des russischen Rechts zukommt, verweist zugleich aber auch auf den Stellenwert des Islams und der tschetschenischen Tradition (EASO 9.2014).

Das Adat ist eine Art Gewohnheitsrecht, das soziale Normen und Regeln festschreibt. Dem Adat-Recht kommt in Zusammenhang mit der tschetschenischen Lebensweise eine maßgebliche Rolle zu. Allgemein gilt, dass das Adat für alle Tschetschenen gilt, unabhängig von ihrer Clanzugehörigkeit. Das Adat deckt nahezu alle gesellschaftlichen Verhältnisse in Tschetschenien ab und regelt die Beziehungen zwischen den Menschen. Im Laufe der Jahrhunderte wurden diese Alltagsregeln von einer Generation an die nächste weitergegeben. Das Adat ist in Tschetschenien in Ermangelung einer Zentralregierung bzw. einer funktionierenden Gesetzgebung erstarkt. Daher dient das Adat als Rahmen für die gesellschaftlichen Beziehungen. In der tschetschenischen Gesellschaft ist jedoch auch die Scharia von Bedeutung. Die meisten Tschetschenen sind sunnitische Muslime und gehören der sufistischen Glaubensrichtung des sunnitischen Islams an [Anm. d. Staatendokumentation: für Informationen bezüglich Sufismus vgl.: ÖIF Monographien (2013): Glaubensrichtungen im Islam]. Der Sufismus enthält unter anderem auch Elemente der Mystik. Eine sehr kleine Minderheit der Tschetschenen sind Salafisten (EASO 9.2014). Die Scharia-Gerichtsbarkeit bildet am Südrand der Russischen Föderation eine Art „alternative Justiz“. Sie steht zwar in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands, wird aber, mit Einverständnis der involvierten Parteien, für die Rechtsprechung auf lokaler Ebene eingesetzt (SWP 4.2015). Tendenzen zur verstärkten Verwendung von Scharia-Recht haben in den letzten Jahren zugenommen. Somit herrscht in Tschetschenien ein Rechtspluralismus aus russischem Recht, traditionellen Gewohnheitsrecht (Adat), einschließlich der Tradition der Blutrache, und Scharia-Recht. Hinzu kommt ein Geflecht an Loyalitäten, das den Einzelnen bindet. Nach Ansicht von Kadyrow stehen Scharia und traditionelle Werte über den russischen Gesetzen (AA 2.2.2021). Somit bewegt sich die Republik Tschetschenien in Wirklichkeit außerhalb der Gerichtsbarkeit des russischen Rechtssystems, auch wenn sie theoretisch darunter fällt. Dies legt den Schluss nahe, dass sowohl Scharia als auch Adat zur Anwendung kommen und es unterschiedliche Auffassungen bezüglich der Frage gibt, welches der beiden Rechtssysteme einen stärkeren Einfluss auf die Gesellschaft ausübt. Formal gesehen hat das russische föderale Recht Vorrang vor Adat und Scharia (EASO 9.2014). Die Einwohner Tschetscheniens sagen jedoch, dass das fundamentale Gesetz in Tschetschenien 'Ramsan sagt' lautet, was bedeutet, dass Kadyrows gesprochene Aussagen einflussreicher sind als die Rechtssysteme und ihnen möglicherweise sogar widersprechen (CSIS 1.2020).

Die Tradition der Blutrache hat sich im Nordkaukasus in den Clans zur Verteidigung von Ehre, Würde und Eigentum entwickelt. Dieser Brauch impliziert, dass Personen am Täter oder dessen Verwandten Rache für die Tötung eines ihrer eigenen Verwandten üben. Er kommt heutzutage noch vereinzelt vor. Die Blutrache ist durch gewisse traditionelle Regeln festgelegt und hat keine zeitliche Begrenzung (ÖB Moskau 6.2020). Nach wie vor gibt es Clans, die Blutrache praktizieren (AA 2.2.2021).

In Einklang mit den Prinzipien des Föderalismus ist das tschetschenische Parlament autorisiert, Gesetze innerhalb der Zuständigkeit eines Föderationssubjektes zu erlassen. Laut Artikel 6 der tschetschenischen Verfassung überwiegt das föderale Gesetz gegenüber dem tschetschenischen im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Föderalen Regierung, wie beispielsweise Gerichtswesen und auswärtige Angelegenheiten, aber auch bei geteilten Zuständigkeiten wie Minderheitenrechten und Familiengesetzgebung. Bei Themen im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Republik überwiegt das tschetschenische Gesetz. Die tschetschenische Gesetzgebung besteht aus einem Höchstgericht und 15 Distrikt- oder Stadtgerichten sowie Friedensgerichten, einem Militärgericht und einem Schiedsgericht. Die formale Qualität der Arbeit der Judikative ist vergleichbar mit anderen Teilen der Russischen Föderation, jedoch wird ihre Unabhängigkeit stärker angegriffen als anderswo, da Kadyrow und andere lokale Beamte Druck auf Richter ausüben (EASO 3.2017). So musste zum Beispiel im Mai 2016 der Vorsitzende des Obersten Gerichts Tschetscheniens nach Kritik von Kadyrow zurücktreten, obwohl die Ernennung/Entlassung der Richter grundsätzlich in die föderalen Kompetenzen fällt (ÖB Moskau 6.2020). Die föderalen Behörden haben nur begrenzte Möglichkeiten, politische Entscheidungen in Tschetschenien zu treffen, wo das tschetschenische Republiksoberhaupt Ramsan Kadyrow im Gegenzug für das Halten der Republik in der Russischen Föderation unkontrollierte Macht erlangt hat (FH 3.3.2021).

Die Bekämpfung von Extremisten geht laut Aussagen von lokalen NGOs mit rechtswidrigen Festnahmen, Sippenhaft, Kollektivstrafen, spurlosem Verschwinden, Folter zur Erlangung von Geständnissen, fingierten Straftaten, außergerichtlichen Tötungen und Geheimgefängnissen, in denen gefoltert wird, einher. Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen ist unzureichend (AA 2.2.2021; vgl. ÖB Moskau 6.2020). Es gibt ein Gesetz, das die Verwandten von Terroristen zur Zahlung für erfolgte Schäden bei Angriffen verpflichtet. Menschenrechtsanwälte kritisieren dieses Gesetz als kollektive Bestrafung. Angehörige von Terroristen können auch aus Tschetschenien vertrieben werden (USDOS 11.3.2020; vgl. ÖB Moskau 6.2020). Grundsätzlich können Tschetschenen an einen anderen Ort in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens flüchten und dort leben, solange sie nicht neuerlich ins Blickfeld der tschetschenischen Sicherheitskräfte rücken (ÖB Moskau 6.2020). Recherchen oder Befragungen von Opfern vor Ort durch NGOs sind nicht möglich; bestimmte Gruppen genießen keinen effektiven Rechtsschutz (AA 2.2.2021), hierzu gehören neben Journalisten und Menschenrechtsaktivisten (ÖB Moskau 6.2020) auch Oppositionelle, Regimekritiker und Frauen, welche mit den Wertvorstellungen ihrer Familie in Konflikt geraten, Angehörige der LGBTI-Gemeinschaft und diejenigen, die sich mit Republiksoberhaupt Kadyrow bzw. seinem Clan überworfen haben. Kadyrow äußert regelmäßig Drohungen gegen Oppositionspolitiker, Menschenrechtsaktivisten und Minderheiten. Teilweise werden Bilder von Personen dieser Gruppen mit einem Fadenkreuz überzogen und auf Instagram veröffentlicht, teilweise droht er, sie mit Sanktionen zu belegen, da sie Feinde des tschetschenischen Volkes seien, oder er ruft ganz unverhohlen dazu auf, sie umzubringen. Nach einem kritischen Artikel über mangelnde Hygiene-Vorkehrungen gegen COVID-19 drohte Kadyrow der Journalistin Elena Milaschina öffentlich (AA 2.2.2021). Kritik und Dissens werden nicht geduldet (HRW 13.1.2021).

In Bezug auf Vorladungen von der Polizei in Tschetschenien ist zu sagen, dass solche nicht an Personen verschickt werden, die man verdächtigt, Kontakt mit dem islamistischen Widerstand zu haben. Solche Verdächtige werden ohne Vorwarnung von der Polizei mitgenommen, ansonsten wären sie gewarnt und hätten Zeit zu verschwinden (DIS 1.2015).

Auch in Dagestan hat sich der Rechtspluralismus – das Nebeneinander von russischem Recht, Gewohnheitsrecht (Adat) und Scharia-Recht – bis heute erhalten. Mit der Ausbreitung des Salafismus im traditionell sufistisch geprägten Dagestan in den 1990er Jahren nahm auch die Einrichtung von Scharia-Gerichten zu. Grund für die zunehmende und inzwischen weit verbreitete Akzeptanz des Scharia-Rechts war bzw. ist u.a. das dysfunktionale und korrupte staatliche Justizwesen, das in hohem Maße durch Ämterkauf und Bestechung geprägt ist. Die verschiedenen Rechtssphären durchdringen sich durchaus: Staatliche Rechtsschutzorgane und Scharia-Gerichte agieren nicht losgelöst voneinander, sondern nehmen aufeinander Bezug. Auch die Blutrache wird im von traditionellen Clan-Strukturen geprägten Dagestan angewendet. Zwar geht die Regionalregierung dagegen vor, doch sind nicht alle Clans bereit, auf die Institution der Blutrache zu verzichten (AA 2.2.2021).

Quellen:

?        AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf, Zugriff 8.4.2021

?        CSIS – Center for Strategic and International Studies (1.2020): Civil Society in the North Caucasus, https://csis-website-prod.s3.amazonaws.com/s3fs-public/publication/200124_North_Caucasus.pdf?jRQ1tgMAXDNlViIbws_LnEIEGLZPjfyX, Zugriff 8.4.2021

?        DIS – Danish Immigration Service [Dänemark] (1.2015): Security and human rights in Chechnya and the situation of Chechens in the Russian Federation – residence registration, racism and false accusations; Report from the Danish Immigration Service’s fact finding mission to Moscow, Grozny and Volgograd, the Russian Federation; From 23 April to 13 May 2014 and Paris, France 3 June 2014, https://www.ecoi.net/en/file/local/1215362/90_1423480989_2015-01-dis-chechnya-fact-finding-mission-report.pdf, Zugriff 8.4.2021

?        EASO – European Asylum Support Office [EU] (9.2014): Bericht zu Frauen, Ehe, Scheidung und Sorgerecht in Tschetschenien (Islamisierung; häusliche Gewalt; Vergewaltigung; Brautentführung; Waisenhäuser), https://www.ecoi.net/en/file/local/1154982/1830_1421055069_bz0414843den-pdf-web.pdf, Zugriff 8.4.2021

?        EASO – European Asylum Support Office [EU] (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, https://www.ecoi.net/en/file/local/1394622/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 8.4.2021

?        FH - Freedom House (3.3.2021): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2020 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2046536.html, Zugriff 8.4.2021

?        HRW – Human Rights Watch (13.1.2021): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2020 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2043508.html, Zugriff 8.4.2021

?        ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2020): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2046141/RUSS_%C3%96B_Bericht_2020_06.pdf, Zugriff 8.4.2021

?        ÖIF Monographien (2013): Glaubensrichtungen im Islam [vergriffen; liegt in der Staatendokumentation auf]

?        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan: Russlands schwierigste Teilrepublik, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 8.4.2021

?        US DOS – United States Department of State [USA] (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026343.html, Zugriff 8.4.2021

1.5.5. Sicherheitsbehörden

Das Innenministerium (MVD), der Föderale Sicherheitsdienst (FSB), das Untersuchungskomitee und die Generalstaatsanwaltschaft sind auf allen Regierungsebenen für den Gesetzesvollzug zuständig. Der FSB ist mit Fragen der Sicherheit, Gegenspionage und der Terrorismusbekämpfung betraut, aber auch mit Verbrechens- und Korruptionsbekämpfung. Die nationale Polizei untersteht dem Innenministerium und bekämpft Kriminalität. Die Aufgaben der Föderalen Nationalgarde sind die Sicherung der Grenzen gemeinsam mit der Grenzwache und dem FSB, die Administrierung von Waffenbesitz, der Kampf gegen Terrorismus und organisierte Kriminalität, der Schutz der öffentlichen Sicherheit und der Schutz von wichtigen staatlichen Einrichtungen. Weiters nimmt die Nationalgarde an der bewaffneten Verteidigung des Landes gemeinsam mit dem Verteidigungsministerium teil. Zivile Behörden halten eine wirksame Kontrolle über die Sicherheitskräfte aufrecht. Obwohl das Gesetz Mechanismen für Einzelpersonen vorsieht, um Klagen gegen Behörden wegen Menschenrechtsverletzungen einzureichen, funktionieren diese Mechanismen oft nicht gut. Gegen Beamte, die Missbräuche begangen haben, werden nur selten strafrechtliche Schritte unternommen, um sie zu verfolgen oder zu bestrafen, was zu einem Klima der Straflosigkeit führte (US DOS 11.3.2020), ebenso wendet die Polizei häufig übermäßige Gewalt an (FH 3.3.2021; vgl. AI 16.4.2020, HRW 13.1.2021).

Nach dem Gesetz können Personen bis zu 48 Stunden ohne gerichtliche Zustimmung inhaftiert werden, vorausgesetzt es gibt Beweise oder Zeugen. Ansonsten ist ein Haftbefehl notwendig. Verhaftete müssen von der Polizei über ihre Rechte aufgeklärt werden, und die Polizei muss die Gründe für die Festnahme dokumentieren. Der Verhaftete muss innerhalb von 24 Stunden einvernommen werden, davor hat er das Recht, für zwei Stunden einen Anwalt zu treffen. Spätestens 12 Stunden nach der Inhaftierung muss die Polizei den Staatsanwalt benachrichtigen. Die Behörden müssen dem Inhaftierten auch die Möglichkeit geben, seine Angehörigen telefonisch zu benachrichtigen, es sei denn, ein Staatsanwalt stellt einen Haftbefehl aus, um die Inhaftierung geheim zu halten. Die Polizei ist verpflichtet, einen Häftling nach 48 Stunden gegen Kaution freizulassen, es sei denn, ein Gericht beschließt in einer Anhörung, den von der Polizei eingereichten Antrag mindestens acht Stunden vor Ablauf der 48-Stunden-Haft zu verlängern. Der Angeklagte und sein Anwalt müssen bei der Gerichtsverhandlung entweder persönlich oder über einen Videolink anwesend sein. Im Allgemeinen werden die rechtlichen Einschränkungen betreffend Inhaftierungen eingehalten, mit Ausnahme des Nordkaukasus (US DOS 11.3.2020).

Nach überzeugenden Angaben von Menschenrechtsorganisationen werden insbesondere sozial Schwache und Obdachlose, Betrunkene, Ausländer und Personen „fremdländischen“ Aussehens Opfer von Misshandlungen durch die Polizei und Untersuchungsbehörden. Nur ein geringer Teil der Täter wird disziplinarisch oder strafrechtlich verfolgt (AA 2.2.2021). Am 13.5.2020 wurde von der Regierung der Russischen Föderation ein Antrag auf Änderung des Polizeigesetzes in die russische Duma eingebracht, welche zu einer erheblichen Ausweitung von Polizeibefugnissen führt (Gebrauch der Schusswaffe bei einer Festnahme, Aufbrechen von Fahrzeugen, Absperren von Bereichen, etc.) (ÖB Moskau 6.2020).

Die zivilen Behörden auf nationaler Ebene haben bestenfalls eine begrenzte Kontrolle über die Sicherheitskräfte in der Republik Tschetschenien, die nur dem Republiksoberhaupt, Kadyrow, unterstellt sind (US DOS 11.3.2020). Kadyrows Macht wiederum gründet sich hauptsächlich auf die ihm loyalen „Kadyrowzy“. Diese wurden von Kadyrows Familie in der Kriegszeit gegründet; ihre Mitglieder bestehen hauptsächlich aus früheren Rebellenkämpfern. Die Angaben zur zahlenmäßigen Stärke tschetschenischer Sicherheitskräfte fallen unterschiedlich aus. Aufseiten des tschetschenischen Innenministeriums sollen in der Tschetschenischen Republik rund 17.000 Mitarbeiter tätig sein. Diese Zahl dürfte jedoch nach der Gründung der Nationalgarde der Föderation im Oktober 2016 auf 11.000 gesunken sein. Die Polizei hat angeblich 9.000 Bedienstete. Die überwiegende Mehrheit von ihnen sind ethnische Tschetschenen. Nach Angaben des Carnegie Moscow Center wurden die Reihen von Polizei und anderen Sicherheitskräften mit ehemaligen tschetschenischen Separatisten aufgefüllt, die nach der Machtübernahme von Ramsan Kadyrow und dem Ende des Krieges in die Sicherheitskräfte integriert wurden. Bei der tschetschenischen Polizei grassieren Korruption und Missbrauch, weshalb die Menschen bei ihr nicht um Schutz ansuchen. Die Mitarbeiter des Untersuchungskomitees (SK) sind auch überwiegend Tschetschenen und stammen aus einem Pool von Bewerbern, die höher gebildet sind als die der Polizei. Einige Angehörige des Untersuchungskomitees versuchen, Beschwerden über tschetschenische Strafverfolgungsbeamte zu untersuchen, sind jedoch 'ohnmächtig, wenn sie es mit der tschetschenischen OMON [Spezialeinheit der Polizei] oder anderen, Kadyrow nahestehenden ‚unantastbaren Polizeieinheiten‘ zu tun haben' (EASO 3.2017).

Die regionalen Strafverfolgungsbehörden können Menschen auf der Grundlage von in ihrer Heimatregion erlassenen Rechtsakten auch in anderen Gebieten der Russischen Föderation in Gewahrsam nehmen und in ihre Heimatregion verbringen. Sofern keine Strafanzeige vorliegt, kann versucht werden, Untergetauchte durch eine Vermisstenanzeige ausfindig zu machen. Kritiker, die Tschetschenien aus Sorge um ihre Sicherheit verlassen mussten, fühlen sich häufig auch in russischen Großstädten vor dem 'langen Arm' des Regimes von Republiksoberhaupt Ramsan Kadyrow nicht sicher. Sicherheitskräfte, die Kadyrow zuzurechnen sind, sind nach Aussagen von NGOs etwa auch in Moskau präsent. Sie berichten von Einzelfällen aus Tschetschenien, in denen entweder die Familien der Betroffenen oder tschetschenische Behörden (welche Zugriff auf russlandweite Informationssysteme haben) Flüchtende in andere Landesteile verfolgen, sowie von LGBTI-Personen, die gegen ihren Willen nach Tschetschenien zurückgeholt worden sind (AA 2.2.2021).

Quellen:

?        AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf, Zugr

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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