Entscheidungsdatum
14.09.2021Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W215 2207187-1/19E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. STARK über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , Staatsangehörigkeit Russische Föderation, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 04.09.2018, Zahl
1146600105-170806398, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. wird gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (AsylG), in der Fassung BGBl. I Nr. 87/2012, als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. wird stattgegeben und gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG wird XXXX der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation zuerkannt.
III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG, in der Fassung BGBl. I Nr. 68/2013, wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für ein Jahr erteilt.
IV. Die Spruchpunkte III. bis VI. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz,
BGBl Nr. 1/1930 (B-VG), in der Fassung BGBl. I Nr. 51/2012, nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
Anmerkung: Die Beschwerdeführerin stellte gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz als Mann, beschrieb sich in der Beschwerdeverhandlung als Transgender und wird - auf Grund des in der Beschwerdeverhandlung ausdrücklich geäußerten Wunsches (Verhandlungsschrift Seiten 07 und 11) - in diesem Erkenntnis als Beschwerdeführerin bezeichnet.
1. Die Beschwerdeführerin stellte am XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz, nachdem sie im Transitbereich des Flughafens Schwechat aufgegriffen worden war. Die Beschwerdeführerin gab dazu an: „Aufgrund meiner Homosexualität habe ich viele Probleme und werden in meinem Heimatland verfolgt“.
In der niederschriftlichen Erstbefragung am XXXX gab die Beschwerdeführerin zusammengefasst an, dass sie Homosexuell und Transgender sei und oft vergewaltigt worden wäre. Sie habe viele schreckliche emotionale Momente erlebt, sei auf der Straße geschlagen worden, und da in Russland homosexuelle Menschen nicht erwünscht seien, habe sie keine andere Möglichkeit mehr gesehen als zu flüchten. Bei der Polizei in Russland hätten homosexuelle Menschen keine Rechte. Seit dem achtzehnten Lebensjahr XXXX . Mit dem Arzt habe die Beschwerdeführerin nicht über ihre Homosexualität gesprochen, aus Angst, nicht mehr behandelt zu werden. Die Beschwerdeführerin habe Angstzustände und Selbstmordgedanken gehabt. Bei einer Rückkehr habe sie Angst und befürchte eine Verschlechterung ihres psychischen Zustandes. Sie habe Angst, wieder geschlagen und vergewaltigt zu werden, in Russland erhalte sie keine Hilfe. Die Beschwerdeführerin legte im Rahmen der Antragstellung unter anderem ihren russischen Auslandsreisepass Nr. XXXX vor.
Mit Schreiben der Österreichischen Botschaft Moskau vom XXXX wurde der Visumsantrag der Beschwerdeführerin sowie die von der XXXX abgegebene Verpflichtungserklärung an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl übermittelt.
Am 28.02.2018 wurden der Beschwerdeführerin aktuelle Länderfeststellungen zur Situation in der Russischen Föderation übermittelt.
Eine schriftliche Stellungnahme der Beschwerdeführerin langte am 18.03.2018 im Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ein.
Weiters folgten eine Therapiebestätigung datiert mit XXXX XXXX
Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zog im Verfahren eine Anfragebeantwortung zur Russischen Föderation über XXXX , welche im erstinstanzlichen Akt einliegt.
Am 19.03.2018 folgte eine ausführliche niederschriftliche Befragung der Beschwerdeführerin im Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, worin die Beschwerdeführerin zusammengefasst angab, sie habe in der Russischen Föderation die Schule bis zur Matura abgeschlossen, anschließend als XXXX gearbeitet, sei unbescholten und habe in XXXX gelebt. Die Beschwerdeführerin sei ledig und habe nur noch ihre Eltern, welche zwei Wohnungen in der Russischen Föderation besitzen, wobei sie nur mit ihrer Mutter circa einmal pro Monat telefonischen Kontakt habe. Ihren Lebensunterhalt habe die Beschwerdeführerin als XXXX bestritten, wegen ihrer in der Russischen Föderation diagnostizierten Krankheit XXXX , habe sie eine XXXX erhalten. In Österreich erhalte die Beschwerdeführerin ca. EUR 360.- Unterstützung, davon miete sie ein Zimmer. Derzeit sei die Beschwerdeführerin nicht arbeitsfähig, wolle aber Schulungen machen und eine Lehre absolvieren. Die Beschwerdeführerin sei Mitglied im XXXX , Deutsch könne sie noch nicht, besuche aber einen Deutschkurs. Die Beschwerdeführerin habe keine Familienangehörigen oder Verwandten in Österreich. Die Beschwerdeführerin gab an, sie sei vom XXXX XXXX XXXX über das Thema XXXX in Österreich gewesen, sei danach, weil das Visum abgelaufen war, in XXXX bei einer Bekannten gewesen, anschließend im XXXX nach Österreich zurückgekehrt und habe erst dann einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt. Zuvor hätte die Beschwerdeführerin Angst gehabt einen Antrag zu stellen. Anschließend schilderte die Beschwerdeführerin ausführlich und detailliert, dass sie Transgender sei und was sie vor ihrer Ausreise aus in der Russischen Föderation erlebt habe.
Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 04.09.2018, Zahl 1146600105-170806398, wurde der Antrag der Beschwerdeführerin auf internationalen Schutz vom XXXX hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt I.), und hinsichtlich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation abgewiesen (Spruchpunkt II.). Gemäß § 57 AsylG wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt (Spruchpunkt III.) und gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA VG eine Rückkehrentscheidung gemäß
§ 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung der Beschwerdeführerin „nach“ Russische Föderation gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde gemäß
§ 55 Abs. 1 bis 3 FPG mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).
Mit Verfahrensanordnung vom 05.09.2018 wurde der Beschwerdeführerin gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG ein Rechtsberater zur Seite gestellt.
Gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 04.09.2018, Zahl 1146600105-170806398, zugestellt am 04.09.2018, erhob die Beschwerdeführerin fristgerecht am 01.10.2018 Beschwerde und rügte im Wesentlichen ein mangelhaftes Ermittlungsverfahren, insbesondere die Nicht-Berücksichtigung der eingebrachten Stellungnahme und ergänzungsbedürftige Länderberichte, weiters eine mangelhafte Beweiswürdigung sowie daraus folgend die inhaltliche Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides. Der Beschwerde beigelegt wurde ein Deutschprüfungszeugnis A1 datiert mit XXXX , eine Deutschkursbestätigung A2 datiert mit XXXX , sowie eine Vollmacht.
2. Die Beschwerdevorlage vom 04.10.2018 langte am 08.10.2018 im Bundesverwaltungsgericht ein. Nach einer Unzuständigkeitseinrede wurde das Verfahren zwei Tage später der nunmehr zur Entscheidung berufenen Gerichtsabteilung zugewiesen.
Mit Schriftsatz vom 08.08.2019 übermittelte die Beschwerdeführerin eine Stellungnahme zur aktuellen Situation homosexueller Personen in ihrem Herkunftsstaat und führte in Ergänzung zu ihren bisherigen Fluchtgründen an, dass sie bei einer etwaigen Rückkehr zusätzlich zu ihrer XXXX ausgesetzt sei; beigefügt, wurden nochmals bereits zuvor, im erstinstanzlichen Verfahren, vorgelegte Unterlagen.
Am 28.11.2019 übermittelte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl eine Stellungnahme einer unbekannten Person betreffend des XXXX der Beschwerdeführerin.
Mit Schriftsatz vom 19.11.2020 legte die Beschwerdeführerin unter anderem einen Psychotherapeutischen Befundbericht datiert mit XXXX , einen Fachärztlichen Befund datiert mit XXXX , sowie ein Schreiben von XXXX datiert mit XXXX vor. Darüber hinaus vorgelegt wurden Zeugnisse datiert mit XXXX über eine bestandene Integrationsprüfung auf dem Niveau A1 sowie datiert mit XXXX über eine bestandene Integrationsprüfung auf dem Niveau B1, zudem ein Zertifikat über die bestandene Deutschprüfung B1.
Für den 23.11.2020 wurde zur Ermittlung des maßgeblichen Sachverhaltes eine öffentliche mündliche Verhandlung im Bundesverwaltungsgericht anberaumt, zu welcher die Beschwerdeführerin, in Begleitung ihres zur Vertretung bevollmächtigten Rechtsberaters, erschien. Das ordnungsgemäß geladene Bundesamt für Fremdenwesen und hatte sich bereits vorab mit Schreiben vom 15.10.2020 entschuldigt und erschien nicht zur Verhandlung. In der Verhandlung wurden die Quellen der zu Entscheidungsfindung herangezogenen Länderinformationen dargetan, auf deren Einsichtnahme und Ausfolgung die Beschwerdeführerin verzichtete. Das Bundesverwaltungsgericht räumte den Verfahrensparteien vor Schluss der Verhandlung eine Frist zur Abgabe von Stellungnahmen ein.
Mit Schriftsatz vom 24.11.2020 übermittelte die Beschwerdeführerin eine Stellungnahme zur Situation von LGBTI Personen in der Russischen Föderation und der mangelnden Schutzwilligkeit staatlicher Behörden. Die Beschwerdeführerin sei in XXXX uns sei ein gesichertes Lebensumfeld positiv für den psychischen Zustand der Beschwerdeführerin.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat über die zulässige Beschwerde erwogen:
1. Feststellungen:
a) Zur den persönlichen Verhältnissen der Beschwerdeführerin:
Die Identität der Beschwerdeführerin steht fest. Sie ist Staatsangehörige der Russischen Föderation, gehört der Volksgruppe der Russen an und ist ohne Glaubensbekenntnis. Die Beschwerdeführerin wurde in XXXX geboren und hat dort bis zur Ausreise im Alter von XXXX gelebt. Sie gilt in der Russischen Föderation als Mann und führt den männlichen Vornamen XXXX und einen männlichen Nachnamen XXXX . Die Beschwerdeführerin ist allein stehendend, fühlt sich als Transgender und wird in diesem Erkenntnis, auf Grund des in der Beschwerdeverhandlung ausdrücklich geäußerten Wunsches, als Beschwerdeführerin bezeichnet.
b) Zum bisherigen Verfahrensverlauf:
Die Beschwerdeführerin reiste problemlos legal mit ihrem russischen Auslandsreisepass über einen internationalen Flughafen der Russischen Föderation und einem Visum der Österreichischen Botschaft Moskau gültig von XXXX aus der Russischen Föderation aus und kam nach Österreich.
Während der Gültigkeitsdauer des Visums bzw. ihres legalen Aufenthalts in Österreich stellt die Beschwerdeführerin keinen Antrag auf internationalen Schutz.
Die Beschwerdeführerin reiste vor Ablauf des legalen Aufenthalts von Österreich zu Bekannten nach XXXX , stellte aber auch dort keinen Antrag auf internationalen Schutz.
Nach Ablauf ihres Visums wurde die Beschwerdeführerin auf ihrem Heimweg von der Republik Serbien im XXXX , bei einem Zwischenstopp im Transitbereich des Flughafens Schwechat, aufgegriffen und stellte erst am XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz.
Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 04.09.2018, Zahl 1146600105-170806398, wurde der Antrag der Beschwerdeführerin auf internationalen Schutz vom XXXX hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt I.), und hinsichtlich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation abgewiesen (Spruchpunkt II.). Gemäß § 57 AsylG wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt (Spruchpunkt III.) und gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA VG eine Rückkehrentscheidung gemäß
§ 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung der Beschwerdeführerin „nach“ Russische Föderation gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde gemäß
§ 55 Abs. 1 bis 3 FPG mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).
Gegen diesen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, zugestellt am 07.09.2018, erhob die Beschwerdeführerin fristgerecht am 01.10.2018 gegenständliche Beschwerde.
Für den 23.11.2020 wurde zur Ermittlung des maßgeblichen Sachverhaltes eine öffentliche mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht anberaumt.
c) Zu den behaupteten Fluchtgründen der Beschwerdeführerin:
Die Beschwerdeführerin wusste bereits im Herkunftsstaat, dass sie Transgender ist. Dass die Beschwerdeführerin keine Erfahrung mit Transgender gehabt und sich deshalb in der Russischen Föderation als homosexuell ausgegeben hätte ist nicht glaubhaft. Sie hat in der Russischen Föderation XXXX
Es gab zu keinem Zeitpunkt konkrete Bedrohungen oder körperliche Übergriffe seitens russischen Behördenvertreter. Es gab zwar Übergriffe von Privatpersonen und die Beschwerdeführerin wurde XXXX , dies alles ereignete sich aber Jahre vor ihrer Ausreise und die Beschwerdeführerin hat auch keinen der Übergriffe von Privatpersonen angezeigt. Die Beschwerdeführerin wurde vor ihrer Ausreise aus ihren Herkunftsstaat nicht von Behördenvertretern verfolgt, musste von dort auch nicht fliehen, sondern reiste problemlos legal im XXXX aus ihrem Herkunftsstaat aus und das Bundesverwaltungsgericht kann nicht feststellen, dass sie im Fall ihrer Rückkehr in die Russischen Föderation verfolgt werden würde.
d) Zu einer Rückkehr der Beschwerdeführerin in ihren Herkunftsstaat:
Die Beschwerdeführerin hat im Herkunftsstaat elf Jahre die Grundschule und zwei Jahre ein XXXX besucht. Im Herkunftsstaat hat sie zuletzt als XXXX gearbeitet und hat in der Russischen Föderation zudem auch noch eine Einkommensquelle, in Form ihrer XXXX . Ihre Eltern besitzen zwei Wohnungen in der Russischen Föderation, leben nach wie vor dort und die Beschwerdeführerin hat mit ihrer Mutter, die weiß, dass die Beschwerdeführerin Transgender ist, circa einmal pro Monat telefonischen Kontakt.
Die Beschwerdeführerin leidet an keiner lebensbedrohlichen Erkrankung; derzeit jedoch an einer XXXX Im Falle einer Rückkehr in die Russische Föderation kann nicht mit der nötigen Gewissheit ausgeschlossen werden, dass die Beschwerdeführerin, weil sie Transgender ist, in Alltagssituationen erhebliche unmenschliche oder erniedrigende Behandlung erfahren würde.
e) Zur aktuellen Lage im Herkunftsstaat der Beschwerdeführerin:
Politische Lage
Die Russische Föderation hat mehr als 142,3 Millionen Einwohner (Stand Juli 2021) und ist schätzungsweis ca. 1,8 Mal so groß wie die die U.S.A. (CIA Factbook letzte Aktualisierung 23.08.2021, abgefragt am 02.09.2021).
Der Präsident verfügt über weitreichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik (GIZ 01.2021a; EASO 03.2017, AA 21.10.2020c). Er ernennt auf Vorschlag der Staatsduma den Vorsitzenden der Regierung, die stellvertretenden Vorsitzenden und die Minister, und entlässt sie (GIZ 01.2021a). Wladimir Putin ist im März 2018 bei der Präsidentschaftswahl mit 76,7% im Amt bestätigt worden (Standard.at 19.03.2018; FH 04.3.2020). Die Wahlbeteiligung lag der russischen Nachrichtenagentur TASS zufolge bei knapp 67% und erfüllte damit nicht ganz die Erwartungen der Präsidialadministration (Standard.at 19.03.2018). Putins wohl stärkster Widersacher Alexej Nawalny durfte nicht bei der Wahl kandidieren. Er war zuvor in einem von vielen als politisch motiviert eingestuften Prozess verurteilt worden und rief daraufhin zum Boykott der Abstimmung auf, um die Wahlbeteiligung zu drücken (Presse.at 19.03.2018; vgl. FH 03.03.2021). Oppositionelle Politiker und die Wahlbeobachtergruppe Golos hatten mehr als 2.400 Verstöße gezählt, darunter mehrfach abgegebene Stimmen und die Behinderung von Wahlbeobachtern. Wähler waren demnach auch massiv unter Druck gesetzt worden, an der Wahl teilzunehmen. Auch die Wahlkommission wies auf mutmaßliche Manipulationen hin (Tagesschau.de 19.03.2018). Wahlbetrug ist weit verbreitet, was insbesondere im Nordkaukasus deutlich wird (BTI 2020). Präsident Putin kann dem Ergebnis zufolge nach vielen Jahren an der Staatsspitze weitere sechs Jahre das Land führen (Tagesschau.de 19.03.2018; vgl. OSCE/ODIHR 18.03.2018).
Die Verfassung wurde per Referendum am 12.12.1993 mit 58% der Stimmen angenommen. Sie garantiert die Menschen- und Bürgerrechte. Das Prinzip der Gewaltenteilung ist zwar in der Verfassung verankert, jedoch verfügt der Präsident über eine Machtfülle, die ihn weitgehend unabhängig regieren lässt. Er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, trägt die Verantwortung für die Innen- und Außenpolitik und kann die Gesetzesentwürfe des Parlaments blockieren. Die Regierung ist dem Präsidenten untergeordnet, der den Premierminister mit Zustimmung der Staatsduma ernennt. Das Zweikammerparlament, bestehend aus Staatsduma und Föderationsrat, ist in seinem Einfluss stark beschränkt. Am 15. Januar 2020 hat Putin in seiner jährlichen Rede zur Lage der Nation eine Neuordnung des politischen Systems vorgeschlagen und eine Reihe von Verfassungsänderungen angekündigt. Dmitri Medwedjew hat den Rücktritt seiner Regierung erklärt. Sein Nachfolger ist der Leiter der russischen Steuerbehörde Michail Mischustin. In dem neuen Kabinett sind 15 von 31 Regierungsmitgliedern ausgewechselt worden (GIZ 01.2021a). Die Verfassungsänderungen ermöglichen Wladimir Putin, für zwei weitere Amtszeiten als Präsident zu kandidieren (GIZ 01.2021a; vgl. FH 03.03.2021), dies gilt aber nicht für weitere Präsidenten (FH 03.03.2021). Die Volksabstimmung über eine umfassend geänderte Verfassung fand am 1. Juli 2020 statt, nachdem sie aufgrund der Corona-Pandemie verschoben worden war. Bei einer Wahlbeteiligung von ca. 65% der Stimmberechtigten stimmten laut russischer Wahlkommission knapp 78% für und mehr als 21% gegen die Verfassungsänderungen. Neben der sogenannten Nullsetzung der bisherigen Amtszeiten des Präsidenten, durch die der amtierende Präsident 2024 und theoretisch auch 2030 zwei weitere Male kandidieren darf, wird das staatliche Selbstverständnis der Russischen Föderation in vielen Bereichen neu definiert. Der neue Verfassungstext beinhaltet deutlich sozialere und konservativere Inhalte als die Ursprungsverfassung aus dem Jahre 1993 (GIZ 01.2021a). Nach dem Referendum kam es zu Protesten von einigen hundert Personen in Moskau. Bei dieser nicht genehmigten Demonstration wurden 140 Personen festgenommen. Auch in St. Petersburg gab es Proteste (MDR 16.07.2020).
Der Föderationsrat ist als 'obere Parlamentskammer' das Verfassungsorgan, das die Föderationssubjekte auf föderaler Ebene vertritt. Er besteht aus 178 Abgeordneten (GIZ 01.2021a): Jedes Föderationssubjekt entsendet je einen Vertreter aus Exekutive und Legislative in den Föderationsrat. Die Staatsduma mit 450 Sitzen wird für fünf Jahre gewählt (GIZ 01.2021a; AA 21.10.2021c). Es gibt eine Fünfprozentklausel (GIZ 01.2021a).
Zu den wichtigen Parteien der Russischen Föderation gehören: die Regierungspartei Einiges Russland (Jedinaja Rossija) mit 1,9 Millionen Mitgliedern; Gerechtes Russland (Sprawedliwaja Rossija) mit 400.000 Mitgliedern; die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) mit 150.000 Mitgliedern, welche die Nachfolgepartei der früheren KP ist; die Liberaldemokratische Partei (LDPR) mit 185.000 Mitgliedern, die populistisch und nationalistisch ausgerichtet ist; die Wachstumspartei (Partija Rosta), die sich zum Neoliberalismus bekennt; Jabloko, eine demokratisch-liberale Partei mit 55.000 Mitgliedern; die Patrioten Russlands (Patrioty Rossii), links-zentristisch mit 85.000 Mitgliedern und die Partei der Volksfreiheit (PARNAS), eine demokratisch-liberale Partei mit 58.000 Mitgliedern (GIZ 1.2021a). Die Zusammensetzung der Staatsduma nach Parteimitgliedschaft gliedert sich wie folgt: Einiges Russland (343 Sitze), Kommunistische Partei Russlands (42 Sitze), Liberaldemokratische Partei Russlands (39 Sitze), Gerechtes Russland (23 Sitze), Vaterland-Partei (1 Sitz), Bürgerplattform (1 Sitz) (RIA Nowosti 23.09.2016; vgl. Global Security 21.09.2016, FH 03.03.2021). Die sogenannte Systemopposition stellt die etablierten Machtverhältnisse nicht in Frage und übt nur moderate Kritik am Kreml (SWP 11.2018). Die nächste Duma-Wahl steht im Herbst 2021 an (Standard.at 01.01.2021).
Russland ist eine Föderation, die aus 85 Föderationssubjekten (einschließlich der international nicht anerkannten Annexion der Republik Krim und der Stadt föderalen Ranges Sewastopol) mit unterschiedlichem Autonomiegrad besteht. Die Föderationssubjekte (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Gebiete, Regionen und Föderale Städte) verfügen über jeweils eine eigene Legislative und Exekutive (GIZ 01.2021a; vgl. AA 21.10.2020c). Die Gouverneure der Föderationssubjekte werden auf Vorschlag der jeweils stärksten Fraktion der regionalen Parlamente vom Staatspräsidenten ernannt. Dabei wählt der Präsident aus einer Liste dreier vorgeschlagener Kandidaten den Gouverneur aus (GIZ 01.2021a).
Es gibt acht Föderationskreise (Nordwestrussland, Zentralrussland, Südrussland, Nordkaukasus, Wolga, Ural, Sibirien, Ferner Osten), denen jeweils ein Bevollmächtigter des Präsidenten vorsteht. Der Staatsrat der Gouverneure tagt unter Leitung des Präsidenten und gibt der Exekutive Empfehlungen zu aktuellen politischen Fragen und zu Gesetzesprojekten. Nach der Eingliederung der Republik Krim und der Stadt Sewastopol in die Russische Föderation wurde am 21.3.2014 der neunte Föderationskreis Krim gegründet. Die konsequente Rezentralisierung der Staatsverwaltung führt seit 2000 zu politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit der Regionen vom Zentrum. Diese Tendenzen wurden bei der Abschaffung der Direktwahl der Gouverneure in den Regionen und der erneuten Unterordnung der regionalen und kommunalen Machtorgane unter das föderale Zentrum („exekutive Machtvertikale“) deutlich (GIZ 01.2021a).
Bei den in einigen Regionen stattgefundenen Regionalwahlen am 08.09.2019 hat die Regierungspartei Einiges Russland laut Angaben der Wahlleitung in den meisten Regionen ihre Mehrheit verteidigt. Im umkämpften Moskauer Stadtrat verlor sie allerdings viele Mandate (Zeit Online 09.09.2019). Hier stellt die Partei nur noch 25 von 45 Vertretern, zuvor waren es 38. Die Kommunisten, die bisher fünf Stadträte stellten, bekommen 13 Sitze. Die liberale Jabloko-Partei bekommt vier und die linksgerichtete Partei Gerechtes Russland drei Sitze (ORF 18.09.2019). Die beiden letzten Parteien waren bisher nicht im Moskauer Stadtrat vertreten. Zuvor sind zahlreiche Oppositionskandidaten von der Wahl ausgeschlossen worden, was zu den größten Protesten seit Jahren geführt hat (Zeit Online 09.09.2019), bei denen mehr als 1.000 Demonstranten festgenommen wurden (Kleine Zeitung 28.07.2019). Viele von den Oppositionskandidaten haben zu einer 'smarten Abstimmung' aufgerufen. Die Bürgersollten Jeden wählen – nur nicht die Kandidaten der Regierungspartei. Bei den für die russische Regierung besonders wichtigen Gouverneurswahlen gewannen die Kandidaten der Regierungspartei überall (Zeit Online 09.09.2019).
Neben den bis Juli 2021 verlängerten wirtschaftlichen Sanktionen wegen des andauernden Ukraine-Konfliktes (Presse.com 10.12.2020) haben sich die EU-Außenminister wegen der Inhaftierung des Kremlkritikers Alexej Nawalny auf neue Russland-Sanktionen geeinigt. Die Strafmaßnahmen umfassen Vermögenssperren und EU-Einreiseverbote gegen Verantwortliche für die Inhaftierung Nawalnys (Cicero 22.02.2021).
Nach rund drei Wochen hat der in einem Straflager inhaftierte Oppositionelle Alexej Nawalny am 23.04.2021 das Ende seines Hungerstreiks angekündigt. Nawalny hatte das Essen verweigert, um so gegen die unzureichende medizinische Versorgung zu protestieren. Nawalnys Ärzte hatten am 22.04.2021 in einem von Medien veröffentlichten Brief an den 44-Jährigen appelliert, seinen Hungerstreik sofort zu beenden. Die Ärzte hatten nach eigenen Angaben die vorliegenden Untersuchungsergebnisse ausgewertet. Nach Angaben des Bürgerrechtsportals Ovd-Info sind am 21.04.2021 bei landesweiten Demonstrationen für die Freilassung Nawalnys bis zu 2000 Menschen festgenommen worden. Allein bei der Kundgebung in St. Petersburg habe die Polizei mehr als 350 Demonstrierende in Gewahrsam genommen. Insgesamt listete das Portal Festnahmen in mehr als 80 Städten auf. Die Behörden hatten davor gewarnt, an den nicht genehmigten Protesten teilzunehmen. In Moskau sei die Demonstration hingegen ohne größere Zwischenfälle verlaufen. Im Stadtzentrum waren Tausende Menschen auf den Straßen, um Nawalny zu unterstützen. Viele forderten auch den Rücktritt des russischen Präsidenten Putin, dem sie die Unterdrückung Andersdenkender vorwerfen. Insgesamt nahmen wesentlich weniger Demonstrierende an den Kundgebungen teil als im Januar und Februar 2021. Dies dürfte vor allem darauf zurückzuführen sein, dass bei den vorangegangenen landesweiten Solidaritäts-Demonstrationen mehr als 11.000 Menschen festgenommen worden waren und die Sicherheitskräfte mit teils massiver Härte gegen die Protestierenden vorgingen (BAMF 26.04.2021).
Die Büros der Organisation des russischen Putin-Kritikers Alexej Nawalny dürfen nicht mehr tätig sein. Die Regionalbüros wurden vom Staat am 30.04.2021 als extremistisch eingestuft und stehen jetzt auf der Liste der terroristischen und extremistischen Organisationen der Finanzaufsichtsbehörde Rosfinmonitoring, die kurz zuvor eine entsprechende Aktualisierung ihrer Liste angekündigt hatte. Die russische Staatsanwaltschaft hatte am 27.04.2021 beantragt, Nawalnys Antikorruptionsstiftung FBK und das Netzwerk regionaler Organisationen des Regierungskritikers als extremistisch einzustufen und damit die Arbeit der Organisationen komplett zu verbieten. Mitgliedern und Unterstützern könnten dann lange Haftstrafen drohen. Daraufhin hatten sich die Regionalbüros am 27.04.2021 selbst aufgelöst, um möglicherweise einem kompletten Verbot infolge der befürchteten Einstufung als extremistisch zuvorzukommen. Einige der insgesamt 37 Büros wollen versuchen, ihre Aktivitäten als neue unabhängige politische Organisationen fortzusetzen. Die Regionalbüros sind bei Wahlen in den vergangenen Jahren für die Opposition wichtig gewesen, da sie immer wieder Kampagnen für sogenanntes intelligentes Wählen organisierten. Dabei riefen sie dazu auf, unabhängig von der Partei für jenen Kandidaten zu stimmen, der die besten Aussichten gegen den Kandidaten der Kreml-Partei Geeintes Russland hatte. Vor der Einstufung der Regionalbüros als extremistisch war am 30.04.21 auch bekannt geworden, dass in Moskau der prominente Anwalt Iwan Pawlow vom russischen Inlandsgeheimdienst FSB festgenommen worden ist. Die von Pawlow geführte Anwaltsorganisation Komanda 29 vertritt u.a. die Bewegung um den inhaftierten Nawalny (BAMF 03.05.2021).
Nachdem die Regionalbüros des Netzwerkes von Alexej Nawalny bereits seitens der russischen Finanzaufsichtsbehörde zu „terroristischen und extremistischen Organisationen“ erklärt worden waren (vgl. BN v. 03.05.2021), hat das Moskauer Stadtgericht am 09.06.21 alle drei zum Netzwerk gehörenden Organisationen, d.h. neben den Regionalbüros auch die Antikorruptionsstiftung FBK und den Bürgerrechtsfonds FZPG, als „extremistisch“ eingestuft und somit offiziell verboten. Das Gericht folgte damit dem Antrag der Staatsanwaltschaft, die Nawalnys Organisationen der Destabilisierung der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse im Land beschuldigt hatte. In der Folge drohen Mitarbeitenden, Spendenden und sonstigen Unterstützenden des Netzwerkes (sofern sie ihre Tätigkeit fortsetzen) bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe sowie seit Kurzem der Ausschluss von der Parlamentswahl im September 2021. Hintergrund ist eine von Präsident Putin am 04.06.2021 unterzeichnete Gesetzesnovelle, die Personen mit aktuellen wie auch zurückliegenden Verbindungen zu „extremistischen“ Vereinigungen das passive Wahlrecht für mehrere Jahre entzieht. Beobachter sehen in dem Gerichtsurteil einen schweren, wenn auch erwartbaren „Schlag“ gegen Nawalny und die russische Opposition insgesamt. Medienberichten zufolge kündigten Nawalnys Anwälte umgehend Berufung an; auch eine Fortsetzung der Arbeit des Netzwerkes unter neuem Namen stehe im Raum (BAMF 14.06.2021).
Gegen den inhaftierten Putin-Kritiker Alexej Nawalny ist eine neue Anklage erhoben worden, die seine Gefängnisstrafe deutlich verlängern könnte. Ihm werde die Gründung einer rechtswidrigen Organisation vorgeworfen, erklärte das für schwere Straftaten zuständige Ermittlungskomitee. Im Falle einer Verurteilung drohen Nawalny zusätzlich drei Jahre Gefängnis. Konkret geht es um Nawalnys Anti-Korruptionsstiftung FBK, die inzwischen in Russland als extremistisch eingestuft und im Juni 2021 verboten worden ist. Nawalny wird vorgeworfen, mit der Organisation die „Rechte der Bürger verletzt“ zu haben. Die FBK war vor zehn Jahren 14 gegründet worden und veröffentlichte seitdem u.a. mehrere Videos über versteckte Vermögen und Luxus Besitztümer von russischen Amtsträgern, insbesondere von Ministerpräsident Medwedjew und Präsident Putin. Die russische Opposition wirft der Führung in Moskau vor, im Vorlauf der geplanten Parlamentswahl im September 2021 eine massive Einschüchterungskampagne gegen regierungskritische Personen zu führen. Russischen Staatsmedien zufolge ist Ljubow Sobol, eine der engsten Unterstützerinnen Nawalnys, am 08.08.21 ausgereist, um der Vollstreckung eines Urteils zuvorzukommen (BAMF 16.08.2021).
(CIA, The World Factbook, Russland, letzte Aktualisierung am 23.08.2021, abgefragt am 02.09.2021, https://www.cia.gov/the-world-factbook/countries/russia/
AA, Auswärtiges Amt [Deutschland] (21.10.2020c), Russische Föderation – Politisches Portrait, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/russischefoederation-node/politisches-portrait/201710, Zugriff des BFA 16.02.2021
BTI, Bertelsmann Transformation Index (2020), BTI 2020 Country Report, Russia, https://bti-project.org/content/en/downloads/reports/country_report_2020_RUS.pdf, Zugriff des BFA 17.02.2021
CIA, Central Intelligence Agency [USA] (05.02.2020): The World Factbook, Central Asia: Russia, https://www.cia.gov/the-world-factbook/countries/russia/, Zugriff des BFA 16.02.2021
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BAMF, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Briefing Note, 26.04.2021, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2021/briefingnotes-kw17-2021.pdf?__blob=publicationFile&v=3
BAMF, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Briefing Note, 03.05.2021, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2021/briefingnotes-kw18-2021.pdf?__blob=publicationFile&v=3
BAMF, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Briefing Note, 14.06.2021, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2021/briefingnotes-kw24-2021.pdf?__blob=publicationFile&v=2
BAMF, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Briefing Note, 16.08.2021, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2021/briefingnotes-kw33-2021.pdf?__blob=publicationFile&v=4)
Sicherheitslage
Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen. Todesopfer forderte zuletzt ein Terroranschlag in der Metro von St. Petersburg im April 2017. Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf. Seien Sie weiterhin insbesondere an belebten Orten, bei Menschenansammlungen und bei der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel besonders aufmerksam. Insbesondere in Moskau und St. Petersburg, aber auch in anderen großen Städten kann es im Zusammenhang mit nicht genehmigten Kundgebungen und Demonstrationen zu einem massiven, zum Teil gewaltsamen Vorgehen der Sicherheitskräfte kommen. Ein Aufenthalt auch in der Nähe von nicht genehmigten Veranstaltungen sollte unbedingt vermieden werden. In den touristischen Zentren russischer Städte sowie in größeren Menschenansammlungen und in öffentlichen Verkehrsmitteln wie der Metro kommt es zu Kleinkriminalität wie Taschendiebstahl. Wie auch in anderen Großstädten kann es in Bars und Clubs russischer Großstädte zu Straftaten und vereinzelt dem Einsatz von K.o.-Tropfen kommen. Bewusstlose Personen können Opfer sexueller Gewalt werden oder sich im Freien wiederfinden, was in den Wintermonaten lebensgefährlich sein kann. In nur offiziell aussehenden, aber nicht lizensierten Taxis sind Touristen Opfer von Straftaten geworden (AA Reise- und Sicherheitshinweise Stand 04.09.2021).
Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen (AA 07.04.2021a; GIZ 01.2021d, EDA 07.04.2021). Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 07.04.2021a; EDA 07.04.2021). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 07.04.2021).
Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderte Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Die gewaltsamen Zwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem ägyptischen Sinai mit 224 Todesopfern (SWP 04.2017). Seitdem war der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken sollte (SWP 04.2017; vgl. Deutschlandfunk 29.09.2020). Der Einsatz in Syrien ist der größte und längste Auslandseinsatz des russischen Militärs seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Zunächst sollten nur die Luftstreitkräfte die syrische Armee unterstützen. Bodentruppen wurden erst später und in geringerem Maße mobilisiert - in Form von Spezialeinheiten und schließlich am Ende des Feldzugs als Militärpolizei. Es gab auch Berichte über den Einsatz privater paramilitärischer Strukturen (DW 29.09.2020). Hier ist vor allem die 'Gruppe Wagner' zu nennen. Es handelt sich hierbei um einen privaten russischen Sicherheitsdienstleister, der nicht nur in Syrien, sondern auch in der Ukraine und in Afrika im Einsatz ist. Mithilfe solcher privaten Sicherheitsdienstleister lässt sich die Zahl von Verlusten des regulären russischen Militärs gering halten (BPB 08.02.2021), und der teure Einsatz sorgt dadurch in der russischen Bevölkerung kaum für Unmut (DW 29.09.2020).
In den letzten Jahren rückte eine weitere Tätergruppe in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sog. IS kämpften, wurde auf einige Tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017). Erst im Oktober 2020 wurden bei Spezialoperationen zentralasiatische Dschihadisten in Südrussland getötet und weitere in Moskau und St. Petersburg festgenommen (SN 15.10.2020).
(AA, Auswärtiges Amt, Russische Föderation, Reise- und Sicherheitshinweise, unverändert gültig seit 03.08.2021, Stand 04.09.2021, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/russischefoederation-node/russischefoederationsicherheit/201536
AA, Auswärtiges Amt [Deutschland] (07.04.2021a), Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/russischefoederation-node/russischefoederationsicherheit/201536#content_0 , Zugriff des BFA 07.04.2021
BPB, Bundeszentrale für politische Bildung [Deutschland] (08.02.2021), Analyse: Söldner im Dienst autoritärer Staaten: Russland und China im Vergleich, https://www.bpb.de/internationales/europa/russland/analysen/327198/soeldner-im-dienst-autoritaerer-staaten, Zugriff des BFA 08.04.2021
Deutschlandfunk (28.06.2017), Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden, https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russische-methoden.724.de.html?dram:article_id=389824, Zugriff des BFA 07.04.2021
Deutschlandfunk (29.09.2020), An Russland kommt im Nahen Osten niemand mehr vorbei, https://www.deutschlandfunk.de/fuenf-jahre-russischer-militaereinsatz-in-syrien-an.724.de.html?dram:article_id=484951, Zugriff des BFA 08.04.2021
DW, Deutsche Welle (29.09.2020): Russland im Syrien-Krieg: Gekommen, um zu bleiben, https://www.dw.com/de/russland-im-syrien-krieg-gekommen-um-zu-bleiben/a-55096554, Zugriff des BFA 08.04.2021
EDA, Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten [Schweiz] (07.04.2021): Reisehinweise für Russland, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/russland/reisehinweise-fuerrussland.html#par_textimage, Zugriff des BFA 07.04.2021
GIZ, Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH [Deutschland] (02.2020d): Russland, Alltag, https://www.liportal.de/russland/alltag/#c18170, Zugriff des BFA 07.04.2021
SN, Salzburger Nachrichten (15.10.2020), Terrorzelle in Russland ausgeschaltet, https://www.sn.at/politik/weltpolitik/terrorzelle-in-russland-ausgeschaltet-94250941, Zugriff des BFA 08.04.2021
SWP, Stiftung Wissenschaft und Politik (04.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, des BFA Zugriff 07.04.2021)
LGBTI
Homosexualität ist in Russland seit 1993 nicht mehr strafbar, die sogenannte „Verbreitung homosexueller Propaganda gegenüber Minderjährigen“ hingegen schon. Verstöße gegen diese Vorschriften können mit empfindlichen Geldstrafen geahndet werden. Sie werden allerdings in der Praxis nur selten verhängt. Die Situation für Homosexuelle ist regional sehr unterschiedlich. In St. Petersburg findet jährlich ein „Queerfest“ statt. 2019 gelang es seinen Organisatoren erstmals, Sponsoren aus der Privatwirtschaft zu gewinnen; der örtliche Ombudsmann für Menschenrechte Schischlow unterstützte den Dialog der Organisatoren mit den Sicherheitsbehörden zur Gewährleistung der Sicherheit der Teilnehmer. Gegen das jährliche LGBTI-Filmfestival „Side by Side“ in St. Petersburg richteten sich jedoch zu Beginn Bombendrohungen, die den Verlauf erheblich beeinträchtigten. 2020 fand das Festival wegen der Pandemie online statt. LGBTI-Personen können im Alltag Diskriminierungen ausgesetzt sein, angefangen von sogenannten Mikroaggressionen bis hin zu physischen Übergriffen. Am stärksten gefährdet sind Transgender, die aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes von der Öffentlichkeit als männlich wahrgenommen werden, sich aber entsprechend ihrer sexuellen Identität feminin kleiden und z. B. schminken, und Personen, die sich öffentlich für Rechte von LGBTI Personen einsetzen. 2019 wurden im Internet erneut Listen von LGBTI-Aktivisten zirkuliert, gegen die homophobe Gruppierungen Drohungen aussprachen. Im Juli 2019 wurde die Aktivistin Jelena Grigorjewa, die auf einer solchen Liste stand, getötet. Die Strafverfolgungsbehörden gehen nicht von einem homophoben Motiv aus. Der staatliche Schutz vor solchen Übergriffen Dritter ist unzureichend. Homosexuelle können sich nicht überall darauf verlassen, dass Polizeikräfte sie bei Veranstaltungen oder Demonstration vor Übergriffen Dritter schützen. Laut glaubhaften Aussagen von NROs bringen Opfer von homophoben Straftaten diese häufig nicht zur Anzeige. Wird Anzeige erstattet, weigert sich nach Erkenntnissen der NROs Ressource LGBTQIA Moscow, Raduga und Stimul die Polizei häufig sie aufzunehmen, wenn das Opfer den homophoben Hintergrund der Tat benennt. Eine Ahndung der Tat durch die Justiz ist dann nur möglich, wenn das Tatopfer Beschwerde bei der vorgesetzten Polizeidienststelle, der Staatsanwaltschaft oder bei Gericht einlegt. Inwiefern solche Beschwerden erfolgreich beziehungsweise erfolglos sind, konnte das Auswärtige Amt nicht in Erfahrung bringen (AA 21.05.2021).
Homosexualität ist in Russland seit 1993 nicht mehr strafbar. Seit 2013 gilt in Russland das Gesetz zum Verbot der an Minderjährige gerichteten Propaganda von nicht-traditionellen sexuellen Beziehungen. Als Sanktionen sieht das Gesetz Geldstrafen sowie die temporäre Schließung von Medien, die diese Propaganda verbreiten, vor (ÖB Moskau 06.2020, AA 02.02.2021). Geldstrafen werden allerdings in der Praxis nur selten verhängt (AA 02.02.2021). Das Gesetz wird wiederholt zur Unterdrückung der freien Meinungsäußerung von
LGBTI-Personen eingesetzt (AI 16.04.2020). Im September 2014 entschied der russische Verfassungsgerichtshof, dass das Gesetz nicht gegen die russische Verfassung verstößt. In einem Bericht von Human Rights Watch vom Dezember 2014 stellt die Organisation fest, dass das Gesetz zu einem Anstieg von Gewalt und Belästigung von LGBTI-Personen geführt hat. Die russischen Behörden kommen ihrer Verpflichtung, gegen homophobe Gewalt vorzugehen und diese zu ahnden, nicht nach. Russische LGBTI-Organisationen registrieren jährlich ca. 70 Fälle von Hassverbrechen auf Grundlage der sexuellen Orientierung oder Genderidentität, davon wird nur ein Bruchteil zur Anzeige gebracht und wiederum nur in einem Bruchteil davon ein Strafverfahren eingeleitet. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) beurteilte das oben genannte Gesetz in einem Urteil vom Juni 2017 als willkürlich und diskriminierend. In einer besonders gefährdeten Situation sind LGBTI-Eltern, vor allem von angenommenen/adoptierten Kindern, da es in der Vergangenheit zum Entzug des Sorgerechts kam (ÖB Moskau 06.2020). Mit einer Verfassungsänderung im Juli 2020 wurde die Ehe als Bund zwischen Mann und Frau in der russischen Verfassung festgeschrieben (ÖB Moskau 06.2020, HRW 13.01.2021, FH 03.03.2021). Bei einer Umfrage des unabhängigen Meinungsforschungsinstituts Levada Zentrum vom April 2019 gaben 3% der Befragten an, sie hätten eine positive Einstellung zu Homosexuellen, 39% äußerten eine neutrale Einstellung und 56% eine negative. 47% der Befragten befürworteten eine Gleichstellung Homosexueller mit anderen Bürgern (zum Vergleich: 2013: 39%, 2012: 46%, 2010: 45%, 2005: 51%). Bei der Anzahl von Gewaltverbrechen gegen Homosexuelle verzeichnet die Menschenrechtsorganisation Sova für das Jahr 2019 einen leichten Anstieg gegenüber dem Vorjahr. Von einer hohen Dunkelziffer ist jedoch auszugehen. LGBTI-Personen können im Alltag Diskriminierungen ausgesetzt sein, angefangen von sogenannten Mikro-Aggressionen bis hin zu physischen Übergriffen. Am stärksten gefährdet sind Transgender-Personen, die aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes von der Öffentlichkeit als männlich wahrgenommen werden, sich aber entsprechend ihrer sexuellen Identität feminin kleiden und z.B. schminken, und Personen, die sich öffentlich für Rechte von LGBTI-Personen einsetzen. 2019 zirkulierten im Internet erneut Listen von LGBTI-Aktivisten, gegen die homophobe Gruppierungen Drohungen aussprachen. Im Juli 2019 wurde die Aktivistin Jelena Grigorjewa, die auf einer solchen Liste stand, getötet. Die Strafverfolgungsbehörden gehen nicht von einem homophoben Motiv aus (AA 13.02.2019).
Der staatliche Schutz vor solchen Übergriffen Dritter ist unzureichend. Homosexuelle können sich nicht überall darauf verlassen, dass Polizeikräfte sie bei Veranstaltungen oder Demonstration vor Übergriffen Dritter schützen. Laut glaubhaften Aussagen von NGOs bringen Opfer von homophoben Straftaten diese häufig nicht zur Anzeige. Wird dennoch Anzeige erstattet, weigert sich die Polizei häufig diese aufzunehmen, wenn das Opfer den homophoben Hintergrund der Tat benennt. Eine Ahndung der Tat durch die Justiz ist dann nur möglich, wenn das Tatopfer Beschwerde bei der vorgesetzten Polizeidienststelle, der Staatsanwaltschaft oder bei Gericht einlegt (AA 02.02.2021).
Bei einem Treffen der Botschaft mit einer Vertreterin des „russischen LGBT-Netzwerks“ im Mai 2021 wurde darauf hingewiesen, dass sich die Situation für LGBT-Personen in Russland auch von Region zu Region stark unterscheidet. Als rezentes Beispiel für massive Gewalt gegen Mitglieder der LGBT-Community wurde die Stadt Tschita am Baikal genannt: dort sei es in jüngster Vergangenheit zu hunderten Fällen gekommen, dass LGTB-Personen zu Treffen gelockt worden seien, bei denen sie dann angegriffen und teilweise auch getötet worden seien (ÖB Moskau 30.06.2021).
Nordkaukasus
Auch im Nordkaukasus insgesamt (nicht nur Tschetschenien) sei die Zahl der Verbrechen gegen Mitglieder der LGBT-Community sehr hoch. Durch den Einsatz von Mitgliedern des russischen LGTB Netzwerks konnten rund 200 Personen aus Tschetschenien gerettet werden. Es komme aber weiterhin zu Verfolgung, Folter und Tötungen. Betroffen seien sowohl Männer als auch Frauen. Die Spezifik bei Frauen sei allerdings, dass diese einen „stillen Tod sterben“. Entweder sie werden von ihren Familienangehörigen getötet (sogenannte Ehrenmorde) oder zwangsverheiratet. Ein rezenter Fall war jener der von Sicherheitskräften aus einem Frauenhaus in Dagestan nach Tschetschenien entführten Chalimat Taramova (ÖB Moskau 30.06.2021)
Als besonders gravierend gilt die Lage sexueller Minderheiten im Nordkaukasus (ÖB Moskau 06.2020; FH 03.03.2021). Homosexuelle müssen mit Verfolgung durch lokale Behörden rechnen (AA 02.02.2021). Im April 2017 berichtete die Nowaja Gazeta über die massive Verfolgung Homosexueller in Tschetschenien, die von Menschenrechtsorganisationen scharf kritisiert wurde (ÖB Moskau 06.2020; BAMF 11.2019). Über 100 Homosexuelle wurden durch tschetschenische Sicherheitskräfte festgenommen und gefoltert. In mindestens sechs Fällen sind die Opfer ermordet worden. Andere haben nach ihrer Freilassung Tschetschenien verlassen. Mehrere NGOs berichteten, dass homosexuelle Frauen und Männer bei ihnen in anderen Landesteilen Schutz gesucht haben. Als Reaktion auf die Berichte haben mehrere Staaten Opfer aufgenommen, die über die Menschenrechtsorganisation LGBTI-Netzwerk vermittelt wurden. Staatspräsident Putin hat eine Untersuchung der Vorfälle angeordnet, die bisher zu keinen Ergebnissen geführt hat. Eine Mitte September 2018 durchgeführte Reise der Ombudsfrau Tatjana Moskalkowa nach Grosny versuchten tschetschenische Behörden zu nutzen, (Presse-)Berichte über verschollene Personen als falsch darzustellen (AA 02.02.2021). Nachdem die russischen Behörden im Rahmen der OSZE keine substanzielle Antwort gegeben hatten, wurde der 'Moskauer Mechanismus' ausgelöst (AA 02.02.2021, ÖB Moskau 06.2020). Im diesbezüglichen Bericht vom Dezember 2018 werden die Vorwürfe weitgehend bestätigt bzw. als glaubhaft bezeichnet. Bisher ist Russland nicht substanziell auf die Empfehlungen des OSZE-Berichts eingegangen (AA 02.02.2021). Medienberichte, denen zufolge in Tschetschenien Anfang 2019 über 40 LGBTI-Personen (AA 02.02.2021, FH 03.03.2021, BAMF 11.2019) festgenommen und zwei zu Tode gefoltert worden seien (AA 02.02.2021, ÖB Moskau 06.2020), wurden von russischen Behörden dementiert. Lokale Behördenvertreter sagten einem Beauftragten der Parlamentarischen Versammlung des Europarats 2019 (AA 02.02.2021), dass in Tschetschenien (sinngemäß) weder Homosexuelle noch Menschenrechtsverletzungen existieren. Nach glaubhaften NGO-Berichten wurden 2018/2019 auch lesbische Frauen Ziel von Verfolgung. Anders als bei homosexuellen Männern spielt hier jedoch nicht primär die staatliche Verfolgung, sondern Zwangsverheiratung und andere Maßnahmen durch das familiäre Umfeld eine Rolle (AA 02.02.2021, ÖB Moskau 06.2020). 2018 hat es beinahe monatlich einzelne Fälle von Gewalt und Anhaltungen von LGBTI-Vertretern durch die Polizei gegeben. Ein mögliches Motiv für die Anhaltungen könnte auch in der Erpressung von Lösegeld (es werden Summen in der Höhe von 13.000 € genannt) liegen (ÖB Moskau 06.2020). Die sich häufenden Beweise für die Entführung, Folterung und Tötung homosexueller Männer in Tschetschenien durch die Polizei in den vergangenen Jahren werden von den Behörden der Russischen Föderation ignoriert (AI 16.04.2020).
Seit der Veröffentlichung des Zeitungsberichtes zur Verfolgung Homosexueller in Tschetschenien im April 2017 durch die Zeitung Nowaja Gazeta konnte das russische
LGBT-Netzwerk mehr als 150 Personen aus Tschetschenien evakuieren. Davon sind mehr als 140 LGBTI-Personen in europäische Länder und nach Kanada emigriert. Der Menschenrechtsorganisation zufolge waren die Evakuierungen schwierig, da sie hierbei teilweise von den Behörden und Familien der Betroffenen behindert wurden. Auch in anderen Teilen Russlands außerhalb Tschetscheniens waren die Betroffenen teilweise nicht in Sicherheit, in einigen Fällen kam es zu Entführungen, bei denen die Geflüchteten zu ihren Familien nach Tschetschenien zurückgebracht wurden (BAMF 11.2019).
Der Regisseur Sewa Galkin berichtete am 22.04.2021, dass das Moskauer Internationale Filmfestival eine Vorführung seines Films über die Ermordung von LGBTQ+ Menschen in der Republik Tschetschenien abgesagt hat (Universität Bremen 08.06.2021).
In Tschetschenien wurde ein Anwalt von zwei homosexuellen Männern, unter dem Vorwand von Quarantäne, verweigert, seine Klienten zu sehen. Die beiden Männer waren zuvor festgenommen worden, um sie vor „Ehrenmord“ zu schützen (Caucasian Knot 15.08.2021). Laut russischem LGBT-Netzwerk wurde ein Tschetschene im Mai 2021 in Moskau entführt und nach Tschetschenien gebracht, wo er zu homosexuellen Männern in der Region befragt wurde (HRW 31.08.2021).
(AA, Auswärtiges Amt [Deutschland] (02.02.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf, Zugriff des BFA 25.02.2021
AA, Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, Stand Oktober 2020, 02.02.2021 in der Fassung 21.05.2021, https://www.ecoi.net
AI, Amnesty International (16.04.2020), Bericht zur Menschenrechtslage (Berichtszeitraum 2019), https://www.ecoi.net/de/dokument/2028170.html, Zugriff des BFA 25.02.2021
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FH, Freedom House (03.03.2021), Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2020 , Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2046536.html, Zugriff des BFA 05.03.2021
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ÖB Moskau, Österreichische Botschaft Moskau, Stand 30.06.2021, Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/
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HRW, Human Rights Watch, Russia, 31.08.2021, https://www.hrw.org/news/2021/08/31/no-end-chechnyas-violent-anti-gay-campaign)
Rechtsschutz/Justizwesen
Es gibt in der Russischen Föderation Gerichte für Verfassungs-, Zivil-, Verwaltungs- und Strafrecht. Es gibt den Verfassungsgerichtshof, den Obersten Gerichtshof, föderale Gerichtshöfe und die Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft ist verantwortlich für Strafverfolgung und hat die Aufsicht über die Rechtmäßigkeit der Handlungen von Regierungsbeamten. Strafrechtliche Ermittlungen werden vom Ermittlungskomitee geleitet (EASO 03.2017). Die russischen Gerichte sind laut Verfassung unabhängig, allerdings kritisieren sowohl internationale Gremien (EGMR – Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, EuR – Europäischer Rat) als auch nationale Organisationen (Ombudsperson, Menschenrechtsrat) regelmäßig Missstände im russischen Justizwesen. Einerseits kommt es immer wieder zu politischen Einflussnahmen auf Prozesse, andererseits beklagen viele Bürger die schleppende Umsetzung von Urteilen bei zivilrechtlichen Prozessen (ÖB Moskau 06.2020). Der Judikative mangelt es auch an Unabhängigkeit von der Exekutive, und berufliches Weiterkommen in diesem Bereich ist an die Einhaltung der Präferenzen des Kremls gebunden (FH 03.03.2021). Auch Korruption ist im Justizsystem ein Problem (EASO 03.2017, BTI 2020).
Das russische Justizsystem ist institutionell abhängig von den Untersuchungsbeamten, die häufig die Urteile bestimmen. Politisch wichtige Fälle werden vom Kreml überwacht, und Richter haben nicht genug Autonomie, um den Ausgang zu bestimmen (ÖB Moskau 06.2020). Die Personalkommission des Präsidenten und die Vorsitzenden des Gerichts kontrollieren die Ernennung und Wiederernennung der Richter des Landes, die eher aus dem Justizsystem befördert werden, als unabhängige Erfahrungen als Anwälte zu sammeln. Änderungen der Verfassung, die im Jahr 2020 verabschiedet wurden, geben dem Präsidenten die Befugnis, mit Unterstützung des Föderationsrates, Richter am Verfassungsgericht und am Obersten Gerichtshof zu entfernen, was die ohnehin mangelnde Unabhängigkeit der Justiz weiter schädigt (FH 03.03.2021).
In Strafprozessen kommt es nur sehr selten zu Freisprüchen der Angeklagten. Am 1. Oktober 2019 trat eine Reform des russischen Gerichtswesens in Kraft, mit der eigene Gerichte für Berufungs-und Kassationsverfahren geschaffen wurden sowie die Möglichkeit von Sammelklagen eingeführt wurde. Wenngleich diese Reformen ein Schritt in die richtige Richtung sind, bleiben grundlegende Mängel des russischen Gerichtswesens bestehen (z.B. de facto „Schuldvermutung“ im Strafverfahren, informelle Einflussnahme auf die Richter etc.). Laut einer Umfrage des Lewada-Zentrums über das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen von Ende 2018, rangieren die Gerichte, die Staatsanwaltschaft und die Polizei eher im unteren Bereich. 33% der Befragten zweifeln daran, dass man den Gerichten vertrauen kann, 25% sind überzeugt, dass