TE Bvwg Erkenntnis 2021/9/16 W215 2222302-1

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Veröffentlicht am 16.09.2021
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Entscheidungsdatum

16.09.2021

Norm

AsylG 2005 §2 Abs1 Z13
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §54 Abs1 Z1
AsylG 2005 §55 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §52

Spruch


W215 2222302-1/9E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. STARK über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , Staatsangehörigkeit Russische Föderation, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 09.07.2019, Zahl 1224254509-190318711, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. bis III. des Bescheides wird gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (AsylG), in der Fassung BGBl. I Nr. 87/2012, § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG und § 57 AsylG, in der Fassung BGBl. I Nr. 68/2021, abgewiesen.

II. Im Übrigen wird der Beschwerde stattgegeben, der Bescheid hinsichtlich der bekämpften Spruchpunkte IV. bis VI. aufgehoben, eine Rückkehrentscheidung in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation gemäß § 52 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (FPG), in der Fassung BGBl. I Nr. 110/2019 iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 87/2012 (BFA-VG), in der Fassung BGBl. I Nr. 56/2018, für auf Dauer unzulässig erklärt und XXXX , wird gemäß § 54 Abs. 1 Z 1 AsylG, in der Fassung BGBl. I Nr. 87/2012,
§ 55 Abs. 1 Asyl, in der Fassung BGBl. I Nr. 56/2018, der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ für die Dauer von zwölf Monaten erteilt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz,
BGBl. Nr. 1/1930 (B-VG), in der Fassung BGBl. I Nr. 51/2012, nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der (nunmehrige) Ehegatte der Beschwerdeführerin, Herr XXXX , reiste bereits vor weit mehr als XXXX nach Österreich. Sein Asylverfahren wurde mit Bescheid des Bundesasylamtes vom XXXX gemäß § 3 AsylG abgewiesen, ihm aber gemäß § 8 AsylG der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt. Dieser Status wurde immer wieder verlängert, zuletzt mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Zahl XXXX

Die Beschwerdeführerin reiste erst XXXX Jahre später, am XXXX problemlos legal mit ihrem russischen Auslandsreisepass über den internationalen Flughafen Moskau aus ihrem Herkunftsstaat aus, am XXXX nach Österreich ein um wenige Tage danach am XXXX nach moslemischem Ritus, aber erst Monate später, am XXXX Herrn XXXX , in Österreich standesamtlich zu heiraten um mit ihm hier zu leben.

Die Beschwerdeführerin stellte am XXXX – somit erst XXXX nach ihrer Einreise in Österreich und XXXX nach der standesamtlichen Eheschließung – den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

In ihrer Erstbefragung am XXXX gab die Beschwerdeführerin hinsichtlich ihrer Fluchtgründe zusammengefasst an, sie habe ihren Ehegatten schon lange gekannt, er sei 2006 XXXX im Heimatland gewesen und deshalb verfolgt worden und sei bereits XXXX ausgereist. Der Onkel und der Bruder der Beschwerdeführerin wären für sie seit 2011 verantwortlich, diese hätten ihr den Kontakt zum nunmehrigen Ehegatten verboten. Behörden und Polizei hätten von diesem Kontakt gewusst und hätten die Beschwerdeführerin „belästigt“, sie hätten Informationen über ihren Ehemann gewollt. Seit November 2017 hätte die Beschwerdeführerin wieder Kontakt zu diesem gehabt, sie habe beschlossen, ihre Heimat zu verlassen und ihn zu heiraten. Man hätte versucht, die Beschwerdeführerin zu verheiraten, sie habe aber keinen andern Mann heiraten wollen.

Eine ergänzende Befragung folgte am 17.06.2019, worin die Beschwerdeführerin angab, gesund und nicht schwanger zu sein. Nachdem die Beschwerdeführerin bekräftigte, in der Erstbefragung am XXXX die Wahrheit gesagt zu haben, gab sie im Wesentlichen zusammengefasst an, aus Inguschetien zu stammen, einen russischen Universitätsabschluss und einen russischen Führerschein gemacht zu haben. Die Beschwerdeführerin seit XXXX alt und habe in der Russischen Föderation als XXXX gearbeitet:

„… XXXX

XXXX

F: Von wann bis wann haben Sie dann gearbeitet?

XXXX

Die Beschwerdeführerin sei am XXXX mit einem Binnenflug von Inguschetien nach Moskau gereist und habe von dort am XXXX problemlos legal über den internationalen Flughafen ihre Heimat verlassen:

„…F: Können Sie mir sagen, warum Sie Ihre Heimat verließen und in Österreich einen Asylantrag stellen? Nenn Sie ihre konkreten und Ihre individuellen Fluchtgründe dafür? Sie haben nun die Möglichkeit Ihre Fluchtgründe in einer freien Erzählung darzulegen. Sie werden aufgefordert, die Fluchtgründe, chronologisch am besten mit Daten, Fakten und Details wiederzugeben.

A: Ich durfte meinen jetzigen Mann nicht kontaktieren. Es gab Probleme nachdem er weggefahren ist. Man wusste dass ich mit ihm in Kontakt war und forderte von mir Informationen über ihn. Obwohl ich nicht gewusst habe, wo er sich befunden hat.

[…]

F: Wiederholung der Frage: Wie haben die Probleme ausgesehen nachdem Ihr zukünftiger Mann weg war? Nennen Sie bitte Details!

A: Mitgenommen wurde ich nicht, aber man hat mich aufgefordert dorthin zu kommen.

F: Wohin zu kommen?

A: Zur Polizeistation. Man hat mir vorgeworfen dass ich mit ihm in Kontakt stehe. Man hat mich gefragt wo er ist.

F: Wie oft kam es zu solchen Vorfällen?

A: 4-5 Mal oder so.

F: Wurden Sie nur befragt oder wurde ihnen auch sonst etwas angetan?

A: Nein, ich wurde nur befragt, es wurde mir keine Gewalt angetan. Dann habe ich ja selbst beim XXXX gearbeitet. Deswegen hat man nicht mehr riskiert mich zu befragen. Befragt gebe ich an, dass das ca. 2012 war. Da haben Sie mich dann in Ruhe gelassen.

[…]

F: Wann wollten dann ihr Onkel und Ihr Bruder sie verheiraten?

A: Nach dem Tod meines Vaters. Mein Vater hat nie Druck deswegen ausgeübt. Bei uns zu Hause, funktioniert das so, dass die Kandidaten vorgeführt werden. Das war nicht einmal, das passierte immer wieder. Ich habe mich aber immer wiedersetzt. Deswegen hat es aber Schwierigkeiten gegeben. man hat mir vorgeworfen, dass ich nicht folge und als Frau müsste ich das tun. Bei uns gibt es keine Meinungsfreiheit als Frau.

F: Was meinen Sie wenn sie von Schwierigkeiten sprechen?

A: Mein Bruder hat Gewalt gegen mich angewandt hat. Wissen Sie, ich habe zwei Brüder gehabt. Die waren völlig verschieden. Mit XXXX habe ich mich immer gut verstanden. Der andere Bruder ist ganz ein anderer Mensch.

F: Wann ist Ihr Bruder gewalttätig gegen Sie geworden?

A: Ich werde es ihnen gleich sagen.

Anm. AW überlegt.

A: 2013 und dann hin und wieder zweitweise. 2016 bin ich nach Moskau gefahren. Ich habe damals Urlaub genommen. Ich dachte darüber nach in Moskau zu bleiben und dort arbeiten werde. Aber das war nicht realistisch.

F: Warum nicht?

A: Es hat ständig Unterdrückungen gegeben und Streitigkeiten. Mein Vater hat mir immer gesagt, dass ich arbeiten soll, aber mein Bruder war immer dagegen. Diesbezüglich gab es viele Probleme mit ihm.

F: Aber Sie haben sich durchgesetzt!

A: Ja habe ich, ich bin eine Frau mit Charakter. Man wollte mich brechen, aber es ist ihnen nicht gelungen.

F: Was genau hat Ihr Bruder dann getan, wenn er gewalttätig wurde.

A: Er hat mich geschlagen, meine Mutter wollte es verhindern aber es hat nichts gebracht.

F: Warum haben Sie es nicht angezeigt?

A: Es gilt als Schande wenn man es meldet. In XXXX habe ich auch alle Beamten gekannt, deswegen war es beschämend eine Anzeige gegen meinen eigenen Bruder zu schreiben: ich wollte nicht, dass jemand weiß was mein Bruder macht.

F: Hat Ihr Onkel etwas getan?

A: Nein, er hat mir nie Gewalt angetan. Aber er hat mit immer gesagt, was ich zu tun habe. Es war mir aber egal, wir haben gestritten aber ich habe getan was ich wollte. Man hat mir ständig gesagt, ich soll heiraten und Kinder bekommen weil ich eine Frau bin. Man wollte das ich mit irgendeinem Mann leben, der mich nicht interessiert.

F: Wieso sind Sie dann aber nicht in Moskau geblieben?

A: Nein, das wäre nicht gegangen. Da habe ich eine innere Sperre.

F: Weswegen?

A: Es geht um meinen Bruder. Ich wollte ihn nicht anzeigen.

F: Wurden Sie aufgrund, Ihrer Religion, politischen Gesinnung, Rasse, soziale Gruppe oder Nationalität bedroht?

A: Nein.

F: Wurden Sie in Ihrer Heimat jemals persönlich bedroht?

A: In der inguschetischen Sprache gibt es einen Ausdruck der heißt quasi ich bringe dich um, das hat mein Bruder zu mir auch gesagt. Das hat er einige Male zu mir gesagt. Ansonsten gab es nichts dergleichen.

F: Haben Sie nun alle Fluchtgründe genannt, auch jene, nach denen nicht exakt gefragt wurde?

A: Ja habe ich.

[…]

F: Bezüglich Ihres Fluchtgrundes möchten Sie noch etwas sagen, wonach ich nicht

konkret gefragt habe?

A: Ich habe alles gesagt…“

Weiters gab die Beschwerdeführerin an, keiner Beschäftigung nachzugehen, ihr Ehegatte könne XXXX nicht arbeiten, sie leben in Österreich in einer Sozialwohnung. Die Beschwerdeführerin habe Kurse besucht und wolle noch einen besuchen.

Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 09.07.2019, Zahl 1224254509-190318711, wurde der Antrag der Beschwerdeführerin auf internationalen Schutz vom XXXX gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm
§ 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation (Spruchpunkt II.) abgewiesen, gemäß § 57 AsylG ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt (Spruchpunkt III.), gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass ihre Abschiebung nach Russische Föderation gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt V.). Die Frist für ihre freiwillige Ausreise wurde gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).

Gegen diesen Bescheid, zugestellt am 16.07.2019, erhob die aus Inguschetien stammende und der Volksgruppe der Inguschen angehörende Beschwerdeführerin am 08.08.2019 fristgerecht die gegenständliche Beschwerde. Darin wird im Wesentlichen vorgebracht, dass ihr Bruder und ihr Onkel sie nach dem Tod des Vaters zwangsverheiraten hätten wollten, da Zwangsverheiratungen in „Tschetschenien“ (Anmerkung: wörtliches Zitat) üblich seien, sei keine Hilfe von den Behörden zu erwarten gewesen. Der Ehegatte habe mit Bescheid den Status eines subsidiär Schutzberechtigten erhalten. Im Falle einer Rückkehr nach „Tschetschenien“ (Anmerkung: wörtliches Zitat) würde ihr Bruder weiterhin versuchen, die Beschwerdeführerin gegen ihren Willen zu verheiraten. Mit dem Ehegatten sei die Beschwerdeführerin seit XXXX „traditionell“ und seit dem XXXX standesamtlich verheiratet. Eine Rückkehrentscheidung sei unzulässig, da in das Privat- und Familienleben der Beschwerdeführerin eingegriffen würde, der XXXX bedürfe der Hilfe der Beschwerdeführerin.

2. Die Beschwerdevorlage vom 09.08.2019 langte am 12.08.2019 im Bundesverwaltungsgericht ein. Nach einer Unzuständigkeitseinrede wurde das Verfahren am 12.11.2019 der nunmehr zur Entscheidung berufenen Gerichtsabteilung zugewiesen.

Am 06.12.2019 wurde eine Deutschkursbestätigung Niveau A2+ übermittelt.

Am XXXX kam XXXX , die Tochter der Beschwerdeführerin und ihres Ehegatten Herrn XXXX in Österreich zur Welt.

Zur Ermittlung des maßgeblichen Sachverhaltes wurde für den 17.05.2021 eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht anberaumt. Es erschien die Beschwerdeführerin ohne ihren Vertreter:

„…R: Sie haben Anspruch darauf, dass Ihr Rechtsberater zur Verhandlung erscheint. Wie Ihnen bereits, zusammen mit der Ladung für die heutige Verhandlung, schriftlich zur Kenntnis gebracht wurde, müssen Sie Ihren Rechtsberater über den Verhandlungstermin informieren. Heute ist niemand von der BBU erschienen. Wollen Sie heute ohne Rechtsberater verhandeln, oder wollen Sie lieber einen neuen Verhandlungstermin von dem Sie Ihren, für Sie kostenlosen Rechtsberater, informieren?

P: Nein, ich will heute verhandeln, mein Vertreter wird heute nicht erscheinen, aber wie bereits gesagt, bleibt die Vollmacht für PV aufrecht und ich ersuche weiterhin, an PV zuzustellen.

R: Sind Sie sich absolut sicher, dass Sie heute ohne Rechtsberater verhandeln wollen?

P: Ja, ich bin sicher, ohne PV und ohne BBU…“ (Verhandlungsschrift Seite 03)

Das ordnungsgemäß geladene Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl war unentschuldigt nicht erschienen. In der Verhandlung wurden die Quellen der zur Entscheidungsfindung herangezogenen Länderinformationen dargetan. Die Beschwerdeführerin verzichtete auf Einsichtnahme und Ausfolgung. Das Bundesverwaltungsgericht räumte den Verfahrensparteien vor Schluss der Verhandlung eine Frist zur Abgabe von Stellungnahmen ein.


II. Das Bundesverwaltungsgericht hat über die zulässige Beschwerde erwogen:

1. Feststellungen:

a) Zu den persönlichen Verhältnissen der Beschwerdeführerin:

Die Identität der Beschwerdeführerin steht fest. Die Beschwerdeführerin ist Staatsangehörige der Russische Föderation, stammt aus Inguschetien gehört der Volksgruppe der Inguschen an, beherrscht Iguschisch und Russisch und ist moslemischem Glaubens.

b) Zum bisherigen Verfahrensverlauf:

Der (mittlerweile) Ehegatte der Beschwerdeführerin, Herr XXXX , ebenfalls Staatsangehöriger der Russischen Föderation, reiste vor sehr langer Zeit nach Österreich und sein Antrag auf internationalen Schutz wurde bereits vor XXXX Jahren mit Bescheid des Bundesasylamtes vom XXXX gemäß § 3 AsylG abgewiesen, ihm aber gemäß § 8 AsylG der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt. Dieser Status wurde immer wieder verlängert, zuletzt mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Zahl XXXX

Die Beschwerdeführerin reiste erst, XXXX Jahre danach, am XXXX problemlos legal über den internationalen Flughafen Moskau mit ihrem russischen Auslandsreisepass aus dem Herkunftsstaat aus und am XXXX mit einem XXXX in das österreichische Bundesgebiet ein um bei Herrn XXXX einzuziehen und eine Ehe zu schließen.

Sie stellte erst - mehr als XXXX Monate nach ihrer Einreise und XXXX Monate nachdem sie Herrn XXXX standesamtlich geheiratet hatte - am XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz.

Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 09.07.2019, Zahl 1224254509-190318711, wurde der Antrag auf internationalen Schutz der Beschwerdeführerin vom XXXX bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf ihren Herkunftsstaat Russische Föderation gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Gemäß § 57 AsylG wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt (Spruchpunkt III.) und gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung der Beschwerdeführerin „nach“ Russische Föderation gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).

Gegen diesen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl erhob die Beschwerdeführerin fristgerecht am 08.08.2019 die gegenständliche Beschwerde.

Am XXXX kam XXXX , die Tochter der Beschwerdeführerin und ihres Ehegatten Herrn XXXX in Österreich zur Welt. Der Antrag auf internationalen Schutz der gemeinsamen Tochter wurde mit rechtskräftigem Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zahl XXXX , gemäß § 3 AsylG abgewiesen, aber der Tochter im Familienverfahren, wegen ihres Vaters, gemäß § 8 AsylG der Status des subsidiär Schutzberechtigten bis XXXX zuerkannt.

Zur Ermittlung des maßgeblichen Sachverhaltes wurde für den 17.05.2021 eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht anberaumt.

c) Zu den behaupteten Fluchtgründen der Beschwerdeführerin:

Die Beschwerdeführerin reiste problemlos legal aus ihrem Herkunftsstaat aus, hielt sich bereits seit XXXX in Österreich auf heiratet standesamtlich am XXXX Herrn XXXX und stellte erst mehr als XXXX Monate nach der Einreise bzw. XXXX Monate nach der Eheschließung am XXXX gegenständlichen Antrag internationalen Schutz um damit, unter bewusster Umgehung der fremdenrechtlichen Migrations- bzw. Einwanderungsbestimmungen, ihren weiteren Aufenthalt in Österreich zu erzwingen.

Es kann nicht festgestellt werden, dass die Beschwerdeführerin am XXXX die Russische Föderation verlassen hat, weil sie wegen ihres späteren Ehegatten Herrn XXXX (der sich seit mehr als XXXX Jahren in Österreich aufhält, dem aber hier mangels Verfolgung kein Asyl gewährt wurde), bis zum Jahr 2012 verfolgt wurde oder vor ihrer Ausreise als - mit Universitätsausbildung, Führerschein und beruflich erfolgreich durch die Russische Föderation reisende XXXX Frau - Angst vor einer Zwangsehe gehabt hätte. Die Beschwerdeführerin, die zu ihren angeblichen Fluchtgründen, bis zuletzt in der Beschwerdeverhandlung bewusst unwahre Angaben gemacht hat, ist tatsächlich nicht nach Österreich gereist, weil sie irgendeiner Gefährdungslage in der Russischen Föderation ausgesetzt war, sondern ausschließlich deshalb, weil sie mit Herrn XXXX , dem mit Bescheid des Bundesasylamtes vom XXXX der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt worden war, in Österreich leben und eine Familie gründen wollt; was sie auch gemacht hat.

d) Zu einer möglichen Rückkehr der Beschwerdeführerin in ihren Herkunftsstaat:

Bis zur Ausreise aus der Russischen Föderation am XXXX lebte die, in der XXXX geborene, Beschwerdeführerin in XXXX . Die Beschwerdeführerin erlangte nach der Grundschule ein Universitätsdiplom XXXX und ein Diplom der XXXX und war in der Russischen Föderation in mehreren Berufen XXXX jahrelang tätig. Zahlreiche Verwandte leben nach wie vor in der Russischen Föderation.

Die gesunde Beschwerdeführerin ist im arbeitsfähigen Alter und hat bis zum Monat ihrer legalen Ausreise gearbeitet. Sie hat nie behauptet, wegen schlechter wirtschaftlicher Verhältnissen ausgereist zu sein oder an Hunger gelitten zu haben. Sie hat nicht angegeben im Herkunftsstaat Gefahr zu laufen, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Die Beschwerdeführerin kann ihre Bedürfnisse des täglichen Lebens nach ihrer Rückkehr wieder durch Einkommen aus eigener Erwerbsarbeit stillen, ihre Existenzgrundlage ist damit gesichert. Es kann nicht festgestellt werden, dass die Beschwerdeführerin im Fall ihrer Rückkehr in die Russische Föderation in eine ihre Existenz gefährdende Notsituation geraten würde.

e) Zum Privat- und Familienleben der Beschwerdeführerin in Österreich:

Die Beschwerdeführerin reiste bereits am XXXX legal mit einem XXXX Visum in das Bundesgebiet ein, stellte erst mehr als XXXX Monate danach einen Antrag auf internationalen Schutz, geht keiner Beschäftigung nach, hat jedoch mehrere Deutschkurse und Deutschprüfungen bestanden, sowie die Integrationsprüfung des Österreichischen Integrationsfonds am XXXX erfolgreich auf dem Niveau B1, sprach in der Beschwerdeverhandlung am 17.05.2021 aber nur gebrochen Deutsch. Das gemeinsame Familienleben findet im selben Haushalt mit der am XXXX in Österreich geborenen Tochter XXXX und dem am XXXX standesamtlich geehelichten Gatten Herrn XXXX beide ebenfalls Staatsangehörige der Russischen Föderation, statt. Die Familie lebt in Österreich in einer Sozialwohnung und von staatlicher Unterstützung.

Die Beschwerdeführerin ist kein Mitglied in einem Verein oder einer sonstigen Organisation; allfällige freundschaftliche Beziehungen sind zu einem Zeitpunkt entstanden, in dem sich die Beschwerdeführerin ihrer unsicheren aufenthaltsrechtlichen Stellung bewusst sein musste.

In Österreich lebt bereits seit mehr als XXXX Jahren der Ehegatte der Beschwerdeführerin als subsidiär Schutzberechtigter; er geht keiner Beschäftigung nach. Auch der gemeinsamen Tochter wurde mit rechtskräftigem Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zahl XXXX , im Familienverfahren wegen ihres Vaters gemäß § 8 AsylG den Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und eine befristete Aufenthaltsberechtigung für subsidiär Schutzberechtigte erteilt.

f) Zur aktuellen Lage im Herkunftsstaat der Beschwerdeführerin:

Politische Lage

Die Russische Föderation hat mehr als 142,3 Millionen Einwohner (Stand Juli 2021) und ist schätzungsweis ca. 1,8 Mal so groß wie die die U.S.A. (CIA Factbook letzte Aktualisierung 23.08.2021, abgefragt am 02.09.2021).

Der Präsident verfügt über weitreichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik (GIZ 01.2021a; EASO 03.2017, AA 21.10.2020c). Er ernennt auf Vorschlag der Staatsduma den Vorsitzenden der Regierung, die stellvertretenden Vorsitzenden und die Minister, und entlässt sie (GIZ 01.2021a). Wladimir Putin ist im März 2018 bei der Präsidentschaftswahl mit 76,7% im Amt bestätigt worden (Standard.at 19.03.2018; FH 04.3.2020). Die Wahlbeteiligung lag der russischen Nachrichtenagentur TASS zufolge bei knapp 67% und erfüllte damit nicht ganz die Erwartungen der Präsidialadministration (Standard.at 19.03.2018). Putins wohl stärkster Widersacher Alexej Nawalny durfte nicht bei der Wahl kandidieren. Er war zuvor in einem von vielen als politisch motiviert eingestuften Prozess verurteilt worden und rief daraufhin zum Boykott der Abstimmung auf, um die Wahlbeteiligung zu drücken (Presse.at 19.03.2018; vgl. FH 03.03.2021). Oppositionelle Politiker und die Wahlbeobachtergruppe Golos hatten mehr als 2.400 Verstöße gezählt, darunter mehrfach abgegebene Stimmen und die Behinderung von Wahlbeobachtern. Wähler waren demnach auch massiv unter Druck gesetzt worden, an der Wahl teilzunehmen. Auch die Wahlkommission wies auf mutmaßliche Manipulationen hin (Tagesschau.de 19.03.2018). Wahlbetrug ist weit verbreitet, was insbesondere im Nordkaukasus deutlich wird (BTI 2020). Präsident Putin kann dem Ergebnis zufolge nach vielen Jahren an der Staatsspitze weitere sechs Jahre das Land führen (Tagesschau.de 19.03.2018; vgl. OSCE/ODIHR 18.03.2018).

Die Verfassung wurde per Referendum am 12.12.1993 mit 58% der Stimmen angenommen. Sie garantiert die Menschen- und Bürgerrechte. Das Prinzip der Gewaltenteilung ist zwar in der Verfassung verankert, jedoch verfügt der Präsident über eine Machtfülle, die ihn weitgehend unabhängig regieren lässt. Er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, trägt die Verantwortung für die Innen- und Außenpolitik und kann die Gesetzesentwürfe des Parlaments blockieren. Die Regierung ist dem Präsidenten untergeordnet, der den Premierminister mit Zustimmung der Staatsduma ernennt. Das Zweikammerparlament, bestehend aus Staatsduma und Föderationsrat, ist in seinem Einfluss stark beschränkt. Am 15. Januar 2020 hat Putin in seiner jährlichen Rede zur Lage der Nation eine Neuordnung des politischen Systems vorgeschlagen und eine Reihe von Verfassungsänderungen angekündigt. Dmitri Medwedjew hat den Rücktritt seiner Regierung erklärt. Sein Nachfolger ist der Leiter der russischen Steuerbehörde Michail Mischustin. In dem neuen Kabinett sind 15 von 31 Regierungsmitgliedern ausgewechselt worden (GIZ 01.2021a). Die Verfassungsänderungen ermöglichen Wladimir Putin, für zwei weitere Amtszeiten als Präsident zu kandidieren (GIZ 01.2021a; vgl. FH 03.03.2021), dies gilt aber nicht für weitere Präsidenten (FH 03.03.2021). Die Volksabstimmung über eine umfassend geänderte Verfassung fand am 1. Juli 2020 statt, nachdem sie aufgrund der Corona-Pandemie verschoben worden war. Bei einer Wahlbeteiligung von ca. 65% der Stimmberechtigten stimmten laut russischer Wahlkommission knapp 78% für und mehr als 21% gegen die Verfassungsänderungen. Neben der sogenannten Nullsetzung der bisherigen Amtszeiten des Präsidenten, durch die der amtierende Präsident 2024 und theoretisch auch 2030 zwei weitere Male kandidieren darf, wird das staatliche Selbstverständnis der Russischen Föderation in vielen Bereichen neu definiert. Der neue Verfassungstext beinhaltet deutlich sozialere und konservativere Inhalte als die Ursprungsverfassung aus dem Jahre 1993 (GIZ 01.2021a). Nach dem Referendum kam es zu Protesten von einigen hundert Personen in Moskau. Bei dieser nicht genehmigten Demonstration wurden 140 Personen festgenommen. Auch in St. Petersburg gab es Proteste (MDR 16.07.2020).

Der Föderationsrat ist als 'obere Parlamentskammer' das Verfassungsorgan, das die Föderationssubjekte auf föderaler Ebene vertritt. Er besteht aus 178 Abgeordneten (GIZ 01.2021a): Jedes Föderationssubjekt entsendet je einen Vertreter aus Exekutive und Legislative in den Föderationsrat. Die Staatsduma mit 450 Sitzen wird für fünf Jahre gewählt (GIZ 01.2021a; AA 21.10.2021c). Es gibt eine Fünfprozentklausel (GIZ 01.2021a).

Zu den wichtigen Parteien der Russischen Föderation gehören: die Regierungspartei Einiges Russland (Jedinaja Rossija) mit 1,9 Millionen Mitgliedern; Gerechtes Russland (Sprawedliwaja Rossija) mit 400.000 Mitgliedern; die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) mit 150.000 Mitgliedern, welche die Nachfolgepartei der früheren KP ist; die Liberaldemokratische Partei (LDPR) mit 185.000 Mitgliedern, die populistisch und nationalistisch ausgerichtet ist; die Wachstumspartei (Partija Rosta), die sich zum Neoliberalismus bekennt; Jabloko, eine demokratisch-liberale Partei mit 55.000 Mitgliedern; die Patrioten Russlands (Patrioty Rossii), links-zentristisch mit 85.000 Mitgliedern und die Partei der Volksfreiheit (PARNAS), eine demokratisch-liberale Partei mit 58.000 Mitgliedern (GIZ 1.2021a). Die Zusammensetzung der Staatsduma nach Parteimitgliedschaft gliedert sich wie folgt: Einiges Russland (343 Sitze), Kommunistische Partei Russlands (42 Sitze), Liberaldemokratische Partei Russlands (39 Sitze), Gerechtes Russland (23 Sitze), Vaterland-Partei (1 Sitz), Bürgerplattform (1 Sitz) (RIA Nowosti 23.09.2016; vgl. Global Security 21.09.2016, FH 03.03.2021). Die sogenannte Systemopposition stellt die etablierten Machtverhältnisse nicht in Frage und übt nur moderate Kritik am Kreml (SWP 11.2018). Die nächste Duma-Wahl steht im Herbst 2021 an (Standard.at 01.01.2021).

Russland ist eine Föderation, die aus 85 Föderationssubjekten (einschließlich der international nicht anerkannten Annexion der Republik Krim und der Stadt föderalen Ranges Sewastopol) mit unterschiedlichem Autonomiegrad besteht. Die Föderationssubjekte (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Gebiete, Regionen und Föderale Städte) verfügen über jeweils eine eigene Legislative und Exekutive (GIZ 01.2021a; vgl. AA 21.10.2020c). Die Gouverneure der Föderationssubjekte werden auf Vorschlag der jeweils stärksten Fraktion der regionalen Parlamente vom Staatspräsidenten ernannt. Dabei wählt der Präsident aus einer Liste dreier vorgeschlagener Kandidaten den Gouverneur aus (GIZ 01.2021a).

Es gibt acht Föderationskreise (Nordwestrussland, Zentralrussland, Südrussland, Nordkaukasus, Wolga, Ural, Sibirien, Ferner Osten), denen jeweils ein Bevollmächtigter des Präsidenten vorsteht. Der Staatsrat der Gouverneure tagt unter Leitung des Präsidenten und gibt der Exekutive Empfehlungen zu aktuellen politischen Fragen und zu Gesetzesprojekten. Nach der Eingliederung der Republik Krim und der Stadt Sewastopol in die Russische Föderation wurde am 21.3.2014 der neunte Föderationskreis Krim gegründet. Die konsequente Rezentralisierung der Staatsverwaltung führt seit 2000 zu politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit der Regionen vom Zentrum. Diese Tendenzen wurden bei der Abschaffung der Direktwahl der Gouverneure in den Regionen und der erneuten Unterordnung der regionalen und kommunalen Machtorgane unter das föderale Zentrum („exekutive Machtvertikale“) deutlich (GIZ 01.2021a).

Bei den in einigen Regionen stattgefundenen Regionalwahlen am 08.09.2019 hat die Regierungspartei Einiges Russland laut Angaben der Wahlleitung in den meisten Regionen ihre Mehrheit verteidigt. Im umkämpften Moskauer Stadtrat verlor sie allerdings viele Mandate (Zeit Online 09.09.2019). Hier stellt die Partei nur noch 25 von 45 Vertretern, zuvor waren es 38. Die Kommunisten, die bisher fünf Stadträte stellten, bekommen 13 Sitze. Die liberale Jabloko-Partei bekommt vier und die linksgerichtete Partei Gerechtes Russland drei Sitze (ORF 18.09.2019). Die beiden letzten Parteien waren bisher nicht im Moskauer Stadtrat vertreten. Zuvor sind zahlreiche Oppositionskandidaten von der Wahl ausgeschlossen worden, was zu den größten Protesten seit Jahren geführt hat (Zeit Online 09.09.2019), bei denen mehr als 1.000 Demonstranten festgenommen wurden (Kleine Zeitung 28.07.2019). Viele von den Oppositionskandidaten haben zu einer 'smarten Abstimmung' aufgerufen. Die Bürgersollten Jeden wählen – nur nicht die Kandidaten der Regierungspartei. Bei den für die russische Regierung besonders wichtigen Gouverneurswahlen gewannen die Kandidaten der Regierungspartei überall (Zeit Online 09.09.2019).

Neben den bis Juli 2021 verlängerten wirtschaftlichen Sanktionen wegen des andauernden Ukraine-Konfliktes (Presse.com 10.12.2020) haben sich die EU-Außenminister wegen der Inhaftierung des Kremlkritikers Alexej Nawalny auf neue Russland-Sanktionen geeinigt. Die Strafmaßnahmen umfassen Vermögenssperren und EU-Einreiseverbote gegen Verantwortliche für die Inhaftierung Nawalnys (Cicero 22.02.2021).

Nach rund drei Wochen hat der in einem Straflager inhaftierte Oppositionelle Alexej Nawalny am 23.04.2021 das Ende seines Hungerstreiks angekündigt. Nawalny hatte das Essen verweigert, um so gegen die unzureichende medizinische Versorgung zu protestieren. Nawalnys Ärzte hatten am 22.04.2021 in einem von Medien veröffentlichten Brief an den 44-Jährigen appelliert, seinen Hungerstreik sofort zu beenden. Die Ärzte hatten nach eigenen Angaben die vorliegenden Untersuchungsergebnisse ausgewertet. Nach Angaben des Bürgerrechtsportals Ovd-Info sind am 21.04.2021 bei landesweiten Demonstrationen für die Freilassung Nawalnys bis zu 2000 Menschen festgenommen worden. Allein bei der Kundgebung in St. Petersburg habe die Polizei mehr als 350 Demonstrierende in Gewahrsam genommen. Insgesamt listete das Portal Festnahmen in mehr als 80 Städten auf. Die Behörden hatten davor gewarnt, an den nicht genehmigten Protesten teilzunehmen. In Moskau sei die Demonstration hingegen ohne größere Zwischenfälle verlaufen. Im Stadtzentrum waren Tausende Menschen auf den Straßen, um Nawalny zu unterstützen. Viele forderten auch den Rücktritt des russischen Präsidenten Putin, dem sie die Unterdrückung Andersdenkender vorwerfen. Insgesamt nahmen wesentlich weniger Demonstrierende an den Kundgebungen teil als im Januar und Februar 2021. Dies dürfte vor allem darauf zurückzuführen sein, dass bei den vorangegangenen landesweiten Solidaritäts-Demonstrationen mehr als 11.000 Menschen festgenommen worden waren und die Sicherheitskräfte mit teils massiver Härte gegen die Protestierenden vorgingen (BAMF 26.04.2021).

Die Büros der Organisation des russischen Putin-Kritikers Alexej Nawalny dürfen nicht mehr tätig sein. Die Regionalbüros wurden vom Staat am 30.04.2021 als extremistisch eingestuft und stehen jetzt auf der Liste der terroristischen und extremistischen Organisationen der Finanzaufsichtsbehörde Rosfinmonitoring, die kurz zuvor eine entsprechende Aktualisierung ihrer Liste angekündigt hatte. Die russische Staatsanwaltschaft hatte am 27.04.2021 beantragt, Nawalnys Antikorruptionsstiftung FBK und das Netzwerk regionaler Organisationen des Regierungskritikers als extremistisch einzustufen und damit die Arbeit der Organisationen komplett zu verbieten. Mitgliedern und Unterstützern könnten dann lange Haftstrafen drohen. Daraufhin hatten sich die Regionalbüros am 27.04.2021 selbst aufgelöst, um möglicherweise einem kompletten Verbot infolge der befürchteten Einstufung als extremistisch zuvorzukommen. Einige der insgesamt 37 Büros wollen versuchen, ihre Aktivitäten als neue unabhängige politische Organisationen fortzusetzen. Die Regionalbüros sind bei Wahlen in den vergangenen Jahren für die Opposition wichtig gewesen, da sie immer wieder Kampagnen für sogenanntes intelligentes Wählen organisierten. Dabei riefen sie dazu auf, unabhängig von der Partei für jenen Kandidaten zu stimmen, der die besten Aussichten gegen den Kandidaten der Kreml-Partei Geeintes Russland hatte. Vor der Einstufung der Regionalbüros als extremistisch war am 30.04.21 auch bekannt geworden, dass in Moskau der prominente Anwalt Iwan Pawlow vom russischen Inlandsgeheimdienst FSB festgenommen worden ist. Die von Pawlow geführte Anwaltsorganisation Komanda 29 vertritt u.a. die Bewegung um den inhaftierten Nawalny (BAMF 03.05.2021).

Nachdem die Regionalbüros des Netzwerkes von Alexej Nawalny bereits seitens der russischen Finanzaufsichtsbehörde zu „terroristischen und extremistischen Organisationen“ erklärt worden waren (vgl. BN v. 03.05.2021), hat das Moskauer Stadtgericht am 09.06.21 alle drei zum Netzwerk gehörenden Organisationen, d.h. neben den Regionalbüros auch die Antikorruptionsstiftung FBK und den Bürgerrechtsfonds FZPG, als „extremistisch“ eingestuft und somit offiziell verboten. Das Gericht folgte damit dem Antrag der Staatsanwaltschaft, die Nawalnys Organisationen der Destabilisierung der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse im Land beschuldigt hatte. In der Folge drohen Mitarbeitenden, Spendenden und sonstigen Unterstützenden des Netzwerkes (sofern sie ihre Tätigkeit fortsetzen) bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe sowie seit Kurzem der Ausschluss von der Parlamentswahl im September 2021. Hintergrund ist eine von Präsident Putin am 04.06.2021 unterzeichnete Gesetzesnovelle, die Personen mit aktuellen wie auch zurückliegenden Verbindungen zu „extremistischen“ Vereinigungen das passive Wahlrecht für mehrere Jahre entzieht. Beobachter sehen in dem Gerichtsurteil einen schweren, wenn auch erwartbaren „Schlag“ gegen Nawalny und die russische Opposition insgesamt. Medienberichten zufolge kündigten Nawalnys Anwälte umgehend Berufung an; auch eine Fortsetzung der Arbeit des Netzwerkes unter neuem Namen stehe im Raum (BAMF 14.06.2021).

Gegen den inhaftierten Putin-Kritiker Alexej Nawalny ist eine neue Anklage erhoben worden, die seine Gefängnisstrafe deutlich verlängern könnte. Ihm werde die Gründung einer rechtswidrigen Organisation vorgeworfen, erklärte das für schwere Straftaten zuständige Ermittlungskomitee. Im Falle einer Verurteilung drohen Nawalny zusätzlich drei Jahre Gefängnis. Konkret geht es um Nawalnys Anti-Korruptionsstiftung FBK, die inzwischen in Russland als extremistisch eingestuft und im Juni 2021 verboten worden ist. Nawalny wird vorgeworfen, mit der Organisation die „Rechte der Bürger verletzt“ zu haben. Die FBK war vor zehn Jahren 14 gegründet worden und veröffentlichte seitdem u.a. mehrere Videos über versteckte Vermögen und Luxus Besitztümer von russischen Amtsträgern, insbesondere von Ministerpräsident Medwedjew und Präsident Putin. Die russische Opposition wirft der Führung in Moskau vor, im Vorlauf der geplanten Parlamentswahl im September 2021 eine massive Einschüchterungskampagne gegen regierungskritische Personen zu führen. Russischen Staatsmedien zufolge ist Ljubow Sobol, eine der engsten Unterstützerinnen Nawalnys, am 08.08.21 ausgereist, um der Vollstreckung eines Urteils zuvorzukommen (BAMF 16.08.2021).

(CIA, The World Factbook, Russland, letzte Aktualisierung am 23.08.2021, abgefragt am 02.09.2021, https://www.cia.gov/the-world-factbook/countries/russia/

AA, Auswärtiges Amt [Deutschland] (21.10.2020c), Russische Föderation – Politisches Portrait, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/russischefoederation-node/politisches-portrait/201710, Zugriff des BFA 16.02.2021

BTI, Bertelsmann Transformation Index (2020), BTI 2020 Country Report, Russia, https://bti-project.org/content/en/downloads/reports/country_report_2020_RUS.pdf, Zugriff des BFA 17.02.2021

CIA, Central Intelligence Agency [USA] (05.02.2020): The World Factbook, Central Asia: Russia, https://www.cia.gov/the-world-factbook/countries/russia/, Zugriff des BFA 16.02.2021

Cicero (22.02.2021): EU bringt wegen Nawalny neue Russland-Sanktionen auf den Weg, https://www.cicero.de/aussenpolitik/vermoegenssperren-einreiseverbote-eu-alexej-nawalny-russland-sanktionen, Zugriff des BFA 24.02.2021

EASO, European Asylum Support Office [EU] (03.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff des BFA 10.30.2020

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MDR, Mitteldeutscher Rundfunk (16.07.2020): Mehr als 140 Demonstranten in Moskau festgenommen, https://www.mdr.de/nachrichten/politik/ausland/festnahme-moskau-putin-kritiker-bei-protest-100.html, Zugriff des BFA 21.07.2020

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Standard.at (01.01.2021): Was 2021 außenpolitisch auf uns zukommt, https://www.derstandard.at/story/2000122723655/was-2021-aussenpolitisch-auf-uns-zukommt, Zugriff des BFA 05.03.2021

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Zeit Online (09.09.2019), Russische Regierungspartei gewinnt Regionalwahlen, https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-09/russland-kreml-partei-sieg-regionalwahlen-moskau, Zugriff des BFA 10.03.2020

BAMF, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Briefing Note, 26.04.2021, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2021/briefingnotes-kw17-2021.pdf?__blob=publicationFile&v=3

BAMF, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Briefing Note, 03.05.2021, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2021/briefingnotes-kw18-2021.pdf?__blob=publicationFile&v=3

BAMF, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Briefing Note, 14.06.2021, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2021/briefingnotes-kw24-2021.pdf?__blob=publicationFile&v=2

BAMF, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Briefing Note, 16.08.2021, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2021/briefingnotes-kw33-2021.pdf?__blob=publicationFile&v=4)

Sicherheitslage

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen. Todesopfer forderte zuletzt ein Terroranschlag in der Metro von St. Petersburg im April 2017. Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf. Seien Sie weiterhin insbesondere an belebten Orten, bei Menschenansammlungen und bei der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel besonders aufmerksam. Insbesondere in Moskau und St. Petersburg, aber auch in anderen großen Städten kann es im Zusammenhang mit nicht genehmigten Kundgebungen und Demonstrationen zu einem massiven, zum Teil gewaltsamen Vorgehen der Sicherheitskräfte kommen. Ein Aufenthalt auch in der Nähe von nicht genehmigten Veranstaltungen sollte unbedingt vermieden werden. In den touristischen Zentren russischer Städte sowie in größeren Menschenansammlungen und in öffentlichen Verkehrsmitteln wie der Metro kommt es zu Kleinkriminalität wie Taschendiebstahl. Wie auch in anderen Großstädten kann es in Bars und Clubs russischer Großstädte zu Straftaten und vereinzelt dem Einsatz von K.o.-Tropfen kommen. Bewusstlose Personen können Opfer sexueller Gewalt werden oder sich im Freien wiederfinden, was in den Wintermonaten lebensgefährlich sein kann. In nur offiziell aussehenden, aber nicht lizensierten Taxis sind Touristen Opfer von Straftaten geworden (AA Reise- und Sicherheitshinweise Stand 04.09.2021).

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen (AA 07.04.2021a; GIZ 01.2021d, EDA 07.04.2021). Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 07.04.2021a; EDA 07.04.2021). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 07.04.2021).

Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderte Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Die gewaltsamen Zwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem ägyptischen Sinai mit 224 Todesopfern (SWP 04.2017). Seitdem war der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken sollte (SWP 04.2017; vgl. Deutschlandfunk 29.09.2020). Der Einsatz in Syrien ist der größte und längste Auslandseinsatz des russischen Militärs seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Zunächst sollten nur die Luftstreitkräfte die syrische Armee unterstützen. Bodentruppen wurden erst später und in geringerem Maße mobilisiert - in Form von Spezialeinheiten und schließlich am Ende des Feldzugs als Militärpolizei. Es gab auch Berichte über den Einsatz privater paramilitärischer Strukturen (DW 29.09.2020). Hier ist vor allem die 'Gruppe Wagner' zu nennen. Es handelt sich hierbei um einen privaten russischen Sicherheitsdienstleister, der nicht nur in Syrien, sondern auch in der Ukraine und in Afrika im Einsatz ist. Mithilfe solcher privaten Sicherheitsdienstleister lässt sich die Zahl von Verlusten des regulären russischen Militärs gering halten (BPB 08.02.2021), und der teure Einsatz sorgt dadurch in der russischen Bevölkerung kaum für Unmut (DW 29.09.2020).

In den letzten Jahren rückte eine weitere Tätergruppe in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sog. IS kämpften, wurde auf einige Tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017). Erst im Oktober 2020 wurden bei Spezialoperationen zentralasiatische Dschihadisten in Südrussland getötet und weitere in Moskau und St. Petersburg festgenommen (SN 15.10.2020).

(AA, Auswärtiges Amt, Russische Föderation, Reise- und Sicherheitshinweise, unverändert gültig seit 03.08.2021, Stand 04.09.2021, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/russischefoederation-node/russischefoederationsicherheit/201536

AA, Auswärtiges Amt [Deutschland] (07.04.2021a), Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/russischefoederation-node/russischefoederationsicherheit/201536#content_0 , Zugriff des BFA 07.04.2021

BPB, Bundeszentrale für politische Bildung [Deutschland] (08.02.2021), Analyse: Söldner im Dienst autoritärer Staaten: Russland und China im Vergleich, https://www.bpb.de/internationales/europa/russland/analysen/327198/soeldner-im-dienst-autoritaerer-staaten, Zugriff des BFA 08.04.2021

Deutschlandfunk (28.06.2017), Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden, https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russische-methoden.724.de.html?dram:article_id=389824, Zugriff des BFA 07.04.2021

Deutschlandfunk (29.09.2020), An Russland kommt im Nahen Osten niemand mehr vorbei, https://www.deutschlandfunk.de/fuenf-jahre-russischer-militaereinsatz-in-syrien-an.724.de.html?dram:article_id=484951, Zugriff des BFA 08.04.2021

DW, Deutsche Welle (29.09.2020): Russland im Syrien-Krieg: Gekommen, um zu bleiben, https://www.dw.com/de/russland-im-syrien-krieg-gekommen-um-zu-bleiben/a-55096554, Zugriff des BFA 08.04.2021

EDA, Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten [Schweiz] (07.04.2021): Reisehinweise für Russland, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/russland/reisehinweise-fuerrussland.html#par_textimage, Zugriff des BFA 07.04.2021

GIZ, Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH [Deutschland] (02.2020d): Russland, Alltag, https://www.liportal.de/russland/alltag/#c18170, Zugriff des BFA 07.04.2021

SN, Salzburger Nachrichten (15.10.2020), Terrorzelle in Russland ausgeschaltet, https://www.sn.at/politik/weltpolitik/terrorzelle-in-russland-ausgeschaltet-94250941, Zugriff des BFA 08.04.2021

SWP, Stiftung Wissenschaft und Politik (04.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, des BFA Zugriff 07.04.2021)

Nordkaukasus

Die Sicherheitslage im Nordkaukasus hat sich verbessert, wenngleich das nicht mit einer nachhaltigen Stabilisierung gleichzusetzen ist (ÖB Moskau 06.2020, AA 02.02.2021). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff 'low level insurgency' umschrieben (SWP 04.2017).

Ein Risikomoment für die Stabilität in der Region ist die Verbreitung des radikalen Islamismus. Innerhalb der extremistischen Gruppierungen verschoben sich etwa ab 2014 die Sympathien zur regionalen Zweigstelle des sogenannten Islamischen Staates (IS), der mittlerweile das Kaukasus-Emirat praktisch vollständig verdrängt hat. Dabei sorgen nicht nur Propaganda und Rekrutierung des sogenannten IS im Nordkaukasus für Besorgnis der Sicherheitskräfte. So wurden Mitte Dezember 2017 im Nordkaukasus mehrere Kämpfer getötet, die laut Angaben des Anti-Terrorismuskomitees dem sogenannten IS zuzurechnen waren. Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak, haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist. 2018 wurde laut dem Inlandsgeheimdienst FSB die Anzahl terroristisch motivierter Verbrechen mehr als halbiert. Auch 2019 nahm die Anzahl bewaffneter Vorfälle im Vergleich zum Vorjahr weiter ab. Jedoch stellt ein Sicherheitsrisiko für Russland die Rückkehr terroristischer Kämpfer nordkaukasischer Provenienz aus Syrien und dem Irak dar. Laut diversen staatlichen und nicht-staatlichen Quellen ist davon auszugehen, dass die Präsenz militanter Kämpfer aus Russland in den Krisengebieten Syrien und Irak mehrere Tausend Personen umfasste. Gegen IS-Kämpfer, die aus den Krisengebieten im Nahen Osten nach Russland zurückkehren, wird gerichtlich vorgegangen (ÖB Moskau 06.2020).

Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpften Tschetschenen in zunehmender Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat – etwa in der Ostukraine sowohl aufseiten pro-russischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite sowie in Syrien und im Irak (SWP 04.2015). In Tschetschenien konnte der Kriegszustand überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet werden. In einem Prozess der 'Tschetschenisierung' wurde die Aufstandsbekämpfung im zweiten Tschetschenienkrieg an lokale Sicherheitskräfte delegiert, die sogenannten Kadyrowzy. Diese auf den ersten Blick erfolgreiche Strategie steht aber kaum für eine nachhaltige Befriedung (SWP 04.2017).

Die russische Teilrepublik Dagestan im Nordkaukasus gilt seit einigen Jahren als Brutstätte von Terrorismus. Mehr als 1.000 Kämpfer aus dem Land sollen sich dem sog. Islamischen Staat in Syrien und im Irak angeschlossen haben. Terroristen aus Dagestan sind auch in anderen Teilen Russlands und im Ausland aktiv. Viele Radikale aus Dagestan sind außerdem in den Nahen Osten ausgereist. In den Jahren 2013 und 2014 brachen ganze salafistische Familien dorthin auf. Die russischen Behörden halfen den Radikalen damals sogar bei der Ausreise. Vor den Olympischen Spielen in Sotschi wollte Russland möglichst viele Gefährder loswerden (Deutschlandfunk 28.6.2017). Den russischen Sicherheitskräften werden schwere Menschenrechtsverletzungen bei der Durchführung der Anti-Terror-Operationen in Dagestan vorgeworfen. Das teils brutale Vorgehen der Sicherheitsdienste, gekoppelt mit der noch immer instabilen sozialwirtschaftlichen Lage in Dagestan, schafft wiederum weiteren Nährboden für die Radikalisierung innerhalb der dortigen Bevölkerung (ÖB Moskau 06.2020). Laut dem Leiter des dagestanischen Innenministeriums gab es bei der Bekämpfung des Aufstands in Dagestan einen Durchbruch. Die Aktivitäten der Gruppen, die in der Republik aktiv waren, sind seinen Angaben zufolge praktisch komplett unterbunden worden. Nach acht Mitgliedern des Untergrunds, die sich Berichten zufolge im Ausland verstecken, wird gefahndet. Trotzdem besteht laut Analysten und Journalisten weiterhin die Möglichkeit von Anschlägen durch einzelne Täter (ACCORD 13.01.2020).

[Anmerkung Staatendokumentation:] Bitte vergleichen Sie hierzu auch alle Kapitel zur Allgemeinen Menschenrechtslage (einschließlich der Kapitel zu Tschetschenien, Dagestan und Dschihadistische Kämpfer und ihre Unterstützer, Kämpfer des ersten und zweiten Tschetschenien-Krieges, Kritiker allgemein).

Im Jahr 2020 liegt die Gesamtopferzahl des Konfliktes im gesamten Nordkaukasus [Anm.: durch Addieren aller verfügbaren Quartals- und Monatsberichte von Caucasian Knot] bei 56 Personen, davon wurden 45 getötet und 11 verwundet. 42 der Getöteten gehören bewaffneten Gruppierungen an, alle anderen Getöteten und Verwundeten sind den Exekutivkräften zuzurechnen. In Tschetschenien sind im Jahr 2020 insgesamt 18 Personen getötet und zwei verwundet worden. 15 der Getöteten gehören bewaffneten Gruppierungen an, alle anderen Getöteten und Verwundeten sind den Exekutivkräften zuzurechnen. In Dagestan sind im Jahr 2020 insgesamt neun Personen getötet und eine verwundet worden. Alle Getöteten gehören bewaffneten Gruppierungen an, die verwundete Person ist den Exekutivkräften zuzurechnen. Drei Getötete gab es in Kabardino-Balkarien und einen Getöteten in Inguschetien (Caucasian Knot 02.07.2020a, Caucasian Knot 02.07.2020b, Caucasian Knot 27.10.2020, Caucasian Knot 24.12.2020, Caucasian Knot 20.02.2021).

(AA, Auswärtiges Amt [Deutschland] (02.02.2021), Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf, Zugriff des BFA 08.04.2021

ACCORD, Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (19.06.2019), Themendossier Sicherheitslage in Dagestan, Zeitachse von Angriffen, https://www.ecoi.net/de/laender/russische-foederation/themendossiers/sicherheitslage-in-dagestan-zeitachse-von-angriffen/#Toc489358424, Zugriff des BFA 09.04.2021

Caucasian Knot (02.07.2020a), In January 2020, there were no victims of armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/51356/, Zugriff des BFA 08.04.2021

Caucasian Knot (02.07.2020b), In February and March 2020, four people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/51357/, Zugriff des BFA 08.04.2021

Caucasian Knot (27.10.2020), In Quarter 2 of 2020, 11 people suffered in armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/52582/, Zugriff des BFA 08.04.2021

Caucasian Knot (24.12.2020), 15 people suffered in armed conflict in Northern Caucasus in Q3 2020, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/53177/, Zugriff des BFA 08.04.2021

Caucasian Knot (20.2.2021), In Quarter 4 of 2020, 26 persons fell victim to armed conflict in North Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/53738/, Zugriff des BFA 08.04.2021

Deutschlandfunk (28.6.2017), Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden, https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russische-methoden.724.de.html?dram:article_id=389824, Zugriff des BFA 09.04.2021

ÖB Moskau, Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (06.2020), Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2046141/RUSS_%C3%96B_Bericht_2020_06.pdf, Zugriff des BFA 08.04.2021

SWP, Stiftung Wissenschaft und Politik (04.2015), Dagestan: Russlands schwierigste Teilrepublik, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff des BFA 09.04.2021

SWP, Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017), Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff des BFA 08.04.2021)

Rechtsschutz/Justizwesen

Es gibt in der Russischen Föderation Gerichte für Verfassungs-, Zivil-, Verwaltungs- und Strafrecht. Es gibt den Verfassungsgerichtshof, den Obersten Gerichtshof, föderale Gerichtshöfe und die Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft ist verantwortlich für Strafverfolgung und hat die Aufsicht über die Rechtmäßigkeit der Handlungen von Regierungsbeamten. Strafrechtliche Ermittlungen werden vom Ermittlungskomitee geleitet (EASO 03.2017). Die russischen Gerichte sind laut Verfassung unabhängig, allerdings kritisieren sowohl internationale Gremien (EGMR – Europäischer Gerichtshof für Menschen

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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