TE Lvwg Erkenntnis 2021/7/12 LVwG-S-308/001-2021

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Veröffentlicht am 12.07.2021
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Entscheidungsdatum

12.07.2021

Norm

StVO 1960 §16 Abs1 litc
StVO 1960 §99 Abs3 lita
VStG 1991 §44a Z1

Text

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich erkennt durch die Richterin Mag. Lechner, MA über die Beschwerde des A in ***, ***, gegen das Straferkenntnis der Bezirkshauptmannschaft Korneuburg vom 29. Jänner 2021, Zl. ***, betreffend Bestrafung nach der Straßenverkehrsordnung 1960 (StVO 1960), zu Recht:

1.   Der Beschwerde wird gemäß § 50 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz – VwGVG Folge gegeben, der angefochtene Bescheid aufgehoben und das Verwaltungsstrafverfahren gemäß § 45 Abs. 1 Z 3 Verwaltungsstrafgesetz 1991 – VStG eingestellt.

2.   Gegen dieses Erkenntnis ist gemäß §25a Abs. 4 Verwaltungsgerichtshofgesetz 1985 – VwGG eine ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof wegen Verletzung in Rechten nicht zulässig. Für die weitere Partei im Verfahren (Behörde) ist die ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof nicht zulässig.

Entscheidungsgründe:

I.       Wesentlicher Verfahrensgang und Sachverhalt

1. Mit Straferkenntnis der Bezirkshauptmannschaft Korneuburg (belangte Behörde) vom 29. Jänner 2021 zur Zl. *** wurde dem nunmehrigen Beschwerdeführer zur Last gelegt, am 7. Juli 2020 um 10:19 Uhr im Gemeindegebiet von *** auf der Landstraße *** nach Strkm. *** in Fahrtrichtung *** als Fahrzeuglenker mit dem PKW mit dem Kennzeichen *** überholt zu haben, obwohl er nicht einwandfrei erkennen habe

können, dass er das Fahrzeug nach dem Überholvorgang in den Verkehr einordnen könne, ohne andere Straßenbenützer zu gefährden oder zu behindern.

Der Beschwerdeführer habe dadurch § 16 Abs. 1 lit. c StVO 1960 und § 99 Abs. 3 lit. a leg.cit verletzt und wurde über ihn gemäß § 99 Abs. 3 lit. a StVO 1960 eine Geldstrafe in der Höhe von 70 Euro, Ersatzfreiheitsstrafe 32 Stunden verhängt. Als Beitrag zu den Kosten des Verfahrens wurden dem Beschwerdeführer gemäß § 64 Abs. 2 Verwaltungsstrafgesetz 1991 (VStG) 10 Euro vorgeschrieben.

Begründend stützte sich die belangte Behörde auf die Anzeige der Polizeiinspektion *** anlässlich einer dienstlichen Wahrnehmung zweier Organe der Straßenaufsicht.

Hinsichtlich der Strafbemessung wertete die belangte Behörde die bisherige Unbescholtenheit des Beschwerdeführers mildernd; erschwerend seien keine Umstände hervorgekommen.

2. In der dagegen fristgerecht eingebrachten Beschwerde wurde zusammengefasst vorgebracht, die Beschuldigung gemäß § 16 Abs. 1 lit. c StVO 1960 sei durch den Einspruch, das vorgelegte Foto sowie die Stellungnahme des B unmissverständlich widerlegt worden. Eine nachträgliche Änderung der Tatbeschreibung sowie der Strafqualifikation durch den Meldungsleger widerspreche den elementaren Rechtsgrundsätzen. Das Strafverfahren sei einzustellen. Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung wurde nicht beantragt.

3. Die eingebrachte Beschwerde samt Verwaltungsakt wurde von der belangten Behörde – ohne Erlassung einer Beschwerdevorentscheidung – dem Landesverwaltungsgericht Niederösterreich zur Entscheidung vorgelegt. Auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung wurde verzichtet.

4. Das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich hat in den Verwaltungsakt Einsicht genommen.

II.      Feststellungen

Der Beschwerdeführer lenkte am 7. Juli 2020 um 10:19 Uhr seien PKW mit dem Kennzeichen *** im Gemeindegebiet von *** auf der Landesstraße *** nächst Strkm. *** in Fahrtrichtung ***.

In diesem Streckenabschnitt sieht man gut gerade aus und kann herannahenden Gegenverkehr eindeutig erkennen.

Mit Strafverfügung vom 28. Juli 2020 wurde der Beschwerdeführer von der belangten Behörde mit dem Tatvorwurf konfrontiert, wobei dieser im Wesentlichen wortident mit dem späteren Spruch des Straferkenntnisses formuliert war. Weitere den Tatvorwurf konkretisierende Verfolgungshandlungen sind dem vorliegenden Verfahrensakt nicht zu entnehmen.

Gegen die Strafverfügung vom 28. Juli 2020, zugestellt am 31. Juli 2020 hat der Beschwerdeführer fristgerecht Einspruch erhoben.

III.     Beweiswürdigung

Die Feststellungen hinsichtlich Zeit und Ort sowie Strafverfügung sind unstrittig und ergeben sich aus dem vorgelegten Verwaltungsakt.

Die Feststellungen hinsichtlich des Lenkens des verfahrensgegenständlichen PKWs ergeben sich aus der im Akt einliegenden Lenkerauskunft.

Die Feststellungen hinsichtlich der Einsehbarkeit des Streckenabschnittes ergeben sich sowohl aus den Ausführungen des Beschwerdeführers (Einspruch, Parteiengehör, Beschwerde) als auch aus der Stellungnahme des B vom 22. August 2020.

IV.      Rechtsgrundlage

Die maßgeblichen Bestimmungen der Straßenverkehrsordnung 1960 (StVO 1960), BGBl. Nr. 159/1960, idF BGBl. Nr. 518/1994 (hinsichtlich § 16) und idF BGBl. I Nr. 39/2013 (hinsichtlich § 99) lauten auszugsweise:

§ 16. Überholverbote.

(1) Der Lenker eines Fahrzeuges darf nicht überholen:

a) wenn andere Straßenbenützer, insbesondere entgegenkommende, gefährdet oder behindert werden könnten oder wenn nicht genügend Platz für ein gefahrloses Überholen vorhanden ist,

b) wenn der Unterschied der Geschwindigkeiten des überholenden und des eingeholten Fahrzeuges unter Bedachtnahme auf allenfalls geltende Geschwindigkeitsbeschränkungen für einen kurzen Überholvorgang zu gering ist,

c) wenn er nicht einwandfrei erkennen kann, daß er sein Fahrzeug nach dem Überholvorgang in den Verkehr einordnen kann, ohne andere Straßenbenützer zu gefährden oder zu behindern,

(…)

§ 99. Strafbestimmungen.

(…)

(3) Eine Verwaltungsübertretung begeht und ist mit einer Geldstrafe bis zu 726 Euro, im Fall ihrer Uneinbringlichkeit mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Wochen, zu bestrafen,

a) wer als Lenker eines Fahrzeuges, als Fußgänger, als Reiter oder als Treiber oder Führer von Vieh gegen die Vorschriften dieses Bundesgesetzes oder der auf Grund dieses Bundesgesetzes erlassenen Verordnungen verstößt und das Verhalten nicht nach den Abs. 1, 1a, 1b, 2, 2a, 2b, 2c, 2d, 2e oder 4 zu bestrafen ist,

(…)

V.       Rechtliche Beurteilung

1. Eine Entscheidung über die Zulässigkeit des Überholmanövers aus der Sicht des § 16 Abs. 1 lit. c StVO 1960 setzt grundsätzlich die Feststellung jener Umstände voraus, die für die Länge der für den geplanten Überholvorgang benötigten Strecke von Bedeutung sind, in erster Linie die Geschwindigkeiten des überholenden und des zu überholenden Fahrzeuges, bei mehreren zu überholenden Fahrzeugen deren Anzahl und Tiefenabstand. Ferner sind Feststellungen über die dem Lenker des überholenden Fahrzeuges zurzeit des Beginnes des Überholvorganges zur Verfügung stehenden Sichtstrecke erforderlich. Schließlich sind noch Feststellungen über das Vorhandensein allfälliger bereits im Zeitpunkt des Beginnes des Überholmanövers dem Lenker erkennbarer Hindernisse zu treffen, die unter Berücksichtigung der erforderlichen Überholstrecke einem gefahrlosen Wiedereinordnen in den Verkehr entgegenstehen könnten (vgl. VwGH vom 7. Juni 2000, 97/03/0120).

Für eine Übertretung gemäß § 16 Abs. 1 lit. c StVO 1960 ist eine konkrete Gefährdung oder Behinderung anderer Straßenbenützer nicht erforderlich, sondern es ist wesentlich, dass ein Überholvorgang begonnen wird, obwohl der Lenker des überholenden Fahrzeuges nicht erkennen kann, dass er sein Fahrzeug nach dem Überholvorgang in den Verkehr einordnen kann, ohne andere Straßenbenützer zu gefährden oder zu behindern. Die Bestrafung wegen Übertretung dieser Bestimmung kann sogar dann zu Recht erfolgen, wenn gar kein Gegenverkehr stattgefunden hat (vgl. VwGH vom 10. Juli 1981, 81/02/0108).

Der Tatbestand der betreffenden Bestimmung ist vielmehr schon dann vollendet, wenn der Lenker eines Fahrzeuges den Überholvorgang begonnen hat, ohne geprüft und einwandfrei erkannt zu haben, dass er andere Straßenbenützer, insbesondere Entgegenkommende, weder gefährden noch behindern kann (vgl. VwGH vom 23. Juni 1969, 1751/68 ZVR 1970/21 und 21. Oktober 2005, 2005/02/0038).

2. An den Spruch eines Straferkenntnisses stellt § 44a Z 1 VStG die Anforderung, dass die als erwiesen angenommene Tat konkret umschrieben wird.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt es beim Erfordernis einer genauen Tatumschreibung im Sinne des § 44a Z 1 VStG darauf an, den Beschuldigten in die Lage zu versetzen, auf den konkreten Tatvorwurf bezogene Beweise anzubieten, um eben diesen Tatvorwurf zu widerlegen, und ihn rechtlich davor zu schützen, wegen desselben Verhaltens nochmals zur Verantwortung gezogen zu werden. Das an Tatort- und Tatzeitumschreibung zu stellende Erfordernis wird nicht nur von Delikt zu Delikt, sondern auch nach den jeweils gegebenen Begleitumständen in jedem einzelnen Fall ein verschiedenes, weil an den erwähnten Rechtsschutzüberlegungen zu messendes Erfordernis sein. Diese Rechtsschutzüberlegungen sind auch bei der Prüfung der Frage anzustellen, ob innerhalb der Verjährungsfrist des § 31 Abs. 1 VStG eine taugliche Verfolgungshandlung im Sinne des § 32 Abs. 2 VStG vorliegt oder nicht. Das bedeutet, dass die dem Beschuldigten vorgeworfene Tat (lediglich) unverwechselbar konkretisiert sein muss, damit dieser in die Lage versetzt wird, auf den Vorwurf zu reagieren und damit sein Rechtsschutzinteresse zu wahren (so etwa bspw. VwGH vom 3. März 2021, Ra 2021/03/0031, mwH).

Gemäß § 32 Abs. 2 VStG stellt z.B. die Strafverfügung eine Verfolgungshandlung dar. Ebenso ist das Straferkenntnis in seiner Gesamtheit als Verfolgungshandlung zu werten (vgl. VwGH vom 5. September 2013, 2013/09/0065).

Eine Befugnis der Verwaltungsgerichte zur Ausdehnung des Gegenstands des Verfahrens über die Sache des Verwaltungsstrafverfahrens im Sinn des § 50 VwGVG hinaus besteht nicht. So stellt etwa eine Ausdehnung des Tatzeitraumes erst im Beschwerdeverfahren in Verwaltungsstrafsachen vor dem Verwaltungsgericht eine unzulässige Erweiterung des Tatvorwurfs und der Sache des Verfahrens im Sinn des § 50 VwGVG dar (VwGH vom 8. März 2017, Ra 2016/02/0226, mwN).

3. Im gegenständlichen Fall wurde dem Beschwerdeführer mit Spruch des angefochtenen Straferkenntnisses vorgeworfen, auf einem näheren bezeichneten Streckenabschnitt überholt zu haben, obwohl er nicht einwandfrei erkennen habe können, dass er sein Fahrzeug nach dem Überholvorgang in den Verkehr einordnen können, ohne andere Straßenbenützer zu gefährden oder zu behindern.

Gemäß § 44a Z 1 VStG muss im Spruch die Erfüllung aller Tatbestandselemente der Vorschrift, die nach Auffassung der Behörde übertreten wurden, dargetan werden.

Die gegenständliche Tatanlastung erweist sich aus folgenden Gründen als verfehlt:

Die Übertretung nach § 16 Abs. 1 lit. c StVO 1960 macht eine genauere Tatortumschreibung als vorliegend erforderlich, weil sowohl der Mangel einwandfreier Erkennbarkeit der Möglichkeit des Einordnens nach dem Überholvorgang als auch der Umstand der Gefährdung oder Behinderung anderer Straßenbenützer nur unter den konkreten Verhältnissen an Ort und Stelle beurteilt werden kann (vgl. VwGH vom 29. September 1989, 89/18/0113).

Ein eben solcher Tatvorwurf findet sich in keiner Verfolgungshandlung, welche gegen den Beschwerdeführer innerhalb der Verfolgungsverjährungsfrist des § 31 Abs. 1 VStG gesetzt wurde. In der Strafverfügung vom 28. Juli 2020 wird der Tatvorwurf in gleichlautender Weise wie im angefochtenen Straferkenntnis gemacht.

Darüber hinaus wurde gegenständlich auch seitens des Meldungslegers angegeben, dass der verfahrensgegenständliche Streckenabschnitt gerade aus verläuft und derart einsehbar ist, dass herannahender Gegenverkehr eindeutig erkennbar ist. Auch Hinweise auf allfällige Hindernisse, die die Sicht beeinträchtigt hätten, sind im Verfahren nicht hervorgekommen. Viel wahrscheinlicher ist somit, dass die belangte Behörde dem Beschwerdeführer wohl die Übertretung des § 16 Abs. 1 lit. a StVO 1960 – siehe auch die Anzeige vom 13. Juli 2020 - anlasten wollte.

Ungenauigkeiten bei der Konkretisierung der Tat haben nur dann keinen Einfluss auf die Rechtmäßigkeit des Strafbescheides, wenn dadurch keine Beeinträchtigung der Verteidigungsrechte des Beschuldigten und keine Gefahr der Doppelbestrafung bewirkt wird (vgl. VwGH vom 29. März 2019, Ra 2019/02/0013 und vom 20. August 2019, Ra 2019/16/0101). Gerade das trifft aber vorliegend nicht zu.

Da somit der Spruch des angefochtenen Straferkenntnisses einer Korrektur durch das erkennende Gericht nicht zugänglich war und dieser Spruch auch nicht den Anforderungen an das Gesetz und der darauf basierenden Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes entsprochen hat, war das angefochtene Straferkenntnis aufzuheben und die Einstellung zu verfügen.

4. Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung konnte gemäß § 44 Abs. 2 VwGVG unterbleiben, da bereits auf Grund der Aktenlage feststeht, dass das mit Beschwerde angefochtene Straferkenntnis aufzuheben ist.

5. Im Hinblick auf die Übertretung nach § 99 Abs. 3 lit. a StVO ist die Revision unzulässig, da in dieser Verwaltungsstrafsache eine Geldstrafe von bis zu 726 Euro und keine Freiheitsstrafe verhängt werden durfte und im Erkenntnis eine Geldstrafe von bis zu 400 Euro verhängt wurde.

Schlagworte

Verkehrsrecht; Straßenverkehr; Verwaltungsstrafe; Überholverbot; Verfahrensrecht; Tatvorwurf; Tatumschreibung; Konkretisierung;

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:LVWGNI:2021:LVwG.S.308.001.2021

Zuletzt aktualisiert am

09.11.2021
Quelle: Landesverwaltungsgericht Niederösterreich LVwg Niederösterreic, http://www.lvwg.noe.gv.at
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