TE Bvwg Erkenntnis 2021/6/2 W255 2234715-3

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 02.06.2021
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Entscheidungsdatum

02.06.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs3
AsylG 2005 §55
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs3
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs2 Z2
FPG §53 Abs2 Z6
FPG §55 Abs4

Spruch


W255 2234715-3/9E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Ronald EPPEL, MA als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 13.01.2021, Zl. 781306306-200126605, zu Recht:

A)

I.       Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. wird gemäß § 55 AsylG 2005 iVm. § 9 BFA-VG als unbegründet abgewiesen.

II.      Der Beschwerde gegen Spruchpunkte II., III., IV., und V. wird stattgegeben und der angefochtene Bescheid in diesem Umfang gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG iVm. § 10 AsylG 2005 ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

1.        Verfahrensgang:

Erster Antrag auf internationalen Schutz:

1.1.    Der Beschwerdeführer (in Folge: BF), ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte nach illegaler schlepperunterstützter Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 23.12.2008 seinen ersten Antrag auf internationalen Schutz, wurde am selben Tag unter Beiziehung eines Dolmetschers für die Sprache Paschtu erstbefragt und am 05.03.2009, am 10.03.2009 sowie am 08.09.2009 vom (damaligen) Bundesasylamt niederschriftlich einvernommen.

1.2.    Mit Bescheid des (damaligen) Bundesasylamtes vom 23.10.2009 wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Unter Spruchpunkt III. wurde der BF gemäß § 10 Abs. 1 AsylG aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Afghanistan ausgewiesen.

1.3.    Gegen den unter Punkt 1.2. genannten Bescheid hat der BF fristgerecht Beschwerde erhoben.

1.4.    Mit Erkenntnis des (damaligen) Asylgerichtshofes vom 09.12.2010, GZ: XXXX , wurde die Beschwerde hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt I.). Dem BF wurde der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt (Spruchpunkt II.) und ihm eine Aufenthaltsbewilligung als subsidiär Schutzberechtigter bis 08.12.2011 erteilt.

1.5.    Nach Einleitung eines Aberkennungsverfahrens wegen u.a. eines Verbrechens und nach Aufforderung zur Stellungnahme – die ungenützt bleib – wurde dem BF mit Bescheid des (damaligen) Bundesasylamtes vom 04.11.2011 der Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 2 AsylG 2005 aberkannt (Spruchpunkt I.), die Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter entzogen (Spruchpunkt II.) und festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan unzulässig ist (Spruchpunkt III.).

Dem Aberkennungsbescheid lag zugrunde, dass der BF mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom 05.10.2011, XXXX , wegen des Verbrechens der Erpressung nach § 144 Abs. 1 StGB und mehrerer Vergehen zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten – gemäß § 43 Abs. 1 StGB iVm § 43a Abs. 2 StGB bedingt nachgesehen unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren – und einer Geldstrafe verurteilt wurde.

Dieser Bescheid erwuchs am 24.11.2011 in Rechtskraft.

1.6.    Dem BF wurde von der BH XXXX erstmals eine Duldungskarte, beginnend mit 23.08.2012 für die Dauer bis 22.08.2013 ausgestellt, die in Folge regelmäßig jährlich (2014, 2015, 2016, 2017, 2018 und 2019) bis einschließlich 20.02.2020 verlängert wurde.

1.7.    Der BF wurde vom Landesgericht XXXX zwischenzeitig dreimal rechtskräftig wegen eines Verbrechens und mehrerer Vergehen verurteilt, zuletzt war der BF vom 12.09.2019 bis 23.10.2019 in der JA XXXX wegen gefährlicher Drohung gegen die eigene Familie in Haft. Darüber hinaus wurde der BF dreißigmal verwaltungsstrafrechtlich belangt.

Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG 2005:

1.8.    Am 03.02.2020 stellte der BF den verfahrensgegenständlichen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens gemäß § 55 Abs. 1 AsylG 2005.

Laut Antragsformular beabsichtige der BF die Eheschließung mit einer in Afghanistan lebenden afghanischen Frau und wolle diese nach Österreich bringen. Zudem legte der BF einen Mietvertrag, eine Betreuungsvereinbarung des AMS und die Kopie seiner E-Card vor.

1.9.    Mit Schreiben vom 07.02.2020 wurde der BF vom BFA mittels Verbesserungsauftrag aufgefordert, näher genannte Unterlagen zu seinem Antrag vom 03.02.2020 nachzureichen. Auf dieses Schreiben reagierte der BF nicht.

1.10.   Mit Verständigung vom Ergebnis der Beweisaufnahme vom 04.06.2020 wurde dem BF vom BFA mitgeteilt, dass beabsichtigt sei, seinen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG 2005 abzuweisen und insbesondere ausgeführt, dass dem BF der Status des subsidiär Schutzberechtigten im November 2011 aberkannt worden wäre, wobei die Abschiebung des BF unzulässig gewesen sei. Der BF sei zuletzt von 12.09.2019 bis 23.10.2019 in einer Justizanstalt aufhältig gewesen, da er wegen „gefährlicher Drohung gegen die eigene Familie inhaftiert“ worden sei. Der BF habe einen Mietvertrag, eine Betreuungsvereinbarung des Arbeitsmarktservice und eine Kopie seiner e-Card vorgelegt und habe im Antragsformular angegeben, dass er eine afghanische Frau heiraten und nach Österreich bringen wolle; seine Integrationsgründe wären „wegen Reisen“.

Dem BF wurde Gelegenheit gegeben, innerhalb von zwei Wochen ab Zustellung dieser Verständigung eine schriftliche Stellungnahme abzugeben und/oder die näher angeführten Fragen (hinsichtlich der Lebensumstände des BF in Österreich, dem Kennenlernen sowie dem Wohnort seiner angeblichen Verlobten, allfälliger Kontakte des BF nach Afghanistan sowie der Tatsache, dass er „seine Familie bedrohe“ und sich gleichzeitig auf ein Privat- und Familienleben mit dieser in Österreich berufe) zu beantworten.

1.11.   Mit E-Mail vom 13.07.2020 übermittelte der BF eine schriftliche Stellungnahme an das BFA und führte im Wesentlichen aus, dass er sich seit dem Tod seines Vaters um seine Familie gekümmert habe; seinen Lebensunterhalt in Österreich bestreite er, indem er arbeite. Er habe diverse Kurse besucht. Seine Verlobte habe er über Verwandte kennengelernt; mittlerweile kenne er sie seit zwei Jahren und wolle sie deshalb zu sich bringen. In Afghanistan habe er ein gutes Verhältnis zu seinem Onkel gehabt, der mittlerweile verstorben sei. Von dem Verbesserungsauftrag des BFA habe er nie etwas gewusst, anscheinend habe seine Mutter diesen versteckt. Seine Familie habe er nie bedroht; es möge sein, dass er etwas gesagt habe, das er heute bereue. Es habe vielleicht Streit gegeben zwischen ihnen, aber er sei der älteste Sohn und habe sich seit dem Tod des Vaters stets um die Familie gekümmert.

1.12.   Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (in Folge: BFA) vom 03.08.2020 (berichtigt mit Bescheid vom 17.08.2020) wurde der Antrag des BF auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK gemäß § 55 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.), gemäß § 10 Abs. 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 3 FPG erlassen (Spruchpunkt II.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.), eine Frist gemäß § 55 Abs. 4 FPG für die freiwillige Ausreise wurde nicht gewährt und der Beschwerde gegen diese Rückkehrentscheidung gemäß § 18 Abs. 2 Z 1 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt IV.); gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 2 Z 2 und 6 FPG wurden gegen den BF ein auf Dauer von vier Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen.

1.13.   Gegen den unter Punkt 1.12. genannten Bescheid erhob der BF fristgerecht Beschwerde.

1.14.   Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 21.09.2020, GZ: W220 2234715/3E, wurde der Bescheid des BFA vom 03.08.2020 (berichtigt mit Bescheid vom 17.08.2020) gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG behoben und an das BFA zur Erlassung eines neuen Bescheides zurückverwiesen.

1.15.   Am 06.11.2020 wurde der BF vom BFA im Beisein eines Dolmetschers seiner Muttersprache niederschriftlich zu seinem Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG 2005 einvernommen.

1.16.   Mit Bescheid vom 13.01.2020 [gemeint: 13.01.2021] wies das BFA den Antrag des BF auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK vom 03.02.2020 gemäß § 55 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.), erließ gemäß § 10 Abs. 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 3 FPG (Spruchpunkt II.), stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung des BF gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.), gewährte gemäß § 55 Abs. 4 FPG keine Frist für die freiwillige Ausreise, erkannte einer Beschwerde gegen diese Rückkehrentscheidung gemäß § 18 Abs. 2 Z 1 BFA-VG die aufschiebende Wirkung ab (Spruchpunkt IV.) und erließ gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 2 Z 2 und 6 FPG gegen den BF ein auf die Dauer von vier Jahren befristetes Einreiseverbot.

1.17.   Gegen den unter Punkt 1.16. genannten Bescheid richtet sich die vom BF fristgerecht erhobene Beschwerde. Der angefochtene Bescheid und die Beschwerde wurden dem Bundesverwaltungsgericht am 01.06.2021 übermittelt.

Verhängung der Schubhaft:

1.18.   Am 09.02.2021 wurde der BF von Beamten der Landespolizeidirektion XXXX festgenommen. Mit Mandatsbescheid des BFA vom 10.02.2021 wurde über den BF gemäß § 76 Abs. 2 Z 2 FPG iVm § 57 Abs. 1 AVG zum Zwecke der Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme und der Sicherung der Abschiebung die Schubhaft verhängt. Gegen diesen Mandatsbescheid erhob der BF durch seine ausgewiesene Rechtsvertretung am 16.02.2021 Schubhaftbeschwerde, welche nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit mündlich verkündetem Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 24.02.2021, GZ.: XXXX , als unbegründet abgewiesen wurde.

Mit Beschluss des Verwaltungsgerichtshofes vom 12.05.2021, Zl. Ra 2021/21/0095 wurde dem Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung im Hinblick auf die gegen das Erkenntnis vom 24.02.2021 gerichtete Revision gemäß § 30 Abs. 2 VwGG nicht stattgegeben.

Folgeantrag (W107 2234725-2):

1.19.   Am 16.03.2021 stellte der BF aus dem Stande der Schubhaft einen neuerlichen Antrag auf internationalen Schutz (Folgeantrag), zu welchem er durch einen Organwalter des öffentlichen Sicherheitsdienstes im Beisein eines Dolmetschers seiner Muttersprache am selben Tag erstbefragt wurde. Hier gab der BF an, seine bisherigen Fluchtgründe seien nach wie vor aufrecht, aber er wolle nunmehr neue Gründe vorbringen: Er beabsichtige, zum Christentum zu konvertieren, er interessiere sich seit vier Jahren für das Christentum - seine Familie, die in Österreich lebe, sei aber bisher dagegen, dass er zum Christentum konvertiere - und er könne aus diesem Grund nicht nach Afghanistan zurückkehren, da er aufgrund seines religiösen Glaubens getötet würde.

1.20.   Mit Verfahrensanordnung des BFA vom 23.03.2021 wurde dem BF mitgeteilt, es sei beabsichtigt, seinen Folgeantrag auf internationalen Schutz wegen entschiedener Sache gemäß § 68 AVG zurückzuweisen und den faktischen Abschiebeschutz gemäß § 12a Abs. 2 AsylG 2005 aufzuheben.

1.21.   Am 15.04.2021 wurde der BF vor dem BFA im Beisein eines Dolmetschers niederschriftlich zu seinem Folgeantrag auf internationalen Schutz einvernommen. Im Anschluss an diese Einvernahme hob das BFA den faktischen Abschiebeschutz des BF gemäß § 12a Abs. 2 AsylG 2005 mit mündlich verkündetem Bescheid vom 15.04.2021 auf. Dies wurde im Protokoll der niederschriftlichen Einvernahme vom 15.04.2021 entsprechend dokumentiert. Dem BF wurde nach erteilter Rechtsmittelbelehrung und erfolgter Rückübersetzung eine Kopie der Niederschrift vom 15.04.2021 ausgefolgt.

1.22.   Mit Schreiben vom 15.04.2021 übermittelte das BFA dem Bundesverwaltungsgericht die am 15.04.2021 vom BF beantragte Überprüfung der Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes.

1.23.   Mit Beschluss vom 14.05.2021, GZ: W107 2234715-2/5E, sprach das Bundesverwaltungsgericht aus, dass die Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes gemäß § 12a Abs. 2 AsylG 2005 iVm § 22 BFA-VG rechtmäßig sei.

2.       Feststellungen:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage des seitens des BFA zur Zahl

781306306-200126605 und des seitens des Bundesverwaltungsgerichts zur GZ W255 2234715-3 geführten Verfahrens, des Bescheides des BFA vom 13.01.2021, der Beschwerde des BF vom 19.02.2021, sowie der Einsichtnahme in den Bezug habenden Verwaltungsakt sowie die Verwaltungsakte der seitens des des Asylgerichtshofes zur GZ XXXX bzw. des Bundesverwaltungsgerichts zu den GZ I411 2239645-1 (Schubhaftverfahren) und GZ W107 2234715-2 (Verfahren betr Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes) geführten Verfahren, das Zentrale Melderegister, das Fremdeninformationssystem, das Strafregister sowie der Einsichtnahme in die seitens des Landesgerichts XXXX zu den GZ XXXX geführten Strafakte, werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:

2.1.    Der BF führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Er ist afghanischer Staatsangehöriger. Der BF wurde in der Provinz XXXX , Afghanistan, geboren, ist im Kindesalter für einige Jahre gemeinsam mit seiner Familie in den Iran gereist, ehe er wieder gemeinsam mit seiner Familie nach XXXX , Afghanistan, zurückgekehrt ist und dann bis zu seiner Ausreise aus Afghanistan im Jahr 2008 als Bodenleger in XXXX , Provinz XXXX , Afghanistan, gearbeitet und dort gemeinsam mit einem seiner Brüder ( XXXX ) zusammengelebt hat. Dieser Bruder lebt nach wie vor in XXXX , Provinz XXXX . Auch der Vater und Verwandte mütterlicherseits des BF leben nach wie vor in Afghanistan. Der BF ist sowohl in Afghanistan als auch im Iran in einer afghanischen Familie und afghanischem Umfeld aufgewachsen.

2.2.    Der BF gehört der Volksgruppe der Paschtunen an. Der BF spricht Paschtu und Dari und ist sunnitischer Moslem.

2.3.    Der BF ist gesund, arbeitsfähig, im erwerbsfähigen Alter, ledig und kinderlos.

2.4.    Der BF stellte nach unrechtmäßiger Einreise im österreichischen Bundesgebiet am 23.12.2008 erstmals einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Das damalige Bundesasylamt wies den Antrag des BF auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt I.). Unter Spruchpunkt II. dieses Bescheides wurde der Asylantrag des BF bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG abgewiesen. Unter Spruchpunkt III. dieses Bescheides wurde der BF gemäß § 10 Abs. 1 AsylG aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Afghanistan ausgewiesen. Die dagegen erhobene Beschwerde wurde mit Erkenntnis des (damaligen) Asylgerichtshofes vom 09.12.2010, GZ: XXXX , hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt I.). Dem BF wurde der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt (Spruchpunkt II.) und ihm eine Aufenthaltsbewilligung als subsidiär Schutzberechtigter bis 08.12.2011 erteilt.

2.5.    Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 04.11.2011 wurde dem BF der Status des subsidiär Schutzberechtigten aberkannt. Sein Aufenthalt war von 23.08.2012 bis einschließlich 20.02.2020 geduldet.

2.6.    Am 03.02.2020 stellte der BF den gegenständlich zu behandelnden Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens gemäß § 55 Abs. 1 AsylG 2005.

Mit Bescheid vom 13.01.2020 [gemeint: 13.01.2021] wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des BF auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK gemäß § 55 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.), erließ gemäß § 10 Abs. 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 3 FPG (Spruchpunkt II.), stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung des BF gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.), gewährte gemäß § 55 Abs. 4 FPG keine Frist für die freiwillige Ausreise, erkannte einer Beschwerde gegen diese Rückkehrentscheidung gemäß § 18 Abs. 2 Z 1 BFA-VG die aufschiebende Wirkung ab (Spruchpunkt IV.) und erließ gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 2 Z 2 und 6 FPG gegen den BF ein auf die Dauer von vier Jahren befristetes Einreiseverbot (Spruchpunkt V.). Gegen diesen Bescheid richtet sich die vom BF fristgerecht erhobene Beschwerde.

2.7.    Am 16.03.2021 stellte der BF aus dem Stand der Schubhaft erneut (zum zweiten Mal) einen Antrag auf internationalen Schutz (Folgeantrag) mit der Begründung, er beabsichtige die Konvertierung zum Christentum und könne – neben dem bisher vorgebrachten Fluchtgrund - auch aus diesem Grund nicht nach Afghanistan zurückkehren, da er aufgrund seines religiösen Glaubens getötet würde.

Am 15.04.2021 wurde der BF zu seinem Folgeantrag niederschriftlich einvernommen. Im Anschluss an diese Einvernahme hob das BFA den faktischen Abschiebeschutz des BF gemäß § 12a Abs. 2 AsylG 2005 mit mündlich verkündetem Bescheid vom 15.04.2021 auf. Dies wurde im Protokoll der niederschriftlichen Einvernahme vom 15.04.2021 entsprechend dokumentiert. Dem BF wurde nach erteilter Rechtsmittelbelehrung und erfolgter Rückübersetzung eine Kopie der Niederschrift vom 15.04.2021 ausgefolgt. Mit Schreiben vom selben Tag übermittelte das BFA die am 15.04.2021 vom BF beantragte Überprüfung der Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes. Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 14.05.2021, GZ: W107 2234715-2/5E, sprach das Bundesverwaltungsgericht aus, dass die Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes des BF gemäß § 12a Abs. 2 AsylG 2005 iVm § 22 BFA-VG rechtmäßig ist.

Eine inhaltliche Entscheidung über den Folgeantrag des BF vom 16.03.2021 ist ausständig. Das diesbezügliche Asylverfahren ist beim BFA anhängig. Über den Folgeantrag des BF wurde zum Zeitpunkt der vorliegenden Entscheidung daher noch nicht rechtskräftig abgesprochen.

2.8.    In Österreich leben die folgenden Verwandten des BF:

?         XXXX , StA. Afghanistan (= Mutter des BF, Asylberechtigte)

?         XXXX , StA. Afghanistan (= Schwester des BF, Asylberechtigte)

?         XXXX , StA. Afghanistan (= Schwester des BF, Asylberechtigte)

?         XXXX , StA. Afghanistan (= Bruder des BF, subsidiär Schutzberechtigter)

Die Mutter lebt mit einer der Schwestern des BF in XXXX . Eine Schwester des BF ist verheiratet und lebt mit ihrem Ehegatten in XXXX .

Der Bruder des BF lebt in XXXX .

Der BF lebt weder mit seinen Verwandten im gemeinsamen Haushalt, noch besteht ein gegenseitiges finanzielles oder sonstiges Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem BF und seinen Verwandten oder zwischen dem BF und einer sonstigen in Österreich lebenden Person.

Der BF hat Kontakt zu seinen in Österreich lebenden Verwandten, sein Verhältnis zu seinen Verwandten ist jedoch insofern beeinträchtigt, als der BF rechtskräftig strafrechtlich verurteilt wurde, da er seiner Mutter am 09.09.2019 gedroht hat, ihr ein Messer in ihren „Arsch“ und ihre Scheide zu stecken. Er ist diesbezüglich bis heute uneinsichtig und wirft seiner Mutter und seinen Schwestern mangelnde Dankbarkeit ihm gegenüber vor.

2.9.    Der BF verfügt über keine engen Bezugspersonen bzw. keinen engen Freundeskreis in Österreich. Er führt keine Lebensgemeinschaft in Österreich.

2.10.   Der BF verfügt über keine stark fort geschrittenen Deutschsprachkenntnisse. Der BF hat in Österreich noch nie eine Deutschprüfung auf A2 Niveau oder einem höheren Niveau bestanden.

2.11.   Der BF ist nicht Mitglied in einem Verein in Österreich. Er hat sich in Österreich nie ehrenamtlich engagiert.

2.12.   Der BF war seit 23.12.2008 zu folgenden Zeiten in Österreich erwerbstätig

?        15.05.2020 – 01.08.2020 als Arbeiter bei der XXXX

?        18.05.2019 – 03.08.2019 als Arbeiter bei der XXXX

?        01.10.2018 – 04.02.2019 als Arbeiter bei der XXXX

?        22.01.2018 – 27.08.2018 als Angestellter bei XXXX

?        02.01.2018 – 12.01.2018 als Angestellter bei XXXX

?        01.06.2017 – 10.10.2017 als geringfügig beschäftigter Angestellter bei XXXX

?        01.07.2016 – 30.04.2017 als geringfügig beschäftigter Angestellter bei XXXX

?        11.06.2015 – 29.02.2016 als Angestellter bei XXXX

?        04.03.2015 – 09.04.2015 als Angestelltenlehrling bei XXXX

?        10.06.2014 – 13.02.2015 als Angestelltenlehrling bei XXXX

?        04.07.2013 – 06.11.2013 als Arbeiter bei XXXX

?        24.05.2012 – 09.06.2012 als Arbeiter bei der XXXX

?        24.12.2011 – 16.04.2012 als Arbeiter bei XXXX

?        16.12.2011 – 16.12.2011 als Arbeiter bei der XXXX

?        30.11.2011 – 07.12.2011 als Arbeiter bei der XXXX

?        28.11.2011 – 12.12.2011 als Arbeiter bei der XXXX

?        25.06.2012 – 27.06.2012 als Arbeiter bei der XXXX

?        22.11.2011 – 25.11.2011 als Arbeiter bei der XXXX

?        07.11.2011 – 08.11.2011 als Arbeiter bei der XXXX

Der BF hat zu folgenden Zeiten Arbeitslosengeld bezogen: 03.03.2016 – 03.04.2016, 05.04.2016 – 30.06.2016, 03.05.2017 – 08.07.2017, 16.07.2017 – 31.08.2017, 02.09.2017 –06.09.2017, 11.09.2017 – 14.09.2017, 13.01.2018 – 14.01.2018, 30.08.2018 – 30.09.2018, 20.02.2019 – 17.05.2019, 04.08.2019 – 11.09.2019 und 24.10.2019 – 08.05.2020. Weiters hat der BF mit einer sehr kurzen Unterbrechung durchgehend von 23.12.2008 bis 31.12.2016 Leistungen aus der Grundversorgung bezogen.

Der BF war somit innerhalb von 12 Jahren und 5 Monaten (149 Monaten) insgesamt ca. 3,75 Jahre (44,5 Monate) mehr als geringfügig und 1,25 Jahre (15 Monate) geringfügig beschäftigt. Er hat in diesem Zeitraum nie länger als durchgehend ein Jahr, in der Regel deutlich kürzer, eine Beschäftigung ausgeübt. Er hat das letzte Mal Anfang August 2020 eine Erwerbstätigkeit ausgeübt und bezieht seither kein Einkommen mehr (auch nicht aus der Arbeitslosenversicherung). Er ist nicht selbsterhaltungsfähig.

2.13.   Der BF ist mehrfach strafrechtlich bescholten:

Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom 05.10.2011, rechtskräftig seit 05.10.2011, GZ XXXX wurde er wegen §§ 144 Abs. 1, 107 Abs. 1 und 107a Abs. 1 und 2 Z 1 und 2 StGB zu einer Freiheitstrafe von 6 Monaten, bedingt mit einer Probezeit von 3 Jahren, und zu einer Geldstrafe in Höhe von 200 Tagessätzen zu je EUR 4,- (EUR 800,-), im Nichteinbringungsfall zu 100 Tage Ersatzfreiheitsstrafe, verurteilt.

Dies deshalb, da er

1) ein weibliches Opfer durch gefährliche Drohung mit einer Verletzung am Vermögen zur Übergabe von EUR 20,- genötigt hat;

2) ein weibliches Opfer gefährlich bedroht sowie in Furcht und Unruhe versetzt hat, indem er ihr gedroht hat, sie umzubringen;

3) ein männliches Opfer gefährlich bedroht sowie in Furcht und Unruhe versetzt hat, indem er ihm angekündigt hat, ihn „kaputt [zu] machen“ und dass er ihn schon beim Bahnhof XXXX oder XXXX finden werde.

4) über einen Zeitraum von rund vier Monaten ein weibliches Opfer in einer Weise, die geeignet war, sie in ihrer Lebensführung unzumutbar zu beeinträchtigen, widerrechtlich beharrlich verfolgt hat, indem er sie wiederholt zu Hause und an ihrem Arbeitsplatz aufgesucht hat, mithin ihre räumliche Nähe aufgesucht sowie im Wege einer Telekommunikation Kontakt zu ihr hergestellt hat, indem er sie mehrmals täglich angerufen und – teilweise auch nachts – SMS-Nachrichten übermittelt hat.

Mildernd wurden die bisherige Unbescholtenheit, erschwerend das Zusammentreffen von zwei Vergehen mit einem Verbrechen sowie der Umstand, dass zwei Personen bedroht wurden, gewertet.

Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom 03.11.2015, rechtskräftig seit 07.11.2015, GZ: XXXX wurde der BF wegen § 224a StGB zu einer Geldstrafe von 150 Tagessätzen zu je EUR 4,- (EUR 600,-), im Nichteinbringungsfall zu 75 Tage Ersatzfreiheitsstrafe, verurteilt.

Dies deshalb, da er über einen Zeitraum von mehreren Monaten in XXXX und an anderen Orten einen gefälschten ungarischen Führerschein lautend auf seinen Namen, sohin eine falsche ausländische öffentliche Urkunde, die durch das Gesetz inländischen öffentlichen Urkunden gleichgestellt ist, im Rechtsverkehr zum Beweis einer Tatsache und eines Rechts, nämlich zum Nachweis der Lenkberechtigung, besessen und angewendet hat.

Mildernd wurde sein überwiegendes Geständnis, erschwerend kein Umstand gewertet.

Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom 23.10.2019, rechtskräftig seit 24.10.2019, GZ: XXXX wurde der BF nach § 107 Abs. 1 StGB zu einer Geldstrafe von 200 Tagessätzen zu je EUR 4,- (EUR 800,-), im Nichteinbringungsfall zu 100 Tagen Ersatzfreiheitsstrafe, verurteilt.

Dies deshalb, da er seine Mutter am 09.09.2019 „WhatsApp-Sprachnachrichten“ übermittelt und darin mehrfach geäußert hat, er werde ihr ein Messer in den „Arsch“ und in die Scheide stechen, wobei er seine Äußerungen dadurch untermauert hat, dass er ein Foto eines Messers und ein Foto des Wohnhauses seiner Schwester XXXX übermittelt hat und dadurch gefährlich mit der Zufügung zumindest einer Körperverletzung bedroht hat.

Mildernd wurden das Geständnis, das längere Wohlverhalten seit der letzten Verurteilung, erschwerend die Vorstrafe und die Tat zum Nachteil naher Angehöriger gewertet.

2.14.   Der BF wurde weiters insgesamt dreißig Mal verwaltungsstrafrechtlich, unter anderem wegen Verstößen gegen die Straßenverkehrsordnung und das Kraftfahrgesetz mit einem Gesamtstrafbetrag von EUR 3.366,-, belangt.

2.15.   Der BF hält sich seit 23.12.2008 in Österreich auf. Der BF befand sich von 12.09.2019 bis 23.10.2019 in der Justizvollzugsanstalt XXXX und befindet sich seit 24.02.2021 im Polizeianhaltezentrum XXXX . Vor seiner Verhaftung übernachtete der BF fünf Monate lang überwiegend in diversen Notschlafstellen und kam seiner Meldepflicht nicht korrekt nach.

Er verfügt über keinen Rechtsanspruch auf eine ortsübliche Unterkunft. Er verfügt über keinen Versicherungsschutz in Österreich.

2.16.   Maßgebliche Anhaltspunkte für eine besondere Integration in sprachlicher (Bestätigung über die behauptete A2 Prüfung liegt nicht vor), beruflicher oder gesellschaftlicher Hinsicht liegen nicht vor.

2.17.   Der BF ist mit einer afghanischen Staatsangehörigen verlobt, die in Afghanistan lebt und die er seit ca. 2,75 Jahren ausschließlich über das Internet und Telefon durch Vermittlung seiner in Afghanistan lebenden Verwandten kennt. Der BF hat den Wunsch, diese afghanische Staatsangehörige nach Österreich zu holen, um mit ihr gemeinsam zu leben.

2.18.   Im Fall des BF besteht aus folgenden Gründen eine negative Zukunftsprognose: Der BF wurde – wie festgestellt – in Österreich mehrfach rechtskräftig strafrechtlich verurteilt. Dies unter anderem deshalb, da er seiner Mutter damit gedroht hat, dieser ein Messer in den „Arsch“ bzw. ihre Scheide zu stechen. Er ist diesbezüglich bis heute uneinsichtig.

Der BF verfügt über ein Gesellschaftsbild und Ansichten, die den in Europa geltenden Werten und Rechten, insbesondere im Hinblick auf die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie Achtung der Rechte von Frauen, widersprechen.

Er wurde in Österreich insgesamt dreißig Mal rechtskräftig verwaltungsstrafrechtlich belangt.

Der BF verfügt – wie oben – festgestellt, über keinen Job, kein Einkommen, keine Unterkunft, keinen ihn stützenden Freundeskreis etc. Er ist nicht Mittglied in einem Verein. Er verfügt über keine realistische Einschätzung seiner Situation und Integration in Österreich und hält sich nicht an die Wahrheit. Der BF war in Österreich nie über längere Zeit hindurch erwerbstätig. Er verfügt – gemessen an seiner Aufenthaltsdauer – über geringe Deutschsprachkenntnisse. Er hat sie nie ehrenamtlich betätigt.

3.       Beweiswürdigung:

Der Beweiswürdigung liegen folgende maßgebende Erwägungen zu Grunde:

3.1.    Die Feststellungen zum Namen und zum Geburtsdatum des BF (Punkt 2.1.) stützen sich auf seine Angaben vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes, vor dem Bundesasylamt, dem BFA und vor dem Asylgerichtshof.

3.2.    Die Feststellung zur Staatsangehörigkeit des BF, seiner Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit (Punkt 2.2.) stützen sich auf seine Angaben vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes, vor dem BFA und vor dem Asylgerichtshof und dem Bundesverwaltungsgericht.

3.3.    Die Feststellungen zu den Verwandten des BF in Afghanistan (Punkt 2.3.) stützen sich auf die rechtskräftigen Entscheidungen des Bundesasylamtes und des Asylgerichtshofes, in denen jeweils festgestellt wurde, dass der BF nicht glaubhaft machen konnte, dass sein Vater und/oder andere Verwandte in Afghanistan in Probleme verstrickt gewesen wäre. Es ist sonst kein Hinweis darauf aufgetreten, dass der Vater des BF und/oder sein Bruder XXXX nicht mehr am Leben wären und/oder Afghanistan verlassen hätte.

Der BF gab im gegenständlichen Verfahren (Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG 2005) an, vor ca. 2,75 Jahren eine afghanische Staatsangehörige über seine afghanischen Verwandten kennengelernt und mit dieser (ausschließlich) über das Internet/Telefon in Kontakt gestanden zu sein bzw. zu stehen. Er habe sich mit dieser Frau verlobt, obwohl diese in Afghanistan lebe. In der Einvernahme vor dem BFA vom 06.11.2020 gab der BF an, mit seinen Eltern gesprochen zu haben und diese hätten gesagt, dass die Frau nicht gut für ihn wäre. Wäre sein Vater nicht mehr am Leben, hätte er mit diesem nicht über seine Verlobte sprechen können. Zudem gab der BF an, seine Verlobte über seine Verwandten kennengelernt zu haben. In seiner Einvernahme vor dem BFA vom 06.11.2020 bestätigte er, Verwandte mütterlicherseits in Afghanistan zu haben.

Die Feststellungen zum Bruder ( XXXX ) stützen sich weiters auf die Angaben des BF gegenüber dem Asylgerichtshof und dem BFA, denen zufolge der BF vor seiner Ausreise aus Afghanistan gemeinsam mit XXXX in XXXX gelebt und dort gearbeitet habe.

In der Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht vom 24.02.2021 führte der BF weiters aus, dass die Verlobte seines Bruders XXXX in Afghanistan leben würde. Auch dies spricht dafür, dass der BF und sein Bruder XXXX , der ebenso in Österreich lebt, mit Personen in Afghanistan in aufrechtem Kontakt stehen.

3.4.    Die Feststellungen zum Gesundheitszustand des BF, seinem Alter, seinem Familie- und Personenstand (Punkt 2.3.) stützen sich auf die diesbezüglich glaubhaften Angaben des BF vor dem BFA.

3.5.    Die Feststellungen zur unrechtmäßigen Einreise, zum Antrag auf internationalen Schutz, zu den Bescheiden des Bundesasylamtes und des BFA sowie zum Erkenntnis des Asylgerichtshofes und dem vorangehenden Duldungsstatus des BF (Punkte 2.4. und 2.5.) stützen sich auf die Einsichtnahme in seitens des BFA zur Zl. 781306306-200126605, seitens des des Asylgerichtshofes zur GZ XXXX sowie des Bundesverwaltungsgerichts zu den GZ I411 2239645-1, GZ W107 2234715-2 und GZ W255 2234715-3 geführten Verfahren.

3.6.    Die Feststellungen zum Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG 2005 sowie zum Bescheid vom 13.01.2021 und der dagegen erhobenen Beschwerde (Punkt 2.6.) stützen sich auf die genannten, im gegenständlichen Verwaltungsakt befindlichen Dokumente.

3.7.    Die Feststellungen zum Schubhaftverfahren des BF und der Aberkennung des faktischen Abschiebeschutzes des BF (Punkt 2.7.) stützen sich auf die Einsichtnahme in die seitens des BFA zur Zl. 781306306-200126605 sowie des Bundesverwaltungsgerichts zu den GZ I411 2239645-1 und GZ W107 2234715-2 geführten Verfahren.

3.8.    Die Feststellungen zu den Verwandten des BF (Punkt 2.8.) stützen sich auf die Einsichtnahme in das Zentrale Melderegister, die Angaben des BF vor dem BFA und dem Bundesverwaltungsgericht, die Angaben des Bruders und Mutter des BF in der Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht vom 24.02.2021, GZ I411 2239645-1, sowie die Einsichtnahme in den seitens des Landesgerichts XXXX zur GZ XXXX geführten Strafakt.

Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom 23.10.2019, rechtskräftig seit 24.10.2019, GZ XXXX , wurde der BF wegen § 107 Abs. 1 StGB zu einer Geldstrafe von 200 Tagessätzen zu je EUR 4,- (EUR 800,-), im Nichteinbringungsfall zu 100 Tagen Ersatzfreiheitsstrafe, verurteilt.

Dies deshalb, da er seine Mutter am 09.09.2019 „WhatsApp-Sprachnachrichten“ übermittelt und darin mehrfach geäußert hat, er werde ihr ein Messer in den „Arsch“ und in die Scheide stechen, wobei er seine Äußerungen dadurch untermauert hat, dass er ein Foto eines Messers und ein Foto des Wohnhauses seiner Schwester XXXX übermittelt und dadurch gefährlich mit der Zufügung zumindest einer Körperverletzung bedroht hat.

In seiner schriftlichen Stellungnahme an das BFA vom 13.07.2020 gab er bezüglich dieser Verurteilung an, dass er seine Familie nie bedroht habe, es möge sein, dass er etwas gesagt habe, dass er heute bereue. Es habe vielleicht Streit zwischen ihnen gegeben, aber der BF sei der älteste Sohn und habe sich seit dem Tod des Vaters stets um die Familie gekümmert. Während seiner Inhaftierung sei ihm klar geworden, dass er sein ganzes Leben für seine Mutter und Schwestern geopfert habe.

In seiner schriftlichen Stellungnahme an das BFA vom 13.07.2020 gab er im Hinblick auf sein Verhältnis zu seinen in Österreich lebenden Verwandten ua an, dass er sich immer schon um seine Familie gekümmert, schon als Kind gearbeitet habe und sich bis heute um die Familie kümmere. Er habe sein ganzes Leben gearbeitet, damit es seiner Familie an nichts fehle und sie etwas aus ihrem Leben machen könne. Dies steht im Widerspruch dazu, dass der BF nur rund ein Drittel seiner Aufenthaltszeit in Österreich erwerbstätig war und keiner seiner Verwandten je bestätigt hat, dass der BF für ihren Lebensunterhalt in Österreich aufgekommen wäre.

In seiner Einvernahme vor dem BFA vom 06.11.2020 gab er ua an, dass er eine seiner Schwestern „verheiratet“ habe. Befragt, wie das Verhältnis zu seinen Schwestern und seiner Mutter sei, antwortete er: „Es geht schon.“ Im weiteren Verlauf derselben Einvernahme warf der BF seiner Mutter vor, das Zeugnis über seine Deutschprüfung auf A2 Niveau weggeworfen zu haben. In der Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht vom 24.02.2021 gab der BF an, Probleme mit seiner Mutter zu haben und warf seiner Mutter vor, sich nie darum gekümmert zu haben, dass er in Österreich einen Aufenthaltstitel bekomme.

In der Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht vom 24.02.2021 gab der BF weiters an, dass er zwar früher mit seinem Bruder XXXX gemeinsam gewohnt habe, sich sein Bruder dann aber im Jahr 2019 alleine eine andere Wohnung gesucht habe, da er eine solche nachweisen müsse, um seine Verlobte aus Afghanistan nach Österreich bringen zu können. Der Bruder gab wiederum an, dass er sich deshalb eine andere Wohnung für sich alleine gesucht habe, da der BF seinen Mietanteil nicht bezahlt habe und auch wegen seiner Verlobten. Dem Bruder war es somit wichtiger, die gemeinsame Wohnung mit dem BF aufzugeben, (auch) um seine Verlobte, die noch nie gemeinsam mit ihm gelebt hat, eventuell in Zukunft nach Österreich holen zu können, obwohl der BF aufgrund dieser Entscheidung danach Notschlafstellen aufsuchen und dort nächtigen musste. Der BF hat es dann bevorzugt, über mehrere Monate hindurch in Notschlafstellen Unterkunft zu finden, statt seine Mutter und/oder eine seiner Schwestern zu ersuchen, bei ihnen vorübergehend wohnen zu dürfen. Auch darin wird das beeinträchtigte Verhältnis des BF zu seinen in Österreich lebenden Verwandten ersichtlich.

Die Mutter des BF behauptete zwar in der Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht vom 24.02.2021 sie habe immer ein gutes Verhältnis zum BF gehabt, dies ist aber schon deshalb nicht nachvollziehbar und nicht glaubhaft, da der BF aufgrund der Bedrohung, seiner Mutter mit dem Messer in den „Arsch“ und in die Scheide zu stechen, rechtskräftig verurteilt wurde.

3.9.    Die Feststellungen, dass der BF über keine engen Bezugspersonen bzw. engen Freundeskreis in Österreich verfügt und keine Lebensgemeinschaft in Österreich führt (Punkt 2.9.) stützen sich auf die Angaben des BF im gegenständlichen Verfahren, insbesondere auf seine schriftliche Stellungnahme vom 13.07.2020 und seine Einvernahme vor dem BFA vom 06.11.2020. Dort wurde vom BF nie Gegenteiliges behauptet.

3.10.   Die Feststellungen zu den Deutschsprachkenntnissen des BF (Punkt 2.10.) stützen sich darauf, dass der BF nie ein Zeugnis über eine bestandene Deutschprüfung auf A2 Niveau oder einem höheren Niveau vorgelegt hat und er sowohl bei seiner Einvernahme vor dem BFA vom 06.11.2020 als auch der Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht vom 24.02.2021 auf die Unterstützung durch einen Dolmetscher angewiesen war.

3.11.   Die Feststellungen zur nicht vorhandenen Mitgliedschaft in einem Verein und dem mangelnden ehrenamtlichen Engagement des BF (Punkt 2.11.) stützen sich auf die Angaben des BF im gegenständlichen Verfahren sowie auf das erste Asylverfahren des BF, in dem seitens des BF nie ein ehrenamtliches Engagement behauptet wurde.

3.12.   Die Feststellungen zu den Erwerbstätigkeiten des BF (Punkt 2.12.) stützen sich auf die Einsichtnahme in die Daten des Dachverbandes der österreichischen Sozialversicherungsträger.

3.13.   Die Feststellungen zu den strafrechtlichen Verurteilungen des BF (Punkt 2.13.) stützen sich auf die Einsichtnahme in die seitens des Landesgerichts XXXX zu den GZ XXXX geführten Strafakte.

3.14.   Die Feststellungen zu den Verwaltungsstrafen des BF stützen sich auf die im Verwaltungsakt gespeicherten Abfragen des BFA (Punkt 2.14.), denen die jeweilige Geschäftszahl samt Verwaltungsstrafe (Gesetzesgrundlage und Höhe) zu entnehmen ist.

3.15.   Die Feststellungen zu den Unterkünften des BF (Punkt 2.15.) stützen sich auf die Einsichtnahme in das Zentrale Melderegister, das Strafregister sowie die Angaben des BF in der Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht vom 24.02.2021. Dort führte er aus, vor seiner Inhaftierung mangels Unterkunft in Notschlafstellen genächtigt zu haben.

3.16.   Die Feststellungen dahingehend, dass keine maßgeblichen Anhaltspunkte für eine besondere Integration in sprachlicher, beruflicher oder gesellschaftlicher Hinsicht vorliegen (Punkt 2.17.), stützen sich auf eine Gesamtbetrachtung der unter Punkt 2.1. bis 2.18. getroffenen Feststellungen. So hat der BF trotz 12,5-jährigem Aufenthalt in Österreich beispielsweise nie eine Deutschprüfung auf A2 oder höherem Niveau abgelegt, war nie länger als ein Jahr durchgehend erwerbstätig, geht seit 02.08.2020 keiner Erwerbstätigkeit nach, hat ein beeinträchtigtes Verhältnis zu seinen in Österreich lebenden Verwandten und verfügt über keine engen Bezugspersonen / Freundeskreis in Österreich.

3.17.   Die Feststellungen zur negativen Zukunftsprognose (Punkt 2.18.) stützen sich auf eine Gesamtbetrachtung der unter Punkt 2.1. bis 2.17. getroffenen Feststellungen, insbesondere auf die mehrfachen, rechtskräftigen Verurteilungen des BF wegen strafbarer Handlungen, der 30 Verwaltungsstrafen sowie der Tatsache, dass der BF weder über Einkünfte, noch über einen Rechtsanspruch auf eine ortsübliche Unterkunft verfügt.

Die Feststellung, dass der BF über ein Gesellschaftsbild und Ansichten verfügt, die den in Europa geltenden Werten und Rechten, insbesondere im Hinblick auf die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie Achtung der Rechte von Frauen, widersprechen, stützt sich insbesondere auf die Verurteilung des BF wegen der Drohung, seiner Mutter mit einem Messer in den „Arsch“ und ihre Scheide zu stechen sowie den Umgang des BF mit diesem Vorfall bis heute. Er zeigt in keiner Weise Reue, sondern rechtfertigt seine Tat damit, dass er sein ganzes Leben seiner Mutter und seinen Schwestern geopfert und immer für sie gearbeitet hätte, ohne dass diese – sinngemäß – dafür dankbar gewesen wären. Abgesehen dafür, dass mangelnder Dank die vom BF begangene Drohung nicht rechtfertigen oder entschuldigen würde, war der BF in Österreich weder „immer“ arbeitend (im Gegenteil, er war nur während eines Drittel seines Aufenthalts in Österreich erwerbstätig), noch hat er maßgeblich zum Erhalt des Lebensunterhaltes seiner Mutter und/oder Schwestern beigetragen. Diese leben auch getrennt von ihm. Weiters stützt sich die Feststellung darauf, dass der BF am 06.11.2020 vor dem BFA angab, eine seiner Schwestern „verheiratet“ zu haben.

4.       Rechtliche Beurteilung:

Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist. Gemäß Abs. 2 hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.

Zu A.I.) Zur Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides.

4.1.    Gemäß § 55 Abs. 1 AsylG 2005 ist im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine „Aufenthaltsberechtigung plus“ zu erteilen, wenn
1.         dies gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten ist und
2.         der Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 Integrationsgesetz (IntG), BGBl. I Nr. 68/2017, erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit ausübt, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze (§ 5 Abs. 2 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz (ASVG), BGBl. Nr. 189/1955) erreicht wird.

(2) Liegt nur die Voraussetzung des Abs. 1 Z 1 vor, ist eine „Aufenthaltsberechtigung“ zu erteilen.

[…]

Gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG sind bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK insbesondere zu berücksichtigen:
1.         die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,
2.         das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,
3.         die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,
4.         der Grad der Integration,
5.         die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,
6.         die strafgerichtliche Unbescholtenheit,
7.         Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,
8.         die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,

9.       die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.

4.2.    Nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ist bei der Beurteilung, ob im Fall der Erlassung einer Rückkehrentscheidung in das durch Art. 8 EMRK geschützte Privat- und Familienleben des oder der Fremden eingegriffen wird, eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen, die auf alle Umstände des Einzelfalls Bedacht nimmt. Maßgeblich sind dabei etwa die Aufenthaltsdauer, das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens und dessen Intensität sowie die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, weiters der Grad der Integration des Fremden, der sich in intensiven Bindungen zu Verwandten und Freunden, der Selbsterhaltungsfähigkeit, der Schulausbildung, der Berufsausbildung, der Teilnahme am sozialen Leben, der Beschäftigung und ähnlichen Umständen manifestiert sowie die Bindungen zum Heimatstaat (vgl. VwGH 15.12.2015, Ra 2015/18/0265, mwN, sowie zuletzt den Beschluss vom 07.09.2016, Ra 2016/19/0168).

Der Verwaltungsgerichtshof hat wiederholt zum Ausdruck gebracht, dass gemäß dessen Judikatur bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt eines Fremden regelmäßig von einem Überwiegen seiner persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen ist und dass nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, Aufenthaltsbeendigungen ausnahmsweise auch nach so langen Inlandsaufenthalten noch als verhältnismäßig angesehen wurden (vgl. aus jüngster Zeit nur VwGH 08.11.2018, Ra 2016/22/0120, Punkt 6.2. der Entscheidungsgründe, mwN).

Der Verwaltungsgerichtshof hat weiters ausgeführt, dass das persönliche Interesse des Fremden an einem weiteren Verbleib in Österreich grundsätzlich mit der Dauer des bisherigen Aufenthalts des Fremden zunimmt. Die bloße Aufenthaltsdauer ist freilich nicht allein maßgeblich, sondern es ist anhand der jeweiligen Umstände des Einzelfalles vor allem zu prüfen, inwieweit der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit dazu genützt hat, sich sozial und beruflich zu integrieren. Bei der Einschätzung des persönlichen Interesses ist auch auf die Auswirkungen, die eine Ausweisung auf die familiären oder sonstigen Bindungen des Fremden hätte, Bedacht zu nehmen (vgl. VwGH 22.09.2011, 2007/18/0864 bis 0865 mwN). Im Falle einer bloß auf die Stellung eines Asylantrags gestützten Aufenthalts wurde in der Entscheidung des EGMR (N. gegen United Kingdom vom 27.05.2008, Nr. 26565/05) auch ein Aufenthalt in der Dauer von zehn Jahren nicht als allfälliger Hinderungsgrund gegen eine Ausweisung unter dem Aspekt einer Verletzung von Art. 8 EMRK thematisiert.

Vom Begriff des „Familienlebens“ in Art. 8 EMRK ist nicht nur die Kleinfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern umfasst, sondern z.B. auch Beziehungen zwischen Geschwistern (EKMR 14.03.1980, B 8986/80, EuGRZ 1982, 311) und zwischen Eltern und erwachsenen Kindern (etwa EKMR 06.10.1981, B 9202/80, EuGRZ 1983, 215). Dies allerdings nur unter der Voraussetzung, dass eine gewisse Beziehungsintensität vorliegt. Es kann nämlich nicht von vornherein davon ausgegangen werden, dass zwischen Personen, welche miteinander verwandt sind, immer auch ein ausreichend intensives Familienleben iSd Art. 8 EMRK besteht, vielmehr ist dies von den jeweils gegebenen Umständen, von der konkreten Lebenssituation abhängig. Der Begriff des „Familienlebens“ in Art. 8 EMRK setzt daher neben der Verwandtschaft auch andere, engere Bindungen voraus; die Beziehungen müssen eine gewisse Intensität aufweisen. So ist etwa darauf abzustellen, ob die betreffenden Personen zusammengelebt haben, ein gemeinsamer Haushalt vorliegt oder ob sie (finanziell) voneinander abhängig sind (vgl. dazu EKMR 06.10.1981, B 9202/80, EuGRZ 1983, 215; EKMR 19.07.1968, 3110/67, Yb 11, 494 (518); EKMR 28.02.1979, 7912/77, EuGRZ 1981, 118; EKMR 14.03.1980, 8986/80, EuGRZ 1982, 311; Frowein-Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK-Kommentar, 2. Auflage (1996) Rz 16 zu Art. 8; Baumgartner, Welche Formen des Zusammenlebens schützt die Verfassung? ÖJZ 1998, 761; vgl. auch Rosenmayr, Aufenthaltsverbot, Schubhaft und Abschiebung, ZfV 1988, 1, ebenso VwGH 26.01.2006, 2002/20/0423; vgl. auch VwGH 08.06.2006, 2003/01/0600 sowie VwGH 26.01.2006, 2002/20/0235, wonach das Familienleben zwischen Eltern und minderjährigen Kindern nicht automatisch mit Erreichen der Volljährigkeit beendet wird, wenn das Kind weiter bei den Eltern lebt).

Der Begriff des Familienlebens ist darüber hinaus nicht auf Familien beschränkt, die sich auf eine Heirat gründen, sondern schließt auch andere de facto Beziehungen ein; maßgebend ist beispielsweise das Zusammenleben eines Paares, die Dauer der Beziehung, die Demonstration der Verbundenheit durch gemeinsame Kinder oder auf andere Weise (EGMR Marckx, EGMR 23.04.1997, X ua). Bei dem Begriff „Familienleben“ im Sinne des Art. 8 EMRK handelt es sich nach gefestigter Ansicht der Konventionsorgane um einen autonomen Rechtsbegriff der Konvention.

Nach ständiger Rechtsprechung der Gerichtshöfe öffentlichen Rechts kommt dem öffentlichen Interesse aus der Sicht des Schutzes und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung iSd Art. 8 Abs. 2 EMRK ein hoher Stellenwert zu. Der Verfassungsgerichtshof und der Verwaltungsgerichtshof haben in ihrer Judikatur ein öffentliches Interesse in dem Sinne bejaht, als eine über die Dauer des Asylverfahrens hinausgehende Aufenthaltsverfestigung von Personen, die sich bisher bloß aufgrund ihrer Asylantragsstellung im Inland aufhalten durften, verhindert werden soll (VfSlg. 17.516/2005 und VwGH 26.06.2007, 2007/01/0479).

4.3.    Der BF hält sich seit 12,5 Jahren in Österreich auf. Er ist am 23.12.2008 in Österreich eingereist und hat am selben Tag den ersten Antrag auf internationalen Schutz gestellt. Von 09.12.2010 bis 04.11.2011 verfügte der BF über den Status des subsidiär Schutzberechtigten. Von 23.08.2012 bis 20.02.2020 war der BF in Österreich geduldet.

Der BF verfügt zwar über Verwandte in Österreich, wo seine Mutter, seine beiden Schwestern und einer seiner beiden Brüder lebt. Wie festgestellt, ist das Verhältnis des BF zu seinen Verwandten beeinträchtigt, besteht keinerlei gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis, kein gemeinsamer Wohnsitz und wurde der BF rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe verurteilt, weil er seiner Mutter am 09.09.2019 damit gedroht hat, ihr mit einem Messer in ihren „Arsch“ und ihre Scheide zu stechen.

Der BF verfügt über keinen Freundeskreis, keine engen Bezugspersonen und ist nicht Mitglied in einem Verein. Er ist seit 02.08.2020 keiner Erwerbstätigkeit mehr nachgegangen, hat in den letzten 12,5 Jahren nie länger als durchgehend ein Jahr eine Beschäftigung über der Geringfügigkeitsgrenze ausgeübt und war insgesamt nur ein Drittel seines Aufenthaltes in Österreich erwerbstätig.

Der BF verfügt über kein Einkommen, er ist nicht selbsterhaltungsfähig, er verfügt über keinen Rechtsanspruch auf eine ortsübliche Unterkunft und keinen Versicherungsschutz.

Der BF verfügt nicht über stark fortgeschrittene Deutschsprachkenntnisse. Er hat trotz 12,5jährigem Aufenthalt in Österreich nie eine Deutschprüfung auf A2 Niveau oder einem höheren Niveau in Österreich bestanden.

Der BF verbrachte seine Kindheit und Jugend teils in Afghanistan teils im Iran, wurde dort im afghanischen familiären Umfeld sozialisiert und spricht eine in seiner Heimat weit verbreitete Sprache auf muttersprachlichem Niveau. Seine Bindung zu Afghanistan ist insbesondere unter dem Aspekt seiner Sozialisierung in einem afghanischen Familienverband, seiner Muttersprache und der daraus abgeleiteten Verbundenheit mit der afghanischen Kultur deutlich intensiver als jene zu Österreich. Es deutet nichts darauf hin, dass es dem BF im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat nicht möglich wäre, sich wieder in die dortige Gesellschaft zu integrieren. Sein Vater, einer seiner Brüder, Verwandte mütterlicherseits, die Verlobte seines Bruders XXXX und seine eigene Verlobte leben in Afghanistan. Obwohl der BF seit 12,5 Jahren in Österreich lebt, hat er sich mit einer afghanischen Staatsangehörigen, die in Afghanistan lebt und die er noch nie persönlich getroffen hat, verlobt, nachdem er diese über in Afghanistan lebende Verwandte „kennengelernt“ hat (über Telefon/Internet). Der BF beherrscht seine Muttersprache Paschto wesentlich besser als Deutsch.

Der BF wurde in Österreich mehrfach rechtskräftig wegen diverser strafbarer Handlungen (beharrliche Verfolgung eines weiblichen Opfers, Erpressung, gefährliche Drohung, Benützung verfälschter besonders geschützter Urkunden, gefährliche Drohung ua zum Nachteil naher Angehöriger) verurteilt und es wurden 30 Verwaltungsstrafen rechtskräftig über ihn verhängt.

Der BF befindet sich zum Entscheidungszeitpunkt in Schubhaft. Er hat während seiner Schubhaft einen Folgeantrag gestellt, nachdem sein erster Antrag im Hinblick auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten rechtskräftig negativ entschieden worden war. Der faktische Abschiebschutz des BF wurde rechtskräftig aufgehoben.

4.4.    Den dargestellten, sehr schwach ausgeprägten privaten Interessen des BF an einem weiteren Aufenthalt in Österreich stehen die öffentlichen Interessen an einem geordneten Fremdenwesen gegenüber. Nach ständiger Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes kommt den Normen, die die Einreise und den A

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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