TE Bvwg Erkenntnis 2021/7/16 W231 2189337-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 16.07.2021
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Entscheidungsdatum

16.07.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §2 Abs1 Z13
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §9 Abs2
BFA-VG §18 Abs1 Z1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §55 Abs1a

Spruch


W231 2189337-1/23E
W231 2189337-2/18E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Birgit HAVRANEK als Einzelrichterin über die Beschwerden von mj. XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch Caritas für Menschen in Not, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl 1. vom 08.02.2018, Zl. XXXX , und 2. vom 28.01.2020, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides vom 08.02.2018 wird gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 als unbegründet abgewiesen.

II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt VII. des angefochtenen Bescheides vom 28.01.2020 wird insofern stattgegeben, als die Dauer des Einreiseverbotes auf drei (3) Jahre herabgesetzt wird. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

I.1. Der mj. Beschwerdeführer (in Folge: „BF“) reiste gemeinsam mit seinem Vater (Beschwerdeführer BF1 zur Zl. W231 2189342-1), seiner Mutter (Beschwerdeführerin BF2 zur Zl. 2189345-1), seiner damals mj. Schwester (Beschwerdeführerin BF3 zur Zl. 2189339-1) sowie mit seinem mj. Halbbruder (Sohn seiner Mutter, Beschwerdeführer BF5 zur Zl. 2189343-1) in das Bundesgebiet ein. Die Eltern stellten für sich und die drei genannten Kinder, auch für den BF, am 24.10.2015 Anträge auf internationalen Schutz in Österreich.

I.2. Der Vater des BF gab anlässlich seiner Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 24.10.2015 zusammengefasst an, er sei Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken und Schiit. Er stamme aus Herat in Afghanistan und sei im Kindesalter mit seiner Familie in den Iran übersiedelt. Im Jahr 1994 sei er nach Afghanistan abgeschoben worden und sei dort in den Militärdienst eingetreten. Nach ca. 10 Monaten hätten die Taliban die Macht übernommen und alle Soldaten hätten ihre Waffen zurückgeben müssen, auch er, und er habe dafür eine Quittung erhalten. Dann sei er wieder in den Iran gegangen. Vor ca. vier Jahren sei er mit seiner zweiten Frau (nicht die Mutter des BF) zurück nach Afghanistan gegangen. Dort seien nach ca. 10 Monaten unbekannte Leute zu ihnen nach Hause gekommen und hätten ihn und seine Tochter aus zweiter Ehe mitgenommen. Sie hätten ihm vorgeworfen, dass er noch 17 weitere Waffen besitze und diese zurückgeben müsse. Sie hätten ihn laufen lassen, aber seine Tochter weiter festgehalten und gedroht, sie zu töten, falls er die Waffen nicht zurückbringe. Zwei Tage später sei seine zweite Frau vom Einkaufen nicht mehr zurückgekommen. Daraufhin habe er sich entschlossen, Afghanistan zu verlassen und sei in die Türkei gegangen, wo er einige Jahre gelebt habe. Sodann sei er mit seinen Kindern aus erster Ehe, dem BF und dessen Schwester, von der Türkei aus nach Europa aufgebrochen. Im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan befürchte er, von den unbekannten Leuten umgebracht zu werden.

I.3. Die Mutter des BF gab anlässlich ihrer Erstbefragung am 24.10.2015 zusammengefasst an, sie sei Angehörige der Volksgruppe der Sadat und Schiitin. Sie stamme aus Herat in Afghanistan. Als sie ein Jahr alt gewesen sei, sei sie in den Iran übersiedelt, wo sie in der Folge bis zu ihrer Ausreise gelebt habe. Sie sei früher mit dem Vater des BF verheiratet gewesen und habe mit diesem fünf Kinder, darunter der BF, sie hätten sich jedoch getrennt. Später habe sie noch einmal geheiratet, dieser Mann sei ein Iraner gewesen und ihr gemeinsames Kind sei der Halbbruder des BF. Die Familie des zweiten Mannes sei gegen die Ehe gewesen, da sie Afghanin sei. Deshalb hätten sie sich vor ca. einem Jahr scheiden lassen. Von da an sei es für sie mit einem Kind als alleinerziehende Mutter sehr schwierig gewesen, im Iran zu leben. Sie hätten keine Dokumente gehabt und seien dort illegal gewesen. Sie hätten keine Zukunft gehabt und wären bei einem Aufgriff nach Afghanistan abgeschoben worden. Auch in Afghanistan habe sie keine Zukunftsaussichten, da sie dort nur ein Jahr gewesen sei, seitdem sei sie nicht mehr dort gewesen. Sie kenne das Land nicht und habe dort keine Bezugsperson.

I.4. Am 18.10.2017 wurde die Mutter des BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Oberösterreich (in Folge: BFA) niederschriftlich einvernommen.

Sie gab auf das Wesentlichste zusammengefasst an, sie stamme aus der Provinz Herat, ihr Vater sei verstorben, als sie ein Jahr alt gewesen sei. Danach habe sie eine sehr schwere Zeit gehabt. Sie habe noch einige Jahre in Afghanistan gelebt und sei dann mit ihrer Mutter und ihrem Stiefvater in den Iran gegangen. Ihr Stiefvater habe sie ständig geschlagen. Sie habe nie die Schule besucht, da ihr Stiefvater dies nicht erlaubt habe. Sie sei immer zuhause gewesen und habe arbeiten müssen. Als sie 10 Jahre alt gewesen sei, habe ihr Stiefvater sie verkauft und sie habe den Vater des BF heiraten müssen, mit dem sie fünf Kinder habe. Sie habe die Hausarbeit gemacht und die Kinder betreut. Nach der Scheidung habe der Vater des BF das Sorgerecht bekommen, weil das im Iran so üblich sei, und er sei mit den Kindern, darunter der BF und dessen Schwester, in die Türkei gegangen und habe dort mit ihnen gelebt. Sie habe später nochmals geheiratet, dieser Ehe entstamme der Halbbruder des BF. Auch von diesem Mann habe sie sich scheiden lassen, da er sie sehr schlecht behandelt und geschlagen habe. Daraufhin sei ihre Aufenthaltskarte vernichtet worden und sie habe sich im Iran illegal aufgehalten. Als die Grenzen geöffnet worden seien, sei sie mit ihrem Sohn, dem Halbbruder des BF, in die Türkei gereist und habe den Fluchtweg gemeinsam mit dem Vater des BF, dem BF und dessen Schwester angetreten.

Zu ihren Fluchtgründen gab sie an, ihr Vater, ihr Bruder und ihre Schwester seien damals in Afghanistan getötet worden. Sie wisse nicht von wem und warum, sie sei damals noch ein Kind gewesen. Sie wisse nicht, warum sie Afghanistan in den Iran verlassen hätten. Ihr Stiefvater habe sie in den Iran gebracht. Mittlerweile sei dieser verstorben. Den Iran habe sie verlassen, weil sie dort alleine und illegal aufhältig gewesen sei. In Afghanistan habe sie niemanden und sie würde dort vielleicht wie ihr Vater und ihr Bruder umgebracht. Für den BF wurden darüber hinaus keine eigenen Fluchtgründe in Bezug auf Afghanistan geltend gemacht.

I.5. Am 09.01.2018 wurde der Vater des BF vor dem BFA niederschriftlich einvernommen.

Er gab auf das Wesentlichste zusammengefasst ergänzend an, er stamme aus der Stadt Herat. Er habe nie eine Schule besucht. Mit ca. 10 Jahren sei er in den Iran gegangen. Im Jahr 1373 sei er nach Afghanistan abgeschoben worden. Dort sei er 10 Monate gewesen und habe als Soldat für die afghanische Armee gearbeitet, dann sei er nach der Machtergreifung der Taliban wieder in den Iran zurückgekehrt. Er habe immer als Hilfsarbeiter gearbeitet, ca. 5 Jahre als Steinmetz, 5 Jahre als Fahrer und zuletzt in einem Lager. Im Jahr 2010 habe er sich noch einmal kurz in Afghanistan befunden, bis er dann in die Türkei gegangen sei, wo er 8 Jahre gelebt habe.

Zu seinen Fluchtgründen gab er an, er habe im Jahr 1373 in Afghanistan als Wachmann und Soldat bei einem Polizeisicherheitsposten gearbeitet und habe auf Waffen aufpassen müssen. Damals seien Waffen verloren gegangen. Sein Haus sei in der Nähe des Checkpoints gewesen. Er habe eine Waffe mit nach Hause genommen. Als er zurückgekommen sei, seien die restlichen 17 Waffen verschwunden gewesen. Er habe seine Waffe den Taliban übergeben und habe auch eine Quittung dafür bekommen. Etwa einen Monat danach habe er das Land verlassen und sei wieder in den Iran gegangen. In der dritten Nacht seiner erneuten Rückkehr nach Afghanistan im Jahr 2010 seien er und seine Tochter seiner zweiten Frau festgenommen worden, zu einem Ort gebracht und befragt worden. Er habe nicht gewusst, ob diese Personen zu den Taliban gehört hätten oder Regierungsmitglieder gewesen seien. Die Personen hätten wissen wollen, wo sich die Waffen befänden, die im Jahr 1373 verloren gegangen seien. Das habe er aber nicht gewusst. Man habe ihm damals gesagt, wenn die Taliban kommen würden, solle er ihnen alles überlassen. Er habe die Waffen nicht angerührt, sie seien verschwunden gewesen. Man habe ihn dann freigelassen, damit er herausfinde, wer die Waffen habe. Seine Tochter habe dortbleiben müssen. Nach zwei Tagen habe er erfahren, dass seine zweite Frau verschwunden sei, daraufhin sei er in die Türkei geflüchtet. Diese Fluchtgründe würden auch für seinen minderjährigen Sohn, den BF, gelten. Für den BF wurden darüber hinaus keine eigenen Fluchtgründe in Bezug auf Afghanistan geltend gemacht.

I.6. Am 09.01.2018 wurde auch der BF vor dem BFA niederschriftlich einvernommen.

Er gab auf das Wesentlichste zusammengefasst an, er sei Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken und Schiit. Er sei im Iran geboren und sei 7 Jahre alt gewesen, als er den Iran mit seinem Vater und seiner Schwester verlassen habe. Danach seien sie in die Türkei gegangen, wo sie gelebt hätten und wo er 5 Jahre die Schule besucht habe. Im Anschluss seien sie nach Europa aufgebrochen.

Zu seinen Fluchtgründen gab er an, in Afghanistan herrsche Krieg und es gebe dort die Taliban, man könne dort nicht leben. Den Iran hätten sie verlassen, weil man dort Afghanen schlecht behandle. Er wisse nicht, weshalb sie die Türkei verlassen hätten.

I.7. Das BFA wies mit dem angefochtenen Bescheid vom 08.02.2018 den Antrag des BF auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.). Gleichzeitig wurde dem BF im Familienverfahren der Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 34 Abs. 3 AsylG 2005 zuerkannt (Spruchpunkt II.). Eine befristete Aufenthaltsberechtigung wurde gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 bis zum 08.02.2019 erteilt (Spruchpunkt III.).

Begründend heißt es, dem Fluchtvorbringen des Vaters des BF sei betreffend der behaupteten Verfolgungsgründe die Glaubwürdigkeit abzusprechen gewesen. Dem Vorbringen der Mutter des BF sei eine stattgefundene Verfolgung bzw. Verfolgungsgefährdung aufgrund der Rasse, Religion, Nationalität, politischen Gesinnung oder der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe nicht zu entnehmen gewesen. Eigene Fluchtgründe seien vom BF nicht vorgebracht worden. Da seinen Eltern jedoch mit Bescheid vom heutigen Tag der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt worden sei, sei dem BF ebenfalls derselbe Schutzstatus zu gewähren.

Betreffend die oben genannten Familienangehörigen des BF (Vater, Mutter, Schwester, Halbbruder) ergingen am selben Tag ebenfalls gleichförmige Bescheide, mit welchen die Anträge auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten abgewiesen wurden, jedoch der Status von subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wurde.

I.8. Gegen Spruchpunkt I. des Bescheides vom 08.02.2018 richtet sich die vorliegende, fristgerecht eingebrachte und zulässige Beschwerde, die zu Zl. W231 2189337-1 protokolliert ist.

Der BF focht den Bescheid wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit, unrichtiger rechtlicher Beurteilung und Mangelhaftigkeit des Verfahrens aufgrund fehlerhafter bzw. unzureichender Ermittlungen und mangelhafter Beweiswürdigung an. Das Fluchtvorbringen des Vaters des BF sei entgegen der Annahme der Behörde glaubwürdig. Der BF habe jahrelang im Iran und in Österreich gelebt und könnte aufgrund eines unterstellten Werteabfalls zur Zielscheibe von Übergriffen in Afghanistan werden. Die Mutter und die Schwester des BF hätten einen westlichen Lebensstil angenommen, lebten hier in Österreich ihre Freiheiten aus und seien in Afghanistan deswegen asylrelevant verfolgt.

I.9. Dem Antrag des BF auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung vom 08.01.2019 wurde mit Bescheid des BFA vom 15.03.2019 stattgegeben und die befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 08.02.2021 verlängert.

I.10. Mit Schreiben vom 23.04.2019 wurde das Bundesverwaltungsgericht vom BFA darüber informiert, dass gegen den BF wegen Körperverletzung Anzeige erstattet worden sei, weil er beschuldigt werde, eine Person im Gesicht verletzt zu haben.

Mit Schreiben vom 15.06.2020 informierte das BFA darüber, dass gegen den BF wegen Raufhandels, Sachbeschädigung und gefährlicher Drohung Anzeige erstattet worden sei, weil er beschuldigt werde, eine andere Person mehrmals mit den Fäusten ins Gesicht geschlagen zu haben, mit dem Fuß in einen PKW eine Delle getreten zu haben und dieselbe Person mit dem Umbringen bedroht zu haben.

Diese Anzeigen führten jedoch nicht zu einer strafgerichtlichen Verurteilung.

I.11. Mit Meldung einer Landespolizeidirektion vom 17.08.2019 wurde das BFA darüber informiert, dass gegen den BF wegen schwerer Körperverletzung Anzeige erstattet worden sei, weil er beschuldigt werde, eine andere Person mit einem Fußtritt ins Gesicht schwer verletzt zu haben.

Das BFA leitete daraufhin mit Aktenvermerk vom 06.09.2019 gegen den BF amtswegig ein Verfahren zur Prüfung der Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ein.

I.12. Der BF wurde mit Urteil des Landesgerichtes Linz vom 23.10.2019, Zl. 37 Hv 120/19a, rechtskräftig am 29.10.2019, wegen des Verbrechens der schweren Körperverletzung gemäß § 84 Abs. 4 StGB unter Anwendung des § 5 Z 4 JGG zur einer Freiheitsstrafe in der Dauer von sechs Monaten verurteilt, die unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde (Jugendstraftat).

I.13. Am 11.12.2019 wurde der BF vor dem BFA zum Aberkennungsverfahren im Beisein seiner gesetzlichen Vertretung niederschriftlich einvernommen.

Er gab auf das Wesentlichste zusammengefasst an, falls er nach Afghanistan zurückkehren müsste, wisse er nicht, was ihn dort erwarte, er sei dort noch nie gewesen, kenne niemanden und habe dort niemanden, der ihn unterstützen könnte. Befragt zu der oben genannten strafgerichtlichen Verurteilung gab er an, das sei sehr schlecht von ihm gewesen, er sei aber vom Opfer provoziert worden und habe sich nur gewehrt. Er sei in der Situation gestresst gewesen und habe nicht gewusst, wie er reagieren sollte, dann habe er zugeschlagen. Es tue ihm leid, er sei durch die Verurteilung anders geworden. Er wolle in Zukunft ein normales Leben führen, eine Schule besuchen und eine Lehrstelle finden.

I.14. Mit Schreiben vom 17.12.2019 erstattete der BF eine Stellungnahme. Darin wurde ausgeführt, es werde nicht verkannt, dass der BF wegen schwerer Körperverletzung verurteilt worden sei. Hingewiesen wurde diesbezüglich auf die aktuelle Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH), wonach im Einzelfall die jeweilige Schwere der verübten Straftat zu prüfen sei und nicht bloß anhand des Strafmaßes der subsidiäre Schutz versagt werden dürfe. Der verübten Straftat sei bereits durch die Verurteilung Rechnung getragen worden. Der BF bereue die Tat und sei um einen ordentlichen Lebenswandel bemüht. Es handle sich bei der Verurteilung um eine Jugendstraftat. Auch wenn durch die unlängst geänderte Rechtslage gemäß § 2 Abs. 4 AsylG abweichend von § 5 lit 10 JGG Rechtsfolgen für Jugendstraftäter vorgesehen seien, stelle die Minderjährigkeit einen besonderen Umstand im Sinne der EuGH-Judikatur dar und würde die Aberkennung des subsidiären Schutzes einen unverhältnismäßigen Eingriff in Art. 3 und 8 EMRK darstellen. Eine Ausweisung würde dem Verbot der Zurückweisung und Zurückschiebung gemäß § 50 Abs. 1 FPG widersprechen, da eine Zurückschiebung nach Afghanistan aufgrund der Minderjährigkeit und der mangelnden afghanischen Sozialisation eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 und 3 EMRK darstellen würde. Es bestehe keine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif. Eine Rückkehrentscheidung sei nicht zulässig und würde unverhältnismäßig stark in das Recht auf Privat- und Familienleben eingreifen. Der minderjährige BF sei in Österreich sozial stark verankert, seine gesamte Kernfamilie sei in Österreich rechtmäßig aufhältig und es bestehe ein regelmäßiger Kontakt. Eine Rückkehrentscheidung sei zumindest bis zum Zeitpunkt der Volljährigkeit für unzulässig zu erklären. Da bei einer Rückkehr von einer massiven Kindeswohlgefährdung auszugehen wäre, sei eine Rückkehr nach Afghanistan derzeit jedenfalls unzulässig.

I.15. Mit dem angefochtenen Bescheid des BFA vom 28.01.2020 wurde dem BF der ihm mit Bescheid des BFA vom 08.02.2018, Zl. XXXX , zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 2 AsylG 2005 von Amts wegen aberkannt (Spruchpunkt I.) und die ihm mit Bescheid vom 15.03.2019 erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter gemäß § 9 Abs. 4 AsylG entzogen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem BF gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 5 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 4 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Gemäß § 9 Abs. 2 AsylG iVm § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Afghanistan unzulässig ist (Spruchpunkt V.). Der Aufenthalt des BF im Bundesgebiet ist gem. § 46a Abs. 1 Z 2 FPG geduldet. Die Frist zur freiwilligen Ausreise wurde gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.). Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG wurde gegen den BF ein auf die Dauer von 5 (fünf) Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VII.).

Begründend heißt es zusammengefasst, der BF sei wegen des Verbrechens der schweren Körperverletzung zu einer bedingten Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt worden. Bei der verübten Straftat handle es sich um ein schweres Verbrechen, weshalb der subsidiäre Schutz abzuerkennen sei. Er sei bereits vor dieser Verurteilung polizeilich wegen Körperverletzung gemäß § 83 StGB in Erscheinung getreten, ohne dass es aufgrund dieser Anzeige zu einer strafgerichtlichen Verurteilung kam. Sein Verhalten stelle insgesamt eine massive Gefahr für die Ordnung und Sicherheit in Österreich dar, weshalb auch ein Einreiseverbot zu erlassen sei. Eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Afghanistan sei jedoch unzulässig. Der BF sei aufgrund seiner Minderjährigkeit nicht in vollem Umfang erwerbsfähig, weshalb nicht davon auszugehen sei, dass er bei einer Rückkehr selbständig für seinen Lebensunterhalt sorgen könnte und nicht ausgeschlossen werden könne, dass er bei einer Rückkehr in eine die Existenz bedrohende Notlage geraten würde. Die öffentlichen Interessen an der Außerlandesbringung des BF würden gegenüber seinen privaten Interessen am Verbleib in Österreich überwiegen, weshalb eine Rückkehrentscheidung zu erlassen sei.

I.16. Gegen die Spruchpunkte I., II., IV., VI. und VII. des Bescheides vom 28.01.2020 richtet sich die vorliegende, fristgerecht eingebrachte und zulässige Beschwerde, die zu W231 2189337-2 protokolliert ist. Die Spruchpunkte III. und V. (Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Afghanistan unzulässig) wurden nicht bekämpft.

Der BF focht den Bescheid wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit, mangelhafter Beweiswürdigung sowie wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung an. Bei der Straftat des BF handle es sich um eine Jugendstraftat und es hätte von einer Aberkennung des subsidiären Schutzes Abstand genommen werden müssen. Im Hinblick auf die Integration und das schützenswerte Familien- und Privatleben hätte zumindest die Rückkehrentscheidung für dauerhaft unzulässig erklärt werden müssen.

I.17. Am 18.01.2021 brachte der BF beim BFA einen weiteren Antrag auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung ein.

I.18. Am 31.05.2021 fand am Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Beschwerdeverhandlung im Beisein des BF und seiner Familie und ihrer Rechtsvertretung statt. Die belangte Behörde ist entschuldigt nicht erschienen. Auf die Verlesung des gesamten Akteninhalts wurde verzichtet. Die Familienmitglieder legten diverse Unterlagen zu ihren Integrationsbemühungen vor. Von der erkennenden Richterin wurden das „Länderinformationsblatt der Staatendokumentation – Afghanistan“ idF 02.04.2021, die UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, sowie die EASO „Country-Guidance: Afghanistan - Guidance note and common analysis“ in das Verfahren eingebracht.

I.19. Nach der Verhandlung wurde dem BF das aktuelle „Länderinformationsblatt der Staatendokumentation – Afghanistan“ idF 11.06.2021 zur Stellungnahme übermittelt. Am 15.07.2021 langte dazu eine Stellungnahme ein. Es wird den Länderberichten explizit nicht entgegengetreten, aber auf die Minderjährigkeit des BF, die fehlende Anbindung des BF in Afghanistan, den Vormarsch der Taliban und die verschärfte Lange aufgrund der COVID-19 Pandemie hingewiesen. Der BF würde in seiner Heimat keine Lebensgrundlage vorfinden. Überdies habe der BF mittlerweile in Österreich ein verfestigtes Privat- und Familienleben.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

II.1. Feststellungen:

II.1.1. Zur Identität und sozialem Hintergrund des BF:

Der BF ist im Entscheidungszeitpunkt noch knapp minderjährig, führt den im Spruch angeführten Namen und das dort genannte Geburtsdatum. Er ist afghanischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Tadschiken an und ist schiitisch-muslimischen Glaubens. Seine Muttersprache ist Dari. Weiters spricht er Farsi, Türkisch, Englisch und Deutsch. Er ist ledig und hat keine Kinder.

Der Vater des BF war mit der Mutter des BF verheiratet, sie sind jedoch bereits seit längerer Zeit geschieden. Aus dieser Ehe entstammen fünf gemeinsame, leibliche Kinder, darunter die bei der Antragstellung minderjährige, inzwischen volljährige, ältere Schwester des BF sowie der BF. Eine weitere Schwester des BF lebt in Österreich, eine andere in den Niederlanden, ein Bruder lebt in Deutschland.

Der Vater des BF hatte eine zweite Frau und hat mit ihr eine weitere Tochter. Über den Verbleib seiner zweiten Frau und dieser Tochter ist dem Vater nichts bekannt und er hat zu ihnen keinen Kontakt.

Die Mutter des BF hat nach ihrer Scheidung ein zweites Mal geheiratet, ist mittlerweile aber auch von ihrem zweiten Mann wieder geschieden. Aus dieser zweiten Ehe der Mutter entstammt der minderjährige Halbbruder des BF.

Der Vater des BF wurde in der Stadt Herat, Provinz Herat in Afghanistan geboren und ging im Alter von ca. zehn Jahren mit seiner Familie in den Iran, wo er in der Folge lebte. Er hat keine Schule besucht. Später wurde er nach Afghanistan abgeschoben, und kehrte dann wieder in den Iran zurück. Er war Hilfsarbeiter, arbeitete als Steinmetz, LKW-Fahrer und in einem Lager. Nach einem nochmaligen Aufenthalt in Afghanistan reiste er in die Türkei, wo er sich mehrere Jahre lang mit seinen Kindern aufhielt, bis er im Jahr 2015 gemeinsam mit dem BF und dessen Schwester nach Europa aufbrach. Die Mutter und der Halbbruder des BF stießen auf der Reise dazu, sodass sie gemeinsam in Europa ankamen.

Die Mutter des BF stammt aus einem Dorf in Herat. Ihr Vater, ihr Bruder und später auch ihre Schwester kamen unter ihr nicht bekannten Umständen ums Leben. Im Kleinkindalter übersiedelte sie mit ihrer Mutter und ihrem Stiefvater in den Iran, wo sie sich bis zu ihrer Ausreise nach Europa, zuletzt gemeinsam mit dem Halbbruder des BF, aufhielt. Sie hat ebenfalls keine Schule besucht, war Hausfrau und hat sich um ihre Kinder gekümmert. In Afghanistan hat sie keine Familienangehörigen mehr.

Der BF sowie auch seine in Österreich befindliche Schwester und sein Halbbruder wurden im Iran geboren und haben zunächst dort gelebt. Im Alter von sieben Jahren zog der BF mit seinem Vater und seiner Schwester in die Türkei, wo sie in der Folge lebten und wo der BF fünf Jahre lang die Schule besucht hat. Eine Berufsausbildung hat er dort nicht absolviert. Der BF war noch nie in Afghanistan.

Der BF ist gesund und arbeitsfähig. Er gehört keiner Risikogruppe in Bezug auf COVID-19 an.

II.1.2. Zum Leben des BF und seiner Familie in Österreich:

Der BF stellte am 24.10.2015, vertreten durch seine Eltern, gemeinsam mit seiner Familie einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

In Österreich befinden sich der Vater (Beschwerdeführer zur Zl. W231 2189342-1), die Mutter (Beschwerdeführerin zur Zl. 2189345-1), seine inzwischen volljährige, ältere Schwester (Beschwerdeführerin zur Zl. 2189339-1) sowie sein minderjähriger jüngerer Halbbruder (Sohn seiner Mutter, Beschwerdeführer zur Zl. 2189343-1). Diesen Familienmitgliedern wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom heutigen Tag der Status der Asylberechtigten zuerkannt, der Schwester des BF gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005, den Eltern und dem Halbbruder gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 iVm § 34 Abs. 2 AsylG 2005 abgeleitet im Familienverfahren.

Das Land Oberösterreich als Kinder- und Jugendhilfeträger, vertreten durch die Bezirkshauptmannschaft Urfahr-Umgebung, wurde mit Vereinbarung vom 20.03.2019 mit der Obsorge über den BF in den Teilbereichen Pflege und Erziehung und rechtliche Vertretung betraut und hat der „Caritas für Menschen in Not“ die Vollmacht erteilt, den BF im asyl- und fremdenrechtlichen Verfahren in Ausübung der gesetzlichen Vertretung zu vertreten.

Die Angehörigen leben in Österreich nicht im gemeinsamen Haushalt. Der Vater des BF lebt in Wien, die Mutter lebt mit ihrem Sohn, dem Halbbruder des BF, in einer anderen Wohnung in Wien. Die Schwester wohnte früher gemeinsam mit ihrer Familie bzw. bei ihrer Mutter, bewohnt aber seit 2019 eine eigene Wohnung in Linz. Der BF wohnt in Linz, in einer WG - Betreuungseinrichtung für Jugendliche.

Der BF spricht bereits gut Deutsch, konnte aber kein Deutschzertifikat vorlegen. Er hat in Österreich zunächst eine Neue Mittelschule besucht und dann eine Polytechnische Schule begonnen, diese jedoch unterbrochen. Derzeit besucht er seit Jänner 2021 einen Pflichtschulabschluss-Lehrgang und möchte seinen Pflichtschulabschluss nachholen. Danach möchte er eine Lehre als KFZ-Techniker oder Elektrotechniker machen. Einige Male hat er freiwillige Hilfstätigkeiten verrichtet, er hat sich aber nicht regelmäßig ehrenamtlich betätigt. Er hat sich für einen Samstagsjob bei zwei Möbelhäusern beworben, hat aber noch keine Zusage bekommen. Der BF hat an diversen Sportveranstaltungen teilgenommen (Bezirksschulsporttag, Laufveranstaltung, Fußballwettbewerb, Cross-Country Bezirksmeisterschaft). Er hat viele Freunde, darunter auch Österreicher. Der BF geht zum Stressabbau regelmäßig trainieren, dabei handelt es sich um Free-Fight-Training bzw. eine Art Boxen. Der BF konnte ein grundlegendes Interesse für die österreichische (Innen)Politik darlegen, konnte darüber hinaus jedoch kein tiefergehendes Interesse für Kultur und Geschichte substantiieren.

Der BF war in Österreich bisher nicht berufstätig. Er ist nicht selbsterhaltungsfähig und er bezieht Leistungen aus der Grundversorgung.

Der BF wurde in Österreich wie folgt rechtskräftig strafgerichtlich verurteilt:

Er wurde mit Urteil des Landesgerichtes Linz vom 23.10.2019, Zl. 37 Hv 120/19a, rechtskräftig am 29.10.2019, wegen des Verbrechens der schweren Körperverletzung nach § 84 Abs. 4 StGB unter Anwendung des § 5 Z 4 JGG zur einer Freiheitsstrafe in der Dauer von sechs Monaten verurteilt, die unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde (Jugendstraftat).

Der Verurteilung lag zugrunde, dass der BF am 16.09.2019 in bewusstem und gewolltem Zusammenwirken mit einem zweiten Täter eine andere Person vorsätzlich am Körper verletzte, indem sie dem Opfer Faustschläge und Fußtritte ins Gesicht versetzten, und dadurch, wenn auch nur fahrlässig, eine schwere Körperverletzung des Opfers herbeiführten, nämlich eine Kieferfraktur verbunden mit dem Verlust von zwölf Zähnen. Bei der Strafbemessung wurden als mildernd die Unbescholtenheit und das Geständnis des BF gewertet, als erschwerend wurde nichts berücksichtigt. Eine diversionelle Erledigung war nicht möglich, weil die ganzheitliche Abwägung aller unrechts- und schuldrelevanten Tatumstände fallbezogen bereits eine schwere Schuld begründete (äußerst brutale Vorgehensweise).

Der BF hat ein Anmeldeformular für ein Anti-Gewalttraining vorgelegt. Er hat eine Bestätigung vorgelegt, dass er vom 02.01.2019 bis 05.05.2010 „Betreuung“ durch den Verein Neustart in Anspruch genommen hat. Diese Betreuung wurde durch das Land Oberösterreich angeregt und erfolgte auf freiwilliger Basis. Dass der BF regelmäßig und erfolgreich auch ein spezifisches Anti-Gewalttraining absolviert hat, kann nicht festgestellt werden.

Der BF musste schon ein Grundversorgungsquartier aufgrund mehrerer Vorfälle, auch aggressiven Verhaltens, verlassen. Er trat bereits vor der genannten Verurteilung zwei Mal strafrechtlich in Erscheinung, einmal wegen Körperverletzung (Verletzung einer Person im Gesicht) und ein weiteres Mal wegen Raufhandels (Schlagen einer Person mit den Fäusten ins Gesicht), Sachbeschädigung (Eindellen eines PKW durch einen Tritt) und gefährlicher Drohung (Drohung mit dem Umbringen). Es wurde jeweils Anzeige erstattet, diese Anzeigen führten jedoch nicht zu einer strafgerichtlichen Verurteilung.

II.1.3. Zum Fluchtvorbringen des BF:

Der BF war noch nie in Afghanistan. Er ist im Herkunftsland nicht vorbestraft, war nicht inhaftiert, hat sich auch nicht politisch betätigt, nahm an keinen bewaffneten Auseinandersetzungen teil, gegen ihn bestehen keine staatlichen Fahndungsmaßnahmen und er hatte keine Probleme mit den Behörden seines Heimatlandes. Zudem hatte er in seinem Herkunftsstaat keine Probleme aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit oder seines Religionsbekenntnisses.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Vater des BF in Afghanistan von unbekannten Personen aufgrund von vor vielen Jahren angeblich verloren gegangener Waffen festgenommen und bedroht wurde und dass in diesem Zusammenhang die zweite Frau des Vaters und dessen Tochter aus zweiter Ehe entführt worden wären. Die vom Vater des BF vorgebrachten Gründe für seine Ausreise werden mangels Glaubwürdigkeit des Vorbringens nicht festgestellt, weshalb dem BF im Fall einer Verbringung nach Afghanistan aus den vorgebrachten Gründen auch keine Lebensgefahr oder ein Eingriff in seine körperliche Integrität in diesem Zusammenhang durch unbekannte Personen droht.

Der BF hat auch im Zusammenhang mit den vorgebrachten Fluchtgründen seiner Mutter (Tötung von deren Familienmitgliedern durch unbekannte Personen, Zwangsverheiratung und Misshandlung durch deren Stiefvater) im Fall einer Verbringung nach Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit keine asylrelevanten Übergriffe zu befürchten.

Dem BF droht auch aufgrund seiner Religionszugehörigkeit (Schiit) oder aufgrund seiner Eigenschaft als Rückkehrer aus dem westlichen Ausland keine Verfolgung in Afghanistan.

Der BF konnte insgesamt nicht glaubhaft machen, dass er seinen Herkunftsstaat aus wohlbegründeter Furcht vor asylrelevanter Verfolgung verlassen hat oder nach einer allfälligen Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit asylrelevante Übergriffe zu befürchten hätte.

II.1.4. Zur aktuellen Situation in Afghanistan werden folgende Feststellungen getroffen:

Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan (11.06.2021, Version 4):

COVID-19:

Das genaue Ausmaß der COVID-19-Krise in Afghanistan ist unbekannt. In der vorliegenden Länderinformation erfolgt lediglich ein Überblick und keine erschöpfende Berücksichtigung der aktuellen COVID-19-PANDEMIE, weil die zur Bekämpfung der Krankheit eingeleiteten oder noch einzuleitenden Maßnahmen ständigen Änderungen unterworfen sind. Besonders betroffen von kurzfristigen Änderungen sind Lockdown-Maßnahmen, welche die Bewegungsfreiheit einschränken und damit Auswirkungen auf die Möglichkeiten zur Ein- bzw. Ausreise aus / in bestimmten Ländern und auch Einfluss auf die Reisemöglichkeiten innerhalb eines Landes haben kann.

Insbesondere können zum gegenwärtigen Zeitpunkt seriöse Informationen zu den Auswirkungen der Pandemie auf das Gesundheitswesen, auf die Versorgungslage sowie generell zu den politischen, wirtschaftlichen, sozialen und anderen Folgen nur eingeschränkt zur Verfügung gestellt werden.

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Gesundheitssystem und medizinische Versorgung

COVID-19-Patienten können in öffentlichen Krankenhäusern stationär diagnostiziert und behandelt werden (bis die Kapazitäten für COVID-Patienten ausgeschöpft sind). Staatlich geführte Krankenhäuser bieten eine kostenlose Grundversorgung im Zusammenhang mit COVID-19 an, darunter auch einen molekularbiologischen COVID-19-Test (PCR-Test). In den privaten Krankenhäusern, die von der Regierung autorisiert wurden, COVID-19-infizierte Patienten zu behandeln, werden die Leistungen in Rechnung gestellt. Ein PCR-Test auf COVID-19 kostet 3.500 Afghani (AFN) (IOM 18.3.2021).

Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 12.1.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, HRW 13.1.2021, AA 16.7.2020, WHO 8.2020). Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (BAMF 8.2.2021). Mit Mai 2021 wird vor allem von einem starken Mangel an Sauerstoff berichtet (TN 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).

Während öffentliche Krankenhäuser im März 2021 weiterhin unter einem Mangel an ausreichenden Testkapazitäten für die gesamte Bevölkerung leiden, können stationäre Patienten während ihres Krankenhausaufenthalts kostenfreie PCR-Tests erhalten. Generell sind die Tests seit Februar 2021 leichter zugänglich geworden, da mehr Krankenhäuser von der Regierung die Genehmigung erhalten haben, COVID-19-Tests durchzuführen. In Kabul werden die Tests beispielsweise im Afghan-Japan Hospital, im Ali Jennah Hospital, im City Hospital, im Alfalah-Labor oder in der deutschen Klinik durchgeführt (IOM 18.3.2021). Seit Mai 2021 sind 28 Labore in Afghanistan in Betrieb - mit Plänen zur Ausweitung auf mindestens ein Labor pro Provinz. Die nationalen Labore testen 7.500 Proben pro Tag. Die WHO berichtet, dass die Labore die Kapazität haben, bis zu 8.500 Proben zu testen, aber die geringe Nachfrage bedeutet, dass die Techniker derzeit reduzierte Arbeitszeiten haben (UNOCHA 3.6.2021).

In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (IOM 18.3.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, UNOCHA 18.2.2021, USAID 12.1.2021).

Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).

Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt

COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 12.1.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, UNOCHA 19.12.2020). Die kürzlich veröffentlichte IPC-Analyse schätzt, dass sich im April 2021 12,2 Millionen Menschen - mehr als ein Drittel der Bevölkerung - in einem Krisen- oder Notfall-Niveau der Ernährungsunsicherheit befinden (UNOCHA 3.6.2021; vgl. IPC 22.4.2021). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020). Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (AA 16.7.2020).

Die Lebensmittelpreise haben sich mit Stand März 2021 auf einem hohen Niveau stabilisiert: Nach Angaben des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht waren die Preise für Weizenmehl von November bis Dezember 2020 stabil, blieben aber auf einem Niveau, das 11 %, über dem des Vorjahres und 27 % über dem Dreijahresdurchschnitt lag. Insgesamt blieben die Lebensmittelpreise auf den wichtigsten Märkten im Dezember 2020 überdurchschnittlich hoch, was hauptsächlich auf höhere Preise für importierte Lebensmittel zurückzuführen ist (IOM 18.3.2021).

Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 18.3.2021; vgl. WB 15.7.2020).

Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes (IOM 23.9.2020; vgl. AA 16.7.2020). Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.9.2020). Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (IOM 23.9.2020; vgl. Martin/Parto 11.2020).

Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch lang anhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (UNOCHA 19.12.2020).

Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2021 um mehr als 5% geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019 (IOM 18.3.2021).

Nach einer Einschätzung des Afghanistan Center for Excellence sind die am stärksten von der COVID-19-Krise betroffenen Sektoren die verarbeitende Industrie (Non-Food), das Kunsthandwerk und die Bekleidungsindustrie, die Agrar- und Lebensmittelverarbeitung, der Fitnessbereich und das Gesundheitswesen sowie die NGOs (IOM 18.3.2021).

Nach Erkenntnissen der WHO steht Afghanistan [Anm.: mit März 2021] vor einer schleppenden wirtschaftlichen Erholung inmitten anhaltender politischer Unsicherheiten und einem möglichen Rückgang der internationalen Hilfe. Das solide Wachstum in der Landwirtschaft hat die afghanische Wirtschaft teilweise gestützt, die im Jahr 2020 um etwa zwei Prozent schrumpfte, deutlich weniger als ursprünglich geschätzt. Schwer getroffen wurden aber der Dienstleistungs- und Industriesektor, wodurch sich die Arbeitslosigkeit in den Städten erhöhte. Aufgrund des schnellen Bevölkerungswachstums ist nicht zu erwarten, dass sich das Pro-Kopf-Einkommen bis 2025 wieder auf das Niveau von vor der COVID-19-Pandemie erholt (BAMF 12.4.2021).

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Bewegungsfreiheit

Im Zuge der COVID-19 Pandemie waren verschiedene Grenzübergänge und Straßen vorübergehend gesperrt (RFE/RL 21.8.2020; vgl. NYT 31.7.2020, IMPACCT 14.8.2020, UNOCHA 30.6.2020), wobei später alle Grenzübergänge geöffnet wurden (IOM 18.3.2021). Seit dem 29.4.2021 hat die iranische Regierung eine unbefristete Abriegelung mit Grenzschließungen verhängt (UNOCHA 3.6.2021; vgl. AnA 29.4.2021). Die Grenze bleibt nur für den kommerziellen Verkehr und die Bewegung von dokumentierten Staatsangehörigen, die nach Afghanistan zurückkehren, offen. Die Grenze zu Pakistan wurde am 20.5.2021 nach einer zweiwöchigen Abriegelung durch Pakistan wieder geöffnet (UNOCHA 3.6.2021).

Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen statt (F 24 o.D.; vgl. IOM 18.3.2021). Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (IOM 18.3.2021).

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr und Teilnahme an Reintegrationsprogrammen. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (STDOK 14.7.2020). Von 1.1.2020 bis 22.9.2020 wurden 70 Teilnahmen an dem Reintegrationsprojekt Restart III akzeptiert und sind 47 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt (IOM 23.9.2020). Mit Stand 18.3.2021 wurden insgesamt 105 Teilnahmen im Rahmen von Restart III akzeptiert und sind 86 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt (IOM 18.3.2021). Mit Stand 25.5.2021 ist das Projekt Restart III weiter aktiv und Teilnehmer melden sich (IOM AUT 25.5.2021).

Politische Lage (letzte Änderung: 11.06.2021)

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 1.10.2020). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen (NSIA 1.6.2020) bis 39 Millionen Menschen (WoM 6.10.2020).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen, die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (CoA 26.2.2004; vgl. STDOK 7.2016, Casolino 2011).

Die Verfassung der Islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (CoA 26.2.2004; vgl. Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).

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Friedens- und Versöhnungsprozess (letzte Änderung: 11.06.2021)

Die afghanischen Regierungskräfte und die US-Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Aber auch die Aufständischen sind nicht stark genug, die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (NZZ 20.4.2020). 2020 fanden die ersten ernsthaften Verhandlungen zwischen allen Parteien des Afghanistan-Konflikts zur Beendigung des Krieges statt (HRW 13.1.2020). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 7.5.2020; vgl. NPR 6.5.2020, EASO 8.2020a) - die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses (EASO 8.2020a). Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nicht-amerikanischen NATO-Truppen sollen abgezogen werden (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020; REU 6.10.2020). Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa Al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung, Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020, EASO 8.2020a). Die Taliban haben die politische Krise im Zuge der afghanischen Präsidentschaftswahlen derweil als Vorwand genutzt, um den Einstieg in Verhandlungen hinauszuzögern. Sie werfen der afghanischen Regierung vor, ihren Teil der am 29.2.2020 von den Taliban mit der US-Regierung geschlossenen Vereinbarung weiterhin nicht einzuhalten, und setzten ihre militärische Kampagne gegen die afghanischen Sicherheitskräfte mit hoher Intensität fort (AA 16.7.2020; vgl. REU 6.10.2020).

Im September 2020 starteten die Friedensgespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban in Katar (REU 6.10.2020; vgl. AJ 5.10.2020, BBC 22.9.2020). Der Regierungsdelegation gehörten nur wenige Frauen an, aufseiten der Taliban war keine einzige Frau an den Gesprächen beteiligt. Auch Opfer des bewaffneten Konflikts waren nicht vertreten, obwohl Menschenrechtsgruppen dies gefordert hatten (AI 7.4.2021).

Die Gewalt hat jedoch nicht nachgelassen, selbst als afghanische Unterhändler zum ersten Mal in direkte Gespräche verwickelt wurden (AJ 5.10.2020; vgl. AI 7.4.2021). Insbesondere im Süden, herrscht trotz des Beginns der Friedensverhandlungen weiterhin ein hohes Maß an Gewalt, was weiterhin zu einer hohen Zahl von Opfern unter der Zivilbevölkerung führt (UNGASC 9.12.2020; vgl. AI 7.4.2021). Ein Waffenstillstand steht ganz oben auf der Liste der Regierung und der afghanischen Bevölkerung (BBC 22.9.2020; vgl. EASO 8.2020a) wobei einige Analysten sagen, dass die Taliban wahrscheinlich noch keinen umfassenden Waffenstillstand vereinbaren werden, da Gewalt und Zusammenstöße mit den afghanischen Streitkräften den Aufständischen ein Druckmittel am Verhandlungstisch geben (REU 6.10.2020). Die Rechte der Frauen sind ein weiteres Brennpunktthema. Die Taliban sind wiederholt danach gefragt worden und haben wiederholt darauf bestanden, dass Frauen und Mädchen alle Rechte erhalten, die "innerhalb des Islam" vorgesehen sind (BBC 22.9.2020). Frauenrechtlerinnen in Afghanistan haben jedoch seit vielen Jahren Bedenken geäußert, dass die Regierung die Rechte der Frauen eintauschen wird, um eine Einigung mit den Taliban zu erreichen. Die afghanische Regierung hat sich oft dagegen gewehrt, Frauen in Friedensgespräche einzubeziehen. Im Juni 2015 verabschiedete die afghanische Regierung einen nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der Resolution 1325 des Sicherheitsrats für den Zeitraum 2015 bis 2022, der auch das Ziel enthielt, die effektive Beteiligung von Frauen am Friedensprozess zu gewährleisten, doch dem Plan fehlten Details und er wurde nicht sinnvoll umgesetzt (HRW 22.3.2021).

Am Tag der Wiederaufnahme der Verhandlungen in Doha am 5.1.2021 wurde nach Angaben des Verteidigungsministeriums in Kabul in mindestens 22 von 34 Provinzen des Landes gekämpft (Ruttig 12.1.2021; vgl. TN 9.1.2021).

Die neue amerikanische Regierung warf den Taliban im Januar 2021 vor, gegen das im Februar 2020 geschlossene Friedensabkommen zu verstoßen und sich nicht an die Verpflichtungen zu halten, ihre Gewaltakte zu reduzieren und ihre Verbindungen zum Extremistennetzwerk Al-Qaida zu kappen. Ein Pentagon-Sprecher gab an, dass sich der neue Präsident Joe Biden dennoch an dem Abkommen mit den Taliban festhält, betonte aber auch, solange die Taliban ihre Verpflichtungen nicht erfüllten, sei es für deren Verhandlungspartner "schwierig", sich an ihre eigenen Zusagen zu halten (FAZ 29.1.2020; vgl. DZ 29.1.2021). Jedoch noch vor der Vereidigung des US-Präsidenten Joe Biden am 19.1.2021 hatte der designierte amerikanische Außenminister signalisiert, dass er das mit den Taliban unterzeichnete Abkommen neu evaluieren möchte (DW 29.1.2020; vgl. BBC 23.1.2021).

Nach einer mehr als einmonatigen Verzögerung inmitten eskalierender Gewalt sind die Friedensgespräche zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung am 22.2.2021 in Katar wieder aufgenommen worden (RFE/RL 23.2.2021b; vgl. AP 23.2.2021).

Am 18.3.2021 empfing die russische Regierung Vertreter der afghanischen Regierung, der Taliban und von Partnerländern zu einem Gipfeltreffen, das die Friedensgespräche voranbringen sollte. Der 12-köpfigen afghanischen Regierungsdelegation gehörte eine Frau, Dr. Habiba Sarabi, an - ein Rückschritt gegenüber der Teilnahme von vier Frauen unter den 20 Mitgliedern beim innerafghanischen Dialog in Doha, Katar, im September 2020. Die 10-köpfige Taliban-Delegation war wie in der Vergangenheit ausschließlich männlich. Afghanische Frauenrechtsaktivistinnen haben die Sorge geäußert, dass Frauen von den geplanten Friedensgesprächen in der Türkei weitgehend ausgeschlossen werden, wodurch die Rechte der Frauen bei einer endgültigen Einigung stark gefährdet sind (HRW 22.3.2021).

Beobachter sehen bei den Taliban eine bewusste Strategie des Teilens und Herrschens am Werk, die Einladungen zu privaten Gesprächen an verschiedene regionale Warlords und Herrscher verschickt haben. Offenbar ist das Ziel, Präsident Ghani zu isolieren (BAMF 10.5.2021).

Die USA versuchten, in Istanbul eine Konferenz zu organisieren, um an einer Einigung zwischen den Taliban-Aufständischen und der afghanischen Regierung zu arbeiten, indem sie beide Parteien und andere wichtige internationale und regionale Akteure zusammenbrachten (AAN 1.5.2021; vgl. REU 20.4.2021. Die Taliban zeigten, wie sie selbst sagten, kein Interesse an dem Treffen und erklärten nach der Biden-Ankündigung zu den Truppen, dass sie nicht teilnehmen würden. Die Taliban nannten die Konferenz einen Versuch, "die Taliban, ob sie wollen oder nicht, zu einer überstürzten Entscheidung zu drängen, die von Amerika benötigt wird" (AAN 1.5.2021; vgl. VOJ 20.4.2021, AP 21.4.2021)

Die USA, die Türkei, Katar und Pakistan versuchten Berichten zufolge, die Taliban zur Teilnahme an der Konferenz zu bewegen, die für den 24.4.2021 bis 4.5.2021 geplant war, aber scheiterte. Sie wurde offiziell nicht abgesagt, sondern verschoben (AAN 1.5.2021; vgl. TN 22.4.2021). Die Taliban haben die Teilnahme an einem zukünftigen Gipfel in der Türkei nicht ausgeschlossen (RFE/RL 12.5.2021a).

Auf der Kabuler Seite zog die politische Klasse auch nach dem klaren Signal der USA, die Truppen abzuziehen, nicht an einem Strang, weder um ernsthaft mit den Taliban zu verhandeln noch um eine alternative Strategie zu beschließen und zu verfolgen (AAN 1.5.2021).

Abzug der Internationalen Truppen

Im April kündigte US-Präsident Joe Biden den Abzug der verbleibenden Truppen (WH 14.4.2021; vgl. RFE/RL 19.5.2021, AAN 1.5.2021, BBC 23.4.2021) - etwa 2.500-3.500 US-Soldaten und etwa 7.000 NATO-Truppen - bis zum 11.9.2021 an, nach zwei Jahrzehnten US-Militärpräsenz in Afghanistan (RFE/RL 19.5.2021). Er erklärte weiter, die USA würden weiterhin "terroristische Bedrohungen" überwachen und bekämpfen sowie "die Regierung Afghanistans" und "die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte weiterhin unterstützen" (WH 14.4.2021), allerdings ist nicht klar, wie die USA auf wahrgenommene Bedrohungen zu reagieren gedenken, sobald ihre Truppen abziehen (AAN 1.5.2021). Die Taliban zeigten sich von der Ankündigung eines vollständigen und bedingungslosen Abzugs nicht besänftigt, sondern äußerten sich empört über die Verzögerung, da im Doha-Abkommen der 30.4.2021 als Datum für den Abzug der internationalen Truppen festgelegt worden war. In einer am 15.4.2021 veröffentlichten Erklärung wurden Drohungen angedeutet: Der "Bruch" des Doha-Abkommens "öffnet den Mudschaheddin des Islamischen Emirats den Weg, jede notwendige Gegenmaßnahme zu ergreifen, daher wird die amerikanische Seite für alle zukünftigen Konsequenzen verantwortlich gemacht werden, und nicht das Islamische Emirat" (AAN 1.5.2021; vgl. VOJ 20.4.2021).

Für die Taliban ist die Errichtung einer "islamischen Struktur" eine Priorität. Wie diese aussehen würde, haben die Taliban noch nicht näher ausgeführt. Ähnliche Bedenken werden in Bezug auf die Auslegung der Scharia und die Rechte der Frauen geäußert. Die Verhandlungen mit den USA haben bei den Taliban ein Gefühl des Triumphs ausgelöst. Indem sie mit den Taliban verhandeln, haben die USA sie offiziell als politische Gruppe und nicht mehr als Terroristen anerkannt. Gleichzeitig haben die Verhandlungen aber auch die afghanische Regierung unterminiert, die von den Gesprächen zwischen den Taliban und den USA ausgeschlossen wurde (VIDC 26.4.2021). Der Abzug wird eine große Bewährungsprobe für die afghanischen Sicherheitskräfte sein. US-Generäle und andere Offizielle äußerten die Befürchtung, dass er zum Zusammenbruch der afghanischen Regierung und einer Übernahme durch die Taliban führen könnte (RFE/RL 19.5.2021).

Viele befürchten, dass mit dem Abzug der US-Truppen aus Afghanistan eine neue Phase des Konflikts und des Blutvergießens beginnen wird (VIDC 26.4.2021; vgl. AAN 1.5.2021, GM 18.5.2021). Mit dem Abzug der US-Truppen in den nächsten Monaten können die ANDSF mit einem Rückgang der Luftunterstützung und der Partner am Boden rechnen (AAN.1.5.2021; vgl. GM 18.5.2021), während die Taliban in jüngsten Äußerungen [Anm.: Ende April 2021] von einem bevorstehenden Sieg sprachen (RFE/RL 12.5.2021a; vgl. BBC 15.4.2021). Es gab auch einen Anstieg von tödlichen Selbstmordattentaten in städtischen Gebieten, die der islamistischen Gruppe angelastet werden (RFE/RL 12.5.2021a) und verstärkte Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen seit Beginn des Abzugs der internationalen Truppen im April (RFE/RL 12.5.2021a; cf. SIGAR 30.4.2021, BAMF 31.5.2021, LWJ 20.5.2021). Damit haben die Taliban seit Beginn des Truppenabzugs am 1.5.2021 bis Anfang Juni mindestens 12 Distrikte erobert (LWJ 6.6.2021; vgl. DW 6.6.2021, MENAFN 7.6.2021, LWJ 20.5.2021, VOA 7.6.2021).

Es wird erwartet, dass unter einer künftigen Taliban-Herrschaft die Rechte der Frauen im Land einen schweren Rückschlag erleiden werden (BAMF 10.5.2021; vgl. AI 24.5.2021, TD 25.5.2021, BBC 25.4.2021). Außerdem werden die Auswirkungen für Frauen in ländlichen Gebieten, in denen die Taliban die absolute Kontrolle haben, noch schlimmer sein als für Frauen in den großen städtischen Zentren wie Kabul (TD 25.5.2021). Im Mai 2021 warnte Human Rights Watch (HRW), dass sich die Gesundheitsversorgung für Frauen und Mädchen in Afghanistan aufgrund fehlender Spendengelder als Folge des Abzugs der internationalen Truppen und der unklaren Lage im Land verschlechtern wird (HRW 5.2021; vgl. BAMF 10.5.2021).

Viele der schätzungsweise 18.000 afghanischen Dolmetscher, Kommandosoldaten und andere, die mit den US-Streitkräften zusammengearbeitet haben, haben Visa beantragt, um in die USA auszuwandern - ein Prozess, der nach Angaben von Gesetzgebern mehr als zwei Jahre dauern könnte, was sie möglicherweise Racheakten der Taliban aussetzen würde (RFE/RL 19.5.2021). US-amerikanische, britische und deutsche Beamte sowie internationale NGOs wie Human Rights Watch (HRW) äußerten sich besorgt über die Sicherheit von ehemaligen Mitarbeitern der internationalen Streitkräfte (RFE/RL 19.5.2021; BAMF 17.5.2021; BBC 27.4.2021; HRW 8.6.2021), während die Taliban angaben, nicht gegen (ehemalige) Mitarbeiter der internationalen Truppen vorgehen zu wollen. Die Taliban behaupteten in der Erklärung, dass Afghanen, die für die ausländischen "Besatzungstruppen" gearbeitet hätten, "irregeführt" worden seien und "Reue" für ihre vergangenen Handlungen zeigen sollten, da diese einem "Verrat" am Islam und an Afghanistan gleichkämen (VOA 7.6.2021; vgl. MENAFN 7.6.2021, DZ 7.6.2021, HRW 8.6.2021). In den vergangenen Wochen gab es mehrere Demonstrationen afghanischer Ortskräfte in der Hauptstadt Kabul. Sie forderten die ausländischen Truppen und Botschaften auf, sie im Ausland in Sicherheit zu bringen (DZ 7.62021; vgl. HRW 8.6.2021).

Im Mai 2021 schätzt das US-Militär, dass es bis zu einem Viertel seines Abzugs aus Afghanistan abgeschlossen hat (VOA 25.5.2021; vgl. AnA 26.5.2021) und fünf Einrichtungen an das afghanische Verteidigungsministerium übergeben wurden, darunter die riesige Militärbasis Kandahar Airfield [KAF] im Süden Afghanistans (AnA 26.5.2021; vgl. RFE/RL 19.5.2021, AAN 1.5.2021).

Sicherheitslage (letzte Änderung: 09.06.2021)

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2020; vgl. USDOS 30.3.2021). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen, welche in der Nähe von Provinzhauptstädten stationiert sind - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hochburg in der Provinz Nangarhar im November 2019) Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (USDOD 1.7.2020). Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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