Entscheidungsdatum
03.08.2021Norm
AsylG 2005 §7 Abs1 Z2Spruch
W182 2228378-1/13E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. PFEILER über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch RA Mag. Robert Bitsche, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 27.12.2019, Zl. 37925005 – 181220453 / BMI-BFA_WIEN_AST_01, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß § 28 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz, BGBl. I. Nr. 33/2013 (VwGVG) idgF, zu Recht erkannt:
A) I. Die Beschwerde wird hinsichtlich der Spruchpunkte I. - III. des bekämpften Bescheides gemäß §§ 7 Abs. 1 Z 1 und Abs. 4, 8 Abs. 1, 57 Asylgesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (AsylG 2005) idgF, als unbegründet abgewiesen.
II. Die Spruchpunkte IV. bis VII. des bekämpften Bescheides werden behoben, eine Rückkehrentscheidung in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 9 Abs. 2 und Abs. 3 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl I Nr. 87/2012 (BFA-VG) idgF, auf Dauer für unzulässig erklärt und XXXX gemäß § 54 Abs. 1 Z 1, § 58 Abs. 2 iVm § 55 Abs. 1 Z 1 und 2 AsylG 2005, der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung plus“ für die Dauer von 12 Monaten erteilt.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz, BGBl. I Nr. 1/1930 (B-VG) idgF, nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1.1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF) ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, gehört der tadschikischen Volksgruppe an, ist schiitischer Muslim, lebte in Kabul und reiste im Juli 1998 ins Bundesgebiet ein.
Für den BF wurde hier am 28.07.1998, Zl. 98 05.506-BAT, ein Asylerstreckungsantrag gemäß § 10 Asylgesetz 1997, BGBl. I Nr. 76/1997 (AsylG), in Bezug auf das Asylverfahren seines Vaters gestellt. Der Antrag wurde mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 15.09.1998 gemäß § 10 iVm § 11 Abs. 1 AsylG abgewiesen.
Mit Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenates vom 05.06.2000, Zl. 200.992/20-II/04/00, wurde in weiterer Folge der Mutter des BF gemäß § 7 AsylG Asyl gewährt. Die Entscheidung wurde im Wesentlichen damit begründet, dass der Mutter des BF als Angehörige der - dem Weltbild der Taliban widersprechenden - sozialen Gruppe der Frauen stark ausgeprägter moderner Lebensweise in dem von den Taliban beherrschten Teilen Afghanistans asylrelevante Verfolgung drohe. Anhaltspunkte für das Bestehen einer innerstaatlichen Fluchtalternative seien nicht hervorgekommen. Laut ihrem Vorbringen sei die Mutter des BF unter der Regierung der kommunistischen Volksdemokratischen Partei für XXXX in Kabul und eine Frauenorganisation tätig gewesen.
Für den BF wurde am 15.06.2000 ein Asylerstreckungsantrag in Bezug auf das Asylverfahren seiner Mutter gestellt, wobei ihm mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 29.08.2000, Zl. 00 97.933-BAT, gemäß § 11 Abs. 1 AsylG durch Erstreckung in Österreich Asyl gewährt und gemäß § 12 AsylG festgestellt wurde, dass ihm kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme.
1.2. Mit Urteil des Bezirksgerichtes XXXX vom XXXX 2005, Zl. XXXX wurde der BF wegen des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 StGB zu einer Geldstrafe von 40 Tagsätzen zu je 2,- € rechtskräftig verurteilt.
Der Verurteilung lag zu Grunde, dass der BF im XXXX 2005 eine Person durch Faustschläge verletzt hat. Als mildernd wurde das tadellose Vorleben, als erschwerend kein Umstand gewertet.
Danach wurde der BF mit Urteil des Bezirksgerichtes XXXX vom XXXX 2007, Zl. 10 U 375/2005f, wegen des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 StGB zu einer Geldstrafe von 30 Tagsätzen zu je 2,- € (als Zusatzsstrafe zum zuvor genannten Urteil) rechtskräftig verurteilt.
Der Verurteilung lag zu Grunde, dass der BF bereits im XXXX 2004 eine Person leicht am Körper verletzt hat. Als mildernd wurde die Unbescholtenheit des BF, als erschwerend kein Umstand gewertet.
Mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom XXXX 2008, Zl. XXXX , wurde der BF neuerlich wegen des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 3 Monaten, wobei der Vollzug der Strafe unter Setzung einer Probezeit von 3 Jahren bedingt nachgesehen wurde, rechtskräftig verurteilt.
Der Verurteilung lag zu Grunde, dass der BF im Juni 2008 eine Person durch Stoßen, Rauflegen auf den Oberkörper und Verwendung eines Stanleymessers verletzt hat. Als mildernd wurde das Geständnis, als erschwerend die einschlägigen Vorstrafen gewertet.
Wieder wegen des Vergehens der Körperverletzung wurde der BF mit Urteil des Bezirksgerichtes XXXX vom XXXX 2013, Zl. 11 U 17/13i, nach § 83 Abs. 1 StGB zu einer Geldstrafe von 160 Tagsätzen zu je 4,- € rechtskräftig verurteilt.
Der Verurteilung lag zu Grunde, dass der BF im XXXX 2012 eine Person durch einen Faustschlag ins Gesicht verletzt hat. Als erschwerend wurden drei einschlägige Vorstrafen, als mildernd der Beitrag zur Wahrheitsfindung gewertet.
Zuletzt wurde der BF mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom XXXX 2019, Zl. XXXX , wegen des Verbrechens der Schlepperei nach § 114 Abs. 1, Abs. 3 Z 1 und Z 2, Abs. 4 erster Fall FPG sowie wegen des Vergehens des Gebrauchs fremder Ausweise nach § 231 Abs. 2 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 24 Monaten, wobei der Vollzug der verhängten Freiheitsstrafe in der Höhe von 16 Monaten unter Setzung einer Probezeit von 3 jahren bedingt nachgesehen wurde, rechtskräftig verurteilt.
Der Verurteilung lag zu Grunde, dass der BF gewerbsmäßig und als Mitglied einer kriminellen Vereinigung zwischen XXXX 2016 und XXXX 2017 in XXXX , XXXX und XXXX die rechtswidrige Einreise von XXXX Staatsangehörigen in XXXX unterstützte, indem er diese mit österreichischen Reisepässen anderer Personen zur Legitimierung beim jeweiligen Flug von XXXX bzw. XXXX nach XXXX sowie mit entsprechenden Flugtickets austattete, wobei er jeweils 1.000,- € pro Reisepass, in einem Fall 800,- € als Entgelt bzw. Reisespesen und sonst 1.000,- € für das Organisieren einer Begleitperson, welche den jeweiligen Flug begleitete, erhielt. Weiters hat er zwischen XXXX und XXXX 2018 in Wien die rechtswidrige Durchreise eines XXXX Staatsangehörigen in Österreich unterstützt, in dem er diesen in XXXX in Empfang genommen, in einer Unterkunft untergebracht, für dessen Verpflegung gesorgt und ihn mit Kommunikationsmittel sowie Dokumenten für seine Weiterreise ausgestattet hat, und hierfür 500,- €, erhalten hat, wobei er € 300,- für Mietzahlungen aufgewendet hat. Zwischen XXXX und XXXX 2018 hat der BF in XXXX die rechtswidrige Durchreise eines iranischen Staatsangehörigen durch XXXX unterstützt, indem er diesen in XXXX mit Dokumenten, darunter einen fremden oder gefälschten XXXX Reisepass, und Tickets für dessen Weiterreise ausgestattet hat und hierfür ein nicht mehr festzustellendes Entgelt erhalten hat. Als mildernd wurde das umfassende und reumütige Geständnis, als erschwerend das Zusammentreffen mehrerer strafbarer Handlungen und die zweifache Qualifikation bei der Schlepperei gewertet.
Der BF wurde nach Verbüßung von zwei Drittel der (unbedingten) Freiheitsstrafe am 28.11.2019 bedingt aus der Justizhaft entlasssen.
2.1. Nach Einleitung eines Aberkennungsverfahrens wurde der BF am 12.11.2019 in einer Einvernahme beim Bundesamt für Fremdenmwesen (im Folgenden: Bundesamt) zu seinen persönlichen Verhältnissen in Österreich sowie zu Befürchtungen bei einer Rückkehr nach Afghanistan befragt. Zu letzterem gab der BF im Wesentlichen an, dass er nach 20-jähriger Abwesenheit dort nunmehr ein Fremder sei, wobei er vor Ort auch niemanden habe und es in Afghanistan Krieg und immer wieder Anschläge gebe. Die Frage, ob ihm im Falle einer Abschiebung nach Afghanistan Verfolgung, unmenschliche Behandlung oder die Todesstrafe drohen würde, verneinte der BF. Er wolle auf keinen Fall nach Afghanistan zurückkehren.
2.2. Mit dem im Spruch genannten, angefochtenen Bescheid vom 27.12.2019 erkannte das Bundesamt dem BF den mit Bescheid vom 29.08.2000 zuerkannten Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 ab und stellte gemäß § 7 Abs. 4 AsylG 2005 fest, dass ihm die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukomme (Spruchpunkt I.). Weiters erkannte das Bundesamt dem BF gemäß § 8 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 den Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zu (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde ihm gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.) und gemäß § 10 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 3 FPG erlassen (Spruchpunkt IV). Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung des BF gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde festgestellt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.). Gemäß § 53 Abs. 3 Z 5 FPG idgF wurde gegen den BF ein auf fünf Jahre befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VII.).
2.3. Gegen den Bescheid wurde binnen offener Frist im vollen Umfang Beschwerde wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes erhoben. Darin wurde insbesondere darauf verwiesen, dass der BF in Österreich aufgewachsen sei und hier die Pflichtschule absolviert und gearbeitet habe. Seine Eltern, seine drei Schwestern und sein Bruder seien mittlerweile allesamt österreichische Staatsbürger. Zudem habe er zwei Kinder in Österreich. Der ältere Sohn sei österreichischer Staatsangehöriger und stamme aus einer früheren Lebensgemeinschaft des BF. Der BF sehe seinen Sohn regelmäßig mehrmals pro Woche und nehme eine aktive Vaterrolle ein. Eine Tochter sei im XXXX 2020 in Österreich zur Welt gekommen und stamme aus seiner Beziehung mit einer in Österreich als Flüchtling anerkannten afghanischen Staatsangehörigen. Er bemühe sich um seine neugeborene Tochter sehr herzlich und versuche seinen beiden Kindern ein guter Vater zu sein. Auch hinsichtlich der Kinder seiner Geschwister nehme er eine aktive Onkelrolle ein. Der Vater des BF sei aufgrund eines Schlaganfalles seit vier Jahren halbseitig komplett gelähmt und laut PVA zu 100 % behindert. Die Mutter des BF habe ebenfalls verschiedene Operationen, weshalb sie den Vater nicht unterstützen könne. Da seine anderen Geschwister sich leider nicht sehr um den Vater kümmern würden, unterstütze der BF seinen Vater pflegschaftlich. Er wasche ihn regelmäßig und schlafe oft bei ihm zuhause, um auch in der Nacht bei ihm zu sein. Der BF habe vier Vorstrafen wegen leichter Körperverletzung, wobei die letzte aus dem Jahr 2012 stamme. Er habe seinen Charakter seit 2012 in diesem Bereich eindeutig unter Kontrolle. Leider sei es 2019 zu einer schweren Verurteilung gekommen. Der BF sei an elf Fällen von Schlepperei mittels Flugzeug beteiligt gewesen, indem er den Personen Reisepässe besorgt habe. Die Flüge seien aus EU-Staaten nach XXXX erfolgt. Keiner der Flüge sei nach oder von Österreich (weg-)gegangen. Österreich sei durch diese Schlepperei nicht zu Schaden gekommen. Insbesondere die vorgenommene Abwägung nach Art. 8 EMRK durch das Bundesamt sei rechtlich verfehlt, da die Behörde übersehe, dass der BF in einem jungen Alter nach Österreich gekommen sei, hier sein ganzes Leben geprägt worden sei und er den Bezug zum Herkunftsstaat verloren habe. Der BF lebe 20 Jahre in Österreich, spreche fließend Deutsch, habe einen Sohn und eine Tochter sowie seine ganze Familie, die österreichische Staatsangehörige seien, hier. Der BF habe auch hinsichtlich der Gewaltdelikte eindeutig bewiesen, dass er sich bessern könne und sich auch gebessert. Vom Bundesamt unberücksichtigt geblieben sei auch, dass er für seinen Vater unbedingt für die Pflege benötigt werde. Nicht richtig gewichtet worden sei, dass er mit seiner neugeborenen Tochter keinen Kontakt haben werde, wenn er nicht in Österreich bleiben könne. Allerdings sei zutreffend, dass der BF Vorstrafen habe. Diese würden insbesondere gegenüber dem sonst unmöglichen Kontakt zur neugeborenen Tochter deutlich zurücktreten, insbesondere da hinsichtlich der Körperverletzungsdelikte schon acht Jahre vergangen seien und diese lediglich leichte Körperverletzungen betroffen haben. Hinsichtlich der Schlepperei wurde erneut drauf hingewiesen, dass der Tatort außerhalb des österreichischen Bundesgebietes gelegen sei und der BF daher keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnungen in Österreich sei. Es wurde unter anderem die Durchführung einer Beschwerdeverhandlung beantragt. Der Beschwerdeschrift beigefügt waren u.a. ein Arbeitsvertrag des BF mit einem Gastronomiebetrieb sowie Geburtsurkunden und Fotografien der beiden Kinder des BF.
2.4. Anlässlich der öffentlichen mündlichen Verhandlung am 26.01.2021 wurde Beweis aufgenommen durch Einvernahme des BF sowie seiner Mutter als Zeugin sowie weiters durch Einsichtnahme in die Verwaltungsakten des Bundesamtes sowie in den Akt des Bundesverwaltungsgerichtes.
In der Beschwerdeverhandlung wurden den Parteien weiters aktuelle Feststellungen zur aktuellen Situation in Afghanistan zu Kenntnis gebracht und dem BF dazu eine Frist von zwei Wochen für eine Stellungnahme eingeräumt.
2.5. In einer Stellungnahme des rechtsfreundlichen Vertreters des BF vom 19.02.2021 wurde u.a. ausgeführt, dass sich die allgemeine Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan maßgeblich verschlechtert habe. Der BF sei als Angehöriger der schiitischen Glaubensgemeinschaft besonders von Angriffen durch regierungsfeindliche Kräfte wie die Taliban und den IS bedroht. Er habe Afghanistan vor mehr als 20 Jahren verlassen und habe dort keine familiären Anknüpfungspunkte mehr. Den UNHCR- Richtlinien vom 30.08.2018 sei zu entnehmen, dass die Versorgung mit Nahrungsmitteln, medizinischen Gütern und Wohnraum in Afghanistan insbesondere für alleinstehende Personen, welche über keinen sozialen oder familiären Anknüpfungspunkt verfügen, nur äußerst unzureichend gegeben sei. Dazu wurde weiters angemerkt, dass UNHCR davon ausgehe, dass in Kabul angesichts der dort herrschenden Sicherheits-, Menschenrechts- und humanitären Lage eine IFA grundsätzlich nicht verfügbar sei. Auch sei die Versorgungslage in Herat-Stadt und Mazar-e-Sharif eingeschränkt. Dazu wurde u.a. auf eine Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zur Lage in Herat-Stadt und Mazar-e-Sharif vom 13.09.2018, einen Bericht von ACCORD zur „Entwicklung der wirtschaftlichen Situation, der Versorgungs- und Sicherheitslage in Herat, Mazar-e-Sharif (Provinz Balkh) und Kabul 2010-2018“ vom 07.12.2018, einen EASO Bericht zu afghanischen Netzwerken vom Februar 2018, ein Referat von Thomas Ruttig vor dem schweizerischen Staatssekretariat für Migration vom 12.04.2017 sowie einen Bericht von Prof. William Maley vom Asia-Pacific College of Diplomacy in Australien zur Rückkehr von Angehörigen der Hazara nach Afghanistan vom 13.11.2018 verwiesen. Im Übrigen wurde im Hinblick auf Art. 8 Abs. 1 EMRK hervorgehoben, dass der BF in Österreich zwei minderjährige Kinder habe, wobei er für seinen fünfzehnjährigen Sohn alleine obsorgeberechtigt sei. Der BF habe eine Berufsausbildung absolviert und spreche fließend Deutsch. Angesichts der weitreichenden persönlichen Bindungen des BF zu Österreich, wo sich sein ausschließlicher Lebensmittelpunkt seit nunmehr über 20 Jahren befinde, sei sein privates Interesse an der Fortführung seines Privatlebens in Österreich unter Abwägung aller Umstände auch höher zu bewerten als das öffentliche Interesse an einer Rückkehrentscheidung.
Der Stellungnahme waren u.a. ein Externisten-Prüfungszeugnis über einen Hauptschulabschluss in Österreich des BF sowie ein Beschluss eines Bezirksgerichtes über die vorläufige Übertragung der alleinigen Obsorge an den BF für seinen minderjährigen Sohn beigelegt. Dem Beschluss ist unter anderem zu entnehmen, dass der Sohn des BF sich seit November 2020 in Untersuchungshaft befinde, da er verdächtigt werde, versucht zu haben, einen anderen absichtlich schwer am Körper zu verletzen, wobei es beim Versuch geblieben sei. Die Mutter sei laut Bericht offenbar nicht bereit, positiv auf ihren Sohn einzuwirken oder sich mit dessen Problemen auseinander zusetzen und lehne jegliche Kooperation mit der Kinder- und Jugendhilfe ab. Sie habe auch an den Verhandlungen im Strafverfahren nicht teilgenommen und sei für die Jugendgerichtshilfe nicht erreichbar. Ihr Sohn habe derzeit keinen Kontakt zur Mutter und lehne diesen völlig ab. Neben einer 85-jährigen Urgroßmutter scheine der BF als Vater die einzige Person zu sein, die er akzeptiere. Das Verhältnis zum Vater sei wesentlich besser als jenes zur Mutter. Der BF habe auch versucht, im anhängigen Strafverfahren seinen Sohn beizustehen und sei es ihm in der Gerichtsverhandlung am XXXX gelungen, diesen, der vor dem Verfahren völlig unkooperativ gewesen sei und nicht gesprochen habe, zumindest ansatzweise zum Reden zu bringen.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Der XXXX -jährige BF ist Staatsangehöriger von Afghanistan, gehört der tadschikischen Volksgruppe an, ist schiitischer Muslim und hat im Herkunftsstaat in Kabul gelebt.
Im Alter von fast XXXX Jahren ist er illeagl nach Österreich eingereist. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 29.08.2000 wurde dem BF durch Erstreckung auf das Asylverfahren seiner Mutter in Österreich Asyl gewährt.
Der BF ist ledig. Er hat einen 15-jähriger Sohn sowie eine einjährige Tochter aus inzwischen beendeten Beziehungen, die sich in Österreich aufhalten. Für den Sohn, der österreichischer Staatsbürger ist, kommt dem BF seit 2020 ein alleiniges Obsorgerecht zu. Für die Tochter, die afghanische Staatsangehörige ist und sich aufgrund eines Asylstatus in Österreich aufhält, besteht kein Obsorgerecht. Es besteht Kontakt über Besuche.
Weiters halten sich in Österreich die Eltern und Geschwister - drei Schwestern und ein Bruder - sowie die Nichten und Neffen des BF auf. Alle Familienangehörige des BF sind inzwischen österreichische Staatsangehörige.
Der BF ist gesund und arbeitsfähig. Derzeit geht er wieder einer Erwerbstätigkeit nach und war davor mit größeren Unterbrechungen immer wieder erwerbstätig. Er spricht Deutsch und Dari. Er ist weder in einem Verein noch sonst gemeinnützig aktiv, kümmert sich aber um die Betreuung und Pflege seines seit einem Schlaganfall gelähmten über achtzigjährigen Vaters. Im Herkunftsland halten sich keine Familienangehörigen des BF mehr auf.
Der BF spricht Deutsch und Dari. Er hat im Herkunftsstaat bis zur siebenten oder achten Klasse die Schule besucht. In Österreich hat er die Hauptschule erfolgreich abgeschlossen. Er hat keine Berufsausbildung.
Der BF wurde in Österreich wiederholt rechtskräftig durch Gerichte wegen Straftaten verurteilt. So wurde er vier Mal von Bezirkgerichten wegen leichter Körperverletzung rechtskräftig zu Geldstrafen sowie einer einmaligen bedingten Freiheitstrafe von drei Monaten rechtskräftig verurteilt. Die letzte diesbezüglich einschlägige Straftat liegt allerdings fast zehn Jahre zurück. Im Oktober 2019 wurde der BF mit Urteil eines Landesgerichtes wegen des Verbrechens der Schlepperei sowie wegen des Vergehens des Gebrauchs fremder Ausweise zu einer Freiheitsstrafe von 24 Monaten, wobei der Vollzug der verhängten Freiheitsstrafe in der Höhe von 16 Monaten unter Setzung einer Probezeit von 3 jahren bedingt nachgesehen wurde, rechtskräftig verurteilt.
Der BF hat sich vom XXXX 2019 bis zu seiner vorzeitigen bedingten Entlassung am XXXX 2019 in Justizhaft befunden.
Bezüglich der Mutter des BF ist festzustellen, dass hinsichtlich ihrer ursprünglichen Fluchtgründe sowohl hinsichtlich ihrer persönlichen Situation als auch der allgemeinen Verhältnisse in Afghanistan zwischenzeitig eine nachhaltige Änderung der Lage eingetreten ist.
Das Vorbringen des BF, im Herkunftsstaat aufgrund von Familienangelegenheiten bzw. seiner westlichen Orientierung persönlich einer Verfolgung und damit einhergehenden physischen und/oder psychischen Gewalt ausgesetzt zu sein, hat sich als nicht glaubhaft erwiesen.
Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF im Falle seiner Rückkehr ins Herkunftsland nach Kabul mit hinreichender Wahrscheinlichkeit einer asylrelevanten Verfolgung oder einer sonstigen unmenschlichen Behandlung ausgesetzt ist.
Es konnte ferner nicht festgestellt werden, dass der BF im Falle seiner Rückkehr dort in eine existenzgefährdende Notlage geraten würde und ihm die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen wäre.
Im Übrigen werden die Ausführungen im Verfahrensgang der Entscheidung zugrunde gelegt.
1.2. Zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat Afghanistan:
Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan
Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (Afghan MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 2.9.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.9.2020). Offiziellen Zahlen der WHO zufolge gab es bis 16.11.2020 43.240 bestätigte COVID-19 Erkrankungen und 1.617 Tote (WHO 17.11.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert. Mit dem Herannahen der Wintermonate deutet der leichte Anstieg an neuen Fällen darauf hin, dass eine zweite Welle der Pandemie entweder bevorsteht oder bereits begonnen hat (UNOCHA 12.11.2020).
Maßnahmen der Regierung und der Taliban
Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. "Rapid Response Teams" (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte "Fix-Teams" sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 23.9.2020; vgl. WB 28.6.2020).
Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden. Hotels, Teehäuser und andere Möglichkeiten der Unterkunftnahme sind aktuell geöffnet (IOM 23.9.2020).
Die Taliban erlauben in von ihnen kontrollierten Gebieten medizinischen Helfern den Zugang im Zusammenhang mit der Bekämpfung von COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. Guardian 2.5.2020).
Gesundheitssystem und medizinische Versorgung
Mit Stand vom 21.9.2020 war die Zahl der COVID-19-Fälle in Afghanistan seit der höchsten Zahl der gemeldeten Fälle am 17.6.2020 kontinuierlich zurückgegangen, was zu einer Entspannung der Situation in den Krankenhäusern führte (IOM 23.9.2020), wobei Krankenhäuser und Kliniken nach wie vor über Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten berichten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (UNOCHA 12.11.2020; vgl. AA 16.7.2020, WHO 8.2020). Auch sind die Zahlen der mit COVID-19 Infizierten zuletzt wieder leicht angestiegen (UNOCHA 12.11.2020).
In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung die mit einer Infizierung einhergeht hierbei eine Rolle spielt (UNOCHA 12.11.2020).
Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).
Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt
Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018 (UNOCHA 12.11.2020). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß des WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um zwischen 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020). Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (AA 16.7.2020).
Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 23.9.2020; vgl. WB 15.7.2020).
Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes (IOM 23.9.2020; vgl. AA 16.7.2020). Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.9.2020). Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (IOM 23.9.2020; vgl. Martin/Parto 11.2020).
Frauen und Kinder
Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die Regierung ordnete an, alle Schulen im März 2020 zu schließen (IOM 23.9.2020), und die CBE-Klassen (gemeindebasierte Bildung-Klassen) konnten erst vor kurzem wieder geöffnet werden (IPS 12.11.2020). In öffentlichen Schulen sind nur die oberen Schulklassen (für Kinder im Alter von 15 bis 18 Jahren) geöffnet. Alle Klassen der Primar- und unteren Sekundarschulen sind bis auf weiteres geschlossen (IOM 23.9.2020). Kinder (vor allem Jungen), die von den Auswirkungen der Schulschließungen im Rahmen von COVID-19 betroffen waren, sahen sich nun auch einer erhöhten Anfälligkeit gegenüber der Rekrutierung durch die Konfliktparteien ausgesetzt. Die Krise verschärft auch die bestehende Vulnerabilität von Mädchen betreffend Kinderheirat und Schwangerschaften von Minderjährigen (IPS 12.11.2020; vgl. UNAMA 10.8.2020). Die Pandemie hat auch spezifische Folgen für Frauen, insbesondere während eines Lockdowns, einschließlich eines erhöhten Maßes an häuslicher Gewalt. Frauen und Mädchen sind durch den generell geringeren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusätzlich betroffen (Martins/Parto: vgl. AAN 1.10.2020).
Bewegungsfreiheit
Im Zuge der COVID-19 Pandemie waren verschiedene Grenzübergänge und Straßen vorübergehend gesperrt (RFE/RL 21.8.2020; vgl. NYT 31.7.2020, IMPACCT 14.8.2020, UNOCHA 30.6.2020), wobei aktuell alle Grenzübergänge geöffnet sind (IOM 23.9.2020). Im Juli 2020 wurden auf der afghanischen Seite der Grenze mindestens 15 Zivilisten getötet, als pakistanische Streitkräfte angeblich mit schwerer Artillerie in zivile Gebiete schossen, nachdem Demonstranten auf beiden Seiten die Wiedereröffnung des Grenzübergangs gefordert hatten und es zu Zusammenstößen kam (NYT 31.7.2020).
Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen wie jenem in Bamyan statt (Flightradar 24 18.11.2020). Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (IOM 23.9.2020).
IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr und Teilnahme an Reintegrationsprogrammen. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (STDOK 14.7.2020). Mit Stand 22.9.2020, wurden im laufenden Jahr 2020 bereits 70 Teilnahmen an dem Reintegrationsprojekt Restart III akzeptiert und sind 47 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt - zuletzt jeweils 13 Personen im August und im September 2020 (IOM 23.9.2020).
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Politische Lage
Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen (NSIA 6.2020) bis 39 Millionen Menschen (WoM 6.10.2020).
Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen, die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (CoA 26.2.2004; vgl. STDOK 7.2016, Casolino 2011).
Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (CoA 26.2.2004; vgl. Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).
Im direkt gewählten Unterhaus der Nationalversammlung, der Wolesi Jirga (Haus des Volkes) mit 249 Sitzen, kandidieren die Abgeordneten für eine fünfjährige Amtszeit. In der Meshrano Jirga (House of Elders), dem Oberhaus mit 102 Sitzen, wählen die Provinzräte zwei Drittel der Mitglieder für eine Amtszeit von drei oder vier Jahren, und der Präsident ernennt das verbleibende Drittel für eine Amtszeit von fünf Jahren. Die Verfassung sieht die Wahl von Bezirksräten vor, die ebenfalls Mitglieder in die Meshrano Jirga entsenden würden, aber diese sind noch nicht eingerichtet worden. Zehn Sitze der Wolesi Jirga sind für die nomadische Gemeinschaft der Kutschi reserviert, darunter mindestens drei Frauen, und 65 der allgemeinen Sitze der Kammer sind für Frauen reserviert (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).
Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (USDOS 11.3.2020; vgl. Casolino 2011).
Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit gelegentlich kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzesentwürfen die grundsätzliche Funktionsfähigkeit des Parlaments. Zugleich werden aber verfassungsmäßige Rechte genutzt um die Regierungsarbeit gezielt zu behindern, Personalvorschläge der Regierung zum Teil über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch finanzieller Art an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaftspflicht der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 16.7.2020).
Präsidentschafts- und Parlamentswahlen
Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21.10.2018 – mit Ausnahme der Provinz Ghazni – Parlamentswahlen statt (USDOS 11.3.2020). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28.9.2019 statt (RFE/RL 20.10.2019; vgl. USDOS 11.3.2020, AA 1.10.2020).
Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohung durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen (USDOS 11.3.2020). Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 6.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.5.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als „Katastrophe“ und die beiden Wahlkommissionen als „ineffizient“ (AAN 17.5.2019).
Die ursprünglich für den 20.4.2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.9.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019). Die unabhängige afghanische Wahlkommission (Afghanistan’s Independent Election Commission) hat mehr als vier Monate nach der Präsidentschaftswahl in Afghanistan Mohammed Ashraf Ghani zum Sieger erklärt (DW 18.2.2020). Der amtierende Präsident erhielt 50,64% der Stimmen, wie die Kommission verlautbarte (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020). Da Ghani im ersten Durchgang die Präsidentschaftswahl bereits gewonnen hat, war keine Stichwahl mehr notwendig (DW 18.2.2020). CEO bzw. Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah, kam den Resultaten zufolge auf 39,52% (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020). Nach monatelangem, erbittertem Streit um die Richtigkeit von Hunderttausenden von Stimmen waren nur noch 1,8 Millionen Wahlzettel berücksichtigt worden (DW 18.2.2020; vgl. FH 4.3.2020). Hingegen lag die Zahl der registrierten Wähler bei 9,6 Millionen. Afghanistan hat eine geschätzte Bevölkerung von 35 Millionen Einwohnern (DW 18.2.2020). Die umstrittene Entscheidungsfindung der Wahlkommissionen und deutlich verspätete Verkündung des endgültigen Wahlergebnisses der Präsidentschaftswahlen vertiefte die innenpolitische Krise, die erst Mitte Mai 2020 gelöst werden konnte. Amtsinhaber Ashraf Ghani wurde mit einer knappen Mehrheit zum Wahlsieger im ersten Urnengang erklärt. Sein wichtigster Herausforderer, Abdullah Abdullah erkannte das Wahlergebnis nicht an (AA 16.7.2020) und so ließen sich am 9.3.2020 sowohl Ghani als auch Abdullah als Präsident vereidigen (NZZ 20.4.2020; vgl. TN 16.4.2020). Die daraus resultierende Regierungskrise wurde mit einem von beiden am 17.5.2020 unterzeichneten Abkommen zur gemeinsamen Regierungsbildung für beendet erklärt (AA 16.7.2020; vgl. NZZ 20.4.2020, DP 17.5.2020; vgl. TN 11.5.2020). Diese Situation hatte ebenfalls Auswirkungen auf den afghanischen Friedensprozess. Das Staatsministerium für Frieden konnte zwar im März bereits eine Verhandlungsdelegation benennen, die von den wichtigsten Akteuren akzeptiert wurde, aber erst mit dem Regierungsabkommen vom 17.5.2020 und der darin vorgesehenen Einsetzung eines Hohen Rates für Nationale Versöhnung, unter Vorsitz von Abdullah, wurde eine weitergehende Friedensarchitektur der afghanischen Regierung formal etabliert (AA 16.7.2020). Dr. Abdullah verfügt als Leiter des Nationalen Hohen Versöhnungsrates über die volle Autorität in Bezug auf Friedens- und Versöhnungsfragen, einschließlich Ernennungen in den Nationalen Hohen Versöhnungsrat und das Friedensministerium. Darüber hinaus ist Dr. Abdullah Abdullah befugt, dem Präsidenten Kandidaten für Ernennungen in den Regierungsabteilungen (Ministerien) mit 50% Anteil vorzustellen (RA KBL 12.10.2020).
Politische Parteien
Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 10.6.2020). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. CoA 26.1.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. CoA 26.1.2004; USDOS 20.6.2020). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (CoA 26.1.2004).
Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 16.7.2020). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.3.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 16.7.2020; vgl. DOA 17.3.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 16.7.2020).
Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein partimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.3.2019).
Friedens- und Versöhnungsprozess
Die afghanischen Regierungskräfte und die US-Amerikaner können die Taliban, die über rund 60 000 Mann verfügen, nicht besiegen. Aber auch die Aufständischen sind nicht stark genug, die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (NZZ 20.4.2020). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 7.5.2020; vgl. NPR 6.5.2020, EASO 8.2020) – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses (EASO 8.2020). Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen sollen abgezogen werden (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020; REU 6.10.2020). Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung, Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020, EASO 8.2020).
Die Taliban haben die politische Krise im Zuge der Präsidentschaftswahlen derweil als Vorwand genutzt, um den Einstieg in Verhandlungen hinauszuzögern. Sie werfen der Regierung vor, ihren Teil der am 29.2.2020 von den Taliban mit der US-Regierung geschlossenen Vereinbarung weiterhin nicht einzuhalten und setzten ihre militärische Kampagne gegen die afghanischen Sicherheitskräfte mit hoher Intensität fort. Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entspricht dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.7.2020; vgl. REU 6.10.2020).
Im September starteten die Friedensgespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban in Katar (REU 6.10.2020; vgl. AJ 5.10.2020, BBC 22.9.2020). Die Gewalt hat jedoch nicht nachgelassen, selbst als afghanische Unterhändler zum ersten Mal in direkte Gespräche verwickelt wurden (AJ 5.10.2020). Ein Waffenstillstand steht ganz oben auf der Liste der Regierung und der afghanischen Bevölkerung (BBC 22.9.2020; vgl. EASO 8.2020) wobei einige Analysten sagen, dass die Taliban wahrscheinlich noch keinen umfassenden Waffenstillstand vereinbaren werden, da Gewalt und Zusammenstöße mit den afghanischen Streitkräften den Aufständischen ein Druckmittel am Verhandlungstisch geben (REU 6.10.2020). Die Rechte der Frauen sind ein weiteres Brennpunktthema. Die Taliban sind wiederholt danach gefragt worden und haben wiederholt darauf bestanden, dass Frauen und Mädchen alle Rechte erhalten, die "innerhalb des Islam" vorgesehen sind (BBC 22.9.2020). Doch bisher (Stand 10.2020) hat es keine Fortschritte gegeben, da sich die kriegführenden Seiten in Prozessen und Verfahren verzettelt haben, so diplomatische Quellen (AJ 5.10.2020).
Nach dem Beginn des Abzugs der US-Truppen am 1.5.2021 haben die Taliban mindestens 12 Distrikte erobert (MENAFN 7.6.2021). Nach Angaben von US-Präsident Biden wird der Truppenabzug am 31.8.2021 abgeschlossen sein (WH 8.7.2021).
Quellen:
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