Entscheidungsdatum
06.09.2021Norm
B-VG Art133 Abs4Spruch
G314 2219426-1/5E
IM NAMEN DER REPUBLIK
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag.a Katharina BAUMGARTNER über die Beschwerde des ungarischen Staatsangehörigen XXXX, geboren am XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX.2019, Zl. XXXX, zu Recht:
A) Der Beschwerde wird Folge gegeben und der angefochtene Bescheid ersatzlos behoben.
B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
Verfahrensgang:
Nachdem der Beschwerdeführer (BF) mit dem Urteil des Bezirksgerichts XXXX vom XXXX, XXXX, zu einer bedingten Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt worden war, fand am XXXX.2019 eine Befragung vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) zur beabsichtigten Erlassung eines Aufenthaltsverbots statt.
Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid erließ das BFA daraufhin gegen den BF gemäß § 67 Abs 1 und 2 FPG ein mit drei Jahren befristetes Aufenthaltsverbot (Spruchpunkt I.) und erteilte ihm gemäß § 70 Abs 3 FPG einen einmonatigen Durchsetzungsaufschub (Spruchpunkt II.). Dies wurde im Wesentlichen mit der strafgerichtlichen Verurteilung wegen der Vergehen der sittlichen Gefährdung von Personen unter 16 Jahren nach § 208 Abs 1 StGB begründet. Der BF, der zur Begehung von Straftaten in das Bundesgebiet eingereist sei, stelle eine Gefahr für die Sicherheit der Republik Österreich dar. Sein Lebensmittelpunkt befinde sich in Ungarn; in Österreich habe er (abgesehen von seiner Mutter) keine nennenswerten familiären oder sozialen Anknüpfungen. Das öffentliche Interesse an Ordnung und Sicherheit überwiege sein persönliches Interesse an einem Verbleib in Österreich.
Der BF erhob dagegen eine Beschwerde, mit der er primär die ersatzlose Behebung des Aufenthaltsverbots anstrebt; hilfsweise beantragt er die Reduktion von dessen Dauer und stellt einen Aufhebungs- und Rückverweisungsantrag. Er begründet die Beschwerde zusammengefasst damit, dass die Behörde sein Privat- und Familienleben nicht ausreichend berücksichtigt habe. Er lebe in einer aufrechten Beziehung zu einer slowakischen Staatsangehörigen, die in XXXX berufstätig sei, und unterstütze seine ebenfalls in Österreich lebende Mutter, die aufgrund von Herzproblemen gesundheitlich eingeschränkt sei. Zu seinem in Ungarn lebenden Vater habe er keinen Kontakt. Er sei nur ein Mal strafgerichtlich verurteilt worden und befolge die Weisung, sich einer Psychotherapie zu unterziehen, was bei Rechtskraft des Aufenthaltsverbots nicht möglich sei. Laut seiner Psychotherapeutin sei er ernsthaft daran interessiert, sein Leben zu stabilisieren. Die dreijährige Dauer des Aufenthaltsverbots stehe in keinem angemessenen Verhältnis zur möglichen Höchststrafe und zu der gegen den BF verhängten bedingten Freiheitsstrafe.
Das BFA legte die Beschwerde und die Akten des Verwaltungsverfahrens dem Bundesverwaltungsgericht (BVwG) vor und beantragte, diese als unbegründet abzuweisen.
Feststellungen:
Der am XXXX in XXXX geborene BF, ein Staatsangehöriger Ungarns, hat einen bis XXXX.2025 gültigen ungarischen Personalausweis. Seine Muttersprache ist Ungarisch; er verfügt auch über Deutschkenntnisse.
Der BF lebte bis zu seinem Schulabschluss 2012 in Ungarn. Seit XXXX 2012 hält er sich im Wesentlichen kontinuierlich in Österreich auf, wo er in einem gemeinsamen Haushalt mit seiner Mutter, die ebenfalls ungarische Staatsangehörige ist, lebt. Seit XXXX.2012 besteht ein durchgehender Hauptwohnsitz in Österreich. Am XXXX.2013 wurde ihm eine Anmeldebescheinigung (Familienangehöriger) ausgestellt. Sein Vater, seine Großmutter und ein Großonkel leben nach wie vor in Ungarn.
Der BF ist ledig und hat keine Sorgepflichten. Er hat – abgesehen von psychischen Problemen (Affektdurchbrüchen) aufgrund frühkindlicher Traumatisierung - keine schwerwiegenden gesundheitlichen Probleme und ist arbeitsfähig. Er hat eine (Liebes-)Beziehung mit der slowakischen Staatsangehörigen XXXX, die seit Ende XXXX 2018 mit ihm zusammenlebt.
Der BF machte in Österreich im Zeitraum XXXX 2013 bis XXXX 2017 eine Lehre zum XXXX, die er ohne Lehrabschlussprüfung beendete. Nach der Lehrzeit und der Weiterbeschäftigungszeit bezog er zwischen XXXX 2017 und XXXX 2018 Arbeitslosengeld; seit XXXX.2018 ist er (nach einer geringfügigen Beschäftigung zwischen XXXX.2018 und XXXX.2018) durchgehend als Arbeiter bei einer XXXX in XXXX vollversichert erwerbstätig.
Mit dem Urteil des Bezirksgerichts XXXX vom XXXX, XXXX, wurde der BF wegen der Vergehen der sittlichen Gefährdung von Personen unter 16 Jahren nach § 208 Abs 1 StGB rechtskräftig zu einer dreimonatigen Freiheitsstrafe verurteilt, die für eine dreijährige Probezeit bedingt nachgesehen wurde. Zusätzlich wurde ihm die Weisung erteilt, sich für die Dauer von 15 Monaten einer psychotherapeutischen Behandlung zu unterziehen. Der Verurteilung lag zugrunde, dass er am XXXX.2018 und am XXXX.2018 jeweils vor einem elfjährigen Mädchen seinen Penis entblößt und masturbiert hatte. Eine Diversion scheiterte am auffallenden und ungewöhnlichen Handlungs- und Gesinnungsunwert, zumal aufgrund des geringen Alters der Mädchen ein außergewöhnlicher Sorgfaltsverstoß vorlag und die Tat mit einem erheblichen soziale Störwert einherging. Es handelt sich um die erste und bislang einzige strafgerichtliche Verurteilung des BF. Bei der Strafbemessung wurden der bisher ordentliche Lebenswandel und das reumütige Geständnis als mildernd, die Faktenmehrheit dagegen als erschwerend gewertet.
Aufgrund der gerichtlichen Weisung machte der BF ab XXXX 2019 eine Psychotherapie, bei der er sich kooperativ und motiviert zeigte.
Beweiswürdigung:
Verfahrensgang und Sachverhalt ergeben sich ohne entscheidungswesentliche Widersprüche aus dem unbedenklichen Inhalt der Akten des Verwaltungsverfahrens und des Beschwerdeverfahrens vor dem BVwG, insbesondere aus dem Strafurteil sowie den Informationen aus dem Zentralen Melderegister (ZMR), dem Strafregister, dem Versicherungsdatenauszug und dem Informationsverbundsystem Zentrales Fremdenregister (IZR).
Name, Geburtsdatum und Staatsangehörigkeit des BF gehen aus seinem (dem BVwG in Kopie vorgelegten) Personalausweis in Übereinstimmung mit dem übrigen Akteninhalt hervor; zusätzlich liegt dem Akt eine Führerscheinkopie bei. Muttersprachliche Ungarischkenntnisse sind aufgrund seiner Herkunft plausibel und gehen etwa auch aus dem mit der Beschwerde vorgelegten Schreiben der Psychotherapeutin des BF hervor, laut dem die Therapie auf Ungarisch stattfindet. Auch der Einvernahme des BF vor dem BFA wurde ein Ungarischdolmetsch beigezogen.
Obwohl weder Bestätigungen über den Besuch von Deutschkursen noch Prüfungszeugnisse vorgelegt wurden, ist angesichts der Lehrzeit und der anschließenden Erwerbstätigkeit in Österreich davon auszugehen, dass der BF zumindest rudimentär Deutsch spricht.
Die Feststellungen zu den familiären Verhältnissen des BF und zu seiner Ausbildung in Ungarn und in Österreich folgen seinen Angaben vor dem BFA, aus denen auch hervorgeht, dass sein Vater, eine Großmutter und ein Großonkel in Ungarn leben. Der BF und seine Mutter weisen laut ZMR seit XXXX 2012 durchgehend übereinstimmende Wohnsitzmeldungen im Bundesgebiet auf. Die Freundin des BF, die er bei der Einvernahme vor dem BFA und in der Beschwerde erwähnt, ist laut ZMR seit Ende XXXX 2018 an derselben Adresse mit Hauptwohnsitz gemeldet. Die Anmeldebescheinigung wurde in Kopie vorgelegt und ist auch im IZR dokumentiert.
Die psychischen Probleme des BF gehen aus dem Schreiben seiner Psychotherapeutin hervor. Andere Anhaltspunkte für gesundheitliche Probleme bestehen nicht, sodass angesichts der vom BF seit mehreren Jahren ausgeübten Erwerbstätigkeit davon auszugehen ist, dass seine Arbeitsfähigkeit nicht eingeschränkt ist.
Die vom BF absolvierte Lehre, der Bezug von Arbeitslosengeld und die Beschäftigung seit XXXX.2018 gehen aus dem Versicherungsdatenauszug in Zusammenschau mit seinen Angaben vor dem BFA und der vorgelegten Anmeldung zur Berufsschule hervor.
Aufgrund der vorliegenden Beweisergebnisse kann insbesondere angesichts des langen Inlandsaufenthalts des BF und seiner Erwerbstätigkeit hier nicht nachvollzogen werden, warum das BFA im angefochtenen Bescheid anführt, dass sich der Lebensmittelpunkt des BF in Ungarn befinde, er keine nennenswerten Anknüpfungen in Österreich habe und zur Begehung von Straftaten eingereist sei. Diese Konstatierungen erweisen sich als aktenwidrig, sodass ihnen nicht gefolgt werden kann.
Die Feststellungen zur strafgerichtlichen Verurteilung des BF in Österreich, den zugrundeliegenden Taten und den Strafbemessungsgründen basieren auf dem Strafurteil vom XXXX und dem Strafregister, aus dem keine anderen Verurteilungen hervorgehen. Die weisungsgemäß durchgeführte Psychotherapie und die Compliance des BF gehen aus dem mit der Beschwerde vorgelegten Schreiben der Therapeutin hervor.
Rechtliche Beurteilung:
Gemäß § 67 Abs 1 FPG ist die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen den BF als EWR-Bürger iSd § 2 Abs 4 Z 8 FPG zulässig, wenn auf Grund seines persönlichen Verhaltens die öffentliche Ordnung und Sicherheit gefährdet ist. Das Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Strafrechtliche Verurteilungen allein können diese Maßnahmen nicht ohne weiteres begründen. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig. Die Erlassung eines Aufenthaltsverbots gegen EWR-Bürger, die den Aufenthalt seit zehn Jahren im Bundesgebiet hatten, ist zulässig, wenn aufgrund des persönlichen Verhaltens davon ausgegangen werden kann, dass die öffentliche Sicherheit der Republik Österreich durch den Verbleib im Bundesgebiet nachhaltig und maßgeblich gefährdet würde.
Gemäß § 67 Abs 2 FPG kann ein Aufenthaltsverbot für die Dauer von höchstens zehn Jahren erlassen werden. Bei einer besonders schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit kann das Aufenthaltsverbot gemäß § 67 Abs 3 FPG auch unbefristet erlassen werden, so z.B. bei einer rechtskräftigen Verurteilung zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von mehr als fünf Jahren (§ 67 Abs 3 Z 1 FPG).
Bei der Erstellung der für jedes Aufenthaltsverbot zu treffenden Gefährdungsprognose ist das Gesamtverhalten in Betracht zu ziehen und auf Grund konkreter Feststellungen eine Beurteilung dahin vorzunehmen, ob und im Hinblick auf welche Umstände die jeweils anzuwendende Gefährdungsannahme gerechtfertigt ist. Dabei ist nicht auf die bloße Tatsache der Verurteilung oder Bestrafung, sondern auf die Art und Schwere der zu Grunde liegenden Straftaten und auf das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen. Bei der nach § 67 Abs 1 FPG zu erstellenden Gefährdungsprognose geht schon aus dem Gesetzeswortlaut klar hervor, dass auf das "persönliche Verhalten" abzustellen ist und strafrechtliche Verurteilungen oder verwaltungsrechtliche Bestrafungen allein nicht ohne weiteres ein Aufenthaltsverbot begründen können (siehe z.B. VwGH 22.08.2019, Ra 2019/21/0091).
Der BF hält sich zwar noch nicht seit zumindest zehn Jahren im Bundesgebiet auf. Er hat jedoch - was vom BFA nicht beachtet wurde - das unionsrechtliche Recht auf Daueraufenthalt erworben, das gemäß § 53a NAG idR einen fünfjährigen rechtmäßigen und kontinuierlichen Aufenthalt voraussetzt, zumal er sich seit XXXX 2012 zunächst als Familienangehöriger und in der Folge als Arbeitnehmer rechtmäßig in Österreich aufhält und die strafbaren Handlungen erst im XXXX 2018 gesetzt wurden. Die erst im XXXX 2013 ausgestellte Anmeldebescheinigung hat nur deklarativen Charakter.
Bei Personen, die das Daueraufenthaltsrecht iSd § 53a NAG erworben haben, ist nicht nur bei der Ausweisung, sondern auch bei der Erlassung eines Aufenthaltsverbots der in § 66 Abs 1 letzter Satzteil FPG vorgesehene Gefährdungsmaßstab, der jenem in Art 28 Abs 2 der Freizügigkeitsrichtlinie entspricht, heranzuziehen. Dieser Maßstab liegt im abgestuften System der Gefährdungsprognosen über dem Gefährdungsmaßstab nach dem ersten und zweiten Satz des § 67 Abs 1 FPG. Auf dieser Grundlage darf nur bei Vorliegen von Gründen iSd § 66 Abs 1 letzter Satzteil FPG (schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit) ein Aufenthaltsverbot erlassen werden (vgl. VwGH 24.10.2019, Ra 2019/21/0205).
Obwohl das Verhalten des BF (zweimalige Masturbation vor Unmündigen) mit einem erheblichen sozialen Störwert einhergeht, erfüllt es den Gefährdungsmaßstab des § 66 Abs 1 letzter Satzteil FPG nicht. Aufgrund der seit den Taten und der Verurteilung verstrichenen Zeit, der Befolgung der Therapieweisung und der grundsätzlich nunmehr wieder geordneten Lebensumstände des BF, der seit der Verurteilung nicht mehr negativ in Erscheinung getreten ist, ist mittlerweile auch von einer deutlichen Reduktion der Wiederholungsgefahr auszugehen.
Das gegen den BF erlassene Aufenthaltsverbot ist daher nicht rechtskonform. Dies bedingt zugleich die Gegenstandslosigkeit des ihm gewährten Durchsetzungsaufschubs. Beide Spruchpunkte des angefochtenen Bescheids sind daher in Stattgebung der Beschwerde ersatzlos zu beheben.
Da der relevante Sachverhalt aus der Aktenlage und dem Beschwerdevorbringen geklärt werden konnte unterbleibt die – ohnehin nicht beantragte – Beschwerdeverhandlung gemäß § 21 Abs 7 BFA-VG, von deren Durchführung keine weitere Klärung der Angelegenheit zu erwarten ist.
Die einzelfallbezogene Erstellung einer Gefährdungsprognose, die Interessenabwägung gemäß § 9 BFA-VG und die Bemessung der Dauer eines Aufenthaltsverbots sind im Allgemeinen nicht revisibel (siehe VwGH 20.10.2016, Ra 2016/21/0284, 01.03.2018, Ra 2018/19/0014 und 10.07.2019, Ra 2019/19/0186). Die Revision ist nicht zuzulassen, weil sich das BVwG an der zitierten höchstgerichtlichen Rechtsprechung orientieren konnte und keine darüberhinausgehende grundsätzliche Rechtsfrage iSd Art 133 Abs 4 B-VG zu lösen war.
Schlagworte
Behebung der Entscheidung EU-Bürger Gefährdungsprognose Interessenabwägung Privat- und Familienleben strafrechtliche Verurteilung Unionsrecht VoraussetzungenEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2021:G314.2219426.1.00Im RIS seit
09.11.2021Zuletzt aktualisiert am
09.11.2021