Entscheidungsdatum
08.09.2021Norm
ASVG §101Spruch
G308 2238947-1/7E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin MMag. Angelika PENNITZ als Einzelrichterin über die Beschwerde der XXXX, geboren am XXXX, vertreten durch Rechtsanwalt Mag. Paul WOLF in 9020 Klagenfurt am Wörthersee, gegen den Bescheid der Sozialversicherungsanstalt der Selbstständigen, Landesstelle Kärnten, vom 01.12.2020, VSNR-Fall: XXXX, zu Recht:
A) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Mit Bescheid der Sozialversicherungsanstalt der Selbstständigen, Landesstelle Kärnten (in der Folge: belangte Behörde oder kurz: SVS) vom 01.12.2020 wurde der Antrag der Beschwerdeführerin (in der Folge: BF) vom 03.08.2020 auf rückwirkende Herstellung des gesetzlichen Zustandes bei Geldleistungen als unbegründet abgewiesen.
Begründend wurde im Wesentlichen zusammengefasst ausgeführt, dass der BF mit Leistungsbescheid der zum damaligen Zeitpunkt als Unfallversicherungsträger für selbstständig Erwerbstätige zuständigen AUVA vom 08.10.2019 für den Zeitraum 02.10.2018 bis 10.10.2018 eine Versehrtenrente aufgrund eines Arbeitsunfalls mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 30 %, für den Zeitraum von 11.10.2018 bis 08.11.2018 mit 100 % und ab 09.11.2018 bis 31.07.2019 mit 20 % zuerkannt worden sei. Mangels rentenbegründender MdE habe ab 01.08.2019 keine Rentenleistung mehr gebührt. Die medizinische Endbeurteilung beruhe auf der Vidierung des Erstgutachtens durch die zuständige chefärztliche Station vom 03.10.2019. Dieser Bescheid sei mit Ablauf der Rechtsmittelfrist in Rechtskraft erwachsen. Am 03.08.2020 habe die BF durch ihren bevollmächtigten Rechtsvertreter den gegenständlichen Antrag auf rückwirkende Herstellung des gesetzlichen Zustandes gemäß § 101 ASVG im Wesentlichen mit der Begründung gestellt, der Erstgutachter habe eine MdE von 20 % bei der BF festgestellt und sei die MdE von der für die AUVA damals zuständigen chefärztlichen Station ohne weitere Untersuchung der BF und ohne nachvollziehbarer Begründung einfach auf 10 % herabgesetzt worden. Aufgrund des im Zuge des Verwaltungsverfahrens immer wieder erhobenen Vorbringens sei im Sinne der BF der Akt neuerlich zur Stellungnahme des nunmehr zuständigen ärztlichen Dienstes der belangten Behörde vorgelegt worden, welcher die Vidierung des Fachgutachtens durch die chefärztliche Station der AUVA aufgrund der vorliegenden Unterlagen bestätigt habe.
Im vorliegenden Fall liege daher weder ein wesentlicher Sachverhalt noch ein offenkundiges Versehen iSd § 101 ASVG vor, sodass der Antrag abzuweisen gewesen sei.
2. Mit Schriftsatz der bevollmächtigten Rechtsvertretung der BF vom 29.12.2020, am 30.12.2020 bei der belangten Behörde einlangend, erhob die BF fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde gegen den gegenständlichen Bescheid. Darin wurde beantragt, das Bundesverwaltungsgericht möge der Beschwerde stattgeben und den angefochtenen Bescheid dahingehend abändern, und den gesetzlichen Zustand bei Geldleistungen im Sinne des Antrages der BF vom 03.08.2020 mittels Festsetzung der verminderten Erwerbsfähigkeit bei der BF im Ausmaß von 20 % herzustellen; in eventu den angefochtenen Bescheid beheben und das Verfahren an die belangte Behörde zurückverweisen.
Begründend wurde im Wesentlichen zusammengefasst ausgeführt, dass das infolge des Arbeitsunfalles der BF erstellte Gutachten des Erstgutachters vom internen Chefarzt der damals zuständigen AUVA anders bewertet worden sei, ohne jedoch die BF auch nur kurz gesehen oder gar untersucht zu haben. Der Chefarzt habe die Vidierung des Erstgutachtens ohne jegliche Begründung vorgenommen und erachte sich die BF dadurch materiell beschwert. Das Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder das Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit dem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des Sachverhalts stelle ein willkürliches Verhalten der belangten Behörde (mit Verweis auf VwGH, Ra 2019/12/0073) dar. Die belangte Behörde habe ohne jedwede Begründung das von ihr selbst in Auftrag gegebene, nachvollziehbare und völlig schlüssige Gutachten des Erstgutachters übergangen und ohne allfällige Untersuchung sowie ohne jedwede Begründung die darin festgestellte Minderung der Erwerbsfähigkeit im Ausmaß von 20 % auf 10 % herabgesetzt und auf dieser Basis den Bescheid vom 08.10.2019 erlassen. Es würden als Beschwerdegründe die materielle Rechtswidrigkeit des Bescheides sowie die Mangelhaftigkeit des Verfahrens gerügt.
3. Die gegenständliche Beschwerde und die Bezug habenden Verwaltungsakten wurden dem Bundesverwaltungsgericht von der belangten Behörde vorgelegt und langten am 25.01.2021 beim Bundesverwaltungsgericht ein.
4. Im Zuge der Beschwerdevorlage übermittelte die belangte Behörde einen mit 25.01.2020 datierten Vorlagebericht, in dem die belangte Behörde nach neuerlicher Darlegung des Verfahrensganges, des Sachverhalts und der entsprechenden höchstgerichtlichen Rechtsprechung zusammengefasst ausführte, dass § 101 ASVG keine Handhabe dafür biete, jede Fehleinschätzung im Tatsachenbereich, insbesondere auch der Beweiswürdigung, im Nachhinein neuerlich aufzurollen. So stelle etwa eine andere Einschätzung der MdE eines Versicherten – etwa aufgrund neuer medizinischer Erkenntnisse – aufgrund eines Arbeitsunfalles in der Regel keinen Grund zur Herstellung des gesetzlichen Zustandes dar. Es würden etwa auch alleine dadurch, dass ein Sachverständiger den Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit, die sich aus bestimmten Leidenszuständen ergebe, anders beurteile, die Voraussetzungen eines Vorgehens nach § 101 ASVG nicht begründen (Verweis auf VwGH 2012/08/0047). Entgegen der Beschwerdebehauptungen würden daher die Voraussetzungen gemäß § 101 ASVG mangels Vorliegens eines wesentlichen Irrtums über den Sachverhalt oder eines offenkundigen Versehens nicht vorliegen.
5. Mit Schreiben des Bundesverwaltungsgerichtes vom 28.01.2021 wurde der BF über ihren Rechtsvertreter der Vorlagebericht der belangten Behörde vom 25.01.2021 zur Kenntnis gebracht und ihr diesbezüglich die Möglichkeit zur schriftlichen Stellungnahme binnen drei Wochen eingeräumt.
6. Am 19.02.2021 langte die mit 17.02.2021 datierte schriftliche Stellungnahme der Rechtsvertretung der BF beim Bundesverwaltungsgericht ein. Die Stellungnahme wurde von der BF auch zugleich an die belangte Behörde weitergeleitet.
Darin wurde zusammengefasst ausgeführt, dass die Befundaufnahme sowie auch die Bewertung der MdE in Höhe von 20 % durch den von der belangten Behörde beauftragten medizinischen Sachverständigen im Erstgutachten jedenfalls korrekt erfolgt sei. Eben jene korrekte Befundaufnahme und Gutachtensausführung sei jedoch ohne weitere Befundaufnahme, persönliche Untersuchung und/oder zumindest Befragung der BF durch den Chefarzt der belangten Behörde halbiert worden, ohne diese Reduktion auf eigene Wahrnehmungen von der sozialversicherten BF zu stützen und ohne in einer für die Versicherte nachvollziehbare Weise zu begründen. Durch die Halbierung ohne jedweden ersichtlichen Grund seien naturgemäß auch konkrete Leidenszustände übergangen worden. Dieser Irrtum sei wesentlich und beachtlich, da bei korrekter Vorgehensweise die geforderte Geldleistung zuzuerkennen gewesen wäre. Auch wenn eine „Vidierung“ durch den letztbeurteilenden Arzt sozusagen „gängige Praxis“ darstellen möge, liege dennoch ein Verstoß gegen das aus Art. 7 B-VG abgeleitete Willkürverbot vor. Dem Antrag nach § 101 ASVG sei daher zu entsprechen.
7. Am 19.02.2021 langte auch eine schriftliche Stellungnahme der belangten Behörde zur Stellungnahme der BF vom 17.02.2021 beim Bundesverwaltungsgericht ein.
Die belangte Behörde führt im Wesentlichen aus, dass bei der Vidierung des gegenständlichen Gutachtens keine konkreten Leidenszustände übergangen worden, sondern diese im Hinblick auf die Minderung der Erwerbsfähigkeit anders bewertet worden seien. Unter einem wurde auf die Entscheidung des VwGH vom 13.09.2017, Ra 2016/08/0174, verwiesen, wonach alleine dadurch, dass ein Sachverständiger den Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit, der sich aus bestimmten Leidenszuständen ergebe, anders beurteile, die Voraussetzungen eines Vorgehens nach § 101 ASVG nicht begründet würden.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Im Zuge eines Unfalles am 01.08.2018 erlitt die BF einen Bruch der rechten Speiche, eine Verrenkung des linken Kniegelenkes mit Bruch des Wadenbeinköpfchens, einen Bruch des rechten und des linken Außenknöchels sowie multiple oberflächliche Verletzungen des linken Unterschenkels (vgl. Entlassungsbericht des LKH XXXX über den stationären Aufenthalt der BF vom 01.08.2018 bis 25.08.2018).
1.2. Mit Feststellungsbescheid vom 23.07.2019 wurde der Unfall der BF vom 01.08.2018 durch die zum damaligen Zeitpunkt als Unfallversicherungsträger für die selbstständig Erwerbstätigen zuständige AUVA als Arbeitsunfall anerkannt und hinsichtlich einer Rente auf einen noch zu erlassenden Leistungsbescheid verwiesen (vgl. Leistungsbescheid der AUVA vom 08.10.2019).
Am 26.08.2019 wurde im Auftrag der AUVA vom dazu beauftragen Facharzt für Unfallchirurgie, Dr. XXXX, ein erstes Rentengutachten erstellt, wonach dieser die Verletzungsfolgen und die damit einhergehende Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) mit 20 % bis zur empfohlenen Nachuntersuchung in einem Jahr beurteilte (vgl. aktenkundiges „Erstes Rentengutachten“ vom 26.08.2019).
Dieses Erstgutachten wurde von der Chefärztlichen Station der AUVA, konkret durch Dr. XXXX, am 03.10.2019 vidiert und eine entsprechende medizinische Endbeurteilung auch für die Erstzuerkennung einer vorläufigen Rente für die Vergangenheit vorgenommen (vgl. Vidierung des Erstgutachtens durch Dris. XXXX am 03.10.2019).
Mit Leistungsbescheid der AUVA vom 08.10.2019 wurde der BF für den Zeitraum von 02.10.2018 bis zum 10.10.2018 eine Versehrtenrente mit einer MdE von 30 %, für den Zeitraum von 11.10.2018 bis 08.11.2018 mit 100 % und ab 09.11.2018 bis 31.07.2019 mit 20 % zuerkannt. Mangels rentenbegründender MdE gebührte ab 01.08.2019 keine Rentenleistung mehr (vgl. aktenkundiger Leistungsbescheid der AUVA vom 08.10.2019; Vidierung des Erstgutachtens durch Dris. XXXX am 03.10.2019).
Gegen diesen Leistungsbescheid der AUVA vom 08.10.2019 erhob die BF kein Rechtsmittel. Der Bescheid erwuchs in Rechtskraft.
1.3. Am 03.08.2020 beantragte die BF durch ihre Rechtsvertretung die rückwirkende Herstellung des gesetzlichen Zustandes gemäß § 101 ASVG.
Im Zuge des Ermittlungsverfahrens der nunmehr zuständigen belangten Behörde wurden der BF das Erstgutachten und später auch die Vidierung desselben vom 03.10.2019 durch die chefärztliche Station der damals noch zuständigen AUVA übermittelt. Darüber hinaus wurde der Akt seitens der belangten Behörde auch dem nunmehr zuständigen ärztlichen Dienst der belangten Behörde zur Stellungnahme vorgelegt.
Der ärztliche Dienst der belangten Behörde, konkret Dr. XXXX, führte in seiner ärztlichen Stellungnahme vom 28.08.2020 an, dass die Vidierung des Fachgutachtens durch die ehemals zuständige ärztliche Station der AUVA übernommen werden kann, da aufgrund der vorliegenden Unterlagen keine andere Beurteilung des Grades der MdE zu erfolgen habe (vgl. aktenkundige ärztliche Stellungnahem vom 28.08.2020).
1.4. Festgestellt wird, dass im ersten Rentengutachten alle Befunde der BF erhoben und berücksichtigt wurden und durch die Vidierung lediglich die Beurteilung des Grades der Minderung der Erwerbsfähigkeit aus diesen Einschränkungen anders beurteilt wurde. Es konnte nicht festgestellt werden, dass seitens der belangten Behörde bzw. im Gutachten konkrete Unfallfolgen- und Einschränkungen nicht berücksichtigt worden wären.
2. Beweiswürdigung:
Der oben dargestellte Verfahrensgang sowie der festgestellte Sachverhalt ergeben sich aus dem diesbezüglich unbedenklichen und unzweifelhaften Inhalt der vorgelegten Verwaltungsakten und aus dem Akt des Bundesverwaltungsgerichtes und ist unstrittig.
Der Umstand, dass nicht festgestellt werden konnte, dass seitens der belangten Behörde bzw. im Gutachten konkrete Unfallfolgen- und Einschränkungen der BF nicht berücksichtigt worden wären, ergibt sich daraus, dass diesbezüglich weder entsprechende Hinweise im Akt hervorgekommen sind, noch die BF dergleichen konkret und substanziiert vorgebracht hätte.
Strittig ist im Übrigen eine Rechtsfrage. Diesbezüglich wird auf die rechtliche Beurteilung verwiesen.
3. Rechtliche Beurteilung:
3.1. Zuständigkeit und anzuwendendes Recht:
Gemäß § 355 ASVG sind alle nicht gemäß § 354 ASVG als Leistungssachen geltenden Angelegenheiten, für die nach § 352 ASVG die Bestimmungen dieses Teiles gelten, Verwaltungssachen.
Das Bundesverwaltungsgericht entscheidet gemäß § 6 BVwG durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen eine Entscheidung durch Senate vorgesehen ist.
Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das VwGVG, BGBl. I Nr. 33/2013 idgF. BGBl. I Nr. 109/2021, geregelt (§ 1 leg.cit.).
Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung - BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes - AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 - DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.
Gemäß § 27 VwGVG hat das Verwaltungsgericht, soweit es nicht Rechtswidrigkeit wegen Unzuständigkeit der Behörde gegeben findet, den angefochtenen Bescheid aufgrund der Beschwerde (§ 9 Abs. 1 Z 3 und Z 4 VwGVG) oder auf Grund der Erklärung über den Umfang der Anfechtung (§ 9 Abs. 3 VwGVG) zu überprüfen.
Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist. Dagegen erfolgen die Entscheidungen und Anordnungen gemäß § 31 Abs. 1 leg. cit. durch Beschluss, soweit nicht ein Erkenntnis zu fällen ist.
3.2. Zum Spruchpunkt A):
Gemäß § 8 Abs. 1 Z 3 lit. a ASVG sind in der Unfallversicherung alle selbstständig Erwerbstätigen, die Mitglieder einer Wirtschaftskammer oder in der Kranken- und Pensionsversicherung gemäß § 2 Abs. 1 Z 4 GSVG pflichtversichert oder in der Krankenversicherung gemäß § 3 Abs. 1 Z 2 GSVG pflichtversichert sind, nach dem ASVG teilversichert. Ferner auch die Gesellschafter/innen einer offenen Gesellschaft, die unbeschränkt haftenden Gesellschafter/innen einer Kommanditgesellschaft und die zu Geschäftsführern bestellten Gesellschafter einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung, sofern diese Gesellschaften Mitglieder der Kammer der gewerblichen Wirtschaft sind.
Gemäß § 203 Abs. 1 ASVG besteht ein Anspruch auf Versehrtenrente, wenn die Erwerbsfähigkeit des Versehrten durch die Folgen eines Arbeitsunfalles oder eine Berufskrankheit über drei Monate nach dem Eintritt des Versicherungsfalles hinaus um mindestens 20 v.H. vermindert ist; die Versehrtenrente gebührt für die Dauer der Minderung der Erwerbsfähigkeit um mindestens 20 v.H.
Ergibt sich nachträglich, dass eine Geldleistung bescheidmäßig infolge eines wesentlichen Irrtums über den Sachverhalt oder eines offenkundigen Versehens zu Unrecht abgelehnt, entzogen, eingestellt, zu niedrig bemessen oder zum Ruhen gebracht wurde, so ist gemäß § 101 ASVG mit Wirkung vom Tag der Auswirkung des Irrtums oder Versehens der gesetzliche Zustand herzustellen.
Ein Irrtum über den Sachverhalt liegt nur vor, wenn der Sozialversicherungsträger Sachverhaltselemente angenommen hat, die mit der Wirklichkeit im Zeitpunkt der Bescheiderlassung nicht übereinstimmten (vgl. VwGH vom 21.12.2005, 2002/08/0281, und vom 28.03.2012, 2012/08/0047, jeweils mwN). Einen Tatsachenirrtum in diesem Sinn könnte etwa eine unrichtige Befundaufnahme durch einen Sachverständigen - etwa das Übersehen eines konkreten Leidenszustandes - darstellen (vgl. VwGH vom 27.07. 2001, 2001/08/0040, und vom 18.03.1997, 96/08/0079). In der Außerachtlassung einer gesicherten Erkenntnis des Faches durch einen Sachverständigen könnte ein offenkundiges Versehen liegen. § 101 ASVG bietet aber keine Handhabe dafür, jede Fehleinschätzung im Tatsachenbereich - insbesondere auch die Beweiswürdigung - im Nachhinein neuerlich aufzurollen (vgl. VwGH vom 26.05.2004, 2001/08/0030, und vom 28.03.2012, 2012/08/0047). Insbesondere liegt ein wesentlicher Sachverhaltsirrtum dann nicht vor, wenn sich bloß die medizinische Einschätzung - etwa aufgrund neuerer medizinischer Erkenntnisse - geändert hat (vgl. nochmals VwGH 2012/08/0047, mwN). Daher werden etwa auch allein dadurch, dass ein Sachverständiger den Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit, die sich aus bestimmten Leidenszuständen ergibt, anders beurteilt, die Voraussetzungen eines Vorgehens nach § 101 ASVG nicht begründet (vgl. VwGH vom 13.09.2017, Ra 2016/8/0174, mit Verweis auf VwGH 2012/08/0047 und 96/08/0079).
Nach Rechtsprechung des VwGH kann sich zwar das (für die Herstellung des gesetzlichen Zustandes nach § 101 ASVG erforderliche) "offenkundige Versehen" auch auf die (u.a. für die bescheidmäßige Ablehnung einer Geldleistung relevante) rechtliche Beurteilung beziehen. Das bedeutet aber - zufolge des Erfordernisses der "Offenkundigkeit" - nicht, dass in Bezug auf jeden in Rechtskraft erwachsenen Bescheid im Wege des § 101 ASVG nachträglich ein dem Bescheid zugrundeliegendes "Versehen" rechtlicher Art erfolgreich geltend gemacht werden könnte; das "Versehen" muss vielmehr "offenkundig" sein. Eine solche Art des Versehens liegt nach der Lehre und Rechtsprechung aber nur dann vor, wenn eine klare und eindeutige gesetzliche Bestimmung unrichtig ausgelegt wurde und dies redlicherweise nicht bestritten werden kann. Davon kann nicht gesprochen werden, wenn der (im Wege des § 101 ASVG) bekämpfte Leistungsbescheid das Ergebnis einer - wenn auch möglicherweise unzutreffenden - komplizierten rechtlichen Beurteilung ist (vgl. VwGH vom 22.10.1996, 96/08/0057).
Fallbezogen ergibt sich daraus:
Die BF hat einen Irrtum im Tatsachenbereich im dargestellten Sinn bzw. eine Außerachtlassung einer gesicherten Erkenntnis des Faches durch den (vidierenden) Sachverständigen bei der Feststellung der der vorläufigen Versehrtenrente mit Bescheid vom 08.10.2019 zu Grunde liegenden Einschätzung des Grades der Minderung der Erwerbsfähigkeit nicht substanziiert vorgetragen. Sie wendet sich ausschließlich gegen eine geänderte Beurteilung des Grades der Minderung der Erwerbsfähigkeit durch den vidierenden Sachverständigen auf Basis der im Erstgutachten vom August 2019 erhobenen Befunde.
Entsprechen der dargelegten Judikatur des VwGH wird allein dadurch, dass ein Sachverständiger den Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit, der sich aus bestimmten Leidenszuständen ergibt, anders beurteilt, die Voraussetzungen eines Vorgehens nach § 101 ASVG nicht begründet.
Ein offenkundiges Versehen der belangten Behörde wurde zu keiner Zeit behauptet.
Die von der BF in der Beschwerde bzw. ihrer Stellungnahme geltend gemachten Gründe beziehen sich auf den – mangels Erhebung eines dagegen erhobenen Rechtsmittels in Form einer Klage – auf den rechtskräftigen Leistungsbescheid vom 08.10.2019.
Die Beschwerde war daher als unbegründet abzuweisen.
3.3. Zum Entfall der mündlichen Verhandlung:
Gemäß § 24 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht auf Antrag, oder wenn es dies für erforderlich hält, von Amts wegen eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen.
Eine Verhandlung kann nach § 24 Abs. 2 VwGVG entfallen, wenn der das vorangegangene Verwaltungsverfahren einleitende Antrag der Partei oder die Beschwerde zurückzuweisen ist, oder bereits auf Grund der Aktenlage feststeht, dass der angefochtene Bescheid aufzuheben, die angefochtene Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt oder die angefochtene Weisung für rechtswidrig zu erklären ist, oder die Säumnisbeschwerde zurückzuweisen oder abzuweisen ist.
Gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG kann das Verwaltungsgericht, soweit durch Bundes- oder Landesgesetz nichts anderes bestimmt ist, ungeachtet eines Parteiantrages von einer Verhandlung absehen, wenn die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, und einem Entfall der Verhandlung weder Art. 6 Abs. 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 210/1958, noch Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, ABl. Nr. C 83 vom 30.03.2010, S. 389 entgegenstehen.
Im gegenständlichen Fall konnte von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen werden, da eine mündliche Verhandlung nicht beantragt wurde und bereits die Akten erkennen ließen, dass eine mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt und weiter einem Entfall der Verhandlung Art. 6 Abs. 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 210/1958, und Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, ABl. Nr. C 83 vom 30.03.2010, S. 389 nicht entgegenstehen. Darüber hinaus war der entscheidungswesentliche Sachverhalt zwischen den Verfahrensparteien unstrittig und war anlassbezogen lediglich eine Rechtsfrage zu klären.
Zum Spruchpunkt B): Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs. 1 des Verwaltungsgerichtshofgesetzes 1985 (VwGG), BGBl. Nr. 10/1985 idgF, hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision gegen die gegenständliche Entscheidung ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor. Konkrete Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung sind weder in der gegenständlichen Beschwerde vorgebracht worden noch im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht hervorgekommen.
Schlagworte
Minderung der Erwerbsfähigkeit rückwirkende Rechtsgestaltung Sachverständigengutachten Versehen Versehrtenrente Voraussetzungen Wiederherstellung des ursprünlichen ZustandesEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2021:G308.2238947.1.00Im RIS seit
09.11.2021Zuletzt aktualisiert am
09.11.2021