TE Bvwg Erkenntnis 2021/9/15 W189 2240838-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 15.09.2021
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Entscheidungsdatum

15.09.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §2 Abs1 Z13
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W189 2240838-1/7E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Irene RIEPL als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, vertreten durch Mag. Hubert Wagner, LL.M., Rechtsanwalt in 1130 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 20.01.2021, Zl. 810234300-200735933 nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am , zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde wird gemäß §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1, 10 Abs. 1 Z 3, 57 AsylG 2005, § 9 BFA-VG, und §§ 52, 55 FPG mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, als Spruchpunkt V. zu lauten hat:

„Es wird gemäß 52 Absatz 9 FPG festgestellt, dass Ihre Abschiebung gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig ist“.

II. Der Antrag vom 03.09.2021 wird abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Vorverfahren

Die Beschwerdeführerin (in der Folge: BF), eine Staatsangehörige der Russischen Föderation, stellte erstmals am 10.03.2011 einen Antrag auf internationalen Schutz, welcher infolge der Zuständigkeit von Polen rechtskräftig in erster Instanz zurückgewiesen wurde. Unter einem wurde die BF rechtskräftig ausgewiesen.

2. Gegenständliches Verfahren

2.1. Am 17.08.2020 stellte die BF gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz und wurde am 18.08.2020 durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes unter Beziehung eines Dolmetschers für die Sprache Russisch erstbefragt.

Zu ihren persönlichen Daten gab die BF im Wesentlichen an, sie sei in XXXX in der Russischen Föderation geboren, gehöre der Volksgruppe der „Tschechen“ an und bekenne sich zum Islam. Sie spreche Tschetschenisch sowie Russisch in Wort und Schrift. Die BF sei geschieden. Sie habe 8 Jahre Grundschule besucht und zuletzt am Bahn (Informationsschalter) gearbeitet. Sie wohne in der Stadt XXXX in Tschetschenien.

In Tschetschenien befinde sich ihr Ex-Ehemann, ihre Mutter sowie ihre Schwester. In Österreich hielten sich ihre Tochter sowie ihr Sohn auf.

Die BF gab zur Frage – „Haben Sie Beschwerden oder Krankheiten, die Sie an dieser Einvernahme hindern oder das Asylverfahren in der Folge beeinträchtigten“ – an: „nein, ich kann dieser Einvernahme ohne Probleme folgen“.

Zu ihrem Ausreisegrund gab sie befragt an, sie habe ihr Land verlassen, weil sie alleine sei. Es sei schwer, ohne ihre Kinder zu leben. Sie wolle bei ihren Kindern sein und bei ihrer Tochter leben. Es sei niemand da, der sich um sie kümmern könne. Das seien alle ihre Fluchtgründe. Bei einer Rückkehr in ihre Heimat habe sie Angst, dass sie sich bald nicht mehr um sich selbst kümmern könne.

2.2. Das Verfahren der BF wurde am 18.08.2020 zugelassen.

2.3. Am 09.12.2020 wurde die BF durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: BFA) niederschriftlich unter Beziehung einer Dolmetscherin für Russisch einvernommen.

Im Zuge dessen gab die, der tschetschenischen Volksgruppe angehörende, BF zu ihrem Gesundheitszustand insbesondere an, Herzschmerzen im linken Bereich zu haben und dass ihr schlecht werde. Derzeit seien die Schmerzen nicht stark, tagsüber werde es stärker. Sie hätte die Schmerzen seit ca. 3 Jahren. In Österreich sei sie noch nicht beim Arzt gewesen, weil sie einen neuen Termin bekomme. In der Russischen Föderation sei sie beim Arzt gewesen, welcher ihr mitgeteilt habe, dass sie unter Stenokardie leide, und sei sie in ihrem Herkunftsstaat deswegen ärztlich behandelt worden. Es sei aber sehr teuer, wenn man in der Russischen Föderation zum Arzt gehe. In ihrem Herkunftsstaat habe sie Tabletten verschrieben bekommen, welche sie vergessen habe, mitzunehmen. In Österreich nehme sei keine Medikamente – sie brauche hierfür ein Rezept, sei aber noch nicht beim Arzt gewesen.

Die BF gab konkret hierzu befragt an, sich psychisch und physisch in der Lage zu fühlen, die gestellten Fragen wahrheitsgemäß zu beantworten.

Zu ihren persönlichen Umständen gab die BF im Wesentlichen an, über 30 Jahre bei der Bahn als Signalgeberin bei der Zugsabfertigung tätig gewesen zu sein. Seit ihrem 50. Lebensjahr sei sie in Pension und habe sie bis zu ihrer Ausreise eine Pension bekommen. Dadurch habe sie sich den Lebensunterhalt in ihrer Heimat finanziert. Seit sie in Österreich sei, bekomme sie keine. Sie sei das erste Mal ausgereist. Die BF habe im Zuge des 2011 in Österreich eingebrachten Asylantrags geglaubt, in Polen gewesen zu sein, und sei sie wieder in die Russische Föderation zurückgekehrt, weil man sie nicht zu ihren Kindern gelassen habe. In der Russischen Föderation habe die BF, nachdem ihre zwei Kinder weggefahren seien, dort alleine gelebt. Nachdem ihr Haus abgetragen worden sei und sie hiefür Geld erhalten habe, habe sie sich dafür einen Heimplatz finanziert und fünf Jahre in einem Heim gelebt. Durch den Verkauf des Heimplatzes habe sie sich dafür ein Visum gekauft und ihre Reise nach Österreich. Dort würde sie nun bei ihrer Tochter, welche ihrerseits zwei Töchter habe, leben. Ihre Tochter mache alles. Konkret befragt gab sie hierzu an, die Tochter mache alles was die BF brauche. Sie lasse sie nichts machen. Die BF würde gerne helfen und kochen. Sie sei körperlich in der Lage zu kochen und brauche sie auch keine Hilfe. Sie habe auch in der Russischen Föderation im Heim alles gemacht, außer die Wäsche gewaschen. Sie habe auch geputzt. Die Schwester habe nur die Wäsche geholt und gewaschen. Ihr Sohn lebe ebenfalls in Österreich. Ihre Kinder hätten einen Aufenthaltstitel. Der Vater der BF sei bereits verstorben. Ihre ca. 80-jährige Mutter lebe bei deren Bruder, welcher sich mit seiner Frau um sie kümmere, in Tschetschenien und habe die BF Kontakt, aber nicht viel, zu ihr. Ihrer Mutter gehe es gut. Die BF habe überdies in Tschetschenien eine 1964 geborene Schwester, welche in XXXX mit ihrem Sohn lebe. Zu ihr habe sie regelmäßigen telefonischen Kontakt und gehe es der Schwester, welche vom Handel lebe, gut. Sonst habe die BF nur weit entfernte Verwandte in der Russischen Föderation. Sie habe telefonischen Kontakt zu Verwandten ihres verstorbenen Vaters.

Zu ihrem Fluchtgrund gab die BF im Wesentlichen an, sie sei in Russland alleine gewesen und habe große Sehnsucht nach ihren Kindern gehabt. Es habe niemanden gegeben, der sich um sie habe kümmern können, als sie krank gewesen sei. Sie sei dort ganz alleine gewesen und es sei schwer alleine zu leben. Hierzu ergänzend befragt, führte sie insbesondere aus, sie habe immer große Sehnsucht nach ihren Kindern gehabt und habe sie sich aber nicht zur Ausreise entschieden, weil sie nicht gewusst habe, ob man sie bei ihren Kindern lasse. Sie hoffe sehr, dass sie hier bei ihren Kindern bleiben dürfe. Ihre Tochter habe gesagt, sie solle es nochmals riskieren, vielleicht werde sie diesmal aufgenommen.

Befragt gab sie weiters an, keine weiteren Fluchtgründe zu haben und sei sie in ihrem Herkunftsstaat weder persönlicher Verfolgung ausgesetzt gewesen noch habe es Probleme, Vorfälle gegeben. Bei einer Rückkehr habe sie große Sehnsucht nach ihren Kindern.

Zu ihrem Leben in Österreich führte sie im Wesentlichen aus, sie bekomme in Österreich die Grundversorgung, sei in keiner Organisation oder Verein tätig und spreche kein Deutsch. Befragt gab sie weiters an, in Zukunft hier in Österreich bei ihren Kindern sein zu wollen. Es gehe ihr gut bei ihrer Tochter.

Des Weiteren gab sie befragt – u.a. in Bezug auf die Erstbefragung – an, immer die Wahrheit gesagt zu haben und sei die Erstbefragung korrekt rückübersetzt worden.

2.4. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid des BFA vom 20.01.2021 wurde der Antrag der BF auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) und des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat der BF gemäß § 8 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde der BF gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Des Weiteren wurde gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm. § 9 BFA-VG gegen sie eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass ihre Abschiebung gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für ihre freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.).

Begründend führte das BFA im Wesentlichen aus, die aus Tschetschenien stammende, geschiedene BF und Mutter von zwei erwachsenen Kindern, leide seit Jahren an einer Herzerkrankung, welche sie jedoch bereits in der Russischen Föderation habe behandeln lassen. Sie nehme derzeit keine Medikamente und sei auch bei keinem Arzt in Österreich gewesen. Weitere gesundheitliche Probleme haben nicht festgestellt werden können und seien auch nicht behauptet worden. In Tschetschenien habe die BF ihren Lebensunterhalt verdient und würden in ihrem Herkunftsstaat noch ihre Mutter, eine Schwester sowie mehrere Verwandte leben. Sie stehe in regelmäßigen Kontakt mit ihrer Schwester sowie mit Verwandten ihres Vaters. Eine asylrelevante Verfolgung in der Vergangenheit bzw. eine zu befürchtende in der Zukunft habe in der Russischen Föderation nicht festgestellt werden können. Die BF habe den Großteil ihres Lebens in der Russischen Föderation verbracht. Es sei ihr zuzumuten, wie bereit vor ihrer Abreise aus ihrem Herkunftsstaat, mit Hilfe der eigenen Arbeitsleistung und eventuell auch durch Unterstützung ihrer Angehörigen ihren Lebensunterhalt in der Russischen Föderation zu sichern. Sie sei sowohl hinsichtlich ihrer Tätigkeit als auch ihres Aufenthaltsortes nachweislich flexibel. In Österreich würden ihre beiden Kinder, welche über einen Daueraufenthalt-EU verfügen, leben. Die BF sei über Jahre hinweg in der Lage gewesen, allein in der Russischen Föderation zu leben und habe sie ihre Kinder in dieser Zeit nicht gesehen. Ein in Österreich schützenwertes Familienleben könne nicht festgestellt werden, zumal sie bereits seit Jahrzehnten getrennt von ihren Kindern gelebt habe. Im Übrigen sei die BF erst seit einem äußerst kurzen Zeitraum im Bundesgebiet aufhältig – zuvor habe sie den Großteil ihrs Lebens in ihrem Herkunftsstaat verbracht. U.a. bestünden keine finanziellen oder sonstigen Abhängigkeitsverhältnisse.

Alledem zugrundeliegend wurde insbesondere beweiswürdigend erwogen, die Feststellungen zum Gesundheitszustand ergäben sich aus ihren Ausführungen sowie des persönlichen Eindrucks des Organwalters. Abgesehen von einer Herzerkrankung habe die BF weitere gesundheitliche Probleme nicht angeführt. Sie leide an keinen lebensbedrohlichen Krankheiten, zumal sie keine Befunde vorgelegt habe und dies auch nicht der Behörde bekanntgegeben habe. Die von der BF vorgebrachten Gründe für das Verlassen ihres Herkunftsstaates würden grundsätzlich als glaubhaft erachtet werden, dennoch habe die BF keine asylrelevanten Gründe für das Verlassen ihres Herkunftsstaates dargelegt. Vielmehr sei sie nach Österreich gekommen, weil sie in der Nähe ihrer Kinder sein wolle. Hinsichtlich der Herzerkrankung sei auf die Behandlungsmöglichkeit in der Russischen Föderation zu verweisen und sei die BF dort in der Lage gewesen, sich den Lebensunterhalt alleine zu sichern. Auch würden nach wie vor Verwandte in ihrem Herkunftsstaat leben, welche sie unterstützen könnten. Außerdem handle es sich bei der BF um eine erwachsene Person mit Berufserfahrung. Im Übrigen sei es der BF möglich, sich in einem anderen Landesteil ihres Herkunftsstaates niederzulassen und werde durch eine Registrierung der Zugang zu Sozialhilfe und staatlich geförderten Wohnungen zum kostenlosen Gesundheitssystem sowie zum legalen Arbeitsmarkt ermöglicht. Staatsbürger würden bei Verwandten unterkommen oder selbstständig einen Wohnraum organisieren können. So habe sich die BF als selbstständig erwiesen und sei selbständig alleine nach Europa gereist. Aufgrund des kurzen Aufenthalts in Österreich sei von keinem Abhängigkeitsverhältnis zu den Kindern auszugehen. Es sei auch nicht von einem stabilen und festen Familienleben in Österreich auszugehen. Neben der Unterstützung durch die große Familie in der Russischen Föderation könne die BF auf dortige Einrichtungen zurückgreifen. Die medizinische Versorgung sei gewährleistet, zumal sämtliche Medikamente sowie Behandlungsmöglichkeiten, auch direkt in Tschetschenien, erhältlich seien. Trotz der Aufenthalte der BF seit August 2020 sowie im Jahr 2011 im Bundesgebiet verfüge sie über keine Deutschkenntnisse und sei zu folgern, dass ihre Bemühungen sich zu integrieren, als äußerst gering anzusehen seien.

Rechtlich folge aus alledem, dass die von der BF vorgebrachten Gründe, eine Flüchtlingseigenschaft nicht begründen würden, weshalb Asyl nicht gewährt werden könne. Weiters sei der Status der subsidiär Schutzberechtigten nicht zuzuerkennen, zumal der BF im Falle der Rückkehr die notdürftigste Existenzgrundlage in der Russischen Föderation nicht entzogen sei und hinsichtlich ihrer Erkrankung hinzuweisen sei, dass Rückkehrer wie alle anderen behandelt werden würden, es klinische sowie ambulante Behandlungsmöglichkeiten gebe und sich die BF in der Vergangenheit medizinisch behandeln habe lassen können. Eine allgemeine, extreme Gefährdungslage sei in der Russischen Föderation nicht anzunehmen. Des Weiteren seien keine Anhaltspunkte, die eine Erteilung einer „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ gemäß § 57 AsylG rechtfertigen würden. Für die Beurteilung der Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung folge, dass ein Abhängigkeitsverhältnis zu den Kindern der BF – aufgrund der festgestellten jahrelangen Trennung, des äußerst kurzen Aufenthalts sowie des Vorhandenseins von Familienangehörigen in der Heimat – nicht vorliege, die BF über eine äußerst geringe Integration verfüge und die Integrationsbemühungen, auch unter Berücksichtigung ihrer Erkrankung, als äußerst gering einzustufen seien. Selbst der Wunsch bei den Kindern zu sein, könne dies nicht aufwiegen, zumal auch die Behandlung der Erkrankung im Herkunftsstaat gewährleistet sei. Im Übrigen sei darauf zu verweisen, dass sich die BF ihre Aufenthalte im Jahr 2011 sowie seit August 2020 ausschließlich durch die Stellung diverser Asylanträge legitimiert habe. Da die BF weder über ein Privat- noch über ein Familienleben im Bundesgebiet verfüge, überwiege, obgleich sich ihre Kinder in Österreich aufhielten, das öffentliche Interesse an einer Außerlandesbringung, weshalb eine Rückkehrentscheidung zulässig sei. Die Zulässigkeit der Abschiebung in die Russische Föderation sei insbesondere aus den vorgenannten Erwägungen anzunehmen. Die Frist für die freiwillige Ausreise von vierzehn Tagen ergebe sich aus § 55 FPG, weil gegenständlich besondere Umstände nicht festgestellt worden seien.

2.5. Mit Verfahrensanordnung vom 26.01.2021 wurde der BF ein Rechtsberater für ein etwaiges Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht amtswegig zur Seite gestellt.

2.6. Am 23.03.2021 erhob die BF durch ihre gewillkürte, im Spruch genannte, rechtliche Vertretung binnen offener Frist das Rechtsmittel der Beschwerde und brachte im Wesentlichen vor, dass zwar die Herzerkrankung der BF auch in ihrem Heimatland behandelt werden könnte, allerdings hätte eine Untersuchung der damals unvertretenen BF durch einen Arzt aufgrund deren angeschlagenen Gesundheitszustandes vorgenommen werden müssen. Hierdurch wäre zum Vorschein gekommen, dass die BF unter schwerwiegenden neurologischen Störungen leide, die einer Therapie in Österreich bedürften. Die BF könne aufgrund ihres psychischen Zustandes nicht gut Deutsch lernen. Es liege ein psychologischer Befundbericht vor, nach dem die BF unter einer ausgeprägten posttraumatischen Belastungsstörung und rezidivierenden depressiven suizidalen Gedanken leide. Sie leide unter traumatischen Folgesymptomen wie unter anderem Schlafstörungen, Albträumen, Konzentrationsschwierigkeiten, Flashbacks und Angst. Bei einer richtigen Diagnose wäre hervorgekommen, dass die BF krank und behandlungsbedürftig sei. Dieses psychische Problem sei schon aufgrund der sich stetig wiederholenden Aussagen der BF für das BFA erkennbar gewesen. Jedenfalls wäre eine ärztliche Untersuchung einzuleiten gewesen. Die Erkrankung der BF sei asylrechtlich beachtlich, da sie in ihrem Herkunftsstaat nicht ausreichend therapiert werden würde und würde eine gesundheitliche Gefahr für die BF im Falle ihrer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat bestehen – es wird auf das Vorliegen eines „real risk“ im Sinne des Art 3 EMRK verwiesen. Demgegenüber sei eine Behandlung dieser psychischen Erkrankung in Österreich sehr gut möglich. Im Übrigen werde auch geltend gemacht, dass die Übersetzung der Aussage der BF nur unzureichend gewesen sei, weil auf ihre Erkrankung in der Einvernahme nur unzureichend eingegangen worden sei. Sie habe unter Herzerkrankung in ihrer Aussage vereinfacht wohl auch ihre psychischen Schwierigkeiten ausdrücken wollen. Aus ihrer Aussage sei jedenfalls der mögliche Rückschluss zu ziehen, dass sie kein eigenständiges Leben in der Russischen Föderation mehr führen könne und dort nicht mehr versorgt sei, was das BFA jedoch ohne nähere Erörterung unter diesfalls im konkreten aber unrichtigen Pauschalverweis auf den Länderbericht unterstelle. Die konkreten Lebensverhältnisse der BF wären genauer zu überprüfen gewesen und ein ärztliches Gutachten einzuholen gewesen, um die Herzerkrankung der BF abzuklären – insbesondere auch deshalb, weil diese aufgrund ihrer psychischen Beschwerden nicht dazu in der Lage gewesen sei, in ihrer Einvernahme ihre genauen Lebensumstände im Detail zu beschreiben. Da es der BF aufgrund ihrer schwierigen psychischen Verfassung sehr schwer falle, die deutsche Sprache zu erlernen, sei ihr der unverschuldet nicht erbrachte Nachweis der sprachlichen Integration nachzusehen. Im Übrigen sei die BF in Österreich, wie es ihr zumutbar sei, soweit integriert. Ihre beiden Kinder würden in Österreich leben und lebe die BF selbst mit dem einen Kind in Wohngemeinschaft. Sie werde von ihrer Tochter gepflegt, weil sie sich nicht selbst erhalten könne.

Es wurde beantragt, eine mündliche Beschwerdeverhandlung anzuberaumen und abzuhalten, der BF den Status der Asylberechtigen bzw. der subsidiär Schutzberechtigen in Bezug auf ihren Herkunftsstaat zuzuerkennen, in eventu den Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, jedenfalls keine Rückkehrentscheidung zu erlassen und auch nicht festzustellen, dass die Abschiebung zulässig wäre, in eventu den Bescheid aufzuheben und der belangten Behörde die neuerliche Entscheidung nach Ergänzung des Verfahrens aufzutragen.

Unter einem wurden ein klinisch-psychologischer Befundbericht vom 10.03.2021, eine Honorarnote vom 15.03.2021, ein Befundbericht eines Facharztes für Psychiatrie und Neurologie vom 15.03.2021, ein Überweisungsschein sowie ein Überweisungsschein mit Beiblatt vorgelegt.

2.7. Am 26.03.2021 langte die Beschwerdevorlage samt Verwaltungsakt beim Bundesverwaltungsgericht ein.

2.8. Auf Grund der Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 29.06.2021 wurde die gegenständliche Rechtssache der bisher zuständigen Gerichtsabteilung abgenommen und der nunmehr zuständigen Gerichtsabteilung W189 neu zugewiesen.

2.9. Am 10.08.2021 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Zuhilfenahme einer geeigneten Dolmetscherin für die Sprache Russisch statt, zu welcher die BF samt Rechtsvertretung sowie Vertrauensperson erschienen ist. Die belangte Behörde blieb der Verhandlung entschuldigt fern. Im Rahmen dessen standen unter anderem die persönlichen Verhältnisse der BF, ihre Fluchtgründe und die Situation im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat im Vordergrund.

Die Rechtsvertretung brachte im Rahmen der Verhandlung ergänzend vor, dass das Wohnhaus der BF auf Geheiß des Regimes abgerissen worden sei und die Fläche planiert worden sei und sie keine Wohnmöglichkeit mehr in ihrer Heimat habe. Zu den Länderberichten verwies die Rechtsvertretung auf die ärztliche Versorgung, die auch nach den Länderberichten nicht besonders gut sei und im konkreten Fall der BF hinzukomme, dass diese ohnedies an Vergesslichkeit leide und daher ebenso Unterstützung bei der Einnahme der Medikamente benötige.

Mit Aktenvermerk zu GZ W189 2191690-1 vom 05.08.2021 gab der Sohn der BF telefonisch bekannt, dass er sich bis Mitte August in Tschetschenien befinde.

Vorgelegt wurde u.a. ein ärztlicher Befundbericht vom 22.02.2021 von einem FA für innere Medizin.

Der Rechtsvertretung wurde eine Frist von einer Woche zur Abgabe einer schriftlichen Stellungnahme zur Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 05.09.2019 gewährt. Mit der Ladung zur öffentlichen mündlichen Verhandlung wurde die Länderinformation der Staatendokumentation Russische Föderation vom 10.06.2021, Version 3, an die Rechtsvertretung übermittelt.

2.10. Eine schriftliche Stellungnahme der Rechtsvertretung langte in der Folge nicht ein.

2.11. Mit Urkundenvorlage der Rechtsvertretung vom 02.09.2021, eingelangt mit 03.09.2021, legte der BF weitere Befunde vor (Arztbrief eines im Akt näher bezeichneten Facharztes für Psychiatrie und Neurologie vom 31.08.2021) worin angemerkt wurde, dass auf Grund des Verdachts auf RF Temporal rechts weitere Untersuchungen mittels MR (Magnetresonanz) mit KM (Kontrastmittel) an einer Neurochirurgie erforderlich seien sowie einen Röntgen- und Sonographie Befund des Diagnosezentrums Donaustadt vom 08.10.2020 betreffend beide Schultern der BF. Auf Grundlage dessen beantragte die Rechtsvertretung den Gesundheitszustand der BF durch einen medizinischen Sachverständigen hinsichtlich einer weit besseren und nur in Österreich und nicht in der Heimat der BF ausreichenden Behandelbarkeit überprüfen zu lassen. (OZ 8)

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person der BF

Die Identität der BF steht fest.

Die BF ist eine Staatsangehörige der Russischen Föderation, Angehörige der tschetschenischen Volksgruppe und muslimischen Glaubens.

Die Muttersprache der BF ist Tschetschenisch und beherrscht sie Russisch in Wort und Schrift. Sie spricht perfekt Russisch. Im Übrigen ist sie mit den Gepflogenheiten im Herkunftsstaat vertraut. Sie ist volljährig, jedoch nicht mehr im erwerbsfähigen Alter. Sie hat in Tschetschenien 8 Jahre die Grundschule besucht und bis zur Pensionierung bei der Eisenbahn gearbeitet.

Die BF ist geschieden. Aus ihrer ersten Ehe entstammen zwei erwachsenen Kinder, nämlich eine Tochter sowie ein Sohn. Ihre Tochter sowie ihr Sohn leben in Österreich.

Der geschiedene Gatte der BF ist mit den Kadyrows verwandt.

Die BF hat in ihrem Herkunftsstaat zuletzt fünf Jahre in einem Heim in der Stadt XXXX in Tschetschenien gelebt. Dort hatte sie ein eigenes Zimmer. Seitdem ihre beiden Kinder ausgereist sind, lebte die BF in ihrem Herkunftsstaat alleine. Sie hat ihren Heimplatz verkauft, um ihre Reise nach Österreich zu finanzieren.

Bevor die BF in jenem Heim gelebt hat, hat sie einige Zeit bei einer ihrer Schwestern gewohnt, als ihr ehemaliges Haus abgerissen wurde.

Die BF reiste im August 2020 schleppergestützt in das österreichische Bundesgebiet ein und ist seither als Asylwerber hier aufhältig. Die BF ist ohne weitere Familiengehörige mit ihr zwei unbekannten Männer mittels Pkw von Tschetschenien aus nach Österreich gereist.

In Ihrem Herkunftsstaat hat die BF Anspruch auf eine Pension. Sie gab an, eine Pension in Höhe von 6.000 Rubel erhalten zu haben.

Derzeit leben zwei Schwester der BF in ihrem Herkunftsstaat.

Ihre im Jahr 1964 geborene Schwester lebt in XXXX . Jene hat zwei Mädchen und einen Sohn.

Ihre im Jahr 1955 geborene Schwester lebt in der Stadt XXXX in Tschetschenien und hat acht Kinder (im Alter zwischen 12/13 Jahren und 28/30 Jahren).

Die BF steht in Kontakt mit ihren Schwestern. In ihrem Herkunftsstaat wurde die BF von ihrer (jüngeren) Schwester unterstützt.

Ihre ca. 80-jährige Mutter lebt in Tschetschenien bei deren Bruder. Der Bruder und seine Frau kümmern sich um sie. Die BF hat Kontakt zu ihrer Mutter.

Der geschiedene Sohn der BF hat acht Kinder und befindet sich bis Mitte August 2021 in Tschetschenien, um – mit seiner Ex-Frau sowie fünf seiner Kinder, seine ehemalige Schwiegermutter zu besuchen.

Die ehemalige Schwiegermutter des Sohns der BF lebt im Bezirk XXXX in Tschetschenien. Der Sohn ist nunmehr mit seiner ehemaligen, von ihm geschiedenen, Ehegattin wieder zusammen.

Sonst verfügt die BF über weitere Verwandte in der Russischen Föderation.

Vor Jahren hat die BF Kinder ihres Sohnes in Tschetschenien versorgt.

Es besteht ein Kontakt zwischen der BF und ihrem Sohn.

Die BF leidet an einer Herzerkrankung (stabile Angina pectoris). Die BF wurde in der Russischen Föderation wegen ihrer Herzerkrankung behandelt und hat sie Tabletten verschrieben bekommen. Nach ihren Angaben wurde in ihrer Heimat eine „Stenokardie“ diagnostiziert. Die BF befand sich deswegen alle zwei Monate in einem Eisenbahnerkrankenhaus in Behandlung.

In psychischer Hinsicht wurde eine posttraumatische Belastungsstörung nach mit klinisch relevanten Symptomen und Flashbacks sowie an einer rezidivierenden schweren depressiven Störung mit suizidalen Gedanken diagnostiziert.

Aus psychiatrischer Sicht wurden eine Konzentrationsstörung, Cerebrale Durchblutungsstörung, Cephalea Vertigo sowie Depression diagnostiziert.

Eine regelmäßige psychiatrisch, neurologische Behandlung ist notwendig.

Die BF hat angegeben, weiters seit fünf bis sieben Jahren unter Magenschmerzen zu leiden (Verhandlungsprotokoll S. 12) Diesbezügliche ärztliche Befunde wurden weder vorgelegt noch avisiert.

Die BF gab die Medikamente Trittico, Thrombo ASS, Certican sowie Nexium (gegen Magensäure) einzunehmen (Verhandlungsprotokoll S. 12). Verschrieben wurden ihr Cerebokan 80 mg, 1x1, Trittico 75mg, 2/3, Thrombo ASS Filmtabeletten 100 mg sowie Pantoprazol +PH MSR Tabletten 40mg.

In der Vergangenheit hatte die BF weiters eine Eileiterschwangerschaft und wurde an ihr bereits ein Kaiserschnitt (Sectio) vorgenommen.

In Österreich ist sie sich derzeit insbesondere wegen der Herz- sowie angegebener Magenprobleme in ärztlicher Behandlung.

Im Ergebnis leidet die BF weder an einer akuten noch lebensbedrohlichen Erkrankung. Hinsichtlich der therapeutischen Empfehlungen bzw. Medikationen sind sämtliche Behandlungen (Herzerkrankung sowie psychische Probleme) im Herkunftsstaat behandelbar.

Die BF ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

1.2. Zum Fluchtvorbringen der BF

Die BF ist keiner konkreten, asylrelevanten Verfolgung bzw. Bedrohung in ihrem Herkunftsstaat ausgesetzt.

1.3. Zur maßgeblichen Situation in der Russischen Föderation

Im Folgenden werden die wesentlichen Passagen aus dem vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation (COI-CMS Version 3), Stand 10.06.2021, wiedergegeben:

1.3.1. Covid-19-Situation

Letzte Änderung: 18.05.2021

Russland ist von Covid-19 landesweit stark betroffen. Regionale Schwerpunkte sind Moskau und St. Petersburg (AA 15.2.2021). Aktuelle und detaillierte Zahlen bietet unter anderem die Weltgesundheitsorganisation WHO. Die Regionalbehörden in der Russischen Föderation sind für Maßnahmen zur Eindämmung von Covid-19 zuständig, beispielsweise betreffend Mobilitätseinschränkungen, medizinische Versorgung und soziale Maßnahmen (RAD 15.2.2021; vgl. CHRR 12.3.2021). Die Maßnahmen der Regionen sind unterschiedlich, richten sich nach der epidemiologischen Situation in der jeweiligen Region und ändern sich laufend (WKO 9.3.2021; vgl. AA 15.2.2021). Es herrscht eine soziale Distanzierungspflicht für öffentliche Plätze und öffentliche Verkehrsmittel. Der verpflichtende Mindestabstand zwischen Personen beträgt 1,5 Meter (WKO 9.3.2021).

Die regierungseigene Covid-19-Homepage gibt Auskunft über die vom russischen Gesundheitsministerium empfohlenen Covid-19-Medikamente, nämlich Favipiravir, Hydroxychloroquin, Mefloquin, Azithromycin, Lopinavir/Ritonavir, rekombinantes Interferon-beta-1b und Interferonalpha, Umifenovir, Tocilizumab, Sarilumab, Olokizumab, Canakinumab, Baricitinib und Tofacitinib. Der in Moskau entwickelte Covid-19-Krankenhausbehandlungsstandard umfasst folgende vier Komponenten: Antivirale Therapie, Antithrombose-Medikation, Sauerstoffmangelbehebung und Prävention/Behandlung von Komplikationen. Auf Anordnung des Arztes wird Patienten ein Pulsoxymeter ausgehändigt (Gerät zur Messung des Blutsauerstoffsättigungsgrades). Die medizinische Covid-Versorgung erfolgt für die Bevölkerung kostenlos (CHRR o.D.a).

Folgende Impfstoffe wurden in der Russischen Föderation entwickelt: Gam-COVID-Vac (’Sputnik V’), EpiVacCorona, CoviVac und Ad5-nCoV (CHRR o.D.b). Mittlerweile sind in der Russischen Föderation drei heimische Impfstoffe zugelassen (Sputnik V, EpiVacCorona und CoviVac). Groß angelegte klinische Studien gibt es bisher nicht (DS 20.2.2021; vgl. RFE/RL 21.2.2021). Impfungen erfolgen kostenlos (Mos.ru o.D.). In Moskau wurden bisher mehr als 700.000 Personen geimpft (Mos.ru 8.3.2021). Obwohl Russland als weltweit erstes Land seinen Covid-Impfstoff Sputnik V registrierte, haben die Impfungen effizient gerade erst begonnen (DS 12.2.2021). Bisher wurden in der Russischen Föderation in etwa 2,2 Millionen Personen (ca. 1,5% der Bevölkerung) geimpft bzw. erhielten zumindest eine der zwei Teilimpfungen (RFE/RL 21.2.2021).

Für die Einreise nach Russland wird grundsätzlich ein COVID-19-Testergebnis (PCR) benötigt. Russische Staatsbürger müssen bei der Grenzkontrolle keinen COVID-Test vorlegen, dieser muss jedoch spätestens drei Tage nach der Einreise nachgeholt werden. Russische Staatsbürger, die nach der Einreise ein positives Testergebnis erhalten, müssen sich in Quarantäne begeben. Die Ausreise aus Russland ist bis auf unbestimmte Zeit eingeschränkt und nur in bestimmten Ausnahmefällen möglich. Die internationalen Flugverbindungen wurden teilweise wieder aufgenommen. Direktflüge zwischen Österreich und Russland werden derzeit ein- bis zweimal wöchentlich von Austrian Airlines und Aeroflot angeboten. Russische Inlandsflüge wurden während der ganzen Pandemiezeit aufrecht erhalten (WKO 9.3.2021). Der internationale Zugverkehr – mit Ausnahme der Strecke zwischen Russland und Belarus - und der Fährverkehr sind eingestellt (AA 15.2.2021).

Staatliche Unterstützungsmaßnahmen für die russische Wirtschaft sind unterschiedlich und an viele Bedingungen gebunden. Zu den ersten staatlichen Hilfsmaßnahmen zählten Kredit-, Miet- und Steuerstundungen (ausgenommen Mehrwertsteuer), Sozialabgabenreduktion sowie Kreditgarantien und zinslose Kredite. Später kamen Steuererleichterungen sowie direkte Zuschüsse dazu. Viele der Maßnahmen sind nur für kleine und mittlere Unternehmen oder bestimmte Branchen zugänglich und haben einen zweckgebundenen Charakter (beispielsweise gebunden an Gehaltszahlungen oder Arbeitsplatzerhalt) (WKO 9.3.2021). Die Regierung bietet Exporteuren Hilfe an, die Möglichkeit eines Konkursmoratoriums, zinslose Kredite für Gehaltsauszahlungen usw. (CHRR o.D.c). Jänner bis Oktober 2020 ist die Industrieproduktion pandemiebedingt um 3,1% zurückgegangen. Besonders die Rohstoffproduktion ist um 6,6% gefallen, während die verarbeitende Industrie mit 0,3% praktisch stagnierte. Die im Jahr 2020 sehr stark fallenden Ölpreise waren unter anderem eine Auswirkung der Covid-19-Pandemie und mit einem globalen Nachfragerückgang verbunden und führten zu einer Rubelabwertung von 25%. Nach leichter Erholung verlor der Rubel unter anderem wegen der anhaltenden geringen Rohstoffnachfrage Mitte 2020 erneut an Wert und lag Anfang Dezember bei ca. 90 Rubel je Euro (WKO 12.2020).

Das Realwachstum des Bruttoinlandsprodukts betrug im Jahr 2020 -3,1%. Im Vergleich dazu betrug der entsprechende Wert im Jahr 2019 2%. Die öffentliche Verschuldung betrug im Jahr 2020 17,8% des Bruttoinlandsprodukts (2019: 12,4%) (WIIW o.D.).

[ … ]

Tschetschenien:

An öffentlichen Orten wird das Tragen von Masken empfohlen. Für über 65-Jährige und chronisch Kranke ist Selbstisolierung vorgesehen (CHRR 12.3.2021; vgl. Chechnya.gov 10.2.2021, Ria.ru 10.2.2021, KMS 10.2.2021). Bisher wurden mehr als 19.000 Personen geimpft (Chechnya.gov 26.2.2021). Mitarbeitern staatlich finanzierter Organisationen in Tschetschenien wurde mit Entlassung gedroht, sollten sie die Covid-Impfung verweigern. Bewohner in Tschetschenien berichten, ihnen seien Sanktionen angedroht worden, sollten sie sich nicht impfen lassen (CK 23.1.2021). Reisebeschränkungen wurden aufgehoben (Ria.ru 10.2.2021; vgl. Chechnya.gov 10.2.2021, KMS 10.2.2021).

Quellen:

AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (15.2.2021): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise (COVID-19-bedingte Reisewarnung)

Chechnya.gov – ????? ????????? ?????????? [Oberhaupt der Tschetschenischen Republik] [Russische Föderation] (10.2.2021): ? ???????: «?? ??????? ? ????????? ?????????? ???????????? ??????? ????? ? ???????????? ??????» [R Kadyrow: „Wir heben die Maskenpflicht an öffentlichen Orten in der Tschetschenischen Republik auf“]

Chechnya.gov – ????? ????????? ?????????? [Oberhaupt der Tschetschenischen Republik]

[Russische Föderation] (26.2.2021): ?????? ????????????? ????????? ?????? ? ?????????

?????????? ?? ?????????????? ????? ????? ?????????? [Aufhebung der Maskenpflicht in der

Tschetschenischen Republik provozierte nicht steigende Krankheitszahlen]

CHRR – Covid-19-Webseite der russischen Regierung [Russische Föderation] (12.3.2021): ????? ??????????? ??????????? ? ????? ? COVID-19 [Landkarte bzgl. geltender Einschränkungen in Verbindung mit Covid-19]

CHRR – Covid-19-Webseite der russischen Regierung [Russische Föderation] (o.D.a): ????? ?????????? ??????? [FAQ]

CHRR – Covid-19-Webseite der russischen Regierung [Russische Föderation] (o.D.b): ??? ? ?????????? ?????? COVID-19 [Alles über die Covid-19-Impfung]

CHRR – Covid-19-Webseite der russischen Regierung [Russische Föderation] (o.D.c): ???? ????????? ??????? [Unternehmensunterstützungsmaßnahmen]

CK – Caucasian Knot (23.1.2021): Budget-funded Chechen employees complain about enforcement to vaccination

DS – Der Standard (12.2.2021): Russland könnte sich der Herdenimmunität nähern

DS – Der Standard (20.2.2021): Russland bringt dritten Covid-Impfstoff auf den Markt

E-dag.ru – Moj Dagestan [Mein Dagestan] / Offizielle Website Dagestans [Russische Föderation] (23.2.2021): ? ????????? ??????? ?? ?????? ????? ?????? 50 ???????, ?????????? ????????????? ?? ????? [In Dagestan zum ersten Mal seit langer Zeit weniger als 50 am Coronavirus erkrankte Personen innerhalb 24 Stunden]

E-dag.ru – Moj Dagestan [Mein Dagestan] / Offizielle Website Dagestans [Russische Föderation] (12.3.2021): ?????????? ? ?????????? ?????????? ????????? ?????????? ???????? ?????? COVID-19 [Information über COVID-19-Impfung der Bevölkerung der Republik Dagestan]

Gov.spb – ????????????? ?????-?????????? [St. Petersburger Verwaltung] [Russische Föderation] (5.3.2021): ????????? ??????????? ???????????? ?? 28 ????? [Einzelne Einschränkungen bis 28.3. verlängert]

KMS – Kommersant (10.2.2021): ??????? ??????? ???????????? ???????? ????? ? ?????

[Kadyrow hob die Maskenpflicht in Tschetschenien auf]

LM – Le Monde (8.2.2021): En Russie, le Covid-19 a alimenté une hausse brutale de la mortalité en 2020 [In Russland hat Covid-19 für einen brutalen Anstieg der Sterberaten im Jahr 2020 gesorgt]

Mos.ru – Offizielle Webseite des Moskauer Bürgermeisters [Russische Föderation] (7.3.2021):

?????? ??????? ????????? ? ???????? ? ????????????? ? ?????? [Sergei Sobjanin sprach

über die Coronavirussituation in Moskau]

Mos.ru – Offizielle Webseite des Moskauer Bürgermeisters [Russische Föderation] (8.3.2021): ????? 700 ????? ??????? ??? ??????? ???????? ?? ???????????? ? ?????? [Schon mehr als 700.000 Personen wurden in Moskau gegen Coronavirus geimpft]

Mos.ru – Offizielle Webseite des Moskauer Bürgermeisters [Russische Föderation] (o.D.): ?????????? ?????????? [Gratis-Impfung]

Russland Analysen (8.2.2021): Covid-19-Chronik (11.-31.1.2021), (Nr. 397)

Russland Analysen (19.2.2021): Covid-19-Chronik (1.-14.2.2021), (Nr. 398)

RAD – Russian Analytical Digest / Anna Tarasenko (Nr. 263) (15.2.2021): Mitigating the Social Consequences of the COVID-19 Pandemic: Russia’s Social Policy Response

RFE/RL - Radio Free Europe/Radio Liberty (21.2.2021): Russia Approves CoviVac, Its Third Coronavirus Vaccine

Ria.ru – ??? ??????? [RIA Nowosti] (10.2.2021): ??????? ??????? ???????????? ??????? ????? ? ????? [Kadyrow hob die Maskenpflicht in Tschetschenien auf]

WIIW – Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (o.D.): Russia – Overview

WKO – Wirtschaftskammer Österreich [Österreich] (12.2020): Wirtschaftsbericht Russische Föderation

WKO – Wirtschaftskammer Österreich [Österreich] (9.3.2021): Coronavirus: Situation in Russland

1.3.2. Sicherheitslage

Nordkaukasus

Letzte Änderung: 26.05.2021

Die Sicherheitslage im Nordkaukasus hat sich verbessert, wenngleich das nicht mit einer nachhaltigen Stabilisierung gleichzusetzen ist (ÖB Moskau 6.2020; vgl. AA 2.2.2021). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff ’low level insurgency’ umschrieben (SWP 4.2017).

Ein Risikomoment für die Stabilität in der Region ist die Verbreitung des radikalen Islamismus. Innerhalb der extremistischen Gruppierungen verschoben sich etwa ab 2014 die Sympathien zur regionalen Zweigstelle des sogenannten Islamischen Staates (IS), der mittlerweile das Kaukasus-Emirat praktisch vollständig verdrängt hat. Dabei sorgen nicht nur Propaganda und Rekrutierung des sogenannten IS im Nordkaukasus für Besorgnis der Sicherheitskräfte. So wurden Mitte Dezember 2017 im Nordkaukasus mehrere Kämpfer getötet, die laut Angaben des Anti-Terrorismuskomitees dem sogenannten IS zuzurechnen waren. Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak, haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist. 2018 wurde laut dem Inlandsgeheimdienst FSB die Anzahl terroristisch motivierter Verbrechen mehr als halbiert. Auch 2019 nahm die Anzahl bewaffneter Vorfälle im Vergleich zum Vorjahr weiter ab. Jedoch stellt ein Sicherheitsrisiko für Russland die Rückkehr terroristischer Kämpfer nordkaukasischer Provenienz aus Syrien und dem Irak dar. Laut diversen staatlichen und nicht-staatlichen Quellen ist davon auszugehen, dass die Präsenz militanter Kämpfer aus Russland in den Krisengebieten Syrien und Irak mehrere Tausend Personen umfasste. Gegen IS-Kämpfer, die aus den Krisengebieten im Nahen Osten nach Russland zurückkehren, wird gerichtlich vorgegangen (ÖB Moskau 6.2020).

Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpften Tschetschenen in zunehmender Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat – etwa in der Ostukraine sowohl aufseiten pro-russischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite sowie in Syrien und im Irak (SWP 4.2015). In Tschetschenien konnte der Kriegszustand überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet werden. In einem Prozess der ’Tschetschenisierung’ wurde die Aufstandsbekämpfung im zweiten Tschetschenienkrieg an lokale Sicherheitskräfte delegiert, die sogenannten Kadyrowzy. Diese auf den ersten Blick erfolgreiche Strategie steht aber kaum für eine nachhaltige Befriedung (SWP 4.2017).

[ … ]

Im Jahr 2020 liegt die Gesamtopferzahl des Konfliktes im gesamten Nordkaukasus [Anm.: durch Addieren aller verfügbaren Quartals- und Monatsberichte von Caucasian Knot] bei 56 Personen, davon wurden 45 getötet und 11 verwundet. 42 der Getöteten gehören bewaffneten Gruppierungen an, alle anderen Getöteten und Verwundeten sind den Exekutivkräften zuzurechnen. In Tschetschenien sind im Jahr 2020 insgesamt 18 Personen getötet und zwei verwundet worden.

15 der Getöteten gehören bewaffneten Gruppierungen an, alle anderen Getöteten und Verwundeten sind den Exekutivkräften zuzurechnen. In Dagestan sind im Jahr 2020 insgesamt neun Personen getötet und eine verwundet worden. Alle Getöteten gehören bewaffneten Gruppierungen an, die verwundete Person ist den Exekutivkräften zuzurechnen. Drei Getötete gab es in Kabardino-Balkarien und einen Getöteten in Inguschetien (Caucasian Knot 2.7.2020a, Caucasian Knot 2.7.2020b, Caucasian Knot 27.10.2020, Caucasian Knot 24.12.2020, Caucasian Knot 20.2.2021).

Quellen:

AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

Caucasian Knot (2.7.2020a): In January 2020, there were no victims of armed conflict in Northern Caucasus

Caucasian Knot (2.7.2020b): In February and March 2020, four people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus

Caucasian Knot (27.10.2020): In Quarter 2 of 2020, 11 people suffered in armed conflict in Northern Caucasus

Caucasian Knot (24.12.2020): 15 people suffered in armed conflict in Northern Caucasus in Q3 2020

Caucasian Knot (20.2.2021): In Quarter 4 of 2020, 26 persons fell victim to armed conflict in North Caucasus

ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2020): Asylländerbericht Russische Föderation

SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus

1.3.3. Relevante Bevölkerungsgruppen

Frauen

Letzte Änderung: 08.06.2021

Artikel 19 der russischen Verfassung garantiert die Gleichstellung von Mann und Frau (ÖB Moskau 6.2020; vgl. GIZ 1.2021c). Zudem hat die Russische Föderation mehrere internationale und regionale Konventionen ratifiziert, die diese Gleichstellung festschreiben, darunter die Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) und ihr Zusatzprotokoll.

Grundsätzlich gibt es in der Russischen Föderation keine systematische Diskriminierung von Frauen (ÖB Moskau 6.2020).

Frauen stellen in Russland traditionell die Mehrheit der Bevölkerung. Der weibliche Bevölkerungsanteil beträgt seit den 1920er Jahren zwischen 53% und 55% der Gesamtbevölkerung. Durch die Transformationsprozesse und den Übergang zur Marktwirtschaft sind die Frauen in besonderer Weise betroffen. Davon zeugt der erhebliche Rückgang der Geburtenrate. Die Veränderungen in den Lebensverhältnissen von Frauen betreffen auch den Arbeitsmarkt, denn das Risiko von Ausfallzeiten durch Schwangerschaft, Erziehungsurlaub und Pflege von Angehörigen führt oft dazu, dass Frauen trotz besserer Ausbildung seltener als Männer eingestellt werden. Das im Durchschnitt deutlich geringere Einkommen von Frauen bedeutet niedrigere Pensionen für ältere Frauen, die damit ein hohes Risiko der Altersarmut tragen (GIZ 1.2021c).

[ … ]

Quellen:

AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

AI – Amnesty International (16.4.2020): Bericht zur Menschenrechtslage (Berichtszeitraum 2019)

EASO – European Asylum Support Office [EU] (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection

FH – Freedom House (3.3.2021): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2020 - Russland

GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH [Deutschland] (1.2021c): Russland, Gesellschaft

HRW – Human Rights Watch (11.1.2021): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2020 – Russland

HRW – Human Rights Watch (10.2018): ’I Could Kill You and No One Would Stop Me’ Weak

State Response to Domestic Violence in Russia

ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2020): Asylländerbericht Russische Föderation

Russland Analysen/ Brand, Martin (21.2.2020a): Armutsbekämpfung in Russland, in: Russland Analysen Nr. 382

Russland Analysen/ Hornke, Theresa (21.2.2020b): Russlands Familienpolitik, in: Russland Analysen Nr. 382

US DOS – United States Department of State [USA] (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland

1.3.4. Bewegungsfreiheit

Letzte Änderung: 10.06.2021

In der Russischen Föderation herrscht laut Gesetz Bewegungsfreiheit sowohl innerhalb des Landes als auch bei Auslandsreisen, ebenso bei Emigration und Repatriierung (US DOS 11.3.2020). In einigen Fällen schränkten die Behörden diese Rechte jedoch ein. Die meisten Russen können jederzeit ins Ausland reisen, aber ca. vier Millionen Mitarbeiter des Militär- und Sicherheitsdiensts wurden nach den im Jahr 2014 erlassenen Regeln vom Auslandsreiseverkehr ausgeschlossen (US DOS 11.3.2020; vgl. FH 3.3.2021).

Tschetschenen steht, genauso wie allen russischen Staatsbürgern [auch Inguschen, Dagestanern etc.], das in der Verfassung verankerte Recht der freien Wahl des Wohnsitzes und des Aufenthalts in der Russischen Föderation zu. Mit dem Föderationsgesetz von 1993 wurde ein Registrierungssystem geschaffen, nach dem Bürger den örtlichen Stellen des Innenministeriums ihren gegenwärtigen Aufenthaltsort [temporäre Registrierung] und ihren Wohnsitz [permanente Registrierung] melden müssen. Voraussetzung für eine Registrierung ist die Vorlage des Inlandspasses. Wer über Immobilienbesitz verfügt, bleibt dort ständig registriert, mit Eintragung im Inlandspass. Wer zur Miete wohnt, benötigt eine Bescheinigung seines Vermieters und wird damit vorläufig registriert. In diesen Fällen erfolgt keine Eintragung in den Inlandspass (AA 2.2.2021). Einige regionale Behörden schränken die Registrierung vor allem von ethnischen Minderheiten und Migranten aus dem Kaukasus und Zentralasien ein [bez. Registrierung vgl. Kapitel Meldewesen] (FH 3.3.2021).

[ … ]

Quellen:

AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

ADC Memorial, CrimeaSOS, SOVA Center for Information and Analysis, FIDH (International Federation for Human Rights) (2017): Racism, Discrimination and Fight Against Extremism in Contemporary Russia and its Controlled Territories. Alternative Report on the Implementation of the UN Convention on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination by the Russian Federation

FH – Freedom House (3.3.2021): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2020 - Russland

US DOS – United States Department of State [USA] (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2020 – Russland

1.3.5. Grundversorgung

Letzte Änderung: 10.06.2021

[ … ]

Russische Staatsbürger haben überall im Land Zugang zum Arbeitsmarkt (IOM 2019).

[ … ]

Die primäre Versorgungsquelle der Russen bleibt ihr Einkommen. Staatliche Hilfe können Menschen mit Beeinträchtigungen, Senioren und Kinder unter drei Jahren erwarten. Fast 14% der russischen Bevölkerung leben unterhalb der absoluten Armutsgrenze, die dem per Verordnung bestimmten monatlichen Existenzminimum von derzeit 12.130 Rubel [ca. 134 €] entspricht. Die russische Akademie der Wissenschaften veranschlagt das tatsächliche erforderliche Existenzminimum dagegen bei 33.000 Rubel [ca. 366 €]. Vollbeschäftigte erhalten den Mindestlohn (derzeit 12.130 Rubel [ca. 134 €]), der jährlich zum 1.1. auf die Höhe des Existenzminimums im 2. Quartal des Vorjahres angehoben wird. Für Einkommen unter dem Existenzminimum besteht die Möglichkeit der Aufstockung bis zur Höhe des Existenzminimums. Trotz der wiederholten Anhebungen der durchschnittlichen Bruttolöhne sind die real zur Verfügung stehenden Einkommen seit sechs Jahren rückläufig. Expertenschätzungen zufolge gibt es derzeit mindestens 25 Mio. illegal Beschäftigte. Die Verarmungsentwicklung ist vorwiegend durch niedrige Löhne verursacht, die insbesondere eine Folge der auf die Schonung der öffentlichen Haushalte zielenden Lohnpolitik sind (zwei Drittel aller Einkommen werden von staatlichen Unternehmen oder vom Staat bezahlt, der die Löhne niedrig hält). Ein weiteres Spezifikum der russischen Lohnpolitik ist der durchschnittliche Lohnverlust von 15 - 20% für abhängig Beschäftigte ab dem 45. Lebensjahr. Sie gelten in den Augen der Arbeitgeber aufgrund fehlender Fortbildungen als unqualifiziert und werden bei den Sonderzahlungen und Lohnanpassungen nicht berücksichtigt. Dieser Effekt wird durch eine hohe Arbeitslosenquote (21,6%) bei den über 50-Jährigen verstärkt. Auch Migranten verdienen oft nur den Mindestlohn (AA 2.2.2021).

Als besonders armutsgefährdet gelten Familien mit Kindern, vor allem Großfamilien, Alleinerziehende, Pensionisten und Menschen mit Beeinträchtigungen. Weiters gibt es regionale Unterschiede. In den wirtschaftlichen Zentren, wie beispielsweise Moskau oder St. Petersburg, ist die offizielle Armutsquote nur halb so hoch wie im Landesdurchschnitt (knapp 14%), wohingegen beispielsweise in Regionen des Nordkaukasus jeder fünfte mit weniger als dem Existenzminimum auskommen muss. Auch ist prinzipiell die Armutsgefährdung am Land höher als in den Städten. Die soziale Absicherung ist über Pensionen, monatliche Geldleistungen für bestimmte Personengruppen (beispielsweise Kriegsveteranen, Menschen mit Beeinträchtigungen, Veteranen der Arbeit) und Mutterschaftsbeihilfen organisiert [bitte vergleichen Sie hierzu Kapitel Sozialbeihilfen] (Russland Analysen 21.2.2020a).

Die EU hat die Verlängerung der wirtschaftlichen Sanktionen gegen Russland wegen des andauernden Ukraine-Konfliktes bis Ende Juli 2021 beschlossen (Presse.com 10.12.2020).


Quellen:

AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH [Deutschland] (1.2021b): Russland, Wirtschaft und Entwicklung

IOM – International Organisation for Migration (2019): Länderinformationsblatt Russische Föderation

Russland Analysen/ Brand, Martin (21.2.2020a): Armutsbekämpfung in Russland, in: Russland Analysen Nr. 382

WKO – Wirtschaftskammer Österreich [Österreich] (4.2021): Länderprofil Russland

1.3.5.1. Nordkaukasus

Letzte Änderung: 10.06.2021

Die nordkaukasischen Republiken stechen unter den Föderationssubjekten Russlands durch einen überdurchschnittlichen Grad der Verarmung und der Abhängigkeit vom föderalen Haushalt hervor. Die Haushalte Dagestans, Inguschetiens und Tschetscheniens werden zu über 80% von Moskau finanziert (GIZ 1.2021a; vgl. ÖB Moskau 6.2020). Die Arbeitslosigkeit im Nordkaukasus ist laut Experten unter den höchsten in Russland. Im Zuge eines Austausches der österreichischen Botschaft mit dem Nordkaukasus-Ministerium im Oktober 2018 wurden von russischer Seite die umfassenden Anstrengungen zur sozio-ökonomischen Entwicklung des Nordkaukasus geschildert, insbesondere im Bereich der Landwirtschaft und des Tourismus. Bei einer Sitzung zur Entwicklung der Region Nordkaukasus im Juni 2020 gab der Vertreter der russischen Regierung allerdings an, dass trotz föderaler Programme zur Unterstützung der Region diese bisher zu keiner entscheidenden Veränderung der sozio-ökonomischen Entwicklung geführt haben (ÖB Moskau 6.2020). Trotzdem ist zu sagen, dass sich die materiellen Lebensumstände für die Mehrheit der tschetschenischen Bevölkerung seit dem Ende des Tschetschenienkrieges dank großer Zuschüsse aus dem russischen föderalen Budget deutlich verbessert haben (AA 2.2.2021).

Der monatliche Durchschnittslohn lag in Tschetschenien mit September 2020 bei 23.783 Rubel [ca. 264 €], landesweit bei 49.516 Rubel [ca. 550 €] (Rosstat 19.11.2020). Die durchschnittliche Pensionshöhe lag in Tschetschenien im Februar 2021 bei 13.484 Rubel [ca. 150 €] (Chechenstat 2021), landesweit im ersten Quartal 2020 bei 14.924 Rubel [ca. 166 €] (GKS.ru 7.5.2020). Das durchschnittliche Existenzminimum für das vierte Quartal 2020 lag in Tschetschenien für die erwerbsfähige Bevölkerung bei 11.572 Rubel [ca. 129 €], für Pensionisten bei 9.196 Rubel [ca. 102 €] und für Kinder bei 11.294 Rubel [ca. 125 €] (Chechenstat 2021). Landesweit liegt das durchschnittliche Existenzminimum für das Jahr 2021 für die erwerbsfähige Bevölkerung bei 12.702 Rubel [ca. 141 €], für Pensionisten bei 10.022 Rubel [ca. 111 €] und für Kinder bei 11.303 Rubel [ca. 126 €] (RIA Nowosti 9.1.2021).

Quellen:

AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

Chechenstat [Tschetschenien] (2021): ??????????? ?????????? (Operative Indikatoren)

GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH [Deutschland] (1.2021a): Russland, Geschichte und Staat

GKS.ru [Russische Föderation] (7.5.2020): ???????? ???????? ??????? ??????????? ?????? (Dynamik der durchschnittlichen Größe der zugewiesenen Pensionen)

ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2020): Asylländerbericht Russische Föderation

RIA Nowosti (9.1.2021): ??????????? ??????? ? ?????? ? 2021 ???? ???????? 11 653 ?????

(Existenzminimum in Russland im Jahr 2021 wird 11 653 Rubel betragen)

Rosstat [Russische Föderation] (19.11.2020): ??????????? ?????? ?????????????? ??????????? ?????????? ????? ??????? ?????????? ? ????????????, ? ?????????????? ???????????????? ? ?????????? ??? (Vierteljährliche Schätzung des durchschnittlichen Monatslohns)


1.3.5.2. Sozialbeihilfen

Letzte Änderung: 10.06.2021

Die Russische Föderation hat ein reguläres Sozialversicherungs-, Wohlfahrts- und Pensionssystem. Leistungen hängen von der spezifischen Situation der Personen ab; eine finanzielle Beteiligung der Profitierenden ist nicht notwendig. Alle Leistungen stehen auch Rückkehrern offen (IOM 2019).

Das soziale Sicherungssystem wird von vier Institutionen getragen: dem Pensionsfonds, dem Sozialversicherungsfonds, dem Fonds für obligatorische Krankenversicherung und dem staatlichen Beschäftigungsfonds. Aus dem 1992 gegründeten Pensionsfonds werden Arbeitsunfähigkeits- und Alterspensionen gezahlt. Das Pensionsalter beträgt 60 Jahre bei Männern und 55 Jahre bei Frauen. Da dieses Modell aktuell die Pensionen nicht vollständig finanzieren kann, steigen die Zuschüsse des staatlichen Pensionsfonds an. Eine erneute Pensionsreform wurde seit 2012 immer wieder diskutiert. Die Regierung hat am 14.6.2018 einen Gesetzentwurf ins Parlament eingebracht, womit das Pensionseintrittsalter für Frauen bis zum Jahr 2034 schrittweise auf 63 Jahre und für Männer auf 65 angehoben werden soll. Die Pläne der Regierung stießen auf Protest: Mehr als 2,5 Millionen Menschen unterzeichneten eine Petition dagegen, in zahlreichen Städten fanden Demonstrationen gegen die geplante Pensionsreform statt. Präsident Putin reagierte auf die Proteste und gab eine Abschwächung der Reform bekannt. Das Pensionseintrittsalter für Frauen erhöht sich um fünf anstatt acht Jahre; Frauen mit drei oder mehr Kindern dürfen außerdem früher in Pension gehen (GIZ 1.2021c).

Der Sozialversicherungsfonds finanziert das Mutterschaftsgeld (bis zu 18 Wochen), Kinder- und Krankengeld. Das Krankenversicherungssystem umfasst eine garantierte staatliche Minimalversorgung, eine Pflichtversicherung und eine freiwillige Zusatzversicherung. Vom staatlichen Beschäftigungsfonds wird das Arbeitslosengeld (maximal ein Jahr lang) ausgezahlt. Alle Sozialleistungen liegen auf einem niedrigen Niveau (GIZ 1.2021c).

Vor allem auch zur Förderung einer stabileren demografischen Entwicklung gibt es ein umfangreiches Programm zur Unterstützung von Familien, vor allem mit Kindern unter drei Jahren: z.B. eine Aufstockung des Existenzminimums ab 2020 bis auf das Zweifache, das sogenannte Mutterschaftskapital in Form einer bargeldlosen, zweckgebundenen Leistung sowie besondere Leistungen zur Corona-Krise wie etwa eine einmalige Auszahlung an Kinder im Alter von drei bis 16 Jahre in Höhe von 10.000 Rubel [ca. 111 €], monatliche Auszahlungen an Kinder bis drei Jahre in Höhe von 5.000 Rubel [ca. 55 €] (dreimal für April, Mai und Juni ausgezahlt), monatliche Auszahlungen in Höhe von 3.000 Rubel [ca. 33 €] an Kinder bis 18 Jahre, deren Eltern offiziell als arbeitslos gemeldet sind (AA 2.2.2021).

Personen im Pensionsalter mit mindestens fünfjährigen Versicherungszahlungen haben das Recht auf eine Alterspension. Rückkehrende müssen für mindestens 10 Jahre Pensionsversicherungsbeiträge eingezahlt haben. Begünstigte müssen sich bei der lokalen Pensionskasse melden und erhalten dort, nach einer ersten Beratung, weitere Informationen zu den Verfahrensschritten. Informationen zu den erforderlichen Dokumenten erhält man ebenfalls bei der ersten Beratung. Eine finanzielle Beteiligung ist nicht erforderlich. Zu erhaltende Leistungen werden ebenfalls in der Erstberatung diskutiert (IOM 2019). Seit dem Jahr 2010 werden Pensionen, die geringer als das Existenzminimum für Pensionisten sind, aufgestockt – insofern sind sie vor existenzieller Armut geschützt (Russland Analysen 21.2.2020a). Die Pensionen der nicht arbeitenden Pensionisten werden seit 2019 vor der jährlichen Indexierung auf die Höhe des Existenzminimums angehoben. Zum 1. Jänner 2020 lag die Durchschnittspension in Russland bei 14.904 Rubel [ca. 165 €] (AA 2.2.2021).

Zum Kreis der schutzbedürftigen Personen zählen Familien mit mehr als drei Kindern, Menschen mit Beeinträchtigungen sowie alte Menschen. Staatliche Zuschüsse werden durch die Pensionskasse bestimmt (IOM 2019). Das europäische Projekt MedCOI erwähnt weitere Kategorien von Bürgern, welchen unterschiedliche Arten von sozialer Unterstützung gewährt werde

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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