Entscheidungsdatum
01.07.2021Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W184 2130446-1/15E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Werner PIPAL als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 05.07.2016, Zl. 1068677305/150513779, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 01.07.2021
A)
I. beschlossen:
Das Verfahren wird zu Spruchpunkt I. und II. des angefochtenen Bescheides wegen Zurückziehung der Beschwerde gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG in Verbindung mit § 31 Abs. 1 VwGVG eingestellt.
II. zu Recht erkannt:
Der Beschwerde wird zu Spruchpunkt III. und IV. des angefochtenen Bescheides gemäß § 9 BFA-VG stattgegeben und festgestellt, dass eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist. Gemäß §§ 54, 55 und 58 AsylG 2005 wird XXXX der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ für die Dauer von 12 Monaten erteilt.
B)
Die ordentliche Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
Die beschwerdeführende Partei, ein männlicher Staatsangehöriger Afghanistans, brachte nach der illegalen Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 15.05.2015 den vorliegenden Antrag auf internationalen Schutz ein.
Mit dem angefochtenen Bescheid wurde folgende Entscheidung über diesen Antrag getroffen:
„I. Der Antrag auf internationalen Schutz wird hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen.
II. Der Antrag auf internationalen Schutz wird hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen.
III. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wird gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt.
Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 in Verbindung mit § 9 BFA-VG wird eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen.
Es wird gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig ist.
IV. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG beträgt die Frist für die freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung.“
Die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens wurden im angefochtenen Bescheid folgendermaßen zusammengefasst:
Die beschwerdeführende Partei habe bei der Erstbefragung am 16.05.2015 angegeben, dass sein Bruder und andere Bewohner seines Dorfes von den Taliban entführt worden seien und die Taliban auch versucht haben, die beschwerdeführende Partei zu entführen. Daher habe er sich für 7.500,- USD nach Europa schleppen lassen. Bei der Einvernahme am 17.09.2015 habe die beschwerdeführende Partei ausgesagt, dass er elf Jahre eine Grundschule besucht und dann als Taxifahrer gearbeitet habe. Er stamme aus der Provinz Logar, wo noch sein Vater, seine Mutter, vier Brüder und drei Schwestern leben. Ein Jahr vor seiner Ausreise sei sein Bruder von den Taliban entführt worden und seither verschollen. Auch andere Dorfbewohner seien entführt worden. Eines Abends im Februar 2015 haben die Taliban an die Tür geklopft und die beschwerdeführende Partei entführen wollen. Sein Onkel habe protestiert und sei erschossen worden. Die beschwerdeführende Partei sei von den Taliban so fest geschlagen worden, dass sein Arm gebrochen worden sei, dann seien sie weggegangen.
Es folgten im angefochtenen Bescheid die Sachverhaltsfeststellungen, die Beweiswürdigung und die rechtliche Beurteilung.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, in welcher im Wesentlichen das bisherige Vorbringen wiederholt und insbesondere ausgeführt wurde, dass die beschwerdeführende Partei in Afghanistan wegen der ihm von den Taliban unterstellten oppositionellen Gesinnung verfolgt werde. Die Sicherheitslage sei in ganz Afghanistan unzureichend und eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative gebe es in Afghanistan nicht.
Mit Schriftsatz vom 30.06.2021 wurde vorgebracht, dass die beschwerdeführende Partei vom 14.05.2018 bis 31.08.2020 als Lehrling und seit dem 01.09.2020 als Arbeiter bei einer bestimmten Installateursfirma beschäftigt sei. Laut den Lohnabrechnungen beziehe er einen Nettomonatslohn von ca. EUR 1.800,-. Am 03.07.2021 werde er zur Integrationsprüfung A2 antreten.
Das Bundesverwaltungsgericht führte am 01.07.2021 eine mündliche Verhandlung durch, in welcher die beschwerdeführende Partei Deutschkenntnisse auf A2-Niveau demonstrierte und weitere Unterlagen zu seiner Integration in Österreich vorlegte, nämlich Kursbestätigungen über zwei Deutschkurse sowie einen Lehrvertrag vom 16.07.2018.
Die Beschwerde wurde am Schluss der Verhandlung zu Spruchpunkt I. und II. des angefochtenen Bescheides zurückgezogen.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Zum Privat- und Familienleben der beschwerdeführenden Partei wird festgestellt:
Die beschwerdeführende Partei reiste im im Alter von 18 Jahren illegal nach Österreich ein und hält sich seither sechs Jahre aufgrund der vorläufigen Aufenthaltsberechtigung als Asylwerber im Bundesgebiet auf.
Die beschwerdeführende Partei hat in Österreich kein Familienleben, sondern nur ein Privatleben.
Die beschwerdeführende Partei besuchte mehrere Deutschkurse und auch in der Verhandlung demonstrierte er gute aktive und passive mündliche Deutschkenntnisse auf dem Niveau A2. Er wird am 03.07.2021 zur Integrationsprüfung A2 antreten.
Die beschwerdeführende Partei war vom 14.05.2018 bis 31.08.2020 als Lehrling und ist seit dem 01.09.2020 mit einer Beschäftigungsbewilligung als Arbeiter bei einer Installateursfirma beschäftigt. Er bezieht einen Nettomonatslohn von ca. EUR 1.800,- und ist selbsterhaltungsfähig. Die beschwerdeführende Partei ist strafrechtlich unbescholten.
2. Beweiswürdigung:
Die beschwerdeführende Partei machte bei der Aussage in der Verhandlung einen guten Eindruck und beantwortete die Fragen zu seiner Integration in Österreich in gutem Deutsch auf A2-Niveau. Er legte zahlreiche unbedenkliche Schriftstücke zu seinem intensiven Berufs- und Privatleben in Österreich vor.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu A) Teilweise Stattgabe der Beschwerde:
Zu Spruchpunkt I. und II. des angefochtenen Bescheides:
§ 28 Abs. 1 und § 31 Abs. 1 VwGVG lauten:
§ 28 (1) Sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist, hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen.
…
§ 31 (1) Soweit nicht ein Erkenntnis zu fällen ist, erfolgen die Entscheidungen und Anordnungen durch Beschluss.
Da die Beschwerde zu Spruchpunkt I. und II. des angefochtenen Bescheides zurückgezogen wurde, war das Verfahren insoweit einzustellen.
Zu Spruchpunkt III. und IV. des angefochtenen Bescheides:
Die maßgeblichen Bestimmungen des Asylgesetzes 2005 lauten:
§ 10 (1) Eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz ist mit einer Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn
…
3. der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird,
…
und in den Fällen der Z 1 und 3 bis 5 von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 nicht erteilt wird.
…
§ 55 (1) Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ist von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine „Aufenthaltsberechtigung plus“ zu erteilen, wenn
1. dies gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten ist und
2. der Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 Integrationsgesetz (IntG), BGBl. I Nr. 68/2017, erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit ausübt, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze (§ 5 Abs. 2 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz (ASVG), BGBl. Nr. 189/1955) erreicht wird.
(2) Liegt nur die Voraussetzung des Abs. 1 Z 1 vor, ist eine „Aufenthaltsberechtigung“ zu erteilen.
§ 57 (1) Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ist von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ zu erteilen:
1. wenn der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen im Bundesgebiet gemäß § 46a Abs. 1 Z 1 oder Z 3 FPG seit mindestens einem Jahr geduldet ist und die Voraussetzungen dafür weiterhin vorliegen, es sei denn, der Drittstaatsangehörige stellt eine Gefahr für die Allgemeinheit oder Sicherheit der Republik Österreich dar oder wurde von einem inländischen Gericht wegen eines Verbrechens (§ 17 StGB) rechtskräftig verurteilt. Einer Verurteilung durch ein inländisches Gericht ist eine Verurteilung durch ein ausländisches Gericht gleichzuhalten, die den Voraussetzungen des § 73 StGB entspricht,
2. zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen, insbesondere an Zeugen oder Opfer von Menschenhandel oder grenzüberschreitendem Prostitutionshandel oder
3. wenn der Drittstaatsangehörige, der im Bundesgebiet nicht rechtmäßig aufhältig oder nicht niedergelassen ist, Opfer von Gewalt wurde, eine einstweilige Verfügung nach §§ 382b oder 382e EO, RGBl. Nr. 79/1896, erlassen wurde oder erlassen hätte werden können und der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, dass die Erteilung der „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ zum Schutz vor weiterer Gewalt erforderlich ist.
…
§ 58 (1) Das Bundesamt hat die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 von Amts wegen zu prüfen, wenn
1. der Antrag auf internationalen Schutz gemäß §§ 4 oder 4a zurückgewiesen wird,
2. der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird,
3. einem Fremden der Status des Asylberechtigten aberkannt wird, ohne dass es zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten kommt,
4. einem Fremden der Status des subsidiär Schutzberechtigten aberkannt wird oder
5. ein Fremder sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält und nicht in den Anwendungsbereich des 6. Hauptstückes des FPG fällt.
…
(3) Das Bundesamt hat über das Ergebnis der von Amts wegen erfolgten Prüfung der Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55 und 57 im verfahrensabschließenden Bescheid abzusprechen.
…
Die maßgeblichen Bestimmungen des Fremdenpolizeigesetzes 2005 (FPG) idF BGBl. I Nr. 27/2020 lauten:
§ 46 (1) Fremde, gegen die eine Rückkehrentscheidung, eine Anordnung zur Außerlandesbringung, eine Ausweisung oder ein Aufenthaltsverbot durchsetzbar ist, sind von den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes im Auftrag des Bundesamtes zur Ausreise zu verhalten (Abschiebung), wenn
1. die Überwachung ihrer Ausreise aus Gründen der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit notwendig scheint,
2. sie ihrer Verpflichtung zur Ausreise nicht zeitgerecht nachgekommen sind,
3. auf Grund bestimmter Tatsachen zu befürchten ist, sie würden ihrer Ausreiseverpflichtung nicht nachkommen, oder
4. sie einem Einreiseverbot oder Aufenthaltsverbot zuwider in das Bundesgebiet zurückgekehrt sind.
…
§ 50 (1) Die Abschiebung Fremder in einen Staat ist unzulässig, wenn dadurch Art. 2 oder 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), BGBl. Nr. 210/1958, oder das Protokoll Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe verletzt würde oder für sie als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts verbunden wäre.
(2) Die Abschiebung in einen Staat ist unzulässig, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass dort ihr Leben oder ihre Freiheit aus Gründen ihrer Rasse, ihrer Religion, ihrer Nationalität, ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder ihrer politischen Ansichten bedroht wäre (Art. 33 Z 1 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 55/1955, in der Fassung des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 78/1974), es sei denn, es bestehe eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG 2005).
(3) Die Abschiebung in einen Staat ist unzulässig, solange der Abschiebung die Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entgegensteht.
§ 52 (1) …
(2) Gegen einen Drittstaatsangehörigen hat das Bundesamt unter einem (§ 10 AsylG 2005) mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn
…
2. dessen Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird,
…
und ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zukommt. Dies gilt nicht für begünstigte Drittstaatsangehörige.
…
(9) Mit der Rückkehrentscheidung ist gleichzeitig festzustellen, ob die Abschiebung des Drittstaatsangehörigen gemäß § 46 in einen oder mehrere bestimmte Staaten zulässig ist. Dies gilt nicht, wenn die Feststellung des Drittstaates, in den der Drittstaatsangehörige abgeschoben werden soll, aus vom Drittstaatsangehörigen zu vertretenden Gründen nicht möglich ist.
…
§ 9 Abs. 1 bis 3 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) idF BGBl. I Nr. 29/2020 lautet:
§ 9 (1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.
(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:
1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,
2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,
3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,
4. der Grad der Integration,
5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,
6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,
7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,
8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,
9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.
(3) Über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§ 45 oder §§ 51 ff Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005) verfügen, unzulässig wäre.
Zu einer möglichen Verletzung von Art. 8 EMRK bzw. Art. 7 GRC wurde im vorliegenden Fall Folgendes erwogen:
Gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs.
Nach Art. 8 Abs. 2 EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutze der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.
Das Privatleben ist ein weiter Begriff und einer erschöpfenden Definition nicht zugänglich. So schützt Art. 8 EMRK auch ein Recht auf Identität und persönliche Entwicklung und das Recht, Beziehungen mit anderen Menschen und mit der Außenwelt zu schaffen und zu entwickeln, und kann auch Handlungen beruflichen oder geschäftlichen Charakters einschließen. Es gibt daher einen Bereich der Interaktion einer Person mit anderen, selbst in einem öffentlichen Zusammenhang, der in den Bereich des „Privatlebens“ fallen kann (z. B. EGMR 28.01.2003, 44647/98, Peck, Rn. 57).
Im Rahmen der durch Art. 8 Abs. 1 EMRK gewährleisteten Achtung des Privatlebens ist Schutzgut unter anderem auch die psychische und physische Integrität des Einzelnen und damit auch die körperliche Unversehrtheit. Beeinträchtigungen der körperlichen Integrität, welche nicht die von Art. 3 EMRK geforderte Schwere und Intensität erreichen, sind folglich an Art. 8 EMRK zu messen (EGMR 13.05.2008, 52515/99, Juhnke, Rn. 71; VfGH 21.09.2015, E 332/2015).
Aufenthaltsbeendende Maßnahmen stellen regelmäßig einen Eingriff in das Privatleben dar, weil sie die betroffene Person aus ihrem sozialen Umfeld herausreißen. Nach der Rechtsprechung des EGMR hängt es von den Umständen des jeweiligen Falles ab, ob es angebracht ist, sich eher auf den Gesichtspunkt des Familienlebens zu konzentrieren als auf den des Privatlebens (EGMR 23.04.2015, 38030/12, Khan, Rn. 38; 05.07.2005, Große Kammer, 46410/99, Üner, Rn. 59). Die Prüfung am Maßstab des Privatlebens ist jedoch weniger streng als jene am Maßstab des Familienlebens, weshalb letztere in der Praxis im Vordergrund steht (Ewald Wiederin, Schutz der Privatsphäre, in: Merten/Papier/Kucsko-Stadlmayer [Hg.], Handbuch der Grundrechte VII/1, 2. Aufl., § 10, Rn. 52).
Wenn eine aufenthaltsbeendende Maßnahme in den Schutzbereich des Privatlebens oder des Familienlebens nach Art. 8 Abs. 1 EMRK eingreift, ist zu prüfen, ob sie sich auf eine gesetzliche Bestimmung stützt, was im vorliegenden Fall offensichtlich zutrifft, und ob sie Ziele verfolgt, die mit der EMRK in Einklang stehen, wofür hier insbesondere die Verteidigung der Ordnung im Bereich des Fremden- und Asylwesens sowie das wirtschaftliche Wohl des Landes in Betracht kommen.
Es bleibt schließlich noch zu überprüfen, ob diese Maßnahme in einer demokratischen Gesellschaft notwendig, das heißt durch ein vorrangiges soziales Bedürfnis gerechtfertigt und insbesondere in Bezug auf das verfolgte legitime Ziel verhältnismäßig ist (EGMR 02.08.2001, 54273/00, Boultif, Rn. 46; 18.10.2006, Große Kammer, 46410/99, Üner, Rn. 57f; 16.04.2013, 12020/09, Udeh, Rn. 45; VfGH 29.09.2007, B 1150/07; vgl. § 9 Abs. 1 BFA-VG).
Nach diesem Regelungssystem ist somit anhand der konkreten Umstände des Einzelfalles eine Interessenabwägung am Maßstab des Art. 8 EMRK durchzuführen. Eine aufenthaltsbeendende Maßnahme darf nur erlassen werden, wenn die dafür sprechenden öffentlichen Interessen schwerer wiegen als die persönlichen Interessen des Drittstaatsangehörigen und seiner Familie an dessen weiterem Verbleib in Österreich. Bei dieser Interessenabwägung sind folgende Kriterien nach der Methode des beweglichen Systems in einer Gesamtbetrachtung zu bewerten, indem das unterschiedliche Gewicht der einzelnen Kriterien zueinander in eine Beziehung zu setzen und eine wechselseitige Kompensation der einzelnen Gewichte vorzunehmen ist (vgl. EGMR 18.10.2006, Große Kammer, 46410/99, Üner, Rn. 57f; VwGH 12.11.2015, Ra 2015/21/0101; 10.11.2015, Ro 2015/19/0001):
die Art und Schwere der vom Beschwerdeführer begangenen Straftaten;
die seit der Begehung der Straftaten vergangene Zeit und das Verhalten des Beschwerdeführers in dieser Zeit;
die Aufenthaltsdauer im ausweisenden Staat;
die Staatsangehörigkeit der einzelnen Betroffenen;
die familiäre Situation des Beschwerdeführers und insbesondere gegebenenfalls die Dauer seiner Ehe und andere Faktoren, welche die Effektivität eines Familienlebens bei einem Paar belegen;
die Frage, ob der Ehegatte von der Straftat wusste, als die familiäre Beziehung eingegangen wurde;
die Frage, ob aus der Ehe Kinder hervorgegangen sind und welches Alter sie haben;
die Schwierigkeiten, denen der Ehegatte im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers begegnen könnte;
das Wohl der Kinder, insbesondere die Schwierigkeiten, denen die Kinder des Beschwerdeführers im Herkunftsstaat begegnen könnten;
die Festigkeit der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Aufenthaltsstaat und zum Herkunftsstaat.
Der Grad der Integration manifestiert sich nach der Rechtsprechung insbesondere in intensiven Bindungen zu Verwandten und Freunden, der Selbsterhaltungsfähigkeit, der Schulausbildung, der Berufsausbildung, der Teilnahme am sozialen Leben und der Beschäftigung (VfGH 29.09.2007, B 1150/07). Diese sowie einige weitere von der Rechtsprechung einzelfallbezogen herausgearbeiteten Kriterien für die Interessenabwägung nach Art. 8 Abs. 2 EMRK werden auch in § 9 Abs. 2 BFA-VG aufgezählt.
Nach der Rechtsprechung des EGMR (EGMR 31.07.2008, 265/07, Darren Omoregie u. a.) stellen die Regeln des Einwanderungsrechtes eine ausreichende gesetzliche Grundlage in Hinblick auf die Frage der Rechtfertigung des Eingriffs nach Art. 8 Abs. 2 EMRK dar. War ein Fortbestehen des Familienlebens im Gastland bereits bei dessen Begründung wegen des fremdenrechtlichen Status einer der betroffenen Personen ungewiss und dies den Familienmitgliedern bewusst, kann eine aufenthaltsbeendende Maßnahme, welche dem öffentlichen Interesse an der effektiven Durchführung der Einwanderungskontrolle dient, nur in Ausnahmefällen eine Verletzung von Art. 8 EMRK bedeuten. Auch nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes und des Verwaltungsgerichtshofes kommt der Einhaltung fremdenrechtlicher Vorschriften aus der Sicht des Schutzes der öffentlichen Ordnung (Art. 8 Abs. 2 EMRK) ein hoher Stellenwert zu (VfGH 29.09.2007, B 328/07; VwGH 15.12.2015, Ra 2015/19/0247; 22.01.2013, 2011/18/0012).
Auch bei einem Eingriff in das Privatleben misst die Rechtsprechung im Rahmen der Interessenabwägung nach Art. 8 Abs. 2 EMRK dem Umstand wesentliche Bedeutung bei, ob die Aufenthaltsverfestigung des Asylwerbers überwiegend auf vorläufiger Basis erfolgte, weil der Asylwerber über keine über den Status eines Asylwerbers hinausgehende Aufenthaltsberechtigung verfügt hat. In diesem Fall muss sich der Asylwerber bei allen Integrationsschritten im Aufenthaltsstaat seines unsicheren Aufenthaltsstatus und damit auch der Vorläufigkeit seiner Integrationsschritte bewusst sein. Grundsätzlich ist nach negativem Ausgang des Asylverfahrens - infolge des damit einhergehenden Verlustes des vorläufig während des Verfahrens bestehenden Rechts zum Aufenthalt und sofern kein anderweitiges Aufenthaltsrecht besteht - der rechtmäßige Zustand durch Ausreise aus dem Bundesgebiet wiederherzustellen (VfGH 12.06.2013, U 485/2012; VwGH 15.12.2015, Ra 2015/19/0247).
Im Rahmen der Gegenüberstellung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit dem persönlichen Interesse des Drittstaatsangehörigen an einem weiteren Verbleib in Österreich nimmt zwar das Gewicht des persönlichen Interesses grundsätzlich mit der Dauer des bisherigen Aufenthaltes zu. Doch ist dabei nicht die bloße Aufenthaltsdauer maßgeblich, sondern es ist anhand der jeweiligen Umstände des Einzelfalles vor allem zu prüfen, inwieweit der Drittstaatsangehörige die in Österreich verbrachte Zeit dazu genützt hat, sich sozial und beruflich zu integrieren (VwGH 22.01.2013, 2011/18/0036; 22.09.2011, 2007/18/0864 bis 0865).
Im vorliegenden Fall hat die mit dem angefochtenen Bescheid getroffene Entscheidung die Aufenthaltsbeendigung der beschwerdeführenden Partei zur Folge. Daher liegt ein Eingriff in den Schutzbereich des Privatlebens im Sinn des Art. 8 Abs. 1 EMRK vor.
Die Interessenabwägung nach den Gesichtspunkten des § 9 BFA-VG in Verbindung mit Art. 8 Abs. 2 EMRK bzw. Art. 52 Abs. 1 GRC, insbesondere der Verteidigung der Ordnung im Bereich des Fremden- und Asylwesens sowie des wirtschaftliche Wohles des Landes, führte zu dem Ergebnis, dass die persönlichen Interessen der beschwerdeführenden Partei schwerer wiegen als die für die aufenthaltsbeendende Maßnahme sprechenden öffentlichen Interessen.
Denn die beschwerdeführende Partei verbrachte zwar den Großteil des Lebens in Afghanistan und reiste erst vor sechs Jahren illegal in das österreichische Bundesgebiet ein. Es bestand auch zu keinem Zeitpunkt ein regulärer Aufenthaltstitel in Österreich, sondern lediglich ein vorläufiges Aufenthaltsrecht aufgrund des gegenständlichen unbegründeten Antrages auf internationalen Schutz.
Die beschwerdeführende Partei erwarb jedoch während seines Aufenthaltes in Österreich gute Deutschkenntnisse auf dem Niveau A2 und wird am 03.07.2021 zur Integrationsprüfung A2 antreten. Die beschwerdeführende Partei steht seit drei Jahren in einem Ausbildungs- bzw. nunmehr Arbeitsverhältnis. Seit dem 01.09.2020 ist er mit einer Beschäftigungsbewilligung als Arbeiter bei einer Installateursfirma mit einem Nettomonatslohn von ca. EUR 1.800,- beschäftigt und somit selbsterhaltungsfähig. Die beschwerdeführende Partei ist strafrechtlich unbescholten.
Angesichts der besonderen Umstände des vorliegenden Falles wäre daher die von der belangten Behörde verfügte aufenthaltsbeendende Maßnahme im Hinblick auf die Schutzwürdigkeit des zwischenzeitig begründeten Privatlebens der beschwerdeführenden Partei aus gegenwärtiger Sicht unverhältnismäßig im Sinn des Art. 8 Abs. 2 EMRK. Das Bundesverwaltungsgericht stellt daher gemäß § 9 Abs. 3 BFA-VG fest, dass eine Rückkehrentscheidung betreffend die beschwerdeführende Partei auf Dauer unzulässig ist.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen. Nach Art. 133 Abs. 4 erster Satz B-VG idF BGBl. I Nr. 51/2012 ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
Im vorliegenden Fall ist die ordentliche Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung abhängt. Denn das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf eine ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen. Die maßgebliche Rechtsprechung wurde bei den Erwägungen zu den einzelnen Spruchpunkten des angefochtenen Bescheides wiedergegeben.
Schlagworte
Aufenthaltsberechtigung plus Aufenthaltsdauer Deutschkenntnisse Integration Interessenabwägung Privatleben Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig Teileinstellung teilweise BeschwerderückziehungEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2021:W184.2130446.1.00Im RIS seit
08.11.2021Zuletzt aktualisiert am
08.11.2021