TE Bvwg Erkenntnis 2021/7/6 W112 2215057-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 06.07.2021
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Entscheidungsdatum

06.07.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §50
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55

Spruch


W112 2215062-1/35E
W112 2215057-1/26E
W112 2215080-1/23E
W112 2215079-1/17E
W112 2215078-1/17E
W112 2215061-1/17E
W112 2215077-1/15E
W112 2215060-1/13E
W112 2215075-1/13E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Elke DANNER als Einzelrichterin über die Beschwerde von 1. XXXX , geb XXXX , 2. XXXX , geb XXXX , 3. XXXX , geb. XXXX , 4. XXXX , geb. XXXX , 5. XXXX , geb. XXXX , 6. XXXX , geb. XXXX , 7. XXXX , geb. XXXX , 8. XXXX , geb. XXXX , 9. XXXX , geb. XXXX , alle StA. RUSSISCHE FÖDERATION, die Minderjährigen vertreten durch die Mutter XXXX , 2. – 9. vertreten durch Asyl in Not, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl 1. vom 15.01.2019, Zl. XXXX , 2. vom 17.01.2019, Zl. XXXX , 3. vom 18.01.2019, Zl. XXXX , 4. vom 18.01.2019, Zl. XXXX , 5. vom 18.01.2019, Zl. XXXX , 6. vom 18.01.2019, Zl. XXXX , 7. vom 18.01.2019, Zl. XXXX , 8. vom 18.01.2019, Zl. XXXX und 9. vom 18.01.2019, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 10.05.2021 zu Recht:

A) Die Beschwerden werden gemäß §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1, 57, 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG, §§ 50, 52 Abs. 2 Z 2, Abs. 9, 55 FPG als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1.1. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind verheiratet und die Eltern der Drittbeschwerdeführerin, der Viertbeschwerdeführerin, der Fünftbeschwerdeführerin, des Sechstbeschwerdeführers, der Siebtbeschwerdeführerin, der Achtbeschwerdeführerin und der Neuntbeschwerdeführerin (alle gemeinsam auch: die Beschwerdeführer). Sie sind Staatsangehörige der RUSSISCHEN FÖDERATION.

Abgesehen von der in Österreich geborenen Acht- und Neuntbeschwerdeführerin reisten die Beschwerdeführer zu einem unbekannten Zeitpunkt gemeinsam unter Umgehung der Grenzkontrollen in das österreichische Bundesgebiet ein. Am 28.09.2016 wurden sie von der Polizei nach einem anonymen Hinweis, dass sich an dieser Adresse eine Familie illegal aufhalten solle, in der Wohnung des Vaters der Zweitbeschwerdeführerin betreten und nach der Mitteilung des Vaters der Zweitbeschwerdeführerin und seiner Lebensgefährtin, dass diese Beschwerdeführer in Österreich Asyl beantragen wollen, gemäß § 40 Abs. 2 Z 1 BFA-VG festgenommen, belehrt und in die Familienunterkunft XXXX überstellt; die Polizei stellte dabei die russischen Inlandsreisepässe der älteren drei Beschwerdeführer und die russische Geburtsurkunden der Kinder des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin sicher.

Bei der Erstbefragung durch die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 29.09.2016 gab der Erstbeschwerdeführer zusammengefasst an, dass er ca. einen Monat vor seiner Ankunft in Österreich beschlossen habe, seinen Herkunftsstaat zu verlassen. Er sei mit seiner Familie mit dem Zug nach Weißrussland und anschließend nach POLEN gereist. In POLEN seien sie von den Behörden angehalten und ihnen die Fingerabdrücke abgenommen worden. Er habe wissentlich aber keinen Asylantrag in POLEN gestellt. In POLEN seien sie ca. eine Woche in einem Lager untergebracht gewesen und weil ihnen die Abschiebung nach BELARUS gedroht habe, sei er mit seiner Familie nach Österreich gereist. Ihr Reiseziel sei von Anfang an Österreich gewesen, weil hier sein Schwiegervater lebe. Zu seinem Fluchtgrund befragt brachte der Erstbeschwerdeführer vor, dass sein Schwiegervater in seinem Heimatland ein Menschenrechtsaktivist gewesen sei und er deswegen vom „FSB“ vorgeladen worden sei. Man habe ihn aufgefordert irgendwelche Kassetten mit Aufzeichnungen des Schwiegervaters, der im Jahr 2000 nach Österreich geflüchtet sei, zu übergeben. Er sei auch zweimal zusammengeschlagen worden und habe Angst vor dem Geheimdienst.

Am selben Tag wurde die zu diesem Zeitpunkt schwangere Zweitbeschwerdeführerin erstbefragt und gab dabei an, dass ihr Vater XXXX als Asylberechtigter in Österreich lebe, ihre Mutter sowie drei Geschwister seien im Herkunftsstaat aufhältig. Sie habe vor ihrer Ausreise gemeinsam mit dem Erstbeschwerdeführer und ihren Kindern in XXXX gelebt. In POLEN sei sie mit ihren Familienangehörigen ca. eine Woche in einem Lager untergebracht worden und sie haben um politisches Asyl angesucht. Aus Angst vor einer Abschiebung in die RUSSISCHE FÖDERATION und weil ihr Zielstaat immer Österreich gewesen sei, haben sie die Reise mit dem Zug nach Österreich fortgesetzt. Befragt zu ihrem Fluchtgrund gab die Zweitbeschwerdeführerin zusammengefasst an, dass ihr Vater im Heimatland ein Menschenrechtsaktivist gewesen sei und sich nach dessen Flucht vor etwa 16 Jahren der Geheimdienst bei ihnen gemeldet habe. Ihr Vater sei Gefangener in einem Konzentrationslager gewesen und ihr Mann sei zwei Mal verhaftet und zusammengeschlagen worden. Auch sie selbst sei zum Aufenthalt ihres Vaters und dessen Archivaufzeichnungen befragt worden. Sie habe Angst um die Sicherheit ihrer Familie und habe Angst vor dem Geheimdienst. Die Zweitbeschwerdeführerin stellte als Erziehungsberechtigte für ihre mitgereisten minderjährigen Kinder ebenfalls einen Antrag auf internationalen Schutz. Für sie gelten sinngemäß die gleichen Asylgründe, die sie angegeben habe.

Die Drittbeschwerdeführerin gab an, dass sie in der Russischen Föderation acht Jahre lang die Grundschule besucht habe. Sie wollten nach Österreich, weil ihr Großvater hier lebe, und seien mit einem Zug nach WEISSRUSSLAND ausgereist, die Reise habe ihr Vater organisiert. Sie habe einen Auslandspass gehabt, der ihr vom Passamt in ihrer Heimat ausgestellt worden sei, mit diesem seien sie ausgereist. Durch WEISSRUSSLAND seien sie durchgereist, in POLEN seien sie eine Woche geblieben. Sie sei einvernommen worden, sie wisse nicht mehr, was sie dort unterschrieben habe. Jedenfalls habe man ihnen dort die Fingerabdrücke abgenommen. Sie seien in einem Lager gewesen, das Leben sei dort normal gewesen, aber ihre Eltern haben beschlossen, dass sie in Österreich leben wollen, weil der Großvater hier lebe. Zum Fluchtgrund brachte sie vor, dass ihre Eltern beschlossen haben, dass sie ihre Heimat verlassen. Grund dafür sei gewesen, dass ihr Großvater flüchten habe müssen und dass ihr Vater festgenommen und auch zusammengeschlagen worden sei. Das sei drei Mal so gewesen. Sie haben dort nicht mehr normal leben können. Ihre Mutter habe dort immer Angst gehabt. Vor einem Monat oder eineinhalb Monaten sei ihr Vater das letzte Mal mitgenommen worden. Sie wollen in Österreich bleiben.

Wegen der im EURODAC-Informationssystem gespeicherten Asylantragstellung am der Beschwerdeführer 22.07.2016 in POLEN informierte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: Bundesamt) die Beschwerdeführer darüber, dass es gemäß der Dublin-Verordnung ein Konsultationsverfahren mit POLEN eingeleitet habe. Danach wurden die Beschwerdeführer aus der Festnahme entlassen und zogen in eine private Unterkunft in XXXX ; dabei handelt es sich um die Wohnung des Vaters der Zweitbeschwerdeführerin.

Am 14.10.2016 teilte das Bundesamt den Beschwerdeführern mit Verfahrensanordnung mit, dass beabsichtigt sei, ihre Anträge auf internationalen Schutz zurückzuweisen, weil die Zuständigkeit POLENS angenommen werde. Sie seien verpflichtet ein Rückkehrberatungsgespräch in Anspruch zu nehmen.

1.2. Mit als „Bescheid“ bezeichneten Erledigungen vom 06.11.2016 wies das Bundesamt die Anträge der sieben ältesten Beschwerdeführer (Erstbeschwerdeführer bis Siebtbeschwerdeführerin) auf internationalen Schutz ohne in die Sache einzutreten als unzulässig zurück und ordnete die Außerlandesbringung nach POLEN an und stellte fest, dass ihre Abschiebung nach POLEN zulässig sei. Begründend führte es aus, dass die Beschwerdeführer in POLEN einen Asylantrag gestellt haben und sich POLEN zur Durchführung des Asylverfahrens bereit erklärt habe. Es liegen keine Umstände vor, welche einer Ausweisung aus Österreich nach POLEN entgegenstehen. Am 15.11.2016 beurkundete das Bundesamt die Hinterlegung der Bescheide ohne vorhergehenden Zustellversuch bei der Behörde, weil die Beschwerdeführer an der angegebenen Zustelladresse nicht mehr aufhältig waren und eine neuerliche Abgabestelle nicht ohne Schwierigkeiten festgestellt werden konnte.

1.3. Am XXXX wurde die Achtbeschwerdeführerin in Österreich geboren. Die Zweitbeschwerdeführerin stellte als gesetzliche Vertreterin für ihre Tochter am 03.01.2017 einen Antrag auf internationalen Schutz im Familienverfahren. Am 04.04.2017 zog sie den Antrag zurück, nachdem sie in der Einvernahme vor dem Bundesamt darüber aufgeklärt wurde, dass zum Zeitpunkt der Antragstellung das Asylverfahren der Zweitbeschwerdeführerin bereits rechtskräftig entschieden worden sei und deshalb kein Familienverfahren geführt werden könne. Noch am selben Tag stellte die Zweitbeschwerdeführerin für ihre nachgeborene Tochter (Achtbeschwerdeführerin) einen Antrag auf internationalen Schutz und gab bei der Erstbefragung an, dass ihr Kind keine eigenen Fluchtgründe habe. Die von der Zweitbeschwerdeführerin angegebenen Gründe seien auch für die Achtbeschwerdeführerin maßgebend: Wegen der Probleme ihres Vaters werde die gesamte Familie verfolgt. Sie habe Angst um ihr Kind.

Am 03.05.2017 teilten der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin dem Bundesamt die Bevollmächtigung des Vereins Asyl in Not mit. Am 08.05.2017 brachte der Vertreter ein Konvolut an medizinischen Unterlagen in Russischer Sprache ins Verfahren ein, die das Bundesamt ins Deutsche übersetzen ließ.

1.4. Mit Bescheid vom 06.06.2017 wies das Bundesamt den Antrag der Achtbeschwerdeführerin auf internationalen Schutz ohne in die Sache einzutreten wegen der Zuständigkeit POLENS als unzulässig zurück, ordnete ihre Außerlandesbringung an und stellte fest, dass ihre Abschiebung nach Polen zulässig sei.

1.5. Am 26.07.2017 wurden alle acht Beschwerdeführer nach POLEN überstellt.

1.6. Am 31.07.2017 nahm der Vertreter der Beschwerdeführer beim Bundesamt Einsicht in den Akten des Erstbeschwerdeführers, der Zweit- und Drittbeschwerdeführerin.

Mit Schriftsatz vom 10.08.2017 erhoben die Beschwerdeführer Beschwerde gegen die als „Bescheid“ bezeichneten Schriftstücke. Diese begründeten die älteren sieben Beschwerdeführer damit, dass an die amtsbekannte Adresse weder Ladungen zur Einvernahme noch die nun angefochtenen Bescheide zugestellt worden seien. Das Bundesamt habe rechtswidrig die Bescheide hinterlegt, obwohl eine aufrechte Abgabestelle gemäß Zustellgesetz bestanden habe, die auch als Verfahrensadresse in den polizeilichen Niederschriften vom 29.09.2016 festgehalten worden sei. Die belangte Behörde sei ihrer Verpflichtung zu einem Zustellversuch nicht nachgekommen. Mit Akteneinsicht haben die Beschwerdeführer von den rechtswidrig zugestellten Bescheiden Kenntnis erlangt. Daher erfolgte die nunmehrige Beschwerde fristgerecht. In eventu sei die Beschwerde mangels Bescheiderlassung unzulässig. Die Achtbeschwerdeführerin erhob Beschwerde gegen den in ihrem Verfahren ergangenen Bescheid vom 06.06.2017 und brachte darin im Wesentlichen vor, dass die Verfahren gegen ihre Eltern und Geschwister mangels Bescheiderlassung nicht rechtskräftig abgeschlossen seien.

1.7. Am 01.09.2017 brachten die Beschwerdeführer eine Maßnahmenbeschwerde beim Landesverwaltungsgericht Wien gegen die Festnahme am 24.07.2017 und die Abschiebung nach POLEN am 26.07.2017 ein. Die Rechtswidrigkeit der Maßnahmen begründeten sie damit, dass im Asylverfahren zu diesem Zeitpunkt kein durchsetzbarer Bescheid vorgelegen sei, weshalb ihnen im Zeitpunkt der Maßnahmen faktischer Abschiebeschutz zugekommen sei.

1.8. Die Beschwerden der älteren sieben Beschwerdeführer wies das Bundesverwaltungsgericht mit Beschluss vom 28.09.2017 als unzulässig zurück; unter einem gab es der Beschwerde der Achtbeschwerdeführerin statt und behob den angefochtenen Bescheid. Das Bundesverwaltungsgericht führte im Wesentlichen aus, dass in den Verfahren der älteren sieben Beschwerdeführer keine rechtswirksame Zustellung erfolgt und somit keine Bescheide erlassen worden seien. Der Bescheid im Verfahren der Achtbeschwerdeführerin sei daher zu beheben, weil die Verfahren von Familienangehörigen unter einem zu führen seien und die Verfahren der übrigen Beschwerdeführer aufgrund des Zustellmangels noch beim Bundesamt anhängig seien.

1.9. Die Beschwerdeführer kehrten am 02.10.2017 von POLEN nach Österreich zurück und stellten noch am selben Tag Folgeanträge auf internationalen Schutz. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin wurden von Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes dazu erstbefragt; dabei gaben sie an, dass ihre Asylgründe nach wie vor aufrecht seien. Sie seien seit der Abschiebung am 26.07.2017 bis 01.10.2017 im Lager „ XXXX “ gewesen und wollen absolut nicht nach POLEN zurück. Die Reise von POLEN nach Österreich habe der Erstbeschwerdeführer selbst mit einem Kleinbus organisiert. Die russischen Inlandsreisepässe des Erstbeschwerdeführers, der Zweit- und der Drittbeschwerdeführerin sowie die Heiratsurkunde des Erstbeschwerdeführers und der Zweibeschwerdeführerin sowie die Geburtsurkunden ihrer fünf in der Russischen Föderation geborenen Kinder wurden von der Polizei sichergestellt. Das Bundesamt leitete erneut Dublin-Konsultationen mit POLEN ein und informierte die Beschwerdeführer darüber. Mit Verfahrensanordnung vom 18.01.2018 teilte das Bundesamt den Beschwerdeführern erneut mit, dass es beabsichtigt ihre Anträge auf internationalen Schutz zurückzuweisen, weil es von der Zuständigkeit des Polen zur Verfahrensführung ausgehe.

Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin wurden am 25.01.2018 vom Bundesamt im Beisein einer Rechtsberaterin und des Vaters der Beschwerdeführerin als Vertreter niederschriftlich einvernommen. Dabei gab der Erstbeschwerdeführer zu Protokoll, dass er nicht nach POLEN zurückkehren wolle, POLEN sei nicht gut gewesen und fühle sich wie RUSSLAND an. Jede Person könne von RUSSLAND nach POLEN reisen und ihn in Gefahr bringen. POLEN sei jedenfalls nicht sicher. Seine Kinder seien krank und es sei für sie nicht gut, nach POLEN überstellt zu werden. Seine Frau sei ebenfalls in Gefahr und aufgrund ihrer Schwangerschaft bestehe die Gefahr einer Fehlgeburt. Die Zweitbeschwerdeführerin brachte ebenfalls zusammengefasst vor, dass sie und ihre Familie nicht nach POLEN wollen, weil ihre Familie Probleme habe und in POLEN viele Personen abgeschoben werden. Sie seien in ihrer Heimat in Lebensgefahr und sie habe gesehen, dass tschetschenische Asylwerber aus POLEN abgeschoben werden. Außerdem lebe ihr Vater in Österreich und es drohe eine Fehlgeburt, weil sie momentan im achten Monat schwanger sei. Ihrem Vater habe sie auch Vollmacht erteilt. Dieser gab der Einvernahme auch an, dass alle Probleme seiner Tochter durch seine politische Tätigkeit entstanden seien. In POLEN bestehe keine Sicherheit, weil seine Tochter und ihre Familie von dort abgeschoben werden und seinem Schwiegersohn in Tschetschenien der Tod drohe. Die ebenfalls befragte Drittbeschwerdeführerin gab an, dass sie die ganze Zeit seit der Abschiebung in POLEN im Lager „ XXXX “ gewesen seien. Nach der Abschiebung haben sie in POLEN Fingerabdrücke abgeben müssen. Jetzt wollen sie hier in Österreich bleiben, die POLNISCHEN Behörden würden sie vermutlich nach Russland abschieben. Außerdem sei für eine Großfamilie schwer, in POLEN zu leben. Außerdem lebe ihr Großvater hier. Die alten Asylgründe seien noch aufrecht. Außerdem sei ihre Schwester, die Viertbeschwerdeführerin, krank, sie habe Probleme mit ihren Füßen und könne nicht richtig gehen.

1.10. Mit Bescheiden vom 31.01.2018 wies das Bundesamt die Anträge der älteren acht Beschwerdeführer auf internationalen Schutz ohne in die Sache einzutreten wegen der Zuständigkeit POLENS als unzulässig zurück, ordnete die Außerlandesbringung der Beschwerdeführer nach POLEN an und stellte fest, dass ihre Abschiebung nach POLEN zulässig sei. Begründend führte es aus, dass die Beschwerdeführer leut EURODAC am 22.07.2016 und am 16.08.2017 in POLEN Asylanträge gestellt haben und sich POLEN erneut zur Durchführung des Asylverfahrens bereit erklärt habe. Ein zuständigkeitsbeendendes Tatbestandsmerkmal liege nicht vor. Auch aus medizinischer Sicht stehe der Rücküberstellung der Beschwerdeführer nach POLEN nichts entgegen, dem Antrag auf Zulassung des Verfahrens wegen der fortgeschrittenen Schwangerschaft der Zweitbeschwerdeführerin, gab das Bundesamt nicht Folge.

Dagegen erhoben die Beschwerdeführer mit Schriftsatz vom 09.03.2018 rechtzeitig Beschwerde. Zusammengefasst brachten Sie darin begründend vor, dass die belangte Behörde die besondere Vulnerabilität der Zweitbeschwerdeführerin aufgrund ihrer Schwangerschaft außer Acht gelassen habe. Ebenso habe die Behörde nicht berücksichtigt, dass die Viertbeschwerdeführerin schwer behindert sei und daher die Fürsorge durch ihren Großvater und ihre Stief-Großmutter brauche. Unter einem beantragten die Beschwerdeführer, den Beschwerden die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.

1.11. Mit Beschlüssen vom 16.03.2018 erkannte das Bundesverwaltungsgericht den Beschwerden die aufschiebende Wirkung zu.

Mit Beschlüssen vom 03.04.2018 gab das Bundesverwaltungsgericht den Beschwerden der Beschwerdeführer (Erstbeschwerdeführer bis Achtbeschwerdeführerin) statt, lies die Verfahren über die Anträge auf internationalen Schutz zu und behob die angefochtenen Bescheide, weil die belangte Behörde keine abschließende Beurteilung des Gesundheitszustandes der Viertbeschwerdeführerin vorgenommen habe, um eine Grundlage für die Entscheidung zu schaffen, ob – und allenfalls unter welchen Auflagen – sie nach POLEN überstellt werden könne, um allfällige gesundheitliche Beeinträchtigungen auszuschließen.

1.12. Am XXXX wurde die Neuntbeschwerdeführerin in Österreich geboren. Die Zweitbeschwerdeführerin stellte für sie am 29.05.2018 einen Antrag auf internationalen Schutz.

1.13. Am 06.06.2018 vernahm das Bundesamt die Zweit- und Viertbeschwerdeführerin in Anwesenheit eines Rechtsberaters und des Vaters der Zweitbeschwerdeführerin als Vertreter ergänzend zum Gesundheitszustand der Viertbeschwerdeführerin ein. Die Viertbeschwerdeführerin gab an, dass sich ihr Zustand gebessert habe, weil sie von vielen Seiten (Großeltern, Onkel, Cousins) unterstützt werde und sie die Möglichkeit bekommen habe, eine Sonderschule in XXXX zu besuchen. Im Moment schmerzen ihre Beine, aber sie nehme keine Medikamente mehr, gehe aber zur Physiotherapie. Sie solle auch noch operiert werden und warte auf einen Operationstermin. Waschen und Baden sei sehr schwer für sie und deswegen helfe ihr ihre Familie. Die Viertbeschwerdeführerin legte medizinische Unterlagen vor.

1.14. Mit Bescheiden vom 20.06.2018 wies das Bundesamt die Anträge aller Beschwerdeführer außer der Neuntbeschwerdeführerin auf internationalen Schutz ohne in die Sache einzutreten wegen der Zuständigkeit POLENS zurück, ordnete ihre Außerlandesbringung nach POLEN an und stellte fest, dass ihre Abschiebung nach POLEN zulässig sei. Begründend führte es aus, dass die Viertbeschwerdeführerin einer Ladung zu einer ärztlichen Untersuchung nicht nachgekommen sei. Nach Rücksprache mit der medizinischen Abteilung des BMI habe man eine Arztbegleitung im Falle einer Überstellung nach POLEN beantragt. Insgesamt leide sie weder an einer schweren körperlichen oder ansteckenden Krankheit, noch an einer psychischen Erkrankung, welche bei einer Überstellung eine unzumutbare Verschlechterung des Gesundheitszustandes bewirke.

Gegen diese Bescheide erhoben Beschwerdeführer alle Beschwerdeführer außer die Neuntbeschwerdeführerin innerhalb offener Frist Beschwerde, weil die belangte Behörde in Missachtung der vom Bundesverwaltungsgericht erteilten Aufträge auch diesmal kein Gutachten eingeholt habe, das die vom Bundesverwaltungsgericht aufgeworfenen gesundheitlichen Fragen beantworten könne.

1.15. Mit Erkenntnis vom 01.08.2018 behob das Bundesverwaltungsgericht die bekämpften Bescheide und verwies die Angelegenheit zur Erlassung neuer Bescheide an das Bundesamt zurück, weil die belangte Behörde die Ermittlung des maßgeblichen Sachverhaltes unterlassen habe.

1.16. Am 18.12.2018 wurden der Erstbeschwerdeführer, die Zweit- und die Drittbeschwerdeführerin vom Bundesamt niederschriftlich einvernommen. Dabei gab der Erstbeschwerdeführer zusammengefasst an, dass seine Eltern und zwei Schwestern in Tschetschenien aufhältig seien, zu denen er auch Kontakt habe. Er habe mit seiner Familie bis zur Ausreise in einem eigenen Haus in XXXX gelebt und als LKW-Fahrer gearbeitet. Seine Frau sei Hauskrankenschwester und seine Kinder haben die Schule besucht. Zu seinem Fluchtgrund befragt brachte der Erstbeschwerdeführer vor, dass er am 10.03.2009 verschleppt und ins Gefängnis gebracht worden sei. Dies sei das einzige Mal gewesen. Er habe ein Archiv von Videokassetten und anderen Dokumenten von seinem Schwiegervater aufbewahrt. Dann sei ein Mann aus XXXX mit einem Brief gekommen und habe Dokumente entsprechend einer Liste mitgenommen. Drei Tage später sei die Polizei mit diesem Mann zurückgekommen und haben auch den Erstbeschwerdeführer mit zwei Autos mitgenommen. Er sei zu seinem Schwiegervater und zum Archiv befragt und geschlagen worden. Danach sei er im Krankenhaus gewesen und habe über mehrere Jahre medizinisch behandelt werden müssen. Das Archiv habe er zu Hause im Keller in zwei großen Säcken unter einem Tisch aufbewahrt, das er zuvor 2001 oder 2002 im Schuppen beim Schwiegervater ausgegraben habe. Seine Frau habe ihm dabei geholfen. Im Jahr 2012 sei wieder ein Mann gekommen und habe nach seinem Schwiegervater gefragt sowie eine Ladung gebracht. Ca. zwei Wochen vor seiner Ausreise im Jahr 2016 habe er wieder eine Ladung per Post bekommen. Den Ladungen sei er nie nachgekommen.

Die Zweitbeschwerdeführerin gab an, dass sie mit ihrem Ehemann und ihren Kindern in ständiger Angst bei den Schwiegereltern gelebt habe. Sie habe auch gearbeitet und bei anderen Leuten zusammengeräumt und einen dreimonatigen Kurs zur Hauskrankenschwester gemacht. Das Leben ihres Gatten sei in Gefahr gewesen, weil er ein Archiv ihres Vaters versteckt habe. Wenn sie bei offiziellen Stellen etwas zu tun gehabt habe, sei sie immer nach ihrem Vater gefragt worden. 2009 sei ihr Gatte von maskierten Leuten vom Innenministerium mit Handschellen weggebracht worden. Nach etwa 2,5 Monaten habe ein Bekannter ihren Gatten in einem Krankenhaus gefunden. Ihr Gatte sei im Koma gewesen, habe einen Schädelbruch, Hirnschwellung, Wunden am Körper und eine Schussverletzung am Bein gehabt. Er sei zwei Monate nach der Verschleppung ins Krankenhaus gekommen und dann einen Monat dort gewesen, danach habe die Zweitbeschwerdeführerin ihren Gatten zu Hause gepflegt, ihm Medikamente verabreicht und er sei über eine Sonde ernährt worden. Vorm Krankenhaus sei er in einem Gefängnis in XXXX und jeden Tag geschlagen sowie verhört worden. Erst nach 6 Monaten sei er zu sich gekommen, aber sie habe ihn weitere 2 Jahre gepflegt. Er sei im Rollstuhl gewesen und danach mit Krücken gegangen. Im Jahr 2012 sei wieder ein Mann gekommen und habe gesagt, dass ihr Gatte zur Militärkommandantur zum Verhör kommen müsse. Sie seien gemeinsam mit den Schwiegereltern hingefahren und bei der Befragung dabei geblieben. 2016 sei ein Brief gekommen, dass ihr Gatte allein und mit seinem Personaldokument kommen müsse und dann haben sie beschlossen auszureisen. Im Juni sei erneut ein Mann vom FSB gekommen und habe nach ihren Gatten gefragt. Schließlich legte sie verschiedene Zeitungsartikel zum Beweis dafür vor, dass ihr Vater ein Menschenrechtsverteidiger sei. Sie habe auch eine Liste mit Leuten, die mit ihrem Vater zusammengearbeitet habe und die vermisst werden.

Die Drittbeschwerdeführerin gab befragt zu ihren Fluchtgründen an, dass ihre Familie mit der Politik Probleme gehabt habe, insbesondere ihr Vater. Sie wisse nicht in welchem Jahr es gewesen sei, aber es seien Maskierte gekommen und haben ihren Vater mitgenommen. Die Drittbeschwerdeführerin sei zu diesem Zeitpunkt ca. 5 oder 6 Jahre alt gewesen. Knapp vor der Ausreise sei ein Mann gekommen und habe ihrem Vater gesagt, dass er zum Polizeirevier kommen müsse und ihre Familie habe immer Angst vor solchen Leuten gehabt. Dieser Mann sei 2 oder 3 Mal gekommen, aber es sei danach nichts Besonderes vorgefallen.

1.17. Das Bundesamt wies die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz mit Bescheiden vom 15.01.2019, 17.01.2019 bzw. 18.01.2019 (alle zugestellt am 23.01.2019) sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status von Asylberechtigten (Spruchpunkt I.), als auch bezüglich des Status von subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) ab. Unter einem erteilte es ihnen keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III.), erließ eine Rückkehrentscheidung gegen sie (Spruchpunkt IV.), stellte fest, dass ihre Abschiebung in die Russische Föderation zulässig ist (Spruchpunkt V.) und räumte ihnen eine 14-tägige Frist für die freiwillige Ausreise ein (Spruchpunkt VI.).

Das Bundesamt führte begründend aus, dass die Beschwerdeführer nicht zu befürchten hätten, in der Russischen Föderation wegen Herrn XXXX verfolgt zu werden oder aktuell einer relevanten Bedrohungssituation für Leib und Leben ausgesetzt zu sein. Es sei zwar im Kern glaubhaft, dass der Erstbeschwerdeführer diverse Kassetten und Unterlagen für seinen Schwiegervater versteckt habe, dies sei durch gleichlautende Angaben der Zweitbeschwerdeführerin bestätigt worden, aber eine Verfolgung in diesen Zusammenhang sei nicht glaubhaft. Die Erzählungen zur Festnahme, Anhaltung und Folgen für den Erstbeschwerdeführer seien wenig detailreich und oberflächlich. Zum Beispiel sei auffallend, dass der Erstbeschwerdeführer keine Angaben zur Dauer seiner Anhaltung bzw. seines Krankenhausaufenthaltes machen habe können. Ebenso seien die Angaben des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin zur behaupteten Festnahme im März 2009 divergierend gewesen und seien mangels Zeitkonnex zur sieben Jahre später erfolgten Ausreise ohne zwischenzeitlichen Verfolgungshandlungen nicht zu berücksichtigen. Auch die Angaben zu einer weiteren Vorladung im Jahr 2012 des Erstbeschwerdeführers seien divergierend und nicht plausibel gewesen. Insgesamt seien die geschilderten Ereignisse zu einer begründeten Furcht vor Verfolgung aufgrund der widersprüchlichen Angaben, sowie mangels Nachvollziehbarkeit und Plausibilität nicht glaubhaft gewesen.

1.18. Gegen diese Bescheide erhoben die Beschwerdeführer mit Schriftsatz vom 19.02.2019 (eingebracht am selben Tag) fristgerecht Beschwerde.

Begründend führte der Erstbeschwerdeführer aus, dass ihm die belangte Behörde die Glaubwürdigkeit abgesprochen habe, ohne dies schlüssig zu begründen. Aus seinem Vorbringen ergebe sich, dass er nach seiner Verhaftung schwer misshandelt worden und sodann im Koma gelegen sei. Es sei daher nicht verwunderlich, dass er sich nur an wenige Details erinnern könne und diese lückenhaft sein können. Des Weiteren verwies er auf Wikipedia-Einträge zu Koma. Zudem legte er die bei der Einvernahme erwähnten Unterlagen, nämlich einen Arztbrief des Zentralen Bezirkskrankenhauses XXXX vor. Auch die Erwähnung von „ XXXX “ hätte die belangte Behörde zu mehr Sorgfalt in ihren Ermittlungen veranlassen müssen, weil es sich um ein besonders schreckliches KZ handle. Der Schwiegervater des Erstbeschwerdeführers sei Obmann der Vereinigung XXXX und sei eine besonders exponierte, gefährdete Persönlichkeit, die vom Kadyrow-Regime nicht nur in der Russischen Föderation, sondern auch in Österreich verfolgt worden sei. Schließlich wurde Rechtsprechung in Zusammenhang von Asylverfahren mit anderen Verwandten des Schwiegervaters und Gefangenen der Filtrationslager angeführt.

Die Zweitbeschwerdeführerin brachte in der Beschwerde vor, dass sie sich, ebenso wir ihr Gatte, auf ihre Familienzugehörigkeit zu ihrem Vater XXXX , einem bekannten tschetschenischen Menschenrechtsaktivisten beziehe. Ihr Vater werde in ihrer Heimat verfolgt und sei auch in Österreich wegen seiner exilpolitischen Tätigkeit zur Zielscheibe der Agenten des Kadyrow-Regimes geworden. Die Zweitbeschwerdeführerin wies auch darauf hin, dass mehrere andere Familienmitglieder ihres Vaters aus diesem Grund Asyl erhalten haben und beantragte zudem die zeugenschaftliche Einvernahme ihres Vaters. Schließlich sei die schwere Krankheit ihrer Tochter von der belangten Behörde nur oberflächlich gewürdigt worden und mache ihre Rückkehr in die Russische Föderation unmöglich.

1.19. Die Beschwerden und die bezughabenden Verwaltungsakten langten am 25.02.2019 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

Mit Eingabe vom 04.03.2019 übermittelte der Erstbeschwerdeführer einen Psychiatrischen Befund von XXXX , Facharzt für Psychiatrie und Neurologie vom 01.03.2019. Mit Eingabe vom 13.07.2020 teilten die Beschwerdeführer die Bevollmächtigung von XXXX mit. Am 09.04.2021 wurde die Vollmachtsauflösung angezeigt.

Das Bundesamt übermittelte dem Bundesverwaltungsgericht mit Eingabe vom 16.02.2021 und 25.02.2021 die angeforderten Unterlagen (Asylbescheid und Niederschrift) betreffend den Vater und Onkel der Zweitbeschwerdeführerin. Am 22.03.2021 übermittelte das Bundesamt die Inlandspässe des Erstbeschwerdeführers, der Zweit- und der Drittbeschwerdeführerin sowie die Heiratsurkunde. Die internationalen Reisepässe der sieben in der Russischen Föderation geborenen Beschwerdeführer wurden über die Dublin Unit in POLEN angefordert und vom Bundesamt mit Eingabe vom 14.04.2021 dem Gericht in Original vorgelegt.

Mit Eingabe vom 06.05.2021 übermittelte Vertreter der Beschwerdeführer eine vorbereitende Stellungnahme und ein Konvolut von Integrationsbescheinigungen sowie ärztliche Atteste betreffend die Viertbeschwerdeführerin. Die Vollmacht für den Erstbeschwerdeführer legte der Vertreter jedoch zurück, weil der Erstbeschwerdeführer gewalttätig gegen die Zweitbeschwerdeführerin geworden sei und er grundsätzlich keine Männer vertrete, die gegen Frauen gewalttätig seien. Inhaltlich brachte er vor, dass der Grad der Behinderung der Viertbeschwerdeführerin 100% betrage und ihr schlechter Gesundheitszustand schon im Dublin-Verfahren ausschlaggebend gewesen sei für die Zulassung der Verfahren der gesamten Familie in Österreich. Weiters habe die Drittbeschwerdeführerin die Integrationsprüfung auf dem Niveau B1 sowie die Pflichtschulabschlussprüfung bestanden und Österreich sei ihr Lebensmittelpunkt geworden. Auch die jüngeren Beschwerdeführer weisen gute Schulerfolge auf und ihr Lebensmittelpunkt befinde sich in Österreich. Der Vater der Zweitbeschwerdeführerin sei im November 2019 verstorben, jedoch ändere sein Tod nichts an der seinen Angehörigen vom Regim drohenden Verfolgungsgefahr. Gerade weil Kadyrow Herrn XXXX selbst nicht mehr verfolgen könne, werde er an seinen Angehörigen Rache nehmen. Sein umfangreiches Archiv dokumentiere unzählige Menschenrechtsverletzungen, die für das Kadyrow-Regime unbequem seien.

Am 09.05.2021 übermittelten die Beschwerdeführer zwei Empfehlungsschreiben.

1.20. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 10.05.2021 eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Beiziehung einer Dolmetscherin für die Sprache Russisch durch, an der die Beschwerdeführer und ihr Vertreter teilnahmen; die belangte Behörde nahm nicht an der Verhandlung teil.

Die Verhandlung gestaltete sich wie folgt:

„R befragt die BF, ob sie physisch und psychisch in der Lage sind, der heute stattfindenden mündlichen Beschwerdeverhandlung zu folgen und die an sie gerichteten Fragen wahrheitsgemäß zu beantworten bzw. ob irgendwelche Hinderungsgründe vorliegen.

BF 1-5: Ich fühle mich geistig und körperlich in der Lage an der Verhandlung teilzunehmen.

[…]

R: Mit wem liegt gegenwärtig ein aufrechtes Vollmachtsverhältnis vor?

BFV: Ich vertrete BF2-BF9, nur nicht BF1.

R: Bis wann haben Sie BF1 vertreten oder gar nie?

BFV: Ich habe ihn schon vertreten, ich habe nur die Vollmacht ihn betreffend letzte Woche niedergelegt. Wobei ich eine Zeit lang niemanden aus der Familie vertreten haben, weil XXXX die Familie vertreten hat. Nachdem er gesagt hat, dass er nicht mehr vertritt, habe ich letzte Woche die Verfahren wieder an mich gezogen.

R an BF1: Wer vertritt Sie jetzt?

BF1: Ich habe keinen Vertreter gefunden.

R: Sie sind ohne Ihren Rechtsberater erschiene. Kann die Verhandlung ohne Ihren Rechtsberater stattfinden?

BF1: Ja.

[…]

Eröffnung des Beweisverfahrens.

[…]

Befragung von BF 1:

R: Sie reisten am 22.07.2016 in die Europäische Union ein. Über ein Visum verfügten Sie nicht. Sie stellten am 28.09.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz aus dem Stande der Festnahme: Die Polizei betrat sie in der Wohnung Ihres Schwiegervaters am XXXX und nahm Sie als unrechtmäßig im Bundesgebiet aufhältig fest. Wann sind Sie, wenn Sie nur eine Woche in POLEN waren, nach Österreich eingereist und warum haben Sie sich nicht von sich aus an die Behörden gewandt?

BF 1: In Österreich haben sie mir gesagt, dass sie einen Mann kennen, der alles darüber weiß. Ich habe ein Taxi genommen und bin hierhergekommen.

R: Was meinen Sie damit?

BF 1: Wir sind nach POLEN gekommen. Der Schwiegervater hat meine Frau angerufen und sie haben gesprochen. Nachdem haben wir ein Taxi genommen und sind hierhergekommen.

R: Warum haben Sie den Asylantrag erst zwei Monate später gestellt?

BF 1: Ehrlich gesagt, weiß ich das nicht, weil das der Schwiegervater alles entschieden hat.

R: Was haben Sie die ersten zwei Monate in Österreich gemacht?

BF 1: Wir waren nur zuhause und haben Tee getrunken und mit keinen Nachbarn gesprochen, weil ich konnte die Sprache nicht.

R: Sie wurden am 29.09.2016 von der Polizei erstbefragt. Wie würden Sie die dortige Einvernahmesituation beschreiben? Haben Sie etwas richtig zu stellen?

BF 1: Nein, ich habe nichts zu erzählen. Ich kann mich nicht daran erinnern. Ich war bereit die Fragen zu beantworten.

R: Am selben Tag wurde Ihnen das Führen von Dublin-Konsultationen mitgeteilt. Sie gaben in der Erstbefragung an, dass Sie in POLEN wissentlich keinen Asylantrag gestellt und auch POLEN angegeben haben, dass Sie nach Österreich wollen. POLEN stimmte aber Ihrer Wiederaufnahme am 13.10.2016 gemäß Art. 18 Abs. 1 lit. c Dublin III-VO zu, dh. Sie haben in POLEN zuerst einen Asylantrag gestellt und dann diesen zurückgezogen. Warum?

BF 1: Ich habe das nicht zurückgezogen. Wie kann ich das machen, wenn alle meine Pässe in POLEN sind?

R: Wo haben Sie nach der Entlassung aus der Familienunterkunft XXXX gelebt? Sie waren nirgends gemeldet!

BF 1: Meine Frau hatte eine Drei-Zimmer-Wohnung. Wir waren dort und von dort wurden wir abgeschoben.

R: Das Dublin-Verfahren wurde ohne Ihre Beteiligung geführt. Mit Bescheid vom 06.11.2016 wies das Bundesamt Ihren Antrag auf internationalen Schutz wegen der Zuständigkeit POLENS zur Verfahrensführung zurück und erließ eine Anordnung der Außerlandesbringung gegen Sie. Der Bescheid wurde Ihnen durch Hinterlegung im Akt zugestellt. Am folgenden Tag wurden Sie zur Festnahme ausgeschrieben. Ihre Tochter XXXX wurde am XXXX im Bundesgebiet geboren. Für sie stellten Sie bzw. die Mutter am 04.04.2017 einen Antrag auf internationalen Schutz. Warum so viel später?

BF 1: Das weiß ich nicht ganz genau, wieso das so zustande kam und etwas ausdenken möchte ich nicht, weil das wäre eine Lüge.

R: Wer ist Fr. XXXX ?

BF 1: Das ist eine Frau vom Schwiegervater.

R: Ab 27.12.2016, also ca. einen Monat nach der Geburt nach XXXX , waren Sie bei XXXX , einer Frau Ihres Schwiegervaters, gemeldet. Am 03.05.2017 erteilten Sie Hr. XXXX Vollmacht. Seit 29.05.2017 waren Sie beim Schwiegervater am XXXX gemeldet. Mit Bescheid vom 06.06.2017 wies das Bundesamt den Antrag Ihrer Tochter XXXX auf internationalen Schutz wegen der Zuständigkeit POLENS zur Verfahrensführung zurück und erließ eine Anordnung der Außerlandesbringung gegen sie. Sie wurden am 24.07.2017 an Ihrer Meldeadresse festgenommen, wobei die Festnahme tumultuös verlief. Am 26.07.2017 wurden Sie nach POLEN abgeschoben. Am 27.07.2017 wurde Akteneinsicht genommen. Am 10.08.2017 erhoben Sie Beschwerde. Wieso erst so spät? Spätestens ab dem Bescheid vom 06.06.2017 war Ihnen doch klar, dass eine Entscheidung auch in Ihrem Verfahren ergangen war.

BF 1: Ich weiß es nicht. In POLEN waren wir drei Monate lang. Dann haben wir ein Auto gekauft und sind zurück nach Österreich gekommen.

R: Mit Erkenntnis vom 15.04.2020 gab das Bundesverwaltungsgericht Ihrer beim Landesverwaltungsgericht WIEN eingebrachten und zuständigkeitshalber weitergeleiteten Beschwerde gegen Festnahme, Anhaltung und Abschiebung Folge, weil die Bescheide betreffend BF 1-7 nicht rechtswirksam zugestellt worden waren. Kostenersatz wurde Ihnen zugesprochen. Die Finanzprokuratur erkannte Ihnen 2020 einen Ersatzanspruch nach dem AHG zu. Das Bundesverwaltungsgericht wies die Beschwerde im Asylverfahren mit Beschluss vom 28.09.2017 wegen eines Zustellmangels des Bescheides als unzulässig zurück; betreffend Ihre Tochter XXXX wurde der Beschwerde – vereinfacht – auf Grund des Familienverfahrens stattgegeben. Am 16.08.2017 ist ein EURODAC-Treffer in WARSCHAU aktenkundig. Sie waren drei Monate in POLEN. Wo und wie haben Sie in POLEN gelebt?

BF 1: Ich bin nur dort gesessen, habe gegessen, habe nichts gemacht. Dann ist mir das auf die Nerven gegangen. Ich bin rausgegangen, habe mir ein Auto gekauft und bin hierhergekommen.

R: Am 02.10.2017 wurden Sie erneut in Österreich einvernommen; laut Ihrer Aussage waren Sie am Tag davor von POLEN nach Österreich gereist. Haben Sie einen Beleg dafür, dass Sie erst am 01.10.2017 nach Österreich gekommen sind?

BF 1: Als ich nach POLEN gekommen bin, habe ich meine Pässe abgegeben.

R: Sie gaben an, mit einem alten, klapprigen Auto nach Österreich gefahren zu sein. Mit welchem Führerschein?

BF 1: Ich hatte einen Führerschein.

R: Wo ist dieser? Im Verfahren haben Sie einen Führerschein nie vorgelegt.

BF 1: Ich habe ihn mit.

R: Haben Sie den in Österreich jemals umschreiben lassen?

BF 1: Nein.

R belehrt, dass Sie mit dem Führerschein nicht mehr in Österreich fahren dürfen. Nach einem halben Jahr Aufenthalt müssen Sie diesen Führerschein auf einen österreichischen Führerschein umschreiben lassen.

BF 1: Ich fahre damit nicht. Ich bin hierhergekommen und habe das Auto sofort um 200 € verkauft.

R: Waren Sie in POLEN in diesen ca. 2,5 Monaten jemals einer Gefährdung ausgesetzt?

BF 1: Im Lager gab es einige Leute, die mir gesagt haben, dass sie mich zurück nach Russland bringen können.

R: Was meinen Sie damit?

BF 1: Wenn diese Leute mich nach Russland gebracht hätten, dann würden meine Kinder ohne Vater da sein und davor hatte ich Angst.

R: Waren Sie dort konkret eine Gefährdung ausgesetzt?

BF 1: Die Gefährdung war, dass ich nach Russland abgeschoben werden könnte. Davor hatte ich Angst und deswegen bin ich geflüchtet.

R: Ihr Schwiegervater hat bei der Abschiebung am 24.07.2017 angegeben, dass Sie in POLEN erschossen werden. Können Sie mir erläutern, warum man Sie in POLEN aber nicht in Österreich erschießen sollte?

BF 1: Der Schwiegervater weiß, wo was ist und wie was funktioniert. In POLEN gab es Gerüchte, dass der abgeschoben wird und jener abgeschoben wird. Ich habe das mitbekommen und bin geflüchtet.

R: Sie wurden am 25.01.2018 vom Bundesamt niederschriftlich einvernommen. Wie war die Einvernahmesituation? Gab es Probleme? Möchten Sie etwas richtigstellen?

BF 1: Ich weiß das jetzt nicht. Ich hatte nicht vor, etwas zu erfinden oder zu lügen.

R: Sie gaben an, dass sich POLEN wie RUSSLAND anfühlt. Was meinen Sie damit?

BF 1: POLEN war früher zusammen mit Russland. Man konnte aus Russland nach POLEN reisen und von POLEN nach Russland. Es gab diese Möglichkeit. Das hat mir nicht gefallen.

R: Wie wurde über Ihr Asylverfahren in POLEN entschieden?

BF: Ich weiß es nicht, wie sie das gemacht haben und wie sie das entschieden haben. Ich habe niemanden etwas gegeben.

R: Ihrer Aussage nach haben Sie in POLEN eine negative Entscheidung erhalten. War das, nachdem Sie den Antrag 2016 zurückgezogen haben, oder über den Antrag 2017?

BF 1: Als ich das zweite Mal dort war.

R: POLEN stimmte Ihrer Wiederaufnahme am 16.10.2017 erneut ausdrücklich zu – gemäß Art. 18 Abs. 1 lit. b Dublin III-VO, dh Ihre Verfahren waren noch anhängig. Mit Bescheid vom 31.01.2018 wies das Bundesamt Ihren Antrag auf internationalen Schutz wegen der Zuständigkeit POLENS zurück und ordnete Ihre Außerlandesbringung nach POLEN an. Mit Erkenntnis vom 03.04.2018 gab das Bundesverwaltungsgericht den Beschwerden statt, ließ die Verfahren in Österreich zu und behob die bekämpften Bescheide; Grund dafür war – zusammengefasst – das Fehlen von Zusicherungen wegen des Gesundheitszustands der BF 4, XXXX . Mit Bescheiden vom 20.06.2018 wies das Bundesamt Ihren Antrag erneut wegen der Zuständigkeit POLENS zurück und ordnete Ihre Außerlandesbringung an. Mit Erkenntnis vom 01.08.2018 gab das Bundesverwaltungsgericht Ihrer Beschwerde Folge, behob den angefochtenen Bescheid und verwies das Verfahren zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt zurückverwiesen; Grund dafür war zusammengefasst, dass das BFA die vorgetragenen Ermittlungen nicht vorgenommen hat. Das BFA hat daraufhin das Verfahren geführt. Möchten Sie dazu etwas angeben?

BF 1: Ich möchte nichts mehr ergänzen. Ich wollte nur dem ganzen Staat Österreich danke sagen.

R: Wofür?

BF 1: Für meine Tochter XXXX .

R: Seit 02.10.2017 leben Sie in Quartieren der Grundversorgung, zuvor waren Sie Privatgeher. Seit 22.01.2018 sind Sie in XXXX untergebracht. Was möchten Sie zum Vorfall im GVS-Quartier XXXX vom 03.07.2018 mit XXXX und XXXX angeben? Sie und Hr. XXXX haben einander gewürgt und sich gegenseitig Faustschläge angedroht. Fam. XXXX warf Ihnen vor, ihren Sohn XXXX zu Drogen verführt zu haben, Sie warfen Fam. XXXX falsche Verdächtigung vor. Es soll bereits der zweite Vorfall dieser Art gewesen sein (Hinweis auf Aussageverweigerungsrecht).

BF 1: Das ist auch eine tschetschenische Familie, mit der ich gestritten habe. Das einzige, was sie wollten, war mich zu provozieren und sie haben alles dafür gemacht, dass die Polizei kommt.

R: Im Februar 2018 wurden Ihr Inlandsreisepass und Ihre Heiratsurkunde kriminaltechnisch untersucht. Hinweise auf eine Verfälschung wurden nicht gefunden. Warum haben Sie damals nicht auch Ihren Führerschein vorgelegt?

BF 1: Niemand hat mich gefragt und es gab keine Notwendigkeit.

R: Am 18.12.2018 wurden Sie im Verfahren vom Bundesamt niederschriftlich einvernommen. Haben Sie dabei die Wahrheit gesagt oder möchten Sie etwas richtigstellen oder ergänzen?

BF 1: Nein. Was kann ich dazu noch sagen?

R: Mit Bescheid vom 15.01.2019, Ihnen zugestellt im JÄNNER 2019, wies das Bundesamt Ihren Antrag auf internationalen Schutz vom 28.09.2016 sowohl im Hinblick auf den Status des Asylberechtigten, als auch den Status des subsidiär Schutzberechtigten im Hinblick auf Ihren Herkunftsstaat Russische Föderation als unbegründet ab, erteilte Ihnen keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen und erließ eine Rückkehrentscheidung gegen Sie. Es stellte fest, dass Ihre Abschiebung in die Russische Föderation zulässig ist und räumte Ihnen eine Frist von zwei Wochen für die freiwillige Ausreise ein. Gleichlautende Bescheide ergingen in den Verfahren ihrer Familienmitglieder. Gegen diese Bescheide erhoben Sie mit Schriftsatz vom 19.02.2019 Beschwerde. Halten Sie diese Schriftsätze und die darin gestellten Anträge aufrecht?

BF 1: Ja, die bleiben aufrecht.

R: Sind seit Beschwerdeerhebung neue Umstände eingetreten, die betreffend den Asylschutz zu berücksichtigen sind?

BF 1: Nein.

R: Sind seit der Beschwerdeerhebung neue Umstände eingetreten, die betreffend den subsidiären Schutz zu berücksichtigen sind?

BF 1: Nein. Ich hatte bis jetzt keinen engeren Kontakt und daher hatte ich keine Bedrohungen erlebt.

R: Sind seit der Beschwerdeerhebung neue Umstände eingetreten, die betreffend Rückkehrentscheidung zu berücksichtigen sind?

BF 1: Jeden Tag geht es mir hier besser in Österreich.

R: Sie sind russischer Staatsangehöriger, Angehöriger der tschetschenischen Volksgruppe und muslimischen Glaubens. Sie haben außerhalb des Aufenthaltsrecht während des Asylverfahrens kein anderes Aufenthaltsrecht für Österreich oder einen anderen Mitgliedsstaat der Europäischen Union. Ist das korrekt?

BF 1: Als ich nach Österreich gekommen bin, lebe ich seither hier und ich kenne keinen anderen Ort.

R: Haben Sie die Europäische Union seit dem 22.07.2016 einmal verlassen?

BF 1: Nein.

R: Haben Sie Österreich seit 01.10.2017 einmal verlassen?

BF 1: Nein.

R: Schildern Sie Ihren Fluchtgrund! Warum mussten Sie die Russische Föderation verlassen?

BF 1: Zuerst haben wir ganz normal gelebt, aber als mein Schwiegervater gesagt hat, dass er im Garten ein Archiv in der Erde gegraben hat, bin ich dorthin und habe es ausgegraben. Ich habe das zuhause im Keller aufbewahrt. Zwei, drei Jahre war dieses Archiv bei mir zuhause im Keller. Dann kam ein Mann, der das abholen wollte. Dieser Mann ist sozusagen mit der Polizei gekommen. Ich weiß nicht ganz genau, wie ich diese Menschen nennen darf. Ich habe den Auftrag bekommen nur die Hälfte davon weiterzugeben. Meiner Meinung nach, hätte dieser Mensch alleine kommen sollen, aber sie haben in gefangen und sind mit ihm mitgekommen. Mich haben sie auch mitgenommen und lange Zeit war ich bewusstlos und im Koma. Ich möchte nie wieder in so eine Situation kommen. Danke, dass Sie mich anhören und dass ich hierbleiben darf.

R: Schildern Sie mir nochmal genauer, wie es dazu kam, dass Archiv im Garten auszugraben bis zu Ihrer Mitnahme. Schildern Sie das so genau, wie Sie können.

BF 1: Mir wurde genau beschrieben, wo dieses Archiv begraben wurde. Ich habe es ausgegraben und mit nachhause genommen. Dort im Keller, habe ich das Archiv mit unnötigen Zeug zugedeckt. Nach zwei, drei Jahren, glaube ich, kam dieser Mensch, um das Archiv abzuholen und ich habe nur diesen Teil abgegeben, den ich abgeben musste und dann ist er mit den Polizisten, diesen Menschen gekommen. Habe ich Ihre Frage beantwortet? Soll ich zeigen, was sie mir angetan haben, ich habe am Körper Spuren.

R ersucht BF 1 seine Kleidung anzubehalten.

R: Wann sind Sie aus dem Koma erwacht?

BF 1: Man sagte, dass ich sechs Monate lang im Koma im Spital war.

R: Was passierte zwischen dem Aufwachen aus dem Koma und der Ausreise 2016?

BF 1: Ich bin aus dem Koma erwacht, habe angefangen zu gehen und dann sind diese Menschen gekommen. Mit meiner Familie, mit meinen Eltern und meiner Frau bin ich dorthin gegangen. Sie haben weiter nach dem Archiv gefragt und auch nach dem Schwiegervater, was ich über ihn weiß. Ich habe nur gesagt, dass ich nichts weiß und auch nichts davon wissen möchte. Dann habe ich alle Bekannten um Hilfe gebeten, damit ich einen Pass bekomme und flüchten kann.

R: Und dann?

BF 1: Dann bin ich hierher nach Europa gekommen.

R: Sie haben im September 2012 den Führerschein für die Fahrzeugklasse BE und CE gemacht. Gab es dabei Probleme?

BF 1: Es gab keine. Es gab keine Schwierigkeiten. In dem Jahr habe ich noch zusätzlich den LKW-Führerschein erhalten, damit ich mit einem Anhänger fahren kann.

R: Was würde Sie und Ihre Familie im Falle einer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat konkret erwarten?

BF 1: Ich weiß es nicht, was konkret passieren kann. Wenn wir zurückkehren und sie es erfahren, dann könnte es sein, dass sie wiederkommen.

R: Wer konkret sollte Ihnen warum konkret etwas antun wollen?

BF 1: Wenn sie noch einmal von mir etwas fordern, denke ich, bleiben meine Kinder ohne Vater und davor habe ich Angst.

R: Was würde passieren, wenn Sie (hypothetisch) an einen anderen Ort in der Russischen Föderation außerhalb TSCHETSCHENIENS zurückkehren müssten, zB nach ROSTOV, SARATOV, MOSKAU, OMSK, STAWROPOL oder WLADIWOSTOK?

BF 1: Ich weiß es nicht. Hier in Europa ist ein Mensch verschwunden und man kann jeden Menschen überall finden.

R: Waren Sie in Österreich jemals einer Bedrohung ausgesetzt?

BF 1: Nein.

R: Wie ist die Kommunikation mit dem BF 1?

D: Ein bisschen schwierig, ich habe das Gefühl, dass ihm einige russische Wörter fehlen. Ihm fällt es schwer sich auszudrücken. Er redet nicht irgendwie zusammenfassend, sondern sehr abstrakt.

R: Fallen Ihnen Wortfindungsstörungen beim BF 1 auf?

D: Er tut sich grundsätzlich relativ schwer, sich auf Russisch auszudrücken.

R: Verwechselt der BF Worte auf Grund phonetischer Ähnlichkeit oder verwandter Bedeutung?

D: Das ist mir nicht aufgefallen.

R: Stottert der BF 1?

D: Er stottert nicht, aber er zieht die Wörter. Er macht lange Denkpausen und sucht die Wörter, wie er sich ausdrücken kann.

R: Was ist Ihre Muttersprache?

D: Tschetschenisch.

R: Wie ist Ihr Sprachniveau auf Russisch?

BF 1: Meine Muttersprache ist Tschetschenischen. Ich sehe keine Vorteile in der russischen Sprache und ich finde, dass es keine gute Sprache ist.

R: Wie gut können Sie Russisch sprechen?

BF 1: Sie sehen ja, wie ich spreche, schlecht oder gut und nach dem Unfall stottere ich.

R: Wer hat Sie informiert, dass Sie das Archiv ausgraben sollen?

BF 1: Der Schwiegervater hat angerufen und hat Bescheid gesagt.

R: Wo genau war das Archiv vergraben?

BF 1: Bei ihm zuhause neben dem Abstellraum.

R: Meinen Sie neben einem Schuppen im Garten?

BF 1: Ja, genau.

R: Wer hat es dort ausgegraben?

BF 1: Ich habe es ausgegraben.

R: Alleine?

BF 1: Nein, wir waren zu zweit.

R: Wer war der zweite?

BF 1: Ich habe einen Großvater und er hatte einen Sohn zuhause. Der hat mir den Platz gezeigt.

R: Mit dem haben Sie es ausgegraben?

BF 1: Ja, wir haben es ausgegraben. Dann habe ich es ins Auto gelegt und bin nachhause gefahren?

R: Was genau ist das Archiv? Ist das ein großer Bücherkasten? Wie kann ich mir das vorstellen?

BF 1: Es waren große schwarze wasserdichte Säcke. Darin waren zwei Taschen und die waren in großen wasserdichten Säcken. Dort waren Fotos, Videokassetten, Patronen, zwei Pistolen. Ich habe nicht ganz genau gewusst, was das war. Eine Tüte haben sie verbrannt, meine Mutter und meine Frau. Die andere habe ich dem Menschen, der gekommen ist, abgegeben. Das, was mir gesagt wurde, habe ich ihm weitergegeben.

R: Sie haben diese Säcke ausgegraben. Was genau haben Sie dann mit den Säcken gemacht?

BF 1: Ausgegraben und zu mir nachhause gebracht. Das war der Auftrag vom Schwiegervater.

R: Und dann?

BF 1: Ich habe das im Keller abgelegt, bei mir zuhause. Dann war es abgeschlossen. Dann haben die Probleme angefangen. Ein Mann ist gekommen, wollte dieses Archiv abholen. Ich habe es ihm weitergegeben und habe tief ausgeatmet, weil es endlich vorbei war, aber leider war es nicht vorbei, weil dann sind sie gekommen und haben mich abgeholt.

R: Was genau haben Sie diesem Mann mitgegeben?

BF 1: Kassetten, Fotos, alte Videokassetten, Fotos.

R: Wer war dieser Mann?

BF 1: Ich kenne ihn nicht. Mir wurde gesagt, dass er aus XXXX (phonetisch). Ich habe ihn nicht gekannt. Mir wurde nur gesagt, dass der Mensch aus XXXX kommt.

R: Wer hat Ihnen gesagt, dass der Mann aus XXXX kommt?

BF 1: Der Schwiegervater.

R: Wie kamen Sie auf die Idee, den Mann, den Sie nicht kannten, das Archiv bzw. die Fotos und Videokassetten mitzugeben?

BF 1: Ich wurde angerufen und mir wurde erklärt, dass ein Mann kommt und dann wurde mir erklärt, welche von beiden Taschen ich weitergeben solle.

R: Wie konnten Sie überprüfen, dass der Mann auch derjenige ist, für den Sie ihn halten?

BF 1: Als er gekommen ist, hat er mir ganz genau gesagt, was für ein Archiv er abholen möchte und so habe ich verstanden, wer dieser Mann ist.

R: Wer hat Ihnen gesagt, dass dieser Mann kommt und welche Tasche Sie ihm geben sollen?

BF 1: Der Schwiegervater.

R: Warum waren Sie erleichtert, als der Mann eine Tasche geholt hat? Eine Tasche ist ja bei Ihnen verblieben?

BF 1: Dieser Mensch ist gekommen, hat einen Teil des Archivs abgeholt. Ich habe mich erleichtert gefühlt. Zuhause gab es aber Gespräche, was wir mit dem Archiv machen sollen und drei Wochen später sind diese Menschen gekommen und haben mich abgeholt.

R: Was haben Sie mit der zweiten Tasche gemacht?

BF 1: Als ich abgeholt wurde, hatte meine Familie Angst und hat es verbrannt.

R: Wie kann man eine Pistole und Patronen verbrennen? Ich gehe davon aus, dass die Tasche mit dem Inhalt verbrannt wurde?

BF 1: Pistolen, Patronen und Videokassetten und USB-Sticks wurden dem Mann übergeben.

R: Von USB-Sticks war bisher nicht die Rede. Wann Ihr Schwiegervater das Archiv spätestens 2000 vergraben hat, dann war er der Technik voraus, wenn er USB-Sticks hatte.

BF 1: Er konnte keine USB-Sticks vergraben?

R: USB-Sticks waren, wenn verfügbar, damals extrem selten und extrem teuer.

BF 1: Ich weiß nicht, ob das teuer war. Es war so groß, wie ein Handy. Ich weiß nicht, was das war oder wie das heißt.

R: Ein USB-Stick ist nicht so groß, wie ein Handy?

BF 1: Es war kein CD-ROM, aber etwas, was man am Computer anschließt.

R: Davon, dass Sie dem Mann Pistole und Patronen mitgegeben haben, haben Sie nichts gesagt.

BF 1: Es gab keine Gelegenheit, dass ich das erzähle.

R: Wie hieß der Mann?

BF 1: Ich kann mich nicht erinnern.

R: Sehe ich es richtig, dass Sie Ihr gesamtes Leben bis 2016 in der Russischen Föderation in XXXX lebten, dort 8 Jahre lang die Grundschule (also ca. bis 1993) besucht und danach als LKW-Fahrer sowohl auf eigene Rechnung mit eigenem LKW, als auch angestellt für eine Firma in XXXX bis zum Tag vor Ihrer Ausreise, gearbeitet und ihrem eigenen Haus, in dem auch Ihre Eltern leben, gelebt haben und Ihre Frau als Hauskrankenschwester zum Familienerwerb beitrug, Ihre Kinder besuchten die Schule?

BF 1: Ja.

R: Was ist mit dem Haus jetzt?

BF 1: Es ist nichts damit passiert. Mein Vater lebt dort zuhause.

R: Was ist mit dem LKW jetzt?

BF 1: Meinen LKW habe ich bei der Firma XXXX geparkt. Ich habe den LKW zugesperrt und habe den Schlüssel im Büro abgelegt und habe niemanden gesagt, dass ich morgen nicht kommen werde. Ich habe das Auto abgestellt und bin weggefahren.

R: Wie haben Sie die Ausreise organisiert?

BF 1: Ich habe niemanden etwas gesagt, dass ich nach Europa fahre.

R wiederholt die Frage.

BF 1: Wie ich das organisiert habe?

R: Ja.

BF 1: Die Briefe, die gekommen sind, haben mir angedeutet, dass ich das Land verlassen muss. Sie haben mich gezwungen, das Land zu verlassen.

R: Wie haben Sie die Ausreise organisiert?

BF 1: Wie ich das organisiert habe?

R: Ja.

BF 1: Meine Mutter hat mir das Geld mitgegeben. Sie hat Tickets gekauft und dann bin ich hierhergekommen.

R: Wie geht es Ihren Eltern?

BF 1: Man sagt, dass es ihnen gut geht.

R: Wovon leben sie?

BF 1: Mein Vater arbeitet als Taxifahrer. Meine Mutter ist in Pension.

R: Wie halten Sie von Österreich aus Kontakt mit Ihnen?

BF 1: Per Handy.

R: In der Erstbefragung 2016 gaben Sie an, dass Sie eine Schwester haben, XXXX , die lebe in der Russischen Föderation, 2017 gaben Sie an, dass ihre Schwester XXXX , in Österreich eine negative Entscheidung bekommen habe und freiwillig nach DEUTSCHLAND ausgereist sei, 2018 gaben Sie an, Sie zwei Schwestern haben, beide leben mit ihren Familien im Herkunftsstaat. Können Sie mir das erklären?

BF 1: Ich habe zwei Schwestern und diese leben in der Heimat. Die, die hierhergekommen ist, mit dem Mann und den Kindern, wurde abgeschoben und lebt wieder in der Heimat.

R: Und die andere Schwester ist in der Heimat geblieben?

BF 1: Ja.

R: Wo und wovon leben Ihre Schwestern?

BF 1: Sie sind verheiratet und sie leben ihr Leben.

R: Wo leben Sie?

BF 1. In Tschetschenien.

R: Wie halten Sie Kontakt mit Ihnen?

BF 1: Per Handy.

R: Welche Verwandten Ihrer Frau leben im Herkunftsstaat?

BF 1: Es gibt sehr viele von ihnen hier.

R: Und in der Heimat, in Tschetschenien?

BF 1: Nicht mehr viele sind dortgeblieben.

R: Was ist mit dem Schwager, der mit Ihnen das Archiv ausgegraben hat?

BF 1: Der Sohn von meinem Schwiegervater ist zuhause. Er war damals klein.

R: Und Ihre Schwiegermutter, also die Mutter Ihrer Frau?

BF 1: Ich glaube, sie ist in Tschetschenien.

R: Halten Sie mit denen auch Kontakt?

BF 1: Nein.

R: Haben Sie Verwandte in Österreich? Wenn ja, welche?

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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