Entscheidungsdatum
12.08.2021Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z5Spruch
W226 1422456-3/11E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Andreas WINDHAGER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen Gesellschaft mit beschränkter Haftung, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 19.07.2019, Zl. 810953010-190708510, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. - III. des angefochtenen Bescheides wird als unbegründet abgewiesen.
II. In Erledigung der Beschwerde gegen den Spruchpunkt IV. des angefochtenen Bescheides wird ausgesprochen, dass eine Rückkehrentscheidung gegen XXXX gemäß § 10 Absatz 1 Ziffer 5 AsylG 2005 iVm § 52 FPG 2005 iVm § 9 Abs. 3 BFA-VG auf Dauer unzulässig ist.
XXXX wird eine „Aufenthaltsberechtigung plus" für die Dauer von zwölf Monaten gemäß § 54 Absatz 1 Ziffer 1 AsylG 2005 und § 58 Absatz 2 iVm § 55 Absatz 1 AsylG 2005 erteilt.
III. In Erledigung der Beschwerde werden die Spruchpunkte V. und VI. des angefochtenen Bescheides ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang und Sachverhalt:
I.1.1. Die Beschwerdeführerin (im Folgenden: BF) reiste am 25.08.2011 mit ihrem volljährigen Sohn unter Umgehung der Grenzkontrolle in das Bundesgebiet ein und stellte am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz. Die BF brachte zu ihrem Fluchtgrund im Zuge der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am selben Tag sowie anlässlich der niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 12.10.2011 im Wesentlichen vor, ihr Gatte habe für Präsident KADYROW im Sicherheitsdienst gearbeitet und sei im Dienst zu Tode gekommen. Danach sei ihre Wohnung beschossen und ihr Sohn und sie von Rebellen verfolgt worden, was mit der Tätigkeit ihres Gatten in Zusammenhang stehe. Die BF sei seit Mai 2011 auf der Flucht. Sie sei des Überlebens ihres Sohnes wegen ausgereist und habe sonst keine weiteren Fluchtgründe.
I.1.2. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 24.10.2011 wurde der Antrag der BF auf internationalen Schutz in Spruchpunkt I. gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (AsylG), bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten und in Spruchpunkt II. bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 leg. cit. abgewiesen und die BF in Spruchpunkt III. des Bescheides gemäß § 10 Abs. 1 Z 2 leg. cit. aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation ausgewiesen.
Begründend wurde kurz zusammengefasst ausgeführt, dass die BF keine asylrelevante Verfolgung glaubhaft gemacht habe. Weiters lägen keine Anhaltspunkte vor, dass der BF im Falle der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention drohe oder mit dieser für sie als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes einhergehe. Im Hinblick auf die Ausweisungsentscheidung führte die belangte Behörde aus, dass der mitgereiste erwachsene Sohn der BF ebenso von einer Ausweisung betroffen sei und die BF mit ihrer in Österreich wohnhaften Tochter wenig Kontakt habe.
I.1.3. Die gegen diesen Bescheid gerichtete Beschwerde der BF wurde vom Asylgerichtshof am 20.03.2012 gemäß § 66 Abs. 4 Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz 1991, BGBl. Nr. 51/1991 (AVG), in Verbindung mit § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (AsylG 2005), § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 und § 10 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005, in der Fassung BGBl. I Nr. 122/2009, als unbegründet abgewiesen, mit der Begründung, dass die BF weder eine zum Entscheidungszeitpunkt vorliegende maßgebliche Gefahr asylrelevanter Verfolgung in ihrem Herkunftsstaat glaubhaft habe machen können, noch seien von Amts wegen Anhaltspunkte für eine solche ableitbar gewesen. Die in den Angaben der BF und ihres Sohnes zum Fluchtgrund enthaltenen Widersprüche und Unstimmigkeiten in ihrer Qualität und ihrem Ausmaß hätten nicht mit Missverständnissen oder Irrtümern erklärt werden können, weshalb der belangten Behörde nicht entgegengetreten werden könne, wenn sie von der Unglaubwürdigkeit der behaupteten Fluchtgründe ausgehe.
Irgendein besonderes „real risk“, dass es durch die Rückführung der BF in ihren Herkunftsstaat zu einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe kommen würde, habe nicht erkannt werden können, außergewöhnliche Umstände im Sinne der Judikatur des EGMR, die gegen eine Abschiebung in die Russische Föderation sprechen würden, seien nicht erkennbar gewesen. Die BF habe in ihrer Eigentumswohnung in Tschetschenien gelebt und werde mit ihrem erwachsenen Sohn zurückkehren. Die BF habe Geschwister im Herkunftsstaat und verfüge über eine zehnjährige Schulbildung. Sie könne – ohne auf fremde Hilfe angewiesen zu sein – einer Arbeit nachgehen. Selbst wenn die wirtschaftliche Lage in der Russischen Föderation schlechter sei als jene in Österreich, wäre es der BF zumutbar, durch eine notfalls auch weniger attraktive Arbeit den unbedingt notwenigen Lebensunterhalt für sich zu bestreiten. Insofern die BF gesundheitliche Probleme geltend mache (Diabetes mellitus Typ II, Lumboischalgie, Eisenmangelanämie, Thrombozytose, Hämorrhoiden, Verdacht auf Depression, Differenzialdiagnose: Anpassungsstörung), sei einerseits unter Berücksichtigung der Länderfeststellungen darauf hinzuweisen, dass die genannten Krankheitsbilder in der Russischen Föderation grundsätzlich ebenfalls behandel- bzw. therapierbar seien, und sei andererseits, im Hinblick auf die „hohe Schwelle“, die gemäß der zu möglichen Verletzungen von Art. 3 EMRK im Zusammenhang mit Ausweisungen von Fremden ergangenen Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte immer dann anzunehmen sei, wenn der drohende Schaden für einen Antragsteller aus einer Krankheit und somit „nicht aus den absichtlichen Handlungen oder Unterlassungen staatlicher Behörden oder nichtstaatlicher Akteure resultiert“ (EGMR 27.05.2008, N. gg. das Vereinigte Königreich, 26.565/05), ausdrücklich festzuhalten, dass die im vorliegenden Fall konstatierten Erkrankungen der BF keinen derart außergewöhnlichen Umstand darstellen würden, dass eine unmenschliche Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK anzunehmen wäre und sei auch von keiner lebensbedrohlichen Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes für den Fall ihrer Rückkehr auszugehen.
Die Ausweisungsentscheidung begründete der Asylgerichtshof damit, dass die BF in Österreich keine Lebensgemeinschaft führe und zu ihrer in Österreich als Asylberechtigte lebenden erwachsenen Tochter, die in Österreich eine Familie gegründet habe, kein wie immer geartetes Abhängigkeits- oder Pflegeverhältnis und auch keine besonders enge Bindung bestehe. Das Verfahren ihres erwachsenen Sohnes, mit dem sie ins Bundesgebiet gereist sei, werde zeit- und inhaltsgleich mit dem Verfahren der BF entschieden. Die Ausweisung stelle keinen Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens dar und es bedürfe daher auch keiner Abwägung im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK.
I.1.4. Mit Beschluss des Verfassungsgerichtshofes vom 03.10.2012 wurde die Behandlung der Beschwerde der BF abgelehnt.
I.2.1. Zu ihrem am 29.01.2014 gestellten Folgeantrag auf internationalen Schutz, wurde die BF am 30.01.2014 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt, wobei sie angab, die Probleme, derentwegen sie geflüchtet sei, bestünden nach wie vor. Wegen der Gefahr heimkehren zu müssen, leide sie unter Stress.
Im Zuge der niederschriftlichen Einvernahme der BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) am 10.02.2014 brachte die BF im Wesentlichen vor, keine neuen Gründe zu haben, aber ihr Sohn befinde sich weiterhin in Gefahr.
Im Rahmen einer weiteren Einvernahme der BF vor dem BFA am 24.06.2014 gab sie an, wegen Diabetes in ärztlicher Behandlung zu sein und Medikamente zu benötigen. Ihr Sohn sei krank und könne sich die teure medizinische Behandlung nicht leisten. Dies sei der Grund, warum sie hier ist. Sie habe auch keine Verwandten in Tschetschenien oder einem anderen Teil der Russischen Föderation. Es gebe niemanden, der sie versorgen könne.
I.2.2. Mit Bescheid des BFA vom 27.06.2014 wurde der Folgeantrag der BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Absatz 1 iVm 2 Absatz 1 Ziffer 13 AsylG 2005 abgewiesen, diesem hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Absatz 1 AsylG stattgegeben und der BF eine befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Absatz 4 AsylG bis zum 26.06.2015 erteilt. Dies wurde vom BFA damit begründet, dass die BF eine asylrelevante Verfolgung nicht glaubhaft gemacht habe, sondern vielmehr aufgrund der für sie und ihren Sohn benötigten medizinischen Hilfe nach Österreich gereist sei. Sie habe ihre prekäre wirtschaftliche Situation sowie die mangelnde Unterstützung durch (fehlende) Verwandte glaubhaft darlegen können. Ihr sei daher aufgrund der schwierigen wirtschaftlichen Situation in ihrem Heimatland und der mangelnden Versorgungsmöglichkeiten in der Russischen Föderation der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen.
I.2.3. Mit Bescheid des BFA vom 01.06.2015 wurde dem Antrag der BF auf Verlängerung ihres befristeten Aufenthaltstitels stattgegeben und ihr eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 26.06.2017 erteilt.
I.2.4. Mit Bescheid des BFA vom 14.07.2017 wurde dem Antrag der BF auf Verlängerung ihres befristeten Aufenthaltstitels stattgegeben und ihr eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 26.06.2019 erteilt.
I.3.1. Im Rahmen der Prüfung des Verlängerungsantrages der BF bzw der Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten wurde die BF vom BFA am 02.07.2019 niederschriftlich einvernommen, wobei sie zu Protokoll gab, sie befinde sich in ärztlicher Behandlung wegen Diabetes und habe einen hohen Zuckerspiegel. Sie wohne mit ihrem Sohn in einer Wohnung in XXXX und habe ca drei Jahre als Reinigungskraft gearbeitet. Sie habe noch zwei verwitwete Schwestern in Tschetschenien und ihren Sohn, ihre Tochter und deren Mann in Österreich. Die Tochter habe vier Kinder und kümmere sich nur um die Kinder, deren Ehemann arbeite als Computerfachmann. Die BF brachte weiters vor, als Kassiererin bei XXXX arbeiten zu wollen, wenn sie mit dem Deutschkurs fertig sei. Aufgrund ihrer schlechten Sprachkenntnisse könne sie noch nicht arbeiten. In XXXX habe sie als Verkäuferin gearbeitet. Befragt zu ihren Rückkehrbefürchtungen gab die BF an, dass ihr Sohn in Tschetschenien verfolgt werde.
I.3.2. Mit Bescheid des BFA vom 19.07.2019 wurde der, der BF mit Bescheid vom 27.06.2014 zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Absatz 1 Asylgesetz 2005, BGBl I Nr. 100/2005 (AsylG), von Amts wegen aberkannt (Spruchpunkt I.), der BF die mit Bescheid vom 14.07.2017 erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter gemäß § 9 Absatz 4 AsylG entzogen (Spruchpunkt II.), ihr ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.), gemäß § 10 Absatz 1 Ziffer 5 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 87/2012 (BFA-VG) gegen die BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Absatz 2 Ziffer 4 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (FPG) erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Absatz 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung der BF gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig ist (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Absatz 1 bis 3 FPG beträgt die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.).
Begründend wurde zu den Spruchpunkten I. und II. im Wesentlichen ausgeführt, dass der BF subsidiärer Schutz insbesondere aufgrund der prekären Wirtschaftslage, der mangelnden Versorgungsmöglichkeit und ihrem medizinischen Behandlungsbedarf gewährt worden sei, wobei sich die Versorgungslage in Tschetschenien verbessert habe. Insbesondere im Hinblick auf ihre Erkrankung habe sich die Lage gebessert, da sie nun eine kostenlose medizinische Versorgung in der Russische Föderation in Anspruch nehmen könne und auch Medikamente für Diabetes gratis zur Verfügung stünden. Dazu wurde auch auf entsprechende Passagen in den Länderfeststellungen hingewiesen. Des Weiteren könne die BF in Tschetschenien vor allem aufgrund ihrer Berufserfahrung als Verkäuferin in XXXX und jener in Österreich als Reinigungskraft nach ihrer Rückkehr eine berufliche Tätigkeit aufnehmen und für den eigenen Lebensunterhalt sorgen. Außerdem habe sie ein familiäres Netzwerk in Tschetschenien, bestehend aus zwei Schwestern sowie ihrem Sohn, sodass nicht von einer ausweglosen Situation gesprochen werden könne und könne sie sich auch in anderen Gegenden, in denen Tschetschenen leben, niederlassen, um etwa eine medizinische Behandlung ihres Diabetes besser wahrnehmen zu können. Zur Rückkehrentscheidung wurde ausgeführt, dass eine Integration der BF in die österreichische Gesellschaft nicht ersichtlich sei, weshalb trotz ihres achtjährigen Aufenthaltes im Bundesgebiet eine Rückkehrentscheidung zulässig sei.
I.3.3. Dagegen erhob die BF am 01.08.2019 vollumfänglich Beschwerde, wobei zum einen die Mangelhaftigkeit des Verfahrens kritisiert und die Feststellung der belangten Behörde, wonach sich die Lage in der Russischen Föderation verbessert habe und es der BF nun zumutbar wäre, eine Beschäftigung zu finden und sich dort weiter medizinisch behandeln zu lassen bemängelt wurde. Dazu wurde auf Passagen aus der Anfragebeantwortung zur Russischen Föderation: „Zugang zu Versicherung für Personen, die in der Russischen Föderation nicht gearbeitet haben“ aus dem Jahr 2016 verwiesen, wonach in Russland eine Zweiklassenmedizin bestehe und Geld und Beziehungen zu einer Priorisierung im Gesundheitssystem führen würden. Außerdem könnten die zwei Schwestern der BF die BF nicht unterstützen, da sie alleinstehend seien und selbst kaum Auslangen fänden. Letztlich wurde die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidungen bestritten und darauf hingewiesen, dass sich die BF seit knapp 8 Jahren in Österreich aufhalte, eine Beschäftigung suche, sich bemühe, gut Deutsch zu lernen und eine Tochter in Österreich habe.
I.3.4. Am 07.06.2021 wurde nunmehr die BF durch das erkennende Gericht in einer öffentlichen mündlichen Verhandlung zu ihren ursprünglichen Fluchtgründen, zu subsidiären Schutz begründenden und zu integrativen Aspekten einvernommen.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
II.1.1. Die BF ist Staatsangehörige der Russischen Föderation, der tschetschenischen Volksgruppe und dem muslimischen Glauben zugehörig. Sie ist in Tschetschenien, geboren und aufgewachsen und hat dort zehn Jahre lang die Schule besucht. Danach heiratete sie den mittlerweile verstorbenen Vater ihres einzigen Sohnes.
II.1.2. Die BF gelangte gemeinsam mit ihrem Sohn am 25.08.2011 auf österreichisches Bundesgebiet und stellte am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz. Dieser Antrag wurde am 20.03.2012 in zweiter Instanz vom Asylgerichtshof abgewiesen und die BF aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation ausgewiesen. Dem von der BF am 29.01.2014 gestellten Folgeantrag auf internationalen Schutz wurde mit Bescheid des BFA vom 27.06.2014 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten aufgrund der schlechten Versorgungslage in ihrem Heimatland und der schwierigen wirtschaftlichen Situation der BF aufgrund fehlender Verwandter stattgegeben und der BF eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt, welche zuletzt am 14.07.2017 – mit einem nicht näher begründeten Bescheid - bis zum 26.06.2019 verlängert wurde.
II.1.3. Die BF leidet an keinen lebensbedrohlichen Krankheiten und ist strafgerichtlich unbescholten.
II.1.4. Die BF lebt mit ihrem Sohn in einer Wohnung in XXXX . Sie spricht Russisch, Tschetschenisch und Deutsch. Die BF absolvierte am 09.09.2013 und am 29.01.2021 ein Deutsch-Sprachzertifikat auf A2-Niveau. Die BF besuchte die Schule in Tschetschenien für zehn Jahre und arbeitete dort vor Beginn des ersten Tschetschenienkrieges als Verkäuferin und Kindergärtnerin. In Österreich ging die BF keiner (legalen) Erwerbstätigkeit nach und lebte bisher von staatlichen Unterstützungsleistungen.
II.1.5. In Österreich leben ihre Tochter, welche asylberechtigt in Österreich ist, und ihr Sohn. Die Tochter der BF hat mittlerweile fünf Kinder, auf die die BF oft aufpasst und mit deren Betreuung die BF ihre Tochter unterstützt. In der Russischen Föderation leben einige Verwandte der BF, vor allem in XXXX und Awtury, zu welchen sie Kontakt aufnehmen kann und welche sie im Falle einer Rückkehr unterstützten könnten.
II.1.6. Unter Zugrundelegung der im Folgenden dargestellten Länderberichte liegen keine stichhaltigen Gründe vor, dass die BF bei einer Rückkehr ins Herkunftsland mit hinreichender Wahrscheinlichkeit konkret Gefahr liefe, dort aktuell der Folter, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe bzw. der Todesstrafe unterworfen zu werden oder aufgrund der allgemeinen Versorgungslage in eine aussichtslose Lage (Nahrung, Unterkunft) zu geraten. Es ist der BF möglich, ihre Diabetes-Erkrankung sowie ihre anderen Beschwerden in der Russischen Föderation behandeln zu lassen.
Es ist der BF jedenfalls möglich und zumutbar, sich in der Russischen Föderation, entweder in Tschetschenien selbst oder auch in anderen Landesteilen niederzulassen und anzumelden sowie durch eigene Erwerbstätigkeit – notfalls durch Hilfstätigkeiten - ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Viele russische Städte verfügen über eine große tschetschenische Diaspora und bieten die stärkeren Metropolen und Regionen Russlands bei vorhandener Arbeitswilligkeit auch Chancen für russische Staatsangehörige aus den Kaukasusrepubliken. Die BF hat auch Zugang zu Sozialbeihilfen, Krankenversicherung und medizinischer Versorgung.
Die aktuell vorherrschende COVID-19 Pandemie bildet kein Rückkehrhindernis. Für die an Diabetes erkrankte BF besteht sowohl in Österreich, als auch in der Russischen Föderation, die - mittlerweile uneingeschränkte - Möglichkeit sich mit einer Covid-19-Schutzimpfung vor einem schweren Krankheitsverlauf zu schützen.
II.1.7. Es kann nicht festgestellt werden, dass die BF aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt in ihrem Herkunftsstaat verfolgt wird.
II.1.8. Zur Situation in der Russischen Föderation/Tschetschenien:
Länderspezifische Anmerkungen
Letzte Änderung: 18.05.2021
Hinweis:
Die Länderinformationen gehen nur eingeschränkt auf die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie sowie auf eventuelle Maßnahmen gegen diese ein - wie etwa Einstellungen des Reiseverkehrs in oder aus einem Land oder Bewegungseinschränkungen im Land. Dies betrifft insbesondere auch Auswirkungen auf die Gesundheitsversorgung, die Möglichkeiten zur Selbst-Quarantäne, die Versorgungslage, wirtschaftliche, politische und andere Folgen, die derzeit immer noch schwer einschätzbar sind. Diesbezüglich darf jedoch auf das COVID-Kapitel der Staatendokumentation zur aktuellen COVID-19-Lage hingewiesen werden.
Zur aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf folgende Websites der WHO: https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports
oder der Johns-Hopkins-Universität:
https://gisanddata.maps.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.html#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6
mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.
Da es sich bei den Nordkaukasus-Republiken (z.B. Tschetschenien, Dagestan) um Subjekte der Russischen Föderation handelt, werden diese nicht mehr in eigenständigen Länderinformationen abgehandelt, sondern in diese Länderinformation zur Russischen Föderation (RUSS COI-CMS) integriert. Wo es Unterschiede gibt, wurden Unterkapitel zu den einzelnen Subjekten bzw. in zusammenfassender Form zum Nordkaukasus geschaffen.
Zu Inguschetien werden – auch nach Absprache mit dem BVwG – keine Informationen mehr ins RUSS COI-CMS übernommen, da die Anzahl an Asylwerbern zu gering ist. Sollten Sie Informationen zu Inguschetien benötigen, ist eine konkrete Anfrage an die Staatendokumentation zu stellen.
In Bezug auf das Kaukasus-Emirat ist zu sagen, dass es momentan nicht ganz klar ist, ob es in der Praxis überhaupt noch existiert und falls ja, ob es einen neuen Anführer hat oder nicht. Dies scheint aber auch nicht das Wichtigste zu sein, da Kadyrows Kräfte und die russischen Sicherheitsbehörden jegliche dschihadistische Anhänger ins Visier nehmen und sie keinen Unterschied machen, unter welcher Flagge ein Islamist kämpft.
Covid-19-Situation
Letzte Änderung: 18.05.2021
Russland ist von Covid-19 landesweit stark betroffen. Regionale Schwerpunkte sind Moskau und St. Petersburg (AA 15.2.2021). Aktuelle und detaillierte Zahlen bietet unter anderem die Weltgesundheitsorganisation WHO (https://covid19.who.int/region/euro/country/ru). Die Regionalbehörden in der Russischen Föderation sind für Maßnahmen zur Eindämmung von Covid-19 zuständig, beispielsweise betreffend Mobilitätseinschränkungen, medizinische Versorgung und soziale Maßnahmen (RAD 15.2.2021; vgl. CHRR 12.3.2021). Die Maßnahmen der Regionen sind unterschiedlich, richten sich nach der epidemiologischen Situation in der jeweiligen Region und ändern sich laufend (WKO 9.3.2021; vgl. AA 15.2.2021). Es herrscht eine soziale Distanzierungspflicht für öffentliche Plätze und öffentliche Verkehrsmittel. Der verpflichtende Mindestabstand zwischen Personen beträgt 1,5 Meter (WKO 9.3.2021).
Die regierungseigene Covid-19-Homepage gibt Auskunft über die vom russischen Gesundheitsministerium empfohlenen Covid-19-Medikamente, nämlich Favipiravir, Hydroxychloroquin, Mefloquin, Azithromycin, Lopinavir/Ritonavir, rekombinantes Interferon-beta-1b und Interferon-alpha, Umifenovir, Tocilizumab, Sarilumab, Olokizumab, Canakinumab, Baricitinib und Tofacitinib. Der in Moskau entwickelte Covid-19-Krankenhausbehandlungsstandard umfasst folgende vier Komponenten: Antivirale Therapie, Antithrombose-Medikation, Sauerstoffmangelbehebung und Prävention/Behandlung von Komplikationen. Auf Anordnung des Arztes wird Patienten ein Pulsoxymeter ausgehändigt (Gerät zur Messung des Blutsauerstoffsättigungsgrades). Die medizinische Covid-Versorgung erfolgt für die Bevölkerung kostenlos (CHRR o.D.a).
Folgende Impfstoffe wurden in der Russischen Föderation entwickelt: Gam-COVID-Vac ('Sputnik V'), EpiVacCorona, CoviVac und Ad5-nCoV (CHRR o.D.b). Mittlerweile sind in der Russischen Föderation drei heimische Impfstoffe zugelassen (Sputnik V, EpiVacCorona und CoviVac). Groß angelegte klinische Studien gibt es bisher nicht (DS 20.2.2021; vgl. RFE/RL 21.2.2021). Impfungen erfolgen kostenlos (Mos.ru o.D.). In Moskau wurden bisher mehr als 700.000 Personen geimpft (Mos.ru 8.3.2021). Obwohl Russland als weltweit erstes Land seinen Covid-Impfstoff Sputnik V registrierte, haben die Impfungen effizient gerade erst begonnen (DS 12.2.2021). Bisher wurden in der Russischen Föderation in etwa 2,2 Millionen Personen (ca. 1,5% der Bevölkerung) geimpft bzw. erhielten zumindest eine der zwei Teilimpfungen (RFE/RL 21.2.2021).
Für die Einreise nach Russland wird grundsätzlich ein COVID-19-Testergebnis (PCR) benötigt. Russische Staatsbürger müssen bei der Grenzkontrolle keinen COVID-Test vorlegen, dieser muss jedoch spätestens drei Tage nach der Einreise nachgeholt werden. Russische Staatsbürger, die nach der Einreise ein positives Testergebnis erhalten, müssen sich in Quarantäne begeben. Die Ausreise aus Russland ist bis auf unbestimmte Zeit eingeschränkt und nur in bestimmten Ausnahmefällen möglich. Die internationalen Flugverbindungen wurden teilweise wieder aufgenommen. Direktflüge zwischen Österreich und Russland werden derzeit ein- bis zweimal wöchentlich von Austrian Airlines und Aeroflot angeboten. Russische Inlandsflüge wurden während der ganzen Pandemiezeit aufrecht erhalten (WKO 9.3.2021). Der internationale Zugverkehr – mit Ausnahme der Strecke zwischen Russland und Belarus - und der Fährverkehr sind eingestellt (AA 15.2.2021).
Staatliche Unterstützungsmaßnahmen für die russische Wirtschaft sind unterschiedlich und an viele Bedingungen gebunden. Zu den ersten staatlichen Hilfsmaßnahmen zählten Kredit-, Miet- und Steuerstundungen (ausgenommen Mehrwertsteuer), Sozialabgabenreduktion sowie Kreditgarantien und zinslose Kredite. Später kamen Steuererleichterungen sowie direkte Zuschüsse dazu. Viele der Maßnahmen sind nur für kleine und mittlere Unternehmen oder bestimmte Branchen zugänglich und haben einen zweckgebundenen Charakter (beispielsweise gebunden an Gehaltszahlungen oder Arbeitsplatzerhalt) (WKO 9.3.2021). Die Regierung bietet Exporteuren Hilfe an, die Möglichkeit eines Konkursmoratoriums, zinslose Kredite für Gehaltsauszahlungen usw. (CHRR o.D.c). Jänner bis Oktober 2020 ist die Industrieproduktion pandemiebedingt um 3,1% zurückgegangen. Besonders die Rohstoffproduktion ist um 6,6% gefallen, während die verarbeitende Industrie mit 0,3% praktisch stagnierte. Die im Jahr 2020 sehr stark fallenden Ölpreise waren unter anderem eine Auswirkung der Covid-19-Pandemie und mit einem globalen Nachfragerückgang verbunden und führten zu einer Rubelabwertung von 25%. Nach leichter Erholung verlor der Rubel unter anderem wegen der anhaltenden geringen Rohstoffnachfrage Mitte 2020 erneut an Wert und lag Anfang Dezember bei ca. 90 Rubel je Euro (WKO 12.2020). Das Realwachstum des Bruttoinlandsprodukts betrug im Jahr 2020 -3,1%. Im Vergleich dazu betrug der entsprechende Wert im Jahr 2019 2%. Die öffentliche Verschuldung betrug im Jahr 2020 17,8% des Bruttoinlandsprodukts (2019: 12,4%) (WIIW o.D.).
Moskau:
In Moskau herrscht an öffentlichen Orten eine Masken- und Handschuhpflicht. Das Tragen von Masken auf Straßen wird empfohlen. Kultur- und Bildungsveranstaltungen dürfen stattfinden, wenn maximal 50% der Zuschauerplätze belegt sind. Bürgern über 65 Jahren und chronisch Kranken wird Selbstisolierung empfohlen (CHRR 12.3.2021; vgl. WKO 9.3.2021, AA 15.2.2021). Empfohlen wird Fernarbeit für mindestens 30% der Mitarbeiter. Am Arbeitsplatz sind vorgeschriebene Hygienevorschriften (unter anderem Temperaturmessungen, Mund- und Handschutz, Desinfektionsmittel, Mindestabstand etc.) einzuhalten (WKO 9.3.2021). Gemäß dem Moskauer Bürgermeister verbessert sich die Pandemielage in Moskau. Ein Großteil der Einschränkungen wurde aufgehoben. Gastronomiebetriebe sind wieder geöffnet. Für Schüler höherer Klassen und Studierende findet nun wieder Präsenzunterricht statt (Mos.ru 7.3.2021; vgl. Mos.ru 8.3.2021, LM 8.2.2021, Russland Analysen 19.2.2021). In der Oblast [Gebiet] Moskau wurde die Mehrzahl der wegen Covid geltenden Einschränkungen zurückgenommen. Einzig Massenveranstaltungen bleiben fast ausnahmslos verboten (Russland Analysen 19.2.2021).
St. Petersburg:
Auch in St. Petersburg herrscht an öffentlichen Orten eine Masken- und Handschuhpflicht. Die für gastronomische Betriebe geltenden Beschränkungen der Öffnungszeiten wurden aufgehoben. Kulturveranstaltungen dürfen stattfinden, wenn maximal 75% der Zuschauerplätze belegt sind. Empfohlen wird Fernarbeit für mindestens 30% der Mitarbeiter. Für über 65-Jährige und chronisch Kranke sind Selbstisolierung und Fernarbeit verpflichtend (CHRR 12.3.2021; vgl. Gov.spb 5.3.2021, WKO 9.3.2021, Russland Analysen 8.2.2021).
Tschetschenien:
An öffentlichen Orten wird das Tragen von Masken empfohlen. Für über 65-Jährige und chronisch Kranke ist Selbstisolierung vorgesehen (CHRR 12.3.2021; vgl. Chechnya.gov 10.2.2021, Ria.ru 10.2.2021, KMS 10.2.2021). Bisher wurden mehr als 19.000 Personen geimpft (Chechnya.gov 26.2.2021). Mitarbeitern staatlich finanzierter Organisationen in Tschetschenien wurde mit Entlassung gedroht, sollten sie die Covid-Impfung verweigern. Bewohner in Tschetschenien berichten, ihnen seien Sanktionen angedroht worden, sollten sie sich nicht impfen lassen (CK 23.1.2021). Reisebeschränkungen wurden aufgehoben (Ria.ru 10.2.2021; vgl. Chechnya.gov 10.2.2021, KMS 10.2.2021).
Dagestan:
An öffentlichen Orten herrscht Maskenpflicht. Einstweilen dürfen keine Massenveranstaltungen stattfinden. Für über 65-Jährige und chronisch Kranke wird Selbstisolierung empfohlen (CHRR 12.3.2021). Es finden Massenimpfungen statt, und verwendet wird der Impfstoff Sputnik V (E-dag.ru 23.2.2021). Bisher wurden mehr als 18.000 Personen (2,4%) geimpft (E-dag.ru 12.3.2021).
Quellen:
? AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (15.2.2021): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise (COVID-19-bedingte Reisewarnung), https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/russischefoederation-node/russischefoederationsicherheit/201536, Zugriff 16.3.2021
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? Chechnya.gov – ????? ????????? ?????????? [Oberhaupt der Tschetschenischen Republik] [Russische Föderation] (26.2.2021): ?????? ????????????? ????????? ?????? ? ????????? ?????????? ?? ?????????????? ????? ????? ?????????? [Aufhebung der Maskenpflicht in der Tschetschenischen Republik provozierte nicht steigende Krankheitszahlen], http://chechnya.gov.ru/novosti/otmena-obyazatelnogo-masochnogo-rezhima-v-chechenskoj-respublike-ne-sprovotsirovala-rosta-chisla-zabolevshih/, Zugriff 12.3.2021
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Politische Lage
Letzte Änderung: 26.05.2021
Die Russische Föderation hat ca. 143 Millionen Einwohner (GIZ 1.2021c; vgl. CIA 5.2.2021). Russland ist eine Präsidialdemokratie mit föderativem Staatsaufbau (GIZ 1.2021a; vgl. EASO 3.2017). Der Präsident verfügt über weitreichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik (GIZ 1.2021a; vgl. EASO 3.2017, AA 21.10.2020c). Er ernennt auf Vorschlag der Staatsduma den Vorsitzenden der Regierung, die stellvertretenden Vorsitzenden und die Minister, und entlässt sie (GIZ 1.2021a). Wladimir Putin ist im März 2018 bei der Präsidentschaftswahl mit 76,7% im Amt bestätigt worden (Standard.at 19.3.2018; vgl. FH 4.3.2020). Die Wahlbeteiligung lag der russischen Nachrichtenagentur TASS zufolge bei knapp 67% und erfüllte damit nicht ganz die Erwartungen der Präsidialadministration (Standard.at 19.3.2018). Putins wohl stärkster Widersacher Alexej Nawalny durfte nicht bei der Wahl kandidieren. Er war zuvor in einem von vielen als politisch motiviert eingestuften Prozess verurteilt worden und rief daraufhin zum Boykott der Abstimmung auf, um die Wahlbeteiligung zu drücken (Presse.at 19.3.2018; vgl. FH 3.3.2021). Oppositionelle Politiker und die Wahlbeobachtergruppe Golos hatten mehr als 2.400 Verstöße gezählt, darunter mehrfach abgegebene Stimmen und die Behinderung von Wahlbeobachtern. Wähler waren demnach auch massiv unter Druck gesetzt worden, an der Wahl teilzunehmen. Auch die Wahlkommission wies auf mutmaßliche Manipulationen hin (Tagesschau.de 19.3.2018). Wahlbetrug ist weit verbreitet, was insbesondere im Nordkaukasus deutlich wird (BTI 2020). Präsident Putin kann dem Ergebnis zufolge nach vielen Jahren an der Staatsspitze weitere sechs Jahre das Land führen (Tagesschau.de 19.3.2018; vgl. OSCE/ODIHR 18.3.2018).
Die Verfassung wurde per Referendum am 12.12.1993 mit 58% der Stimmen angenommen. Sie garantiert die Menschen- und Bürgerrechte. Das Prinzip der Gewaltenteilung ist zwar in der Verfassung verankert, jedoch verfügt der Präsident über eine Machtfülle, die ihn weitgehend unabhängig regieren lässt. Er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, trägt die Verantwortung für die Innen- und Außenpolitik und kann die Gesetzesentwürfe des Parlaments blockieren. Die Regierung ist dem Präsidenten untergeordnet, der den Premierminister mit Zustimmung der Staatsduma ernennt. Das Zweikammerparlament, bestehend aus Staatsduma und Föderationsrat, ist in seinem Einfluss stark beschränkt. Am 15. Januar 2020 hat Putin in seiner jährlichen Rede zur Lage der Nation eine Neuordnung des politischen Systems vorgeschlagen und eine Reihe von Verfassungsänderungen angekündigt. Dmitri Medwedjew hat den Rücktritt seiner Regierung erklärt. Sein Nachfolger ist der Leiter der russischen Steuerbehörde Michail Mischustin. In dem neuen Kabinett sind 15 von 31 Regierungsmitgliedern ausgewechselt worden (GIZ 1.2021a). Die Verfassungsänderungen ermöglichen Wladimir Putin, für zwei weitere Amtszeiten als Präsident zu kandidieren (GIZ 1.2021a; vgl. FH 3.3.2021), dies gilt aber nicht für weitere Präsidenten (FH 3.3.2021). Die Volksabstimmung über eine umfassend geänderte Verfassung fand am 1. Juli 2020 statt, nachdem sie aufgrund der Corona-Pandemie verschoben worden war. Bei einer Wahlbeteiligung von ca. 65% der Stimmberechtigten stimmten laut russischer Wahlkommission knapp 78% für und mehr als 21% gegen die Verfassungsänderungen. Neben der sogenannten Nullsetzung der bisherigen Amtszeiten des Präsidenten, durch die der amtierende Präsident 2024 und theoretisch auch 2030 zwei weitere Male kandidieren darf, wird das staatliche Selbstverständnis der Russischen Föderation in vielen Bereichen neu definiert. Der neue Verfassungstext beinhaltet deutlich sozialere und konservativere Inhalte als die Ursprungsverfassung aus dem Jahre 1993 (GIZ 1.2021a). Nach dem Referendum kam es zu Protesten von einigen hundert Personen in Moskau. Bei dieser nicht genehmigten Demonstration wurden 140 Personen festgenommen. Auch in St. Petersburg gab es Proteste (MDR 16.7.2020).
Der Föderationsrat ist als 'obere Parlamentskammer' das Verfassungsorgan, das die Föderationssubjekte auf föderaler Ebene vertritt. Er besteht aus 178 Abgeordneten (GIZ 1.2021a): Jedes Föderationssubjekt entsendet je einen Vertreter aus Exekutive und Legislative in den Föderationsrat. Die Staatsduma mit 450 Sitzen wird für fünf Jahre gewählt (GIZ 1.2021a; vgl. AA 21.10.2021c). Es gibt eine Fünfprozentklausel (GIZ 1.2021a).
Zu den wichtigen Parteien der Russischen Föderation gehören: die Regierungspartei Einiges Russland (Jedinaja Rossija) mit 1,9 Millionen Mitgliedern; Gerechtes Russland (Sprawedliwaja Rossija) mit 400.000 Mitgliedern; die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) mit 150.000 Mitgliedern, welche die Nachfolgepartei der früheren KP ist; die Liberaldemokratische Partei (LDPR) mit 185.000 Mitgliedern, die populistisch und nationalistisch ausgerichtet ist; die Wachstumspartei (Partija Rosta), die sich zum Neoliberalismus bekennt; Jabloko, eine demokratisch-liberale Partei mit 55.000 Mitgliedern; die Patrioten Russlands (Patrioty Rossii), links-zentristisch mit 85.000 Mitgliedern und die Partei der Volksfreiheit (PARNAS), eine demokratisch-liberale Partei mit 58.000 Mitgliedern (GIZ 1.2021a). Die Zusammensetzung der Staatsduma nach Parteimitgliedschaft gliedert sich wie folgt: Einiges Russland (343 Sitze), Kommunistische Partei Russlands (42 Sitze), Liberaldemokratische Partei Russlands (39 Sitze), Gerechtes Russland (23 Sitze), Vaterland-Partei (1 Sitz), Bürgerplattform (1 Sitz) (RIA Nowosti 23.9.2016; vgl. Global Security 21.9.2016, FH 3.3.2021). Die sogenannte Systemopposition stellt die etablierten Machtverhältnisse nicht in Frage und übt nur moderate Kritik am Kreml (SWP 11.2018). Die nächste Duma-Wahl steht im Herbst 2021 an (Standard.at 1.1.2021).
Russland ist eine Föderation, die aus 85 Föderationssubjekten (einschließlich der international nicht anerkannten Annexion der Republik Krim und der Stadt föderalen Ranges Sewastopol) mit unterschiedlichem Autonomiegrad besteht. Die Föderationssubjekte (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Gebiete, Regionen und Föderale Städte) verfügen über jeweils eine eigene Legislative und Exekutive (GIZ 1.2021a; vgl. AA 21.10.2020c). Die Gouverneure der Föderationssubjekte werden auf Vorschlag der jeweils stärksten Fraktion der regionalen Parlamente vom Staatspräsidenten ernannt. Dabei wählt der Präsident aus einer Liste dreier vorgeschlagener Kandidaten den Gouverneur aus (GIZ 1.2021a).
Es gibt acht Föderationskreise (Nordwestrussland, Zentralrussland, Südrussland, Nordkaukasus, Wolga, Ural, Sibirien, Ferner Osten), denen jeweils ein Bevollmächtigter des Präsidenten vorsteht. Der Staatsrat der Gouverneure tagt unter Leitung des Präsidenten und gibt der Exekutive Empfehlungen zu aktuellen politischen Fragen und zu Gesetzesprojekten. Nach der Eingliederung der Republik Krim und der Stadt Sewastopol in die Russische Föderation wurde am 21.3.2014 der neunte Föderationskreis Krim gegründet. Die konsequente Rezentralisierung der Staatsverwaltung führt seit 2000 zu politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit der Regionen vom Zentrum. Diese Tendenzen wurden bei der Abschaffung der Direktwahl der Gouverneure in den Regionen und der erneuten Unterordnung der regionalen und kommunalen Machtorgane unter das föderale Zentrum („exekutive Machtvertikale“) deutlich (GIZ 1.2021a).
Bei den in einigen Regionen stattgefundenen Regionalwahlen am 8.9.2019 hat die Regierungspartei Einiges Russland laut Angaben der Wahlleitung in den meisten Regionen ihre Mehrheit verteidigt. Im umkämpften Moskauer Stadtrat verlor sie allerdings viele Mandate (Zeit Online 9.9.2019). Hier stellt die Partei nur noch 25 von 45 Vertretern, zuvor waren es 38. Die Kommunisten, die bisher fünf Stadträte stellten, bekommen 13 Sitze. Die liberale Jabloko-Partei bekommt vier und die linksgerichtete Partei Gerechtes Russland drei Sitze (ORF 18.9.2019). Die beiden letzten Parteien waren bisher nicht im Moskauer Stadtrat vertreten. Zuvor sind zahlreiche Oppositionskandidaten von der Wahl ausgeschlossen worden, was zu den größten Protesten seit Jahren geführt hat (Zeit Online 9.9.2019), bei denen mehr als 1.000 Demonstranten festgenommen wurden (Kleine Zeitung 28.7.2019). Viele von den Oppositionskandidaten haben zu einer 'smarten Abstimmung' aufgerufen. Die Bürgersollten Jeden wählen – nur nicht die Kandidaten der Regierungspartei. Bei den für die russische Regierung besonders wichtigen Gouverneurswahlen gewannen die Kandidaten der Regierungspartei überall (Zeit Online 9.9.2019).
Neben den bis Juli 2021 verlängerten wirtschaftlichen Sanktionen wegen des andauernden Ukraine-Konfliktes (Presse.com 10.12.2020) haben sich die EU-Außenminister wegen der Inhaftierung des Kremlkritikers Alexej Nawalny auf neue Russland-Sanktionen geeinigt. Die Strafmaßnahmen umfassen Vermögenssperren und EU-Einreiseverbote gegen Verantwortliche für die Inhaftierung Nawalnys (Cicero 22.2.2021).
Quellen:
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Tschetschenien
Letzte Änderung: 26.05.2021
Die Einwohnerzahl Tschetscheniens liegt bei ca. 1,5 Millionen. Laut Aussagen des Republikoberhauptes Ramsan Kadyrow sollen rund 600.000 Tschetschenen außerhalb der Region leben – die Hälfte davon in der Russischen Föderation, die andere Hälfte im Ausland. Experten zufolge hat ein Teil von ihnenTschetschenien während der Kriege nach dem Zerfall der Sowjetunion verlassen, beim anderen Teil handelt es sich um Siedlungsgebiete außerhalb Tschetscheniens. Diese entstanden bereits vor über einem Jahrhundert, teilweise durch Migration aus dem Russischen in das Osmanische Reich, und zwar über Anatolien bis in den arabischen Raum. Was die Anzahl von Tschetschenen in anderen russischen Landesteilen anbelangt, so ist es aufgrund der öffentlichen Datenlage schwierig, verlässliche Aussagen zu treffen (ÖB Moskau 6.2020).
In Tschetschenien gilt Ramsan Kadyrow als Garant Moskaus für Stabilität. Mit Duldung der russischen Staatsführung hat er in der Republik ein autoritäres Herrschaftssystem geschaffen, das vollkommen auf seine eigene Person ausgerichtet ist und weitgehend außerhalb des föderalen Rechtsrahmens funktioniert (ÖB Moskau 6.2020; vgl. AA 2.2.2021, FH 3.3.2021). Fraglich bleibt auch die föderale Kontrolle über die tschetschenischen Sicherheitskräfte, deren faktische Loyalität vorrangig dem Oberhaupt der Republik gilt. Ramsan Kadyrow wurde bei den Wahlen vom 18. September 2016 laut offiziellen Angaben bei hoher Wahlbeteiligung mit überwältigender Mehrheit für eine weitere Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Unabhängige Medien berichteten über Unregelmäßigkeiten bei den Wahlen, in deren Vorfeld Human Rights Watch über massive Druckausübung auf Kritiker des derzeitigen Machthabers berichtet hatte. Das tschetschenische Oberhaupt bekundet immer wieder seine absolute Loyalität gegenüber dem Kreml (ÖB Moskau 6.2020). In Tschetschenien regiert Kadyrow unangefochten autoritär. Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen politische Gegner, wird rigoros vorgegangen (ÖB Moskau 6.2020; vgl. AA 2.2.2021). Um die Kontrolle über die Republik zu behalten, wendet Kadyrow unterschiedliche Formen von Gewalt an, wie z.B. Entführungen, Folter und außergerichtliche Tötungen (FH 3.3.2021; vgl. AA 2.2.2021). Dies kann manchmal auch außerhalb Russlands stattfinden. Kadyrow wird verdächtigt, die Ermordung von unliebsamen Personen, die ins Ausland geflohen sind, angeordnet zu haben (FH 3.3.2021).
Während der mittlerweile über zehn Jahre andauernden Herrschaft des amtierenden Republikführers Ramsan Kadyrow gestaltete sich Tschetscheniens Verhältnis zur Russischen Föderation ambivalent. Einerseits ist Kadyrow bemüht, die Zugehörigkeit der Republik zu Russland mit Nachdruck zu bekunden, tschetschenischen Nationalismus mit russischem Patriotismus zu verbinden, Russlands Präsidenten in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny als Staatsikone auszustellen und sich als „Fußsoldat Putins“ zu präsentieren. Andererseits hat er das Föderationssubjekt Tschetschenien so weit in einen Privatstaat verwandelt, dass in der Umgebung des russischen Präsidenten die Frage gestellt wird, inwieweit sich die von Wladimir Putin ausgebaute 'föderale Machtvertikale' dorthin erstreckt. Zu Kadyrows Eigenmächtigkeit gehört auch eine Außenpolitik, die sich vor allem an den Mittleren Osten und die gesamte islamische Welt richtet. Kein anderer regionaler Führer beansprucht eine vergleichbare, über sein eigenes Verwaltungsgebiet und die Grenzen Russlands hinausreichende Rolle. Kadyrow inszeniert Tschetschenien als Anwalt eines russischen Vielvölker-Zusammenhalts, ist aber längst zum 'inneren Ausland' Russlands geworden. Deutlichster Ausdruck dieser Entwicklung ist ein eigener Rechtszustand, in dem islamische und gewohnheitsrechtliche Regelungssysteme sowie die Willkür des Republikführers in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands geraten (SWP 3.2018).
Ein Abkommen von September 2018 über die Abtretung von umstrittenem Territorium von Inguschetien an Tschetschenien hatte politische Unruhen in Inguschetien zur Folge (ÖB Moskau 12.2019). Der Konflikt um die Grenzziehung flammt immer wieder auf. Im März 2019 wurden Proteste in Inguschetien gewaltsam aufgelöst, wobei manche Teilnehmer körperlich gegen die Polizei Widerstand leisteten. 33 Personen wurden festgenommen (HRW 14.1.2020). Die Proteste hatten außerdem den Rücktritt des inguschetischen Präsidenten Junus-bek Jewkurow im Juni 2019 zur Folge (ÖB Moskau 12.2019). Jewkurows Nachfolger ist Machmud-Ali Kalimatow (NZZ 29.6.2019).
Quellen:
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? NZZ – Neue Zürcher Zeitung (29.6.2019): Die Nordkaukasus-Republik Inguschetien ist innerlich zerrissen, https://www.nzz.ch/international/nordkaukasus-inguschetien-nach-protesten-innerlich-zerrissen-ld.1492435?reduced=true, Zugriff 11.3.2020
? ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025975/RUSS_%C3%96B_Bericht_2019_12.pdf, Zugriff 10.3.2020
? ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2020): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2046141/RUSS_%C3%96B_Bericht_2020_06.pdf, Zugriff 17.2.2021
? SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (3.2018): Tschetscheniens Stellung in der Russischen Föderation. Ramsan Kadyrows Privatstaat und Wladimir Putins föderale Machtvertikale, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2018S01_hlb.pdf, Zugriff 10.3.2020
Sicherheitslage
Letzte Änderung: 26.05.2021
Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen (AA 7.4.2021a; vgl. GIZ 1.2021d, EDA 7.4.2021). Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 7.4.2021a; vgl. EDA 7.4.2021). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden