TE Bvwg Erkenntnis 2021/8/19 W129 2210679-2

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Veröffentlicht am 19.08.2021
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Entscheidungsdatum

19.08.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z4
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §7 Abs1 Z2
AsylG 2005 §7 Abs4
AsylG 2005 §8 Abs1 Z2
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z3
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs3 Z1
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W129 2210679-2/29E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter DDr. Markus GERHOLD über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA Russische Föderation, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 12.08.2019, 740198702/171360754, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung, zu Recht:

A)

I. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt VII. des angefochtenen Bescheides wird mit der Maßgabe stattgegeben, dass die Dauer des Einreiseverbots gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 und Z 6 FPG auf 6 (sechs) Jahre herabgesetzt wird.

II. Im Übrigen wird die Beschwerde als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger der Russischen Föderation und Angehörigen der tschetschenischen Volksgruppe, stellte am 06.02.2004 einen Asylantrag. Mit rechtskräftigem Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenates vom 30.11.2006 wurde der Berufung gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 29.12.2004 stattgegeben und dem Beschwerdeführer gemäß § 11 Abs. 1 AsylG durch Erstreckung - in Hinblick auf das Verfahren des Vaters des Beschwerdeführers - in Österreich Asyl gewährt und gemäß § 12 AsylG 1997 festgestellt, dass diesem damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

2. Der Beschwerdeführer wurde in der Folge mehrfach straffällig (vgl. dazu die Feststellungen).

Am 24.07.2019 erfolgte eine Einvernahme des Beschwerdeführers beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl. In dieser Einvernahme gab er im Wesentlichen zusammengefasst und sinngemäß an, dass sein Vater angeblich vor zwei Jahren in Syrien getötet worden sei; dieser sei bereits 2013 nach Syrien gefahren. Zu seinen Rückkehrbefürchtungen führte er aus, dass Kadyrovs Leute bei seinen Verwandten in Tschetschenien erschienen seien und unter anderem ein Foto des Beschwerdeführers sowie seines Bruders vorgezeigt hätten. Sie hätten gefragt, ob sie in Syrien oder Österreich seien. Sie hätten wissen wollen, was sie machen würden. Auch vom FSB seien Leute bei Verwandten erschienen. Der Beschwerdeführer denke, dass er bei einer Rückkehr Probleme wegen seines Vaters hätte. Zudem kenne er dort niemanden. Im Übrigen habe sein Vater im ersten und zweiten Krieg gekämpft. Weiters führte er aus, dass wenn in der Familie einer gegen Kadyrov sei, dann bedeute das eine Verfolgung für die gesamte Familie.

3. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid wurde dem Beschwerdeführer in Spruchpunkt I. der ihm mit Bescheid vom 30.11.2006 zuerkannte Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 aberkannt. Gemäß § 7 Abs. 4 AsylG wurde festgestellt, dass diesem die Flüchtlingseigenschaft nicht mehr zukomme. In Spruchpunkt II. wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 8 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt, weiters wurde ihm in Spruchpunkt III. ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt. Darüber hinaus wurde gegen den Beschwerdeführer gemäß § 10 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 3 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung in die Russische Föderation gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). In Spruchpunkt VI. wurde ausgesprochen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage. Zudem wurde gemäß § 53 Abs. 3 Z 1 FPG ein auf die Dauer von acht Jahren befristetes Einreiseverbot gegen den Beschwerdeführer erlassen (Spruchpunkt VII.).

4. Dagegen erhob der Beschwerdeführer rechtzeitig Beschwerde, in der er im Wesentlichen und sinngemäß ausführte, dass ihm zu Unrecht sein Status als Asylberechtigter aberkannt worden sei. Die Leute Kadyrovs würden den Vater und den Bruder des Beschwerdeführers sowie ihn suchen. Dies stehe in Zusammenhang damit, dass der Vater des Beschwerdeführers in Syrien gewesen sei. Die Verwandten in Tschetschenen seien bereits aufgesucht worden und sei nach dem Beschwerdeführer und dessen Bruder gefragt worden. Weiters wurde ausgeführt, dass vor Kurzem ein namentlich genannter Onkel des Beschwerdeführers sowie dessen ebenso namentlich genannten Söhne von Kadyrovs Truppen verschleppt worden seien. Es kursiere das Gerücht, dass der Beschwerdeführer und dessen Bruder in das Herkunftsland zurückgekehrt seien. Dem Onkel und den Cousins sei unterstellt worden, die beiden versteckt zu halten. Der Beschwerdeführer werde verdächtigt, terroristische Taten begangen zu haben, was jedoch nicht zutreffe. Zudem sei die Rückkehrentscheidung mit einem unverhältnismäßigen und unzulässigen Eingriff in das Privat- und Familienleben des Beschwerdeführers verbunden. Im Übrigen würden keine ausreichenden Gründe für die Erlassung eines Einreiseverbotes vorliegen.

5. Mit Schreiben vom 02.09.2019 legte die belangte Behörde die Beschwerde sowie die bezughabenden Akten dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vor, wo das Konvolut am 04.09.2019 einlangte.

6. Am 18.02.2021 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht der erste Verhandlungstermin der mündlichen Beschwerdeverhandlung statt, welche am 23.03.2021 fortgesetzt wurde.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Der volljährige Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation, welcher der tschetschenischen Volksgruppe angehört und sich zum moslemischen Glauben bekennt. Er stellte am 06.02.2004 einen Asylantrag. Mit rechtskräftigem Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenates vom 30.11.2006 wurde der Berufung gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 29.12.2004 stattgegeben und dem Beschwerdeführer gemäß § 11 Abs. 1 AsylG durch Erstreckung - in Hinblick auf das Verfahren des Vaters des Beschwerdeführers - in Österreich Asyl gewährt und gemäß § 12 AsylG 1997 festgestellt, dass diesem damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Mit Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenats vom selben Tag, Zl. 256.722/3-XIX/61/06, wurde dem Asylantrag des Vaters des Beschwerdeführers gemäß § 7 AsylG 1997 stattgegeben und festgestellt, dass dem Genannten gemäß § 12 AsylG kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme. Dies wurde im Wesentlichen damit begründet, dass er von den russischen Behörden während des Tschetschenienkrieges als Mitglied des Widerstandes angesehen worden sei.

Der Status der Asylberechtigten wurde dem Vater des Beschwerdeführers mit rechtskräftigem Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 13.08.2020, W182 1256772-2, aberkannt.

1.2. Der Beschwerdeführer und der Vater des Beschwerdeführers sind aufgrund des Umstandes, dass der Vater des Beschwerdeführers damals von den russischen Behörden während des Tschetschenienkrieges als Mitglied des Widerstandes angesehen wurde, keiner Verfolgung durch die Behörden in der Russischen Föderation ausgesetzt.

Auch darüber hinaus ist der Beschwerdeführer in der Russischen Föderation einer Verfolgung nicht ausgesetzt und droht eine solche nicht aktuell. Der Beschwerdeführer ist im Falle einer Rückkehr in der Russischen Föderation nicht aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Ansichten von staatlicher Seite oder von Seiten Dritter bedroht.

1.3. Der Beschwerdeführer wäre auch nicht im Fall seiner Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in die Russische Föderation in seinem Recht auf Leben gefährdet, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen oder von der Todesstrafe bedroht. Der Beschwerdeführer liefe dort nicht Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Der Beschwerdeführer, der in Tschetschenien geboren ist und dort gelebt hat, spricht die Landessprache (Tschetschenisch und Russisch) und verfügt über Angehörige im Herkunftsstaat. Der Beschwerdeführer leidet an keinen schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen Erkrankungen. Der Beschwerdeführer ist dazu in der Lage, seinen Lebensunterhalt im Herkunftsstaat durch die Teilnahme am Erwerbsleben eigenständig zu bestreiten. Der Beschwerdeführer hat im Herkunftsstaat etwa drei Jahre die Schule besucht. Als russischem Staatsbürger steht ihm ein Rückgriff auf Leistungen des dortigen Sozialhilfesystems offen.

1.4. Der Beschwerdeführer weist folgende rechtskräftige Verurteilungen auf:
01) LG XXXX vom 31.05.2016 RK 31.05.2016

§28a (1)5.Fall SMG

Datum der (letzten) Tat 30.04.2015

Freiheitsstrafe 15 Monate, bedingt, Probezeit 3 Jahre

zu LG XXXX RK 31.05.2016

Probezeit verlängert auf insgesamt 5 Jahre

LG XXXX vom 24.04.2018

02) LG XXXX vom 24.04.2018 RK 12.06.2018

§83(1)StGB

§50(1)Z2WaffG

§288(1)StGB

§15StGB§105(1)StGB

Datum der (letzten) Tat 18.12.2017

Freiheitsstrafe 15 Monate, davon Freiheitsstrafe 10 Monate, bedingt, Probezeit 3 Jahre

zu LG XXXX RK 12.06.2018

Unbedingter Teil der Freiheitsstrafe vollzogen am 15.12.2019

LG XXXX vom 17.12.2019

03) LG XXXX vom 20.05.2020 RK 20.01 .2021

§§ 278b (2), 278 (3) 3. Fall StGB

§ 278a StGB

Datum der (letzten) Tat 01.08.2013

Freiheitsstrafe 2 Jahre 6 Monate Zusatzstrafe gemäß §§ 31 und 40 STGB unter Bedachtnahme auf LG XXXX RK 31.05.2016

1.5. Der Beschwerdeführer ist geschieden und hat vier Kinder, die in Österreich leben und im Bundesgebiet die Schule und den Kindergarten besuchen. In Österreich leben zudem seine Mutter, Geschwister, eine Tante, zwei Onkel und ein Cousin. In Deutschland leben eine Schwester und ein Bruder. Seine Kinder sind in Österreich asylberechtigt; weitere nahe Angehörige, wie etwa die Mutter, sind zum Aufenthalt im Bundesgebiet berechtigt. Er lebt nicht in einer Lebensgemeinschaft und befindet sich derzeit in Haft.

Bereits vor der Haft hat der Beschwerdeführer alleine gelebt, brachte jedoch seine Kinder in den Kindergarten oder in die Schule. Er hat vor seiner Haft Unterhalt für die Kinder gezahlt. Der Beschwerdeführer hat sich in Österreich einen Freundes- und Bekanntenkreis aufgebaut. Er war in der Vergangenheit berufstätig, nahm jedoch auch Sozialleistungen in Anspruch. Der Beschwerdeführer war von 2010 bis 2017 Mitglied des XXXX . Für seine Tätigkeit als Boxer hat er ein Taschengeld und Prämien bekommen. Er hat als Trainer mit Kindern und Jugendlichen gearbeitet. Der Beschwerdeführer hat zwar die Schule besucht, diese jedoch nicht abgeschlossen. Der Beschwerdeführer hat Kurse absolviert. Der Beschwerdeführer weist gute Deutschkenntnisse auf. Er verfügt über eine Einstellungszusage für eine Vollzeittätigkeit als Mitarbeiter an der Kassa, mit einem in Aussicht gestellten monatlich Nettobezug von 1.240 EUR.

Beim Beschwerdeführer ist derzeit keine jihadistische oder salafistische Ideologie greifbar.

1.6. zum Herkunftsstaat wird Folgendes festgestellt:

Sicherheitslage

Letzte Änderung: 09.04.2020

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben,

kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen (AA

19.3.2020a, vgl. BMeiA 19.3.2020, GIZ 2.2020d, EDA 19.3.2020). Die russischen Behörden halten

ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA

19.3.2020a, vgl. BMeiA 19.3.2020, EDA 19.3.2020). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen

kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden

weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche

Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge,

Flughäfen etc.) (EDA 19.3.2020).

Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit

seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr

2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die

Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien

hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Die gewaltsamen Zwischenfälle am Südrand

der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch

im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich

diese Entwicklung wider. Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte

der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung

für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem ägyptischen Sinai mit 224

Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und

Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur

von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken

soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP

4.2017).

Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich

Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sog. IS kämpfen, wird auf

einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).

Quellen:

• AA – Auswärtiges Amt (19.3.2020a): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise,

https://www.auswaertiges-amt.de/de/russischefoederationsicherheit/201536#content_0, Zugriff

19.3.2020

• BMeiA (19.3.2020): Reiseinformation Russische Föderation, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/

reiseinformation/land/russische-foederation/, Zugriff 19.3.2020

• Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden, https://www.deutschlandfunk.

de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russische-methoden.724.de.html?dram:article_id=389824,

Zugriff 19.3.2020

• EDA – Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (19.3.2020): Reisehinweise

für Russland, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/russland/

reisehinweise-fuerrussland.html, Zugriff 19.3.2020

• GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (2.2020d): Russland, Alltag,

https://www.liportal.de/russland/alltag/#c18170, Zugriff 19.3.2020

• SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des

globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_-

hlb.pdf, Zugriff 19.3.2020

Nordkaukasus

Letzte Änderung: 09.04.2020

Die Menschenrechtsorganisation Memorial beschreibt in ihrem Bericht über den Nordkaukasus

vom Sommer 2016 eindrücklich, dass die Sicherheitslage für gewöhnliche Bürger zwar stabil

ist, Aufständische einerseits und Kritiker der bestehenden Systeme sowie Meinungs- und Menschenrechtsaktivisten

andererseits weiterhin repressiven Maßnahmen und Gewalt bis hin zum

Tod ausgesetzt sind (AA 13.2.2019). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die

Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff „low level insurgency“ umschrieben (SWP 4.2017).

Das Kaukasus-Emirat, das seit 2007 den islamistischen Untergrundkampf im Nordkaukasus

koordiniert, ist seit Ende 2014 durch das Überlaufen einiger Feldkommandeure zum sog. IS

von Spaltungstendenzen erschüttert und geschwächt (SWP 10.2015, vgl. ÖB Moskau 12.2019).

Der IS verstärkte 2015 seine russischsprachige Propaganda in Internet-Foren wie Furat Media,

ohne dass die Behörden laut Nowaja Gazeta diesem Treiben große Aufmerksamkeit widmeten.

Am 23. Juni 2015 rief der IS-Sprecher Muhammad al-Adnani ein „Wilajat Kavkaz“, eine

„Provinz Kaukasus“, als Teil des IS-Kalifats aus. Es war ein propagandistischer Akt, der nicht

bedeutet, dass der IS in dieser Region militärisch präsent ist oder sie gar kontrolliert, der aber

den zunehmenden Einfluss dieser Terrormiliz auf die islamistische Szene im Nordkaukasus

symbolisiert. Zuvor hatten mehr und mehr ideologische und militärische Führer des Kaukasus-

Emirats dem „Kalifen“ Abu Bakr al-Baghdadi die Treue geschworen und sich von al-Qaida

abgewandt. Damit bestätigte sich im islamistischen Untergrund im Nordkaukasus ein Trend,

dem zuvor schon Dschihad-Netzwerke in Nordafrika, Jemen, Pakistan und Afghanistan gefolgt

waren (SWP 10.2015).

Ein Risikomoment für die Stabilität in der Region ist die Verbreitung des radikalen Islamismus.

Innerhalb der extremistischen Gruppierungen verschoben sich etwa ab 2014 die Sympathien zur

regionalen Zweigstelle des sog. IS, die mittlerweile das Kaukasus-Emirat praktisch vollständig

verdrängt haben soll. Dabei sorgt nicht nur Propaganda und Rekrutierung des IS im Nordkaukasus

für Besorgnis der Sicherheitskräfte. So wurden Mitte Dezember 2017 im Nordkaukasus

mehrere Kämpfer getötet, die laut Angaben des Anti-Terrorismuskomitees dem IS zuzurechnen

waren. Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer

Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak, haben dazu geführt, dass die Gewalt im

Nordkaukasus in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist (ÖB Moskau 12.2019).

2018 erzielten die Strafverfolgungsbehörden maßgebliche Erfolge, die Anzahl terroristisch motivierter

Verbrechen wurde mehr als halbiert. Sechs Terroranschläge wurden verhindert und

insgesamt 50 Terroristen getötet. In der ersten Hälfte des Jahres 2019 nahm die Anzahl bewaffneter

Vorfälle im Vergleich zum Vorjahr weiter ab. Der größte Anteil an Gewalt im Nordkaukasus

entfällt weiterhin auf Dagestan und Tschetschenien (ÖB Moskau 12.2019).

Im Jahr 2018 sank die Gesamtzahl der Opfer des bewaffneten Konflikts im Nordkaukasus

gegenüber 2017 um 38,3%, und zwar von 175 auf 108 Personen. Von allen Regionen des

Föderationskreis Nordkaukasus hatte Dagestan die größte Zahl der Toten und Verwundeten zu

verzeichnen; Tschetschenien belegte den zweiten Platz (Caucasian Knot 30.8.2019).

Im Jahr 2019 liegt die Gesamtopferzahl des Konfliktes im Nordkaukasus [Anm.: durch Addieren

aller Quartalsberichte von Caucasian Knot] bei 44 Personen, davon wurden 31 getötet (Caucasian

Knot 9.9.2019, Caucasian Knot 14.9.2019, Caucasian Knot 18.12.2019, Caucasian Knot

11.3.2020).

Quellen:

• AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der

Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-

amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederationstand-

dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 19.3.2020

• Caucasian Knot (30.8.2019): In 2018, the count of conflict victims in Northern Caucasus dropped by

38%, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/reduction_number_victims_2018/, Zugriff 19.3.2020

• Caucasian Knot (9.9.2019): 21 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus in Q1 of

2019, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48385/, Zugriff 19.3.2020

• Caucasian Knot (14.9.2019): In Quarter 2 of 2019, 10 people fell victim to armed conflict in Northern

Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48465/, Zugriff 19.3.2020

14

• Caucasian Knot (18.12.2019): In 3rd quarter of 2019, seven persons fell victim to armed conflict in

Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/49431/, Zugriff 19.3.2020

• Caucasian Knot (11.3.2020): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 4

of 2019 under the data of Caucasian Knot, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/50267/, Zugriff

19.3.2020

• ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/

2025975/RUSS_%C3%96B_Bericht_2019_12.pdf, Zugriff 19.3.2020

• SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (10.2015): Reaktionen auf den »Islamischen Staat«

(ISIS) in Russland und Nachbarländern, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/

2015A85_hlb.pdf, Zugriff 19.3.2020

• SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des

globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_-

hlb.pdf, Zugriff 19.3.2020

Tschetschenien

Letzte Änderung: 09.04.2020

Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in

der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind

dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpfen Tschetschenen in zunehmender

Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat – etwa in der Ostukraine sowohl

auf Seiten pro-russischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite, sowie in

Syrien und im Irak (SWP 4.2015). In Tschetschenien konnte der Kriegszustand überwunden

und ein Wiederaufbau eingeleitet werden. In einem Prozess der „Tschetschenisierung“ wurde

die Aufstandsbekämpfung im zweiten Tschetschenienkrieg an lokale Sicherheitskräfte delegiert,

die sogenannten Kadyrowzy. Diese auf den ersten Blick erfolgreiche Strategie steht aber kaum

für nachhaltige Befriedung (SWP 4.2017).

Im Jahr 2018 wurden in Tschetschenien mindestens 35 Menschen Opfer des bewaffneten Konflikts,

von denen mindestens 26 getötet und neun weitere verletzt wurden. Unter den Opfern

befanden sich drei Zivilisten (zwei getötet, einer verletzt), elf Exekutivkräfte (drei getötet, acht

verletzt) und 21 Aufständische (alle getötet). Im Vergleich zu 2017, als es 75 Opfer gab, sank die

Gesamtopferzahl 2018 um 53,3% (Caucasian Knot 30.8.2019). 2019 wurden in Tschetschenien

im Rahmen des bewaffneten Konflikts sechs Personen getötet und fünf verletzt [Anm.: durch

Addieren aller Quartalsberichte von Caucasian Knot] (Caucasian Knot 9.9.2019, Caucasian

Knot 14.9.2019, Caucasian Knot 18.12.2019, Caucasian Knot 11.3.2020).

Quellen:

• Caucasian Knot (30.8.2019): In 2018, the count of conflict victims in Northern Caucasus dropped by

38%, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/reduction_number_victims_2018/, Zugriff 19.3.2020

• Caucasian Knot (9.9.2019): 21 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus in Q1 of

2019, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48385/, Zugriff 19.3.2020

• Caucasian Knot (14.9.2019): In Quarter 2 of 2019, 10 people fell victim to armed conflict in Northern

Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48465/, Zugriff 19.3.2020

• Caucasian Knot (18.12.2019): In 3rd quarter of 2019, seven persons fell victim to armed conflict in

Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/49431/, Zugriff 19.3.2020

• Caucasian Knot (11.3.2020): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 4

of 2019 under the data of Caucasian Knot, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/50267/, Zugriff

19.3.2020

• SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan: Russlands schwierigste Teilrepublik,

http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff

19.3.2020

• SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des

globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_-

hlb.pdf, Zugriff 19.3.2020

Dagestan

Letzte Änderung: 09.04.2020

Die Sicherheitslage in Dagestan ist zwar angespannt, hat sich in jüngerer Zeit aber verbessert

(AA 13.2.2019). Gründe für den Rückgang der Gewalt sind die konsequente Politik der

Repression radikaler Elemente und das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die

Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete nach Syrien und in den Irak (ÖB

Moskau 12.2019).

Die russische Teilrepublik Dagestan im Nordkaukasus gilt seit einigen Jahren als Brutstätte von

Terrorismus. Mehr als 1.000 Kämpfer aus dem Land sollen sich dem sog. Islamischen Staat in

Syrien und im Irak angeschlossen haben. Terroristen aus Dagestan sind auch in anderen Teilen

Russlands und im Ausland aktiv. Viele Radikale aus Dagestan sind außerdem in den Nahen Osten

ausgereist. In den Jahren 2013 und 2014 brachen ganze salafistische Familien dorthin auf.

Die russischen Behörden halfen den Radikalen damals sogar bei der Ausreise. Vor den Olympischen

Spielen in Sotschi wollte Russland möglichst viele Gefährder loswerden (Deutschlandfunk

28.6.2017). Den russischen Sicherheitskräften werden schwere Menschenrechtsverletzungen

bei der Durchführung der Anti-Terror-Operationen in Dagestan vorgeworfen. Das teils brutale

Vorgehen der Sicherheitsdienste, gekoppelt mit der noch immer instabilen sozialwirtschaftlichen

Lage in Dagestan, schafft wiederum weiteren Nährboden für die Radikalisierung innerhalb der

dortigen Bevölkerung. So werden von den Sicherheitskräften mitunter auch Imame verhaftet,

die dem Salafismus anhängen sollen. Aus der Perspektive der Sicherheitsdienste sollen ihre

Moscheen als Rekrutierungsstätten für IS-Anhänger dienen, für einen Teil der muslimischen

Bevölkerung stellen diese Maßnahmen jedoch ungebührliche Schikanen dar. Es kommt nach

wie vor zu Zusammenstößen zwischen den Sicherheitskräften und Extremisten. Die Extremisten

gehörten zunächst zum 2007 gegründeten sogenannten Kaukasus-Emirat, bekundeten jedoch

vermehrt ihre Loyalität gegenüber dem sog. IS. Auch operativ ist der sog. IS im Nordkaukasus

in Erscheinung getreten. Einige Angriffe auf Polizisten bzw. Polizeieinrichtungen wurden unter

dem Deckmantel des sog. IS ausgeführt; im Dezember 2015 bekannte sich der sog. IS zu einem

Anschlag auf eine historische Festung in Derbent. Inwieweit der sog. IS nach der territorialen

Niederlage im Nahen Osten entsprechende Ressourcen verschieben wird, um im Nordkaukasus

weitere terroristische Umtriebe zu entfalten oder die regionale Zweigstelle weiterhin zu

Propagandazwecken nutzen wird, um seinen globalen Einfluss zu unterstreichen, wird von den

russischen Sicherheitskräften genau verfolgt (ÖB Moskau 12.2019).

Im Jahr 2018 gab es mindestens 49 Opfer des bewaffneten Konflikts in Dagestan, davon wurden

36 Personen getötet und 13 verletzt. Die meisten getöteten Personen sind, wie 2017, unter den

Aufständischen zu finden, nämlich 27. Von den Exekutivkräften wurden drei getötet und elf

verletzt. Sechs Zivilisten wurden getötet und zwei verletzt. Im Vergleich zu 2017, als es 55 Opfer

gab, sank die Gesamtopferzahl um 10,9% (Caucasian Knot 30.8.2019).

2019 wurden in Dagestan neun Personen getötet [Anm.: durch Addieren aller Quartalsberichte

von Caucasian Knot] (Caucasian Knot 9.9.2019, Caucasian Knot 14.9.2019, Caucasian Knot

18.12.2019, Caucasian Knot 11.3.2020). Diese neun Personen wurden alle im ersten Halbjahr

2019 getötet (Caucasian Knot 30.8.2019).

Laut dem Leiter des dagestanischen Innenministeriums gab es bei der Bekämpfung des Aufstands

in Dagestan einen Durchbruch. Die Aktivitäten der Gruppen, die in der Republik aktiv

waren, sind seinen Angaben zufolge praktisch komplett unterbunden worden. Nach acht Mitgliedern

des Untergrunds, die sich Berichten zufolge im Ausland verstecken, wird gefahndet.

Trotzdem besteht laut Analysten und Journalisten weiterhin die Möglichkeit von Anschlägen

durch einzelne Täter (ACCORD 19.6.2019).

Quellen:

• AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der

Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-

amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederationstand-

dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 10.3.2020

• ACCORD – Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation

(19.6.2019): Themendossier Sicherheitslage in Dagestan, Zeitachse von Angriffen, https://

www.ecoi.net/de/laender/russische-foederation/themendossiers/sicherheitslage-in-dagestanzeitachse-

von-angriffen/#Toc489358424, Zugriff 19.3.2020

• Caucasian Knot (30.8.2019): In 2018, the count of conflict victims in Northern Caucasus dropped by

38%, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/reduction_number_victims_2018/, Zugriff 19.3.2020

• Caucasian Knot (9.9.2019): 21 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus in Q1 of

2019, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48385/, Zugriff 19.3.2020

• Caucasian Knot (14.9.2019): In Quarter 2 of 2019, 10 people fell victim to armed conflict in Northern

Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48465/, Zugriff 19.3.2020

• Caucasian Knot (18.12.2019): In 3rd quarter of 2019, seven persons fell victim to armed conflict in

Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/49431/, Zugriff 19.3.2020

• Caucasian Knot (11.3.2020): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 4

of 2019 under the data of Caucasian Knot, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/50267/, Zugriff

19.3.2020

• Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden, https://www.deutschlandfunk.

de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russische-methoden.724.de.html?dram:article_id=389824,

Zugriff 19.3.2020

Rechtsschutz / Justizwesen

Letzte Änderung: 04.09.2020

Es gibt in der Russischen Föderation Gerichte bezüglich Verfassungs-, Zivil-, Verwaltungs- und

Strafrecht. Es gibt den Verfassungsgerichtshof, den Obersten Gerichtshof, föderale Gerichtshöfe

und die Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft ist verantwortlich für Strafverfolgung und hat

die Aufsicht über die Rechtmäßigkeit der Handlungen von Regierungsbeamten. Strafrechtliche

Ermittlungen werden vom Ermittlungskomitee geleitet (EASO 3.2017). Die russischen Gerichte

sind laut Verfassung unabhängig, allerdings kritisieren sowohl internationale Gremien (EGMR

– Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, EuR – Europäischer Rat) als auch nationa-

le Organisationen (Ombudsmann, Menschenrechtsrat) regelmäßig Missstände im russischen

Justizwesen. Einerseits kommt es immer wieder zu politischen Einflussnahmen auf Prozesse,

andererseits beklagen viele Bürger die schleppende Umsetzung von Urteilen bei zivilrechtlichen

Prozessen (ÖB Moskau 12.2019). Der Judikative mangelt es auch an Unabhängigkeit

von der Exekutive, und berufliches Weiterkommen in diesem Bereich ist an die Einhaltung der

Präferenzen des Kremls gebunden (FH 4.3.2020).

In Strafprozessen kommt es nur sehr selten zu Freisprüchen der Angeklagten. Am 1. Oktober

2019 trat eine Reform des russischen Gerichtswesens in Kraft, mit der eigene Gerichte für Berufungs-

und Kassationsverfahren geschaffen wurden, sowie die Möglichkeit von Sammelklagen

eingeführt wurde. Wenngleich diese Reformen ein Schritt in die richtige Richtung sind, bleiben

grundlegende Mängel des russischen Gerichtswesens bestehen (z.B. de facto „Schuldvermutung“

im Strafverfahren, informelle Einflussnahme auf die Richter, etc.). Laut einer Umfrage des

Lewada-Zentrums über das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen Ende

2018 rangieren die Gerichte, die Staatsanwaltschaft und die Polizei eher im unteren Bereich.

33% der Befragten zweifeln daran, dass man den Gerichten vertrauen kann, 25% sind überzeugt,

dass die Gerichte das Vertrauen der Bevölkerung nicht verdienen und nur 28% geben an,

ihnen zu vertrauen (ÖB Moskau 12.2019). Der Kampf der Justiz gegen Korruption steht mitunter

im Verdacht einer Instrumentalisierung aus wirtschaftlichen bzw. politischen Gründen (ÖB Moskau

12.2019; vgl. AA 13.2.2019). So wurde in einem aufsehenerregenden Fall der amtierende

russische Wirtschaftsminister Alexej Uljukaew im November 2016 verhaftet und im Dezember

2017 wegen Korruptionsvorwürfen seitens des mächtigen Leiters des Rohstoffunternehmens

Rosneft zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt (ÖB Moskau 12.2019).

2010 ratifizierte Russland das 14. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention

(EMRK), das Änderungen im Individualbeschwerdeverfahren vorsieht. Das 6. Zusatzprotokoll

über die Abschaffung der Todesstrafe ist zwar unterschrieben, wurde jedoch nicht ratifiziert. Der

russische Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat jedoch das Moratorium über die Todesstrafe im

Jahr 2009 bis zur Ratifikation des Protokolls verlängert, sodass die Todesstrafe de facto abgeschafft

ist. Auch das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs wurde von Russland

nicht ratifiziert. Spannungsgeladen ist das Verhältnis der russischen Justiz zu den Urteilen des

EGMR. Moskau sieht im EGMR ein politisiertes Organ, das die Souveränität Russlands untergraben

möchte (ÖB Moskau 12.2019). Im Juli 2015 stellte der russische Verfassungsgerichtshof klar,

dass bei einer der russischen Verfassung widersprechenden Konventionsauslegung seitens des

EGMR das russische Rechtssystem aufgrund der Vorrangstellung des Grundgesetzes gezwungen

sein wird, auf die buchstäbliche Befolgung der Entscheidung des Straßburger Gerichtes

zu verzichten. Diese Position des Verfassungsgerichtshofs wurde im Dezember 2015 durch ein

Föderales Gesetz unterstützt, welches dem VfGH das Recht einräumt, Urteile internationaler

Menschenrechtsinstitutionen nicht umzusetzen, wenn diese nicht mit der russischen Verfassung

in Einklang stehen (ÖB Moskau 12.2019; vgl. AA 13.2.2019, USDOS 11.3.2020). Der russische

Verfassungsgerichtshof zeigt sich allerdings um grundsätzlichen Einklang zwischen internationalen

gerichtlichen Entscheidungen und der russischen Verfassung bemüht. Mit Ende 2018

waren beim EGMR 11.750 Anträge aus Russland anhängig. Im Jahr 2018 wurde die Russische

Föderation in 238 Fällen wegen einer Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention

(EMRK) verurteilt. Besonders zahlreich sind Konventionsverstöße wegen unmenschlicher

oder erniedrigender Behandlung und Verstöße gegen das Recht auf Leben, insbesondere im

Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt in Tschetschenien oder der Situation in den russischen

Gefängnissen. Außerdem werden Verstöße gegen das Recht auf Freiheit und Sicherheit,

das Recht auf ein faires Verfahren und das Recht auf ein wirksames Rechtsmittel gerügt (ÖB

Moskau 12.2019).

Am 10.2.2017 fällte das Verfassungsgericht eine Entscheidung zu Artikel 212.1 des Strafgesetzbuchs,

der wiederholte Verstöße gegen das Versammlungsrecht als Straftat definiert. Die

Richter entschieden, die Abhaltung einer „nichtgenehmigten“ friedlichen Versammlung allein

stelle noch keine Straftat dar. Am 22.2.2017 überprüfte das Oberste Gericht das Urteil gegen

den Aktivisten Ildar Dadin, der wegen seiner friedlichen Proteste eine Freiheitsstrafe auf Grundlage

von Artikel 212.1. erhalten hatte, und ordnete seine Freilassung an. Im Juli 2017 trat eine

neue Bestimmung in Kraft, wonach die Behörden Personen die russische Staatsbürgerschaft

aberkennen können, wenn sie diese mit der „Absicht“ angenommen haben, die „Grundlagen der

verfassungsmäßigen Ordnung des Landes anzugreifen“. NGOs kritisierten den Wortlaut des

Gesetzes, der nach ihrer Ansicht Spielraum für willkürliche Auslegungen bietet (AI 22.2.2018).

Bei den Protesten im Zuge der Kommunal- und Regionalwahlen in Moskau im Juli und August

2019, bei denen mehr als 2.600 Menschen festgenommen wurden, wurde teils auf diesen Artikel

(212.1) zurückgegriffen (AI 16.4.2020).

Die Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis unterscheidet nicht nach Merkmalen wie

ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Nationalität. Es gibt jedoch Hinweise auf selektive Strafverfolgung,

die auch sachfremd, etwa aus politischen Gründen oder wirtschaftlichen Interessen,

motiviert sein kann (AA 13.2.2019).

Repressionen Dritter, die sich gezielt gegen bestimmte Personen oder Personengruppen wegen

ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten

sozialen Gruppe richten, äußern sich hauptsächlich in homophoben, fremdenfeindlichen oder

antisemitischen Straftaten, die von Seiten des Staates nur in einer Minderheit der Fälle zufriedenstellend

verfolgt und aufgeklärt werden (AA 13.2.2019).

Quellen:

• AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der

Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaerti

ges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-st

and-dezember-2018-13-02-2019.pdf , Zugriff 10.3.2020

• AI – Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the

World’s Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html ,

Zugriff 10.3.2020

• AI – Amnesty International (16.4.2020): Bericht zur Menschenrechtslage (Berichtszeitraum 2019),

https://www.ecoi.net/de/dokument/2028170.html , Zugriff 16.6.2020

• EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors

of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-ofprotection.

pdf , Zugriff 10.3.2020

• FH – Freedom House (4.3.2020): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten

im Jahr 2019 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025879.html , Zugriff 5.3.2020

• ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local

/2025975/RUSS_%C3%96B_Bericht_2019_12.pdf , Zugriff 10.3.2020

• USDOS – United States Department of State (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage

im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026343.html , Zugriff 12.3.2020

Tschetschenien und Dagestan

Letzte Änderung: 09.04.2020

Das russische föderale Recht gilt für die gesamte Russische Föderation, einschließlich Tschetscheniens

und Dagestans. Neben dem russischen föderalen Recht spielen sowohl Adat als

auch Scharia eine wichtige Rolle in Tschetschenien. Republiksoberhaupt Ramzan Kadyrow unterstreicht

die Bedeutung, die der Einhaltung des russischen Rechts zukommt, verweist zugleich

aber auch auf den Stellenwert des Islams und der tschetschenischen Tradition (EASO 9.2014).

Das Adat ist eine Art Gewohnheitsrecht, das soziale Normen und Regeln festschreibt. Dem Adat-

Recht kommt in Zusammenhang mit der tschetschenischen Lebensweise eine maßgebliche

Rolle zu. Allgemein gilt, dass das Adat für alle Tschetschenen gilt, unabhängig von ihrer Clanzugehörigkeit.

Das Adat deckt nahezu alle gesellschaftlichen Verhältnisse in Tschetschenien ab

und regelt die Beziehungen zwischen den Menschen. Im Laufe der Jahrhunderte wurden diese

Alltagsregeln von einer Generation an die nächste weitergegeben. Das Adat ist in Tschetschenien

in Ermangelung einer Zentralregierung bzw. einer funktionierenden Gesetzgebung erstarkt.

Daher dient das Adat als Rahmen für die gesellschaftlichen Beziehungen. In der tschetschenischen

Gesellschaft ist jedoch auch die Scharia von Bedeutung. Die meisten Tschetschenen sind

sunnitische Muslime und gehören der sufistischen Glaubensrichtung des sunnitischen Islams an

[Anm. d. Staatendokumentation: für Informationen bezüglich Sufismus vgl.: ÖIF Monographien

(2013): Glaubensrichtungen im Islam]. Der Sufismus enthält unter anderem auch Elemente der

Mystik. Eine sehr kleine Minderheit der Tschetschenen sind Salafisten (EASO 9.2014). Scharia-

Gerichtsbarkeit bildet am Südrand der Russischen Föderation eine Art „alternativer Justiz“.

Sie steht zwar in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands, wird aber, mit Einverständnis der

involvierten Parteien, für Rechtsprechung auf lokaler Ebene eingesetzt (SWP 4.2015). Somit

herrscht in Tschetschenien ein Rechtspluralismus aus russischem Recht, traditionellen Gewohnheitsrecht

(Adat), einschließlich der Tradition der Blutrache, und Scharia-Recht. Hinzu kommt

ein Geflecht an Loyalitäten, das den Einzelnen bindet. Nach Ansicht von Kadyrow stehen Scharia

und traditionelle Werte über den russischen Gesetzen (AA 13.2.2019). Somit bewegt sich die

Republik Tschetschenien in Wirklichkeit außerhalb der Gerichtsbarkeit des russischen Rechtssystems,

auch wenn sie theoretisch darunter fällt. Dies legt den Schluss nahe, dass sowohl

Scharia als auch Adat zur Anwendung kommen, und es unterschiedliche Auffassungen bezüglich

der Frage gibt, welches der beiden Rechte einen stärkeren Einfluss auf die Gesellschaft ausübt.

Formal gesehen hat das russische föderale Recht Vorrang vor Adat und Scharia (EASO 9.2014).

Die Einwohner Tschetscheniens sagen jedoch, dass das fundamentale Gesetz in Tschetschenien

„Ramzan sagt“ lautet, was bedeutet, dass Kadyrows gesprochene Aussagen einflussreicher

sind als die Rechtssysteme und ihnen möglicherweise sogar widersprechen (CSIS 1.2020).

Die Tradition der Blutrache hat sich im Nordkaukasus in den Clans zur Verteidigung von Ehre,

Würde und Eigentum entwickelt. Dieser Brauch impliziert, dass Personen am Täter oder dessen

Verwandten Rache für die Tötung eines ihrer eigenen Verwandten üben, und kommt heutzutage

noch vereinzelt vor. Die Blutrache ist durch gewisse traditionelle Regeln festgelegt und hat

keine zeitliche Begrenzung (ÖB Moskau 12.2019). Die Sitte, Blutrache durch einen Blutpreis

zu ersetzen, hat sich im letzten Jahrhundert in Tschetschenien weniger stark durchgesetzt als

in den anderen Teilrepubliken. Republiksoberhaupt Kadyrow fährt eine widersprüchliche Politik:

Einerseits spricht er sich öffentlich gegen die Tradition der Blutrache aus und leitete 2010 den

Einsatz von Versöhnungskommissionen ein, die zum Teil mit Druck auf die Konfliktparteien

einwirken, von Blutrache abzusehen. Andererseits ist er selbst in mehrere Blutrachefehden

verwickelt. Nach wie vor gibt es Clans, welche eine Aussöhnung verweigern (AA 13.2.2019).

In Einklang mit den Prinzipien des Föderalismus ist das tschetschenische Parlament autorisiert,

Gesetze innerhalb der Zuständigkeit eines Föderationssubjektes zu erlassen. Laut Artikel 6 der

tschetschenischen Verfassung überwiegt das föderale Gesetz gegenüber dem tschetschenischen

im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Föderalen Regierung, wie beispielsweise

Gerichtswesen und auswärtige Angelegenheiten, aber auch bei geteilten Zuständigkeiten

wie Minderheitenrechten und Familiengesetzgebung. Bei Themen im Bereich der ausschließlichen

Zuständigkeit der Republik überwiegt das tschetschenische Gesetz. Die tschetschenische

Gesetzgebung besteht aus einem Höchstgericht und 15 Distrikt- oder Stadtgerichten, sowie

Friedensgerichten, einem Militärgericht und einem Schiedsgericht. Die formale Qualität der Arbeit

der Judikative ist vergleichbar mit anderen Teilen der Russischen Föderation, jedoch wird

ihre Unabhängigkeit stärker angegriffen als anderswo, da Kadyrow und andere lokale Beamte

Druck auf Richter ausüben (EASO 3.2017). So musste zum Beispiel im Mai 2016 der Vorsitzende

des Obersten Gerichts Tschetscheniens nach Kritik von Kadyrow zurücktreten, obwohl

die Ernennung/Entlassung der Richter grundsätzlich in die föderalen Kompetenzen fällt (ÖB

Moskau 12.2019).

Die Bekämpfung von Extremisten geht laut glaubwürdigen Aussagen von lokalen NGOs mit

rechtswidrigen Festnahmen, Sippenhaft, Kollektivstrafen, spurlosem Verschwinden, Folter zur

Erlangung von Geständnissen, fingierten Straftaten, außergerichtlichen Tötungen und Geheimgefängnissen,

in denen gefoltert wird, einher. Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen

ist unzureichend (AA 13.2.2019, vgl. ÖB Moskau 12.2019, AI 22.2.2018). Es gibt

ein Gesetz, das die Verwandten von Terroristen zur Zahlung für erfolgte Schäden bei Angriffen

verpflichtet. Menschenrechtsanwälte kritisieren dieses Gesetz als kollektive Bestrafung. Angehörige

von Terroristen können auch aus Tschetschenien vertrieben werden (USDOS 11.3.2020,

vgl. AA 13.2.2019). Ausgewiesene Familien können sich grundsätzlich in einer anderen Region

der Russischen Föderation niederlassen und dort leben, solange sie nicht neuerlich ins Blickfeld

der tschetschenischen Sicherheitskräfte rücken (ÖB Moskau 12.2019). Recherchen oder

Befragungen von Opfern vor Ort durch NGOs sind nicht möglich; bestimmte Gruppen genießen

keinen effektiven Rechtsschutz (AA 13.2.2019), hierzu gehören neben Journalisten und Menschenrechtsaktivisten

(ÖB Moskau 12.2019) auch Oppositionelle, Regimekritiker und Frauen,

welche mit den Wertvorstellungen ihrer Familie in Konflikt geraten, Angehörige der LGBTI-Ge-

meinde und diejenigen, die sich mit Republiksoberhaupt Kadyrow bzw. seinem Clan angelegt

haben. Auch Künstler können Beeinträchtigungen ausgesetzt sein, wenn ihre Arbeit nicht im

Einklang mit Linie oder Geschmack des Republiksoberhaupts steht. Regimekritikern und Menschenrechtsaktivisten

droht unter Umständen Strafverfolgung aufgrund fingierter Straftaten und

physischen Übergriffen bis hin zum Mord. Auch in diesen Fällen kann es zu Sippenhaft von Familienangehörigen

kommen. Im Fall des Menschenrechtsaktivisten und Leiter des Memorial-Büros

in Tschetschenien Ojub Titijew, gegen den strafrechtliche Ermittlungen wegen (wahrscheinlich

fingierten) Drogenbesitzes laufen, wurde seitens Memorial bekannt, dass Familienangehörige

Tschetschenien verlassen mussten (AA 13.2.2019). Titijew wurde nach fast anderthalb Jahren

Gefängnis auf Bewährung freigelassen (AI 10.6.2019).

In Bezug auf Vorladungen von der Polizei in Tschetschenien ist zu sagen, dass solche nicht an

Personen verschickt werden, die man verdächtigt, Kontakt mit dem islamistischen Widerstand zu

haben. Solche Verdächtige würden ohne Vorwarnung von der Polizei mitgenommen, ansonsten

wären sie gewarnt und hätten Zeit zu verschwinden (DIS 1.2015).

Auch in Dagestan hat sich der Rechtspluralismus – das Nebeneinander von russischem Recht,

Gewohnheitsrecht (Adat) und Scharia-Recht – bis heute erhalten. Mit der Ausbreitung des

Salafismus im traditionell sufistisch geprägten Dagestan in den 90er Jahren nahm auch die

Einrichtung von Scharia-Gerichten zu. Grund für die zunehmende und inzwischen weit verbreitete

Akzeptanz des Scharia-Rechts war bzw. ist u.a. das dysfunktionale und korrupte staatliche

Justizwesen, das in hohem Maße durch Ämterkauf und Bestechung geprägt ist. Die verschiedenen

Rechtssphären durchdringen sich durchaus: Staatliche Rechtsschutzorgane und Scharia-

Gerichte agieren nicht losgelöst voneinander, sondern nehmen aufeinander Bezug. Auch

die Blutrache wird im von traditionellen Clan-Strukturen geprägten Dagestan angewendet. Zwar

geht die Regionalregierung dagegen vor, doch sind nicht alle Clans bereit, auf die Institution der

Blutrache zu verzichten (AA 13.2.2019).

Quellen:

• AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der

Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-

amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederationstand-

dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 10.3.2020

• AI – Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the

World’s Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff

10.3.2020

• AI Amnesty International (10.6.2019): Oyub Titiev kommt auf Bewährung frei!, https://www.amnesty.

de/informieren/aktuell/russische-foederation-oyub-titiev-kommt-auf-bewaehrung-frei, Zugriff

10.3.2020

• CSIS – Center for Strategic and International Studies (1.2020): Civil Society in the North

Caucasus, https://csis-prod.s3.amazonaws.com/s3fs-public/publication/200124_North_Caucasus.

pdf?jRQ1tgMAXDNlViIbws_LnEIEGLZPjfyX, Zugriff 6.3.2020

• DIS – Danish Immigration Service (1.2015): Security and human rights in Chechnya and the

situation of Chechens in the Russian Federation – residence registration, racism and false accusations;

Report from the Danish Immigration Service’s fact finding mission to Moscow, Grozny

and Volgograd, the Russian Federation; From 23 April to 13 May 2014 and Paris, France 3 June

2014, http://www.ecoi.net/file_upload/90_1423480989_2015-01-dis-chechnya-fact-finding-mission-

report.pdf, Zugriff 10.3.2020

• EASO – European Asylum Support Office (9.2014): Bericht zu Frauen, Ehe, Scheidung und Sorgerecht

in Tschetschenien (Islamisierung; häusliche Gewalt; Vergewaltigung; Brautentführung; Waisenhäuser),

http://www.ecoi.net/file_upload/1830_1421055069_bz0414843den-pdf-web.pdf, S. 9,

Zugriff 7.8.2019

• EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors

of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-ofprotection.

pdf, Zugriff 10.3.2020

• ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/

2025975/RUSS_%C3%96B_Bericht_2019_12.pdf, Zugriff 10.3.2020

• ÖIF Monographien (2013): Glaubensrichtungen im Islam [vergriffen; liegt in der Staatendokumentation

auf]

• SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan: Russlands schwierigste Teilrepublik,

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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