Entscheidungsdatum
23.08.2021Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W272 2234995-1/29E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. BRAUNSTEIN als Einzelrichter über die Beschwerde der XXXX , geboren XXXX , Staatsangehörigkeit Georgien, vertreten durch Diakonie Flüchtlingsdienst gem GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Wien, vom 06.08.2020, Zahl XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 11.11.2020 und am 03.12.2020, zu Recht:
A) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Die Beschwerdeführerin (in der Folge BF), eine georgische Staatsangehörige, stellte nach Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 05.12.2019 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (in der Folge AsylG).
2. Am gleichen Tag wurde die BF durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes einer Erstbefragung unterzogen, wobei sie zunächst zu ihren persönlichen Verhältnissen befragt angab, am XXXX in XXXX geboren und ledig zu sein und sich zum orthodoxen Christentum zu bekennen. Ihre Muttersprache sei Georgisch und sie spreche mittelmäßig Russisch und könne es auch in Wort und Schrift. Sie habe zwölf Jahre die Mittelschule besucht und danach vier Jahre Journalistik an der Universität studiert. Sie habe eine Berufsausbildung als Journalistin und sei zuletzt in ihrem eigenen Second-Hand Shop selbständig tätig gewesen. Ihr Vater, ihre Mutter und ihre Schwester seien in Wien wohnhaft. Sie habe am 05.11.2019 beschlossen Georgien zu verlassen und sei am selben Tag legal nach Wien geflogen.
Befragt nach ihrem Fluchtgrund, gab die BF an, sie habe aus Georgien flüchten müssen, weil ihr Vater schon seit Langem Probleme habe. Er sei verfolgt worden und deswegen werde auch sie verfolgt. Ihr Vater sei der Leibwächter des früheren Präsidenten XXXX gewesen und werde beschuldigt, weil er wisse was tatsächlich mit dem Präsidenten passiert sei. Offiziell habe der Präsident Selbstmord begangen, aber seine Familie glaube das nicht und wolle von ihrem Vater wissen was geschehen sei. Deswegen gebe es bis zum heutigen Tage Drohungen gegen die BF. Zuletzt sei sie in einem öffentlichen Verkehrsmittel beschimpft und an den Haaren gefasst worden, als sie erkannt worden sei. Sie befürchte wieder Opfer von Drohungen und Gewalt zu werden. Von den örtlichen Behörden habe sie nichts zu befürchten.
Vorgelegt wurde: Georgischer Reisepass der BF
3. Am 11.12.2019 fand eine niederschriftliche Einvernahme der BF vor dem BFA in der Sprache Georgisch statt. Zunächst gab sie an, dass sie eine ärztliche Erstuntersuchung gehabt habe und eine Überweisung zum Psychologen bekommen habe. Sie habe Stress und gewisse Neurosen und auch sehr oft Kopfschmerzen. Ab und zu nehme sie Kopfschmerztabletten und Baldriantropfen ein. Sie gab ergänzend an, dass sie viele Tanten und Onkel in Georgien habe, aber ihre Kernfamilie sei in Österreich. Befragt zu ihren Fluchtgründen, gab die BF an, sie habe die Probleme ihres Vaters „geerbt“. Sie sei dreimal geschlagen und oft als „Tochter des Mörders“ beschimpft worden. Sie habe immer gespürt, dass sie in Gefahr sei, deshalb habe sie in Georgien nirgendwo Fuß fassen können. Die Gefahr gehe von der Familie XXXX und von deren Anhängern aus. Als fluchtauslösendes Ereignis, gab sie an, dass sich die politische Lage in Georgien verändert habe. Der Tod des Präsidenten werde erneut untersucht. Die BF selbst sei nie Beschuldigte oder Zeugin dieser Untersuchung gewesen und sei auch nicht aufgrund der behördlichen Untersuchungen in Gefahr, sondern weil die Anhänger XXXX jetzt wieder aktiver seien. In Georgien könne sie nichts anfangen. Sie habe ein Geschäft aufgemacht, habe es aber wieder schließen müssen. Man habe Sätze wie „Mörder!“ oder „Tochter des Mörders!“ auf ihr Haus geschrieben und es mit Steinen beworfen. 2017 habe sie deswegen das Haus verkauft und habe bei verschiedenen Verwandten gewohnt. Zuletzt sei sie in XXXX bei einer Cousine aufhältig gewesen, wo sie Ende Oktober 2019 in einem Bus von einer Frau mit den Worten „Du bist die Tochter eines Mörders. Ihr dürft nicht hier sein.“ angeschrien worden sei. 2018 sei sie an einer Busstation von einer Frau an den Haaren ergriffen und geschüttelt worden. Im Juni 2019 sei sie beim Verlassen einer Kirche mit einem harten Gegenstand auf den Hinterkopf geschlagen worden. Sie habe dies der Polizei erzählt, die hätten aber nur gemeint, dass sei ein Straßenhooligan gewesen und hätten nichts weiter unternommen. Sie habe niemals um Personenschutz angesucht, denn die Sache sei bis jetzt von keiner Regierung ordentlich untersucht worden und der Polizei vertraue sie nicht. Die letzten fünf Jahre seien durchzogen gewesen von Angriffen, Verleumdungen, Verfluchungen und Verfolgungen. Egal wo sie sich in Georgien aufhalte, werde sie immer wieder in derselben Situation sein.
Vorgelegt wurden: auf die BF ausgestelltes Rezept vom 12.12.2019;
Terminvereinbarung bei einem Psychologen für 12.12.2019;
4. Eine zweite niederschrifltiche Einvernahme erfolgte am 07.07.2020. Ergänzend gab die BF nunmehr an, dass sie nervös sei, Hautausschläge bekomme und psychische Probleme habe. Sie habe bereits in Georgien großen Stress und viele Ängste gehabt und sei dort einmal bei einem Neurologen gewesen. Weiters gab die BF an, dass sie in verschiedenen Regionen Georgiens bei Verwandten gelebt habe, beispielsweise mehrere Monate bei Tanten in Svanetiem und XXXX und auch bei einer Tante in Tiflis. Das sei aber auf Dauer nicht möglich. Sie habe Kontakt zu ihren Familienangehörigen und guten Freunden in Georgien. Sie habe bis 2017 einen eigenen Second-Hand Laden gehabt. Sie habe auch Gelegenheitsjobs verrichtet und als Putzfrau gearbeitet. 2016 und 2017 sei sie bereits in Österreich gewesen um ihre Familie zu besuchen, habe aber nicht um Asyl angesucht, weil sie gedacht habe, dass die Regierung die Probleme lösen werde und alles anders werden würde.
Vorgelegt wurden: Ruhe-EKG vom 28.02.2020;
Laborbefund vom 26.02.2020;
Überweisung zu einem Facharzt für Neurologie und Psychiatrie vom 02.07.2020;
5. Am 14.07.2020 langte eine Stellungnahme seitens der BF ein, in der sie vorbrachte, sie habe Georgien aufgrund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe „Familie“ verlassen müssen. Ihren Eltern und ihrer Schwester sei der Status als Asylberechtigte zuerkannt worden und die BF sei nunmehr ebenfalls Opfer von Übergriffen geworden. Der Staat könne ihr keinen effektiven Schutz gewähren. Zudem werde die Einholung eines Sachverständigengutachtens beantragt, zum Beweis, dass bei der BF die reale Gefahr einer schweren, rapiden und irreversiblen Gesundheitsverschlechterung bzw. einer suizidalen Krise vorliege. Es bestehe enge und intensive familiäre Beziehung zwischen der BF und ihren Familienangehörigen in Österreich und im Falle einer Rückkehr nach Georgien sei ein gemeinsames Familienleben nicht möglich.
Vorgelegt wurde: Fachärztlicher Befund vom 19.02.2020
6. Mit dem angefochtenen Bescheid vom 06.08.2020 wurde der Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG abgewiesen und der Status des Asylberechtigten nicht zuerkannt (Spruchpunkt I.). Unter Spruchpunkt II. dieses Bescheides wurde der Antrag hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf ihren Herkunftsstaat Georgien gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG abgewiesen. Ferner wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) sowie gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Unter Spruchpunkt VI. wurde ausgesprochen, dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage.
Begründend führte das BFA aus, dass keine asylrelevante Verfolgung oder Gefährdung durch staatliche Organe oder Privatpersonen festgestellt werden könne. Die BF habe vage und unsubstantiierte Vorfälle geschildert und keine Beweismittel oder Belege – beispielsweise Fotos von den Beschmierungen am Haus – dafür vorlegen können. Die BF habe zu keinem Zeitpunkt Anzeige bei der Polizei erstattet. Die BF bringe vor, aufgrund ihrer Familienzugehörigkeit in Georgien Schwierigkeiten zu haben. Es sei dementsprechend unklar, wieso ihre Onkel und Tanten in Georgien keiner Bedrohung ausgesetzt seien. Die Behörde habe nicht nachvollziehen können, warum die BF nach so langer Zeit – der Tod des Präsidenten habe sich im Jahre 1993 ereignet – noch immer einer Verfolgung durch Private ausgesetzt sein solle. Die BF würde nicht in Gefahr laufen in Georgien einer unmenschlichen Behandlung, Strafe oder Todesstrafe oder sonstigen konkreten individuellen Gefahren ausgesetzt zu sein. Sie würde in keine Existenz bedrohende Notlage geraten und es sei ihr zumutbar ihren Lebensunterhalt in Georgien durch eigene Arbeit und familiäre Unterstützung zu sichern. Aus den Länderfeststellungen ergebe sich, dass die psychischen Erkrankungen der BF auch in Georgien therapierbar seien und hierfür Einrichtungen bestehen. Die BF habe ihre Familie in Österreich bereits in den Jahren 2016 und 2017 besucht und es sei ihr möglich dies auch in Zukunft zu machen. Besondere integrative verfestigende Maßnahmen wären nicht vorgebracht worden.
7. Mit Schriftsatz vom 07.09.2020 erhob die BF fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde und brachte darin im Wesentlichen vor, die Behörde habe den Gesundheitszustand der BF nicht ermittelt, obwohl sie medizinische Unterlagen vorgelegt habe, die belegen, dass sie an einer posttraumatischen Belastungstörung leide. Auch auf die beantragte Einholung eines Sachverständigengutachtens durch einen Facharzt für Psychiatrie oder einen Psychologen sei verzichtet worden. Der BF würde bei einer Rückkehr eine schwere, rapide und irreversible Gesundheitsverschlechterung bzw. eine suizidale Krise drohen. Die BF werde in Georgien als „Mördertochter“ stigmatisiert, bedroht und sei gewaltsamen Übergriffen ausgesetzt gewesen, weswegen ihr ein normales Leben dort nicht möglich sei. Ihren Eltern und der Schwester sei bei einer vergleichbaren Bedrohungslage der Status der Asylberechtigten zuerkannt worden. Zudem habe die Behörde eine unzureichende Interessensabwägung im Sinne des in Art. 8 EMRK geschützten Privat- und Familienlebens getroffen.
Beigelegt wurde ein Schreiben von XXXX in russischer Sprache.
8. Am 13.10.2020 wurde eine Fachärztliche Stellungnahme vom 07.09.2020 mit der Diagnose Panikstörung (episodisch paroxysmale Angst), Posttraumatische Belastungsstörung und nichtorganische Insomnie eingebracht.
9. Am 01.12.2020 wurden eingebracht:
? Fachärztliche Stellungnahme vom 27.11.2020
? Psychiatrischer Befund vom 29.11.2020
? Rezept Wahlarzt
? Geburtsurkunde ausgestellt in der UdSSR
? Georgische Identitätskarte
10. Am 11.11.2020 fand eine mündliche Verhandlung vor dem BVwG statt.
Vorgelegt wurden eine Deutschkursbestätigung A1 und ein Zeitungsartikel vom 18.10.2018, in dem die Präsidentin Georgiens postuliert, sie werde den Mord an XXXX aufklären.
11. Am 03.12.2020 fand eine weitere mündliche Verhandlung vor dem BVwG statt.
Als Beilage A wird ein Auszug aus dem Gesundheitsregister vorgelegt, der bestätigt, dass die BF seit 01.12.2012 als Patientin in einem Krankenhaus registriert sei.
12. Am 17.12.2020 erfolgte eine Eingabe der BF, in welcher sie darauf hinwies, dass der ehemalige Präsident XXXX bei einer Nachrichtensendung am 16.11.2020 des privaten georgischen Fernsehsenders Rustavi 2, über den Präsidenten XXXX ausspricht, dass dieser getötet wurde. Die BF sehe dies als Signal, dass auch die Untersuchung so ausgehen wird und sie dann als „Mördertochter“ nocht mehr gefährdet wäre.
13. Aufgrund einer Anfrage des Gerichts bei der Staatendokumentation erfolge mt Schreiben vom 21.12.2020 eine Anfragebeantwortung, welche der belangten Behörde und der BF zur Stellungnahme übermittelt wurde. Darin wurde ausgeführt, gegen den Vater der BF sei nie ein strafrechtliches Verfahren geführt worden. Der Tod des Präsidenten werde zwar noch von der Staatsanwaltschaft ermittelt, jedoch gebe es keine Ermittlungen gegen konkrete Personen. Auch seien derzeit keine Verfahren bezüglich des Todes des Präsidenten anhängig.
14. Am 02.02.2021 langte eine Stellungnahme zur Anfrage bei der Staatendokumention bei Gericht ein. Die BF brachte vor, dass der Tod und die Todesursache des Präsidenten nach wie vor ein relevantes und emotionales Thema seien, jedoch in georgischen Medien und in georgischer Sprache. Eine Recherche in deutscher und englischer Sprache sei deswegen wenig zielführend.
Beigelegt wurden auch diverse Screenshots und zwei Zeitungsartikel.
15. Mit Beschluss W272 2234995-1/19Z vom 15.03.2021 wurde Prim. Dr. Wolfgang SOUKOP gemäß § 52 Abs. 2 AVG iVm § 17 VwGVG zum Sachverständigen aus dem Fachgebiet Neurologie und Psychiatrie bestellt. Die BF erhob dagegen keine Einwände.
16. Am 17.06.2021 langte das Sachverständigengutachten beim BVwG ein.
17. In ihrem, am 20.07.2021 eingelangten Parteiengehör zum Sachverständigengutachten, führte die BF aus, dass das Gutachten bestätige, dass ein Therapieerfolg bei der BF nur zu erwarten wäre, wenn es zu keinen weiteren Übergriffen komme, wovon aber bei einer Rückkehr nach Georgien nicht ausgegangen werden kann. Die BF lebe in Georgien nämlich in ständiger Angst vor weiteren Beschimpfungen, Beleidigungen und Attacken und bestehe deswegen eine reale Gefahr einer Verschlechterung ihrer Krankheit. Die psychische Erkankung der BF sei auch im Rahmen der Interessenabwägung gemäß § 9 BFA-VG zu berücksichtigen. Die BF lebe seit 30.04.2021 im gemeinsamen Haushalt mit ihren Eltern und sei ihre chronisch kranke Mutter von ihr abhängig, da die BF den Haushalt führe und sie in vielen Lebensbereichen unterstütze. Außerdem habe sich die politische Situation in Georgien in den letzten Wochen verschlechtert und werde die georgische Regierung kritisiert, Medienvertreter und Menschenrechtsaktivisten nicht ausreichend vor gewaltsamen Übergriffen zu schützen. Im Hinblick darauf, könne die BF in Georgien keineswegs einen effektiven staatlichen Schutz vor den ihr befürchteten Verfolgungshandlungen erwarten.
Vorgelegt wurde: Meldezettel vom 30.04.2021
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage der Beschwerde gegen den angefochtenen Bescheid des BFA, der im Verfahren vorgelegten Dokumente, der Einsichtnahme in den bezughabenden Verwaltungsakt, der beiden mündlichen Verhandlungen vor dem Bundesverwaltungsgericht, des eingeholten Sachverständigensgutachtens und einer Anfrage an die Staatendokumentation sowie der Einsichtnahme in das Zentrale Melderegister, das Zentrale Fremdenregister und Strafregister werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:
1.1. Zur Person der BF:
Die volljährige, ledige BF führt den Namen XXXX , ist georgische Staatsbürgerin und wurde am XXXX in XXXX geboren. Sie bekennt sich zum orthodoxen Christentum und neben ihrer Muttersprache Georgisch auch Russisch und den swanischen Dialekt.
In Georgien besuchte sie zwölf Jahre eine Schule und schloss an der Universität das Studium der Journalistik ab.
Sie arbeitete als Jounalistin und Putzfrau und war auch selbständig als Fachfrau für Maniküre und Pediküre und in ihrem eigenen Second-Hand Laden tätig. Zudem half sie auf der Familienfarm bei der Produktion von Käse.
Die BF ist grundsätzlich ihrem Alter entsprechend entwickelt und arbeitsfähig.
Die BF ist körperlich gesund und leidet an keinen schwerwiegenden oder lebensbedrohenden Krankheiten. Sie leidet unter psychischen Beschwerden, nämlich einer generalisierten Angststörung, einer sonstigen rezidivierenden depressiven Störung und an einer undifferenzierten Somatisierungsstörung. Bei der BF liegen belastungsabhängige seelische Störungen vor, aber keine Geisteskrankheit, geistige Behinderung oder eine schwerwiegende Persönlichkeitsstörung. Die diagnostzierten Störungen sind behandelbar. Eine neurologische Erkrankung liegt nicht vor. Die BF befindet sich in fachpsychiatrischer Behandlung. Es gibt keinerlei Anhaltspunkte, dass die BF die Wiedergabefähigkeit, die Wahrnehmungsfähigkei oder Erinnerungsfähigkeit eingeschränkt sind. Suizidgefahr liegt nicht vor.
Die BF nimmt folgende Medikamente ein: Zoldem 10mg 1x täglich;
Cipralex 10mg, 1x täglich;
Candesartan/HCT 16/12,5mg, 1x täglich;
Xanor 0,5mg, bei Bedarf;
Die BF ist nach den georgischen Gepflogenheiten und der georgischen Kultur sozialisiert. Die BF verfügt über mehrere Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen in Georgien und hat mit diesen und guten Freunden nach wie vor Kontakt. Die BF lebte in Georgien in verschiedenen Städten und Regionen.
Die BF ist in ihrem Herkunftsstaat nicht vorbestraft, war dort nie inhaftiert, war kein Mitglied einer politischen Partei oder sonstigen Gruppierung, sie hat sich nicht politisch betätigt und hatte keine Probleme mit staatlichen Einrichtungen oder Behörden im Herkunftsland.
Die BF ist strafrechtlich unbescholten.
Der BF reiste legal in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 05.12.2019 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.
Die BF besuchte einen Deutschkurs für A1. Sie ging keiner Beschäftigung nach. In Östereich befinden sich ihr Vater, ihre Mutter und ihre Schwester, welche alle den Status als Asylberechtigte habe. Die BF spricht kaum Deutsch. Sie lebt von der Grundversorung. Die BF lebt seit 30.04.2021 im gemeinsamen Haushalt mit ihren Eltern.
1.2. Zu den Fluchtgründen der BF:
Es kann nicht festgestellt werden, dass die BF wegen Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Ansichten von staatlicher Seite oder von Seiten Dritter bedroht oder verfolgt wurde.
Die BF war in Georgien wegen ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie ihres Vaters konkret und individuell weder physischer noch psychischer Gewalt ausgesetzt.
1.3. Zur Situation im Fall einer Rückkehr der BF in ihr Herkunftsland:
Es wird festgestellt, dass die BF im Fall einer Rückkehr nach Georgien aus Gründen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Ansichten von staatlicher Seite oder von Seiten Dritter keiner Gefährdung ausgesetzt ist.
Der BF droht bei einer Rückkehr nach Georgien wegen ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie ihres Vaters keine konkrete und individuelle physische oder psychische Gewalt.
Es wird festgestellt, dass die BF auf Grund der Tatsache, dass sie sich in etwa zwei Jahre in Europa aufgehalten hat bzw. dass sie als georgische Staatsangehörige, die aus Österreich nach Georgien zurückkehrt, deshalb in Georgien keiner Verfolgung ausgesetzt wird.
Bezüglich der Rückkehr nach Georgien wird festgestellt, dass Georgien ein sicherer Herkunftsstaat ist. Es ist der BF möglich sich in einer der Städte oder Ortschaften anzusiedeln.
Es ist der BF möglich ohne Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft befrieden zu können, bzw. ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten, zu leben. Der BF würde bei ihrer Rückkehr nach Georgien kein Eingriff in ihre körperliche Unversehrtheit drohen. Die BF hat auch die Möglichkeit, finanzielle Unterstützung in Form der Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen. Sie kann selbst für ihr Auskommen und Fortkommen sorgen und zumindest vorrübergehend verschiedene Hilfsprogramme in Anspruch nehmen, die ihr bei der Ansiedlung unterstützen.
Die BF kann auch die Unterstützung ihrer Familie in Georgien bei der Suche nach Wohnung oder Arbeit in Anspruch nehmen, oder vorübergehend bei ihnen wohnen.
Es ist der BF möglich nach anfänglichen Schwierigkeiten nach einer Ansiedlung in Georgien Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können.
Die BF kennt sich mit der sozialen und kulturellen Umgebung in Georgien aus. Sie ist in Georgien aufgewachsen und hat dort die Schule und die Universität besucht gearbeitet.
Die BF hat keine individuellen gefahrenerhöhenden Umstände aufgezeigt, die unter Beachtung ihrer persönlichen Situation innewohnenden Umstände eine Gewährung von subsidiären Schutz auch bei einem niedrigen Grad willkürlicher Gewalt angezeigt hätte.
Festgestellt wird, dass die aktuell vorherrschende Coronapandemie in Georgien, mit Stand 26.07.2021 und zum Zeitpunkt der Entscheidung, kein Rückkehrhindernis darstellt. Im August 2021 liegt der 7-Tages Mittelwert an Neuinfektionen bei ca. 5000 und 44 Todesfälle. Die BF ist körperlich gesund und gehört mit Blick auf ihr Alter und das Fehlen einschlägiger physischer (chronischer) Vorerkrankungen keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 an. Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass die BF bei einer Rückkehr nach Georgien eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde.
1.4. Zum Herkunftsstaat:
Das BVwG trifft folgende Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat unter Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Gesamtaktualisierung am 29.03.2021:
COVID-19
Letzte Änderung: 29.03.2021
COVID-19-Infektionen kommen in allen Regionen des Landes vor; und es kommt landesweit zu unkontrollierter Übertragung von COVID-19 (USEMB 25.2.2021).
Georgien hat die Verbreitung von COVID-19 im Frühling 2020 durch strenge Maßnahmen weitgehend eingedämmt. Nachdem im Sommer 2020 die strengen Regeln aufgehoben, die Einreisebestimmungen an den Grenzen gelockert und Inlandstourismus beworben wurde, kam es ab Ende August 2020 zu einem exponentiellen Anstieg bei positiven Tests. Bis Mitte September 2020 stieg die Zahl der täglichen positiven Testergebnisse von niedrigen zweistelligen Zahlen auf etwa 150 (Eurasianet 18.9.2020) und um Mitte Oktober auf ungefähr 1.000 (Jam 16.10.2020). Gegen Ende November 2020 lag die tägliche Zahl positiver Tests um die 4.000 und die der Verstorbenen an oder mit SARS-CoV-2 bei 35-50 Personen (Agenda 26.11.2020). Im Dezember stieg die tägliche Zahl der Infektionen auf ca. 5.000. Mit strengen Maßnahmen konnte die zweite Welle bis Mitte Jänner 2021 weitgehend unter Kontrolle gebracht werden (civil 18.1.2021)
Die zentrale Homepage der Regierung mit Informationen über Covid-19 ist in Georgien unter www.stopcov.ge zu finden. Die Internetseite ist neben Georgisch auch auf Englisch, Abchasisch, Aserbaidschanisch, Armenisch und Russisch verfügbar. Somit wird gewährleistet, dass auch die Angehörigen von Minderheiten alle relevanten Informationen zur Pandemie im Allgemeinen, zur speziellen Hygiene und zu Maßnahmen der Regierung erhalten (BAMF 10.2020). Auf dieser Seite werden auch tagesaktuelle Zahlen zu bestätigten Infektionen, Genesungen, Todesfällen und Hospitalisierungen veröffentlicht (StopCoV.ge o.D.).
Der öffentliche Überlandverkehr wurde landesweit mit 25.2.2021 wiederaufgenommen (USEMB 25.2.2021). Mit Wirkung von 1.2.2021 durften Schulen, Hochschulen und Kindergärten wieder öffnen (Jam 23.1.2021). Weitere Lockerungen des wirtschaftlichen Lebens wurden im Zeitraum Februar-März 2021 ermöglicht (Gov.ge 24.2.2021). Stand Mitte März 2021 bestehen weiterhin nächtliche Ausgangssperren (USEMB 25.2.2021; vgl. Gov.ge 24.2.2021).
Mitte Jänner 2021 wurde der nationale Impfplan vorgestellt. Die Risikogruppen sollen bis Jahresmitte 2021 geimpft sein. Es ist nicht zu erwarten, dass Personen, die nicht den Risikogruppen angehören, vor dem Spätsommer/Frühherbst 2021 geimpft werden (civil 18.1.2021). Am 13.3.2021 erhielt Georgien, mit Unterstützung der Vereinten Nationen, erstmals 43.200 Impfdosen von Astra Zeneca (UNICEF 12.3.2021).
Mit 1.2.2021 wurden alle Einschränkungen für Linienflüge aufgehoben (1TV 1.2.2021; vgl. Jam 23.1.2021). Alle Personen, die einen vollständigen Impfschutz nachweisen können, müssen bei Einreise nicht in Quarantäne. Personen, die keinen Impfschutz und keinen negativen PCR-Test (nicht älter als 72 Stunden), nachweisen können, werden bei Einreise für unbestimmte Zeit und auf eigene Kosten in Quarantäne verbracht (USDOS 25.2.2021; vgl. MoF o.D.), falls eine Selbstisolierung nicht möglich ist. Bei Vorlage eines negativen PCR-Tests (nicht älter als 72 Stunden) muss eine achttägige Selbstisolation samt einer weiteren PCR-Testung fünf Tage nach Einreise auf eigene Kosten durchgeführt werden (MoF o.D.).
Trotz der Zugangsbeschränkungen unterstützt die Georgische Regierung die separatistische Region Abchasien bei der Bekämpfung von COVID-19 materiell und fachlich. Auch die Behandlung von abchasischen COVID-19-Patienten in Kern-Georgien wurde ermöglicht (CW 27.11.2020; vgl. Jam 16.10.2020). Internationale Hilfe in Südossetien ist auf das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) beschränkt. Die georgische Zentralregierung hat Zchinwali ebenfalls humanitäre Hilfe angeboten, aber der Vorschlag wurde nicht weiterverfolgt (CW 27.11.2020). Dennoch werden auch COVID-Patienten aus Südossetien in Georgien behandelt, wenn auch in geringerem Ausmaße als aus Abchasien (Jam 16.10.2020).
Politische Lage
Letzte Änderung: 29.03.2021
Georgien wurde im April 1991 unabhängig [bis dahin Teilrepublik der Sowjetunion]. Nach der georgischen Unabhängigkeit erhöhten sich die Spannungen innerhalb Georgiens in den Gebieten Abchasien und Südossetien. 1992 erfolgten Unabhängigkeitserklärungen Südossetiens und Abchasiens, die jedoch von der internationalen Gemeinschaft nicht anerkannt wurden (AA 23.9.2020). Russland betreibt gegenüber beiden Regionen eine Politik der informellen militärischen und wirtschaftlichen Annexion (bpb 26.8.2020; vgl. US DOS 11.3.2020) und kontrolliert ein Fünftel des georgischen Staatsgebiets (FAZ 23.2.2021; vgl. US DOS 11.3.2020).
Durch Verfassungsänderung am 17.11.2013 wurde das Land von einer Präsidialrepublik zu einer Parlamentarischen Demokratie. Die georgische Außenpolitik sieht in der Integration Georgiens in EU und NATO ein prioritäres Ziel für eine nachhaltige demokratische Entwicklung des Landes. Dies wirkt sich unmittelbar auf den innenpolitischen Reformwillen aus (AA 23.9.2020). In Georgien finden regelmäßig kompetitive Wahlen statt. Nachdem der Demokratisierungsprozess in den Jahren 2012-13 an Dynamik gewonnen hatte, kam es in den letzten Jahren zu einer Stagnation der Fortschritte. Oligarchen haben übergroßen Einfluss auf Politik und politische Entscheidungen und die Rechtsstaatlichkeit wird nach wie vor durch politische Interessen behindert. Das politische Leben in Georgien ist lebendig. Neue politische Parteien können in der Regel ohne Behinderungen gegründet werden und zu den Wahlen antreten. Allerdings war die politische Landschaft von der Dominanz abwechselnd einer Partei geprägt, was die Entwicklung und Stabilität konkurrierender Gruppen gehemmt hat (FH 3.3.2021).
Georgien hat eine doppelte Exekutive, wobei der Premierminister als Regierungschef und der Präsident als Staatsoberhaupt fungiert. Der Präsident wurde bis 2018 durch Direktwahl gewählt. Aufgrund einer Verfassungsänderung wird der Präsident in Zukunft indirekt für sechs Jahre von einem Gremium, bestehend aus nationalen, regionalen und lokalen Gesetzgebern, gewählt werden. Der Präsident ernennt formal den Premierminister, der vom Parlament nominiert wird (FH 3.3.2021; vgl. US DOS 11.3.2020).
Die ehemalige Außenministerin Salome Zurabischwili wurde am 28.11.2018 zur Präsidentin des Landes gewählt. Offiziell als unabhängige Kandidatin, jedoch unterstützt von der Regierungspartei „Georgischer Traum“, setzte sie sich in der Stichwahl mit fast 60 % gegen ihren Konkurrenten Grigol Vaschadze durch, welcher insbesondere von der oppositionellen Vereinigten Nationalen Bewegung von Ex-Präsident Saakaschwili unterstützt wurde (FAZ 29.11.2018; vgl. CW 29.11.2018, FH 3.3.2021). Die OSZE beurteilte den Wahlgang als kompetitiv und gut administriert, wobei der Wahlkampf von einer scharfen Rhetorik und Demonstrationen begleitet war. Hauptkritikpunkte waren allerdings die einseitige Verwendung staatlicher Verwaltungsressourcen sowie die Berichterstattung des öffentlichen Rundfunks zugunsten von Zurabischwili (OSCE/ODIHR 29.11.2018).
Das Parlament Georgiens hat 150 Sitze, wovon 120 über Parteienlisten und 30 über Direktmandate in Wahlkreisen vergeben werden. Bei den Wahlen 2016 wurden noch 72 Direktmandate vergeben (KP 26.11.2020). Die Änderungen zu einem reinen Verhältniswahlrecht wurden vom Parlament für die nächsten, planmäßig 2024 stattfindenden Wahlen, beschlossen (KP 23.11.2019; vgl. RFE/RL 28.11.2019, taz 2.11.2020, FH 3.3.2021, US DOS 11.3.2020). Die Reform des Wahlrechts konnte erst nach Massenprotesten 2019 durchgesetzt werden (taz 2.11.2020; vgl. DW 24.6.2019, US DOS 11.3.2020).
Die Wahlhürde für die Verhältniswahl ist auf 1% der Stimmen festgelegt. Es besteht ein Begrenzungsmechanismus, der vorsieht, dass keine einzelne Partei, die weniger als 40% der abgegebenen Stimmen erhält, die Mehrheit der Sitze im Parlament erhalten darf. Im Falle einer vorgezogenen Neuwahl zwischen 2020 und 2024 wird diese nach demselben Wahlsystem wie im Jahr 2020 durchgeführt. Alle nachfolgenden Wahlen werden jedoch auf der Grundlage des vollständig proportionalen Wahlsystems durchgeführt, wie es für die Parlamentswahlen 2024 vorgesehen ist (civil 8.3.2020; vgl. KP 11.4.2020).
Bei den trotz COVID-Panedmie am 31.10.2020 durchgeführten Parlamentswahlen erzielte die bisherige Regierungspartei Georgischer Traum 48% der Stimmen und mit 91 Sitzen erneut eine satte Mehrheit von 60% der Mandate (KP 26.11.2020; vgl. EN 2.11.2020). Das größte Oppositionsbündnis, die Vereinigte Nationale Bewegung, erhielt 26,9% der Stimmen zugeschrieben (EN 2.11.2020). Insgesamt haben neun Parteien den Sprung ins Parlament geschafft (KP 26.11.2020; vgl. Jam 26.11.2020). Der Gründer des Wahlbündnisses Georgischer Traum, Bidzina Iwanischwili, hatte zur Parlamentswahl 2020 wieder das Amt des Parteivorsitzenden übernommen, allerdings ohne sich um irgendeine Regierungsfunktion zu bewerben. Im Februar 2021 erfolgte der nach seinen Aussagen endgültige Rückzug ins Privatleben. Es zeigt sich allerdings das Hauptproblem, das Iwanischwili seiner Partei und dem Land hinterlassen hat: Eine Mehrheitspartei ohne klare Programmatik, ohne klare innerparteiliche Demokratie und ohne politisch selbständige Charaktere an ihrer Spitze. Eine Partei, die nach wie vor den Verdacht nicht ausräumen kann, nur willfähriges Erfüllungsinstrument ihres Gründers und Mentors zu sein, der nach wie vor im Hintergrund die Fäden zieht (KP 11.2.2021). Kobachidse ist der Nachfolger von Bidsina Iwanischwili als Vorsitzender der Regierungspartei "Georgischer Traum" (FAZ 18.2.2021).
Die unterlegene Opposition prangerte erhebliche Wahlmanipulationen an und mobilisierte ihre Anhänger auf der Straße. Die Sicherheitskräfte setzten Schlagstöcke und Wasserwerfer ein (KP 26.11.2020; vgl. EN 2.11.2020). Einheimische Wahlbeobachter*innen stellten zahlreiche Ungereimtheiten fest (taz 2.11.2020). Gemäß OSZE waren die Parlamentswahlen kompetitiv und insgesamt wurden die Grundfreiheiten respektiert. Dennoch haben weitverbreitete Vorwürfe von der Ausübung von Druck auf die Wähler und der unklaren Abgrenzung zwischen der Regierungspartei und dem Staat das Vertrauen der Öffentlichkeit in einige Aspekte des Wahlvorganges unterminiert. Der grundlegend überarbeitete Rechtsrahmen bot eine solide Grundlage für die Abhaltung demokratischer Wahlen und die technischen Aspekte der Wahlen wurden trotz der Herausforderungen durch die COVID-19-Pandemie effizient gehandhabt. Jedoch hat sich die Dominanz der Regierungspartei in den Wahlkommissionen negativ auf die Wahrnehmung ihrer Unparteilichkeit und Unabhängigkeit ausgewirkt, insbesondere auf den unteren Ebenen (OSCE/ODIHR 1.11.2020; vgl. HRW 13.1.2021).
In Folge rief die Opposition zum Boykott der Stichwahl am 21.11.2020 in 17 Direktwahlkreisen auf, wodurch sich alle Kandidaten des Georgischen Traums sich bei einer Wahlbeteiligung von 26% durchsetzen konnten (KP 26.11.2020; vgl. Eurasianet 27.11.2020). Die Oppositionsparteien planen aus Protest, ihre Parlamentssitze nicht zu besetzen (KP 26.11.2020; vgl. Eurasianet 27.11.2020, Jam 26.11.2020). Die 90 Abgeordneten der Regierungspartei sind ausreichend, damit das Parlament seine Arbeit aufnehmen kann - um Gesetze zu verabschieden, die Abgeordneten auf die Parlamentsausschüsse zu verteilen und eine Regierung zu ernennen. Das Parlament wird jedoch nicht in der Lage sein, die Verfassung zu ändern oder die Präsidentin abzusetzen (Jam 26.11.2020; vgl. HRW 13.1.2021). Als Regierungschef wurde Giorgi Gacharia ernannt. Dieser ist nach nur zwei Monaten im Amt am 18.2.2021 zurückgetreten (Standard 18.2.2021, 22.2.2021). Als Nachfolger wurde der frühere Verteidigungsminister Irakli Garibaschwili mit den Stimmen der Regierungsfraktion Georgischer Traum zum neuen Regierungschef gewählt (Standard 22.2.2021).
Die Opposition boykottiert Stand Ende Februar 2021 weiterhin die Arbeit im Parlament (Standard 22.2.2021). Es ist weder durch die Intervention von US-Botschafter Kelly Degnan noch durch andere internationale Moderatoren gelungen, die politische Krise in Georgien zu lösen und die Opposition davon zu überzeugen, den Parlamentsboykott aufzugeben (Jam 26.11.2020; vgl. HRW 13.1.2021). Oppositionsvertreter zeigten sich zuletzt aber zu Gesprächen mit der Regierung bereit, um Auswege aus der Krise zu finden. Die Situation müsse entschärft werden, sagte der Oppositionspolitiker Nika Melia und bekräftigte zugleich seine Forderung nach Neuwahlen, welche die Regierungsfraktion aber vehement ablehnt. Zuletzt hatte sich die Lage zugespitzt, weil Melia in Untersuchungshaft genommen werden sollte. Ihm wird die versuchte Erstürmung des Parlaments 2019 vorgeworfen. Verhandlungen mit der Opposition seien notwendig, sagte Garibaschwili, "aber nicht mit diesen Verbrechern" (Standard 22.2.2021).
Sicherheitslage
Letzte Änderung: 29.03.2021
Die Lage kann in den meisten Landesteilen als stabil bezeichnet werden. Die Konflikte um die beiden separatistischen georgischen Regionen Abchasien und Südossetien sind indes ungelöst und verursachen Spannungen (EDA 28.7.2020). Die schlechten wirtschaftlichen Bedingungen und die hohe Arbeitslosigkeit haben zu einem Anstieg der allgemeinen Kriminalität beigetragen, die jedoch immer noch niedriger ist, als in vielen europäischen Ländern (MSZ o.D.; vgl. EDA 28.7.2020).
Im Dezember 2017 führte eine Reihe von Operationen georgischer Spezialkräfte in der Hauptstadt und im Pankisi-Tal [Munizipalität Achmeta, Region Kachetien] zur Verhaftung von Militanten, die beschuldigt wurden, an Terroranschlägen im Ausland beteiligt gewesen zu sein und Berichten zufolge beabsichtigten, Ziele auf georgischem Boden anzugreifen (MAECI 27.1.2021). Die politische Lage ist polarisiert (SZ 18.2.2021).
Die Situation an der De-facto-Grenze zwischen Georgien und den abtrünnigen Regionen Abchasien und Südossetien ist seit dem georgisch-russischen Krieg im August 2008 weitgehend ruhig. Doch bleibt die Lage angesichts der Unvereinbarkeit der Positionen und der zahlreichen Behinderungen des kleinen Grenzverkehrs angespannt. Russland betreibt gegenüber beiden Regionen eine Politik der informellen militärischen und wirtschaftlichen Annexion. Seit dem August-Krieg 2008 stellt Moskau finanzielle Unterstützung für die sozio-ökonomische Entwicklung und die Infrastruktur bereit und gewährt der abchasischen und südossetischen Bevölkerung Zugang zur russischen Staatsbürgerschaft. Russland unterhält weiterhin Stützpunkte und Truppen in Abchasien und Südossetien, darunter zwischen 3.000 und 4.000 Soldaten sowie Grenzschutztruppen des Inlandsgeheimdienstes FSB, welche die Demarkationslinien (administrative border lines – ABL) zum georgischen Kernland sichern. Zwischen Tiflis und den De-facto-Regierungen in Sochumi und Zchinwali bestehen keine offiziellen bilateralen Kontakte. Einziges Forum zum Austausch auf hochrangiger politischer Ebene sind die vierteljährlichen internationalen Gespräche im Rahmen des Genfer Prozesses. Trotzdem hat Georgien seit 2012 seine Politik der Isolation Abchasiens und Südossetiens aufgegeben und bemüht sich um Kooperation auf humanitärer Ebene. Dazu zählt etwa das Angebot, der abchasischen und südossetischen Bevölkerung den kostenfreien Zugang zum georgischen Bildungs- und Gesundheitssystems zu ermöglichen (bpb 26.8.2020; vgl. ACLED 2.2020).
Aus Sicht Abchasiens und Südossetiens ist der politische Status ihrer Gebiete endgültig geklärt. Sie lehnen Verhandlungen mit Georgien über eine gemeinsame Staatlichkeit ab und verfolgen den Aufbau bilateraler Beziehungen unter Anerkennung ihrer Unabhängigkeit. Die Regierung in Tiflis pocht dagegen auf die Wahrung der territorialen Integrität Georgiens. Sie versucht, ihre guten Beziehungen zur EU und den USA zu nutzen, aber auch multilaterale Foren wie die UNO, um ihrer Position Nachdruck zu verschaffen (bpb 26.8.2020). Gemäß dem georgischen Gesetz über "besetzte Gebiete" vom 23. Oktober 2008 sind die Gebiete der Autonomen Republik Abchasien und der Region Zchinwali (Südossetien) als "besetzt" zu betrachten (MAECI 27.1.2021).
Wegen Zugangsbeschränkungen gibt es nur wenige Informationen über die humanitäre Lage und Menschenrechtslage in Abchasien und Südossetien (US DOS 11.3.2020). Der EU-Sonderbeauftragte für den Südkaukasus und die EU-Beobachtermission (EUMM) unterstützen aktiv die Bemühungen um Konfliktlösung (EC 5.2.2021). Obwohl der EUMM der Zutritt zu Abchasien und Südossetien verwehrt bleibt, und es weiterhin zu Zwischenfällen kommt, konnte bisher ein Wiederaufflammen der bewaffneten Auseinandersetzungen verhindert werden (bpb 26.8.2020).
Rechtsschutz / Justizwesen
Letzte Änderung: 29.03.2021
Das Gesetz garantiert ein ordnungsgemäßes Verfahren, aber die damit verbundenen Regelungen werden nicht immer respektiert. Urteile des Verfassungsgerichts in Bezug auf ordnungsgemäße Verfahren werden unvollständig umgesetzt, es kommt zu administrativen Verzögerungen bei Gerichtsverfahren, zu Verletzungen der Unschuldsvermutung, die Nichteinhaltung von Vorschriften in Bezug auf Inhaftierung und Verhöre und die Verweigerung des Zugangs zu einem Anwalt bei der Festnahme (FH 3.3.2021; vgl. US DOS 11.3.2020).
Wichtige Herausforderungen bleiben in Bezug auf die Unabhängigkeit und Rechenschaftspflicht der Justiz bestehen. Das Vertrauen der Öffentlichkeit in den Hohen Rat der Justiz ist nach wie vor gering. Am 30.9.2020 verabschiedete das Parlament weitere Gesetzesänderungen in Bezug auf das Ernennungsverfahren von Richtern des Obersten Gerichtshofs, ohne die einschlägige Stellungnahme der Venedig-Kommission abzuwarten und ohne die fortbestehenden Unzulänglichkeiten in diesem Verfahren vollständig zu beheben. Das Hauptaugenmerk der Reformen der Staatsanwaltschaft im Jahr 2020 lag weiterhin auf der Trennung der Funktionen zwischen Ermittlern und Staatsanwälten. Ein entsprechendes Gesetzespaket wurde vorbereitet (EC 5.2.2021).
Die Stärkung eines unabhängigen und nach rechtsstaatlichen Grundsätzen handelnden Justizwesens gehört zu den wichtigsten Zielen der Regierung und wird fortgesetzt. NGOs begleiten den Reformprozess sehr aktiv und sehr kritisch mit. Ungeachtet der institutionellen Unabhängigkeit der Justiz ist das Vertrauen der Bevölkerung in die Justiz wenig ausgeprägt. Politisch motivierte Strafverfolgung war bis [zum Regierungswechsel] 2012 erkennbar und erfolgte in der Regel durch fingierte Vorwürfe von Korruption, Amtsmissbrauch oder Steuervergehen. Seit 2012 laufende Ermittlungen oder mit rechtskräftigen Urteilen abgeschlossene Strafverfahren gegen hochrangige Mitglieder und nachgeordnete Mitarbeiter der ehemaligen Regierung werden von georgischen und ausländischen NGOs nicht als politisch motiviert eingeschätzt, sondern beruhen auf rechtswidrigen bzw. strafrechtlich relevanten Handlungen durch Amtsträger oder Parteifunktionäre der Vorgängerregierung. Die Tatsache, dass Gerichte hierbei nicht immer den Anträgen der Staatsanwaltschaft folgen, zeigt eine wachsende Unabhängigkeit der Justiz und Grenzen für eine etwaige politische Zielsetzung der Verfahren. Nach dem Regierungswechsel 2012/13 erfolgte eine kontinuierliche Liberalisierung des Strafrechts. Eine feststellbare niedrigere Verurteilungsrate ist auf eine stärkere Emanzipierung der Richterschaft von den Anträgen der Staatsanwaltschaft zurückzuführen, aber auch auf eine Stärkung der Rechte der Verteidigung im Strafprozess (AA 17.11.2020).
In den Jahren 2016-2020 hat die Regierungspartei Georgischer Traum zwei Wellen der Justizreform umgesetzt. Die Änderungen umfassten die Einführung der elektronischen Zuordnung von Fällen; die Einführung des Amtes des unabhängigen Inspektors des Hohen Justizrates in das Justizsystem; und Verbesserung der Normen zur Disziplinarhaftung von Richtern und zu Gerichtsverfahren. Es wurden wichtige Schritte unternommen, um die Transparenz und Offenheit der Aktivitäten des Hohen Justizrates zu erhöhen (TI 30.10.2020). Trotz der laufenden Justizreformen bleiben die Einmischung der Exekutive und der Legislative in die Gerichte ein erhebliches Problem, ebenso wie die Korruption und der Mangel an Transparenz und Professionalität bei Gerichtsverfahren. Nach einem neuen verfassungsrechtlichen Rahmen, der nach den Präsidentschaftswahlen 2018 in Kraft trat, werden die Richter des Obersten Gerichtshofs nicht mehr vom Präsidenten, sondern vom Hohen Justizrat ernannt und vom Parlament gebilligt. Ein gerichtliches Selbstverwaltungsorgan wählt die Mehrheit der Mitglieder des Rates (FH 3.3.2021). Bei der Justizreform ist der Ansatz der Behörden fragmentiert und inkonsistent. In bestimmten Fällen diente die Reform nur dazu, die Interessen einer kleinen Gruppe zu stärken (TI 30.10.2020).
Sicherheitsbehörden
Letzte Änderung: 29.03.2021
Das Innenministerium und der Staatssicherheitsdienst (SSSG) tragen die Hauptverantwortung für die Durchsetzung der Gesetze und die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung. Das Ministerium ist die primäre Organisation der Strafverfolgung und umfasst die nationale Polizei, die Grenzsicherheitsdienste und die georgische Küstenwache. Der SSSG ist der Inlandsnachrichtendienst, der für Spionageabwehr, Terrorismusbekämpfung und Korruptionsbekämpfung zuständig ist. Es gibt Anzeichen dafür, dass die zivilen Behörden zeitweise keine wirksame Kontrolle über die Sicherheitskräfte ausüben (US DOS 11.3.2020).
Bis zum Regierungswechsel im Oktober 2012 waren Exekutivorgane, z. B. Staatsanwaltschaft, Polizei oder Finanzbehörden, häufig von der Regierung als Machtinstrument oder von Regierungsangehörigen oder ihnen nahestehenden Personen als Mittel zur rechtswidrigen Erlangung u. a. wirtschaftlicher Vorteile missbraucht worden. Seit dem Regierungswechsel hat der Machtmissbrauch in dem Ausmaß aufgehört. Die Regierung behält jedoch einen erheblichen informellen Einfluss auf Politik und Justiz bei. Bestechung bzw. Bestechlichkeit von Polizisten sind allgemein nicht mehr zu verzeichnen. In ihrer Rolle als Hüter von Regeln werden sie öffentlich als zurückhaltend, aber auch oft als untätig oder wenig effektiv wahrgenommen. Die Geheim- und Nachrichtendienste treten nicht als Repressionsinstrumente auf, sind jedoch in ihrer Tätigkeit auch im Inneren nicht transparent. NGOs fordern jedoch eine organisatorische Trennung der Sicherheitsdienste vom Innenministerium (AA 17.11.2020).
Die Wirksamkeit der staatlichen Mechanismen zur Untersuchung und Bestrafung von Missbrauch durch Strafverfolgungsbehörden und Sicherheitskräfte ist begrenzt (US DOS 11.3.2020; vgl. FH 3.3.2021) und Straffreiheit bei Misshandlungsfällen bleibt ein anhaltendes Problem (HRW 13.1.2021; vgl. US DOS 11.3.2020, FH 3.3.2021), insbesondere bei Fällen, die vor der Arbeitsaufnahme des Büros der staatlichen Inspektoren (State Inspector‘s Office) am 1.11.2019 geschahen (HRW 13.1.2021). Neben der Beobachtung etwa der gesetzeskonformen Verarbeitung von personenbezogenen Daten ist eine weitere Hauptaufgabe des State Inspector‘s Service die unparteiische und wirksame Untersuchung schwerer Verbrechen (inklusive Folter), die von Vertretern der Strafverfolgungsbehörden gegen die Menschenrechte und Freiheiten verübt werden, sowie Untersuchung von Straftaten, die unter Anwendung von Gewalt oder unter Verletzung der persönlichen Würde eines Opfers begangen wurden (SIS o.D.).
Eine laufende Polizeireform zielt auf die Trennung der Rollen zwischen Staatsanwälten und Ermittlern sowie zwischen operativen und investigativen Funktionen verschiedener Polizeibeamter ab. Bürgernahe und nachrichtendienstlich geführte Polizeiarbeit sollen ausgeweitet; die zentralisierte analytische Arbeit verbessert, der Kampf gegen Cyberkriminalität und organisierte Kriminalität intensiviert sowie die internationale Zusammenarbeit ausgebaut werden (EC 5.2.2021).
Im Jahr 2020 erhielt das Büro des State Inspector's Office bis August über 1.300 Berichte über mutmaßliche Misshandlungen durch Strafverfolgungsbehörden und andere Beamte und leitete in 168 Fällen strafrechtliche Ermittlungen ein, meist wegen Amtsmissbrauchs, aber auch wegen unmenschlicher und erniedrigender Behandlung. Im gleichen Zeitraum erhielt das Büro des Ombudsmannes 68 Beschwerden über Misshandlungen durch Gefängnispersonal oder Polizei (HRW 13.1.2021).
NGOs und Menschrechtsaktivisten
Letzte Änderung: 29.03.2021
Die Zivilgesellschaft ist robust (FH 3.3.2021). Menschenrechtsorganisationen und andere Nichtregierungsorganisationen (NRO) können sich ohne Probleme registrieren und ihre Arbeit durchführen; ohne jede staatliche Behinderung ermitteln, öffentlich Ergebnisse präsentieren und Kritik äußern. Sie werden in der Öffentlichkeit gut wahrgenommen und können auch Einfluss auf die politische Willensbildung ausüben (AA 17.11.2020; vgl. EC 5.2.2021, US DOS 11.3.2020). Während manche NGOs in die politischen Diskussionen einbezogen werden (FH 3.3.2021; vgl. AA 17.11.2020, EC 5.2.2021, US DOS 11.3.2020), berichten andere, dass sie unter Druck stehen, vor allem in Form von öffentlicher Kritik von Regierungsbeamten aber auch seitens der Opposition (FH 3.3.2021; vgl. US DOS 11.3.2020).
Trotz der Schwäche der zivilgesellschaftlichen Organisationen in Bezug auf die Zahl der Mitglieder und der Abhängigkeit von finanziellen Zuwendungen aus dem Ausland spielen sie eine entscheidende Rolle bei der Formulierung der staatlichen Politik und der Aufsicht. Über die von der EU unterstützten Nationalen Plattform des Forums der Zivilgesellschaft hat Letztere die Möglichkeit, ihre Anliegen auf internationaler Ebene zu äußern (BS 29.4.2020; vgl. EC 5.2.2021). Die Zivilgesellschaft ist weiterhin sehr aktiv, wenn es darum geht, öffentliche Institutionen, auch bis zu einem gewissen Grad auf lokaler Ebene, zur Rechenschaft zu ziehen (EC 5.2.2021).
Vor dem Hintergrund der COVID-19-Pandemie spielte die Zivilgesellschaft mehr denn je eine wichtige Rolle bei der Unterstützung von Bedürftigen (EC 25.2.2021).
Allgemeine Menschenrechtslage
Letzte Änderung: 29.03.2021
Artikel 7 der georgischen Verfassung verpflichtet den Staat zu Anerkennung und Schutz der universellen Menschenrechte; sie sind direkt anwendbares Recht für Staat und Bürger. Einzelne Menschenrechte sind explizit in eigenen Verfassungsartikeln aufgeführt. Mit dem Büro des Public Defenders (Ombudsperson), aber auch dem Menschenrechtsausschuss des Parlaments bestehen weithin bekannte Institutionen und Beschwerdeeinrichtungen. Auch Staatsanwaltschaft und Gerichte, die in Georgien an Unabhängigkeit und Vertrauen in der Bevölkerung gewonnen haben, werden zunehmend zur Wahrung individueller Rechte in Anspruch genommen. Darüber hinaus können lokale und internationale Menschenrechtsorganisationen ohne jede staatliche Behinderung ermitteln und öffentlichkeitswirksam Ergebnisse präsentieren und Kritik äußern. Menschenrechte und die Rechte von Minderheiten werden vom Staat weitgehend geachtet und gestärkt. Die Lage der Menschenrechte hat sich weiter den internationalen Standards angenähert und in vielen Bereichen einen guten Stand erreicht. In einigen Bereichen der Gesellschaft sind insbesondere Minderheitenrechte wenig akzeptiert, sodass Minderheiten mit Benachteiligung und Diskriminierung rechnen müssen. Vereinzelt kommt es auch zu gewalttätigen Handlungen. Erhebliche Fortschritte gab es insbesondere im Justizwesen und im Strafvollzug, wo eine menschenrechtswidrige Behandlung in aller Regel nicht mehr festgestellt werden kann (AA 17.11.2020).
Beim Schutz der Versammlungs- und Meinungsfreiheit gibt es systemische Probleme. Seit Jahren wird die georgische Regierung immer noch für politische Verfolgung und politische Inhaftierung verantwortlich gemacht. Die Bedrohung durch Informationsmanipulation und Radikalisierung im polarisierten Medienumfeld nehmen zu. Der Schutz der Rechte verschiedener Minderheitengruppen und die Umsetzung von Gleichberechtigung gehören immer noch zu den größten Herausforderungen im Lande. Ungeachtet der positiven Gesetzesänderungen der letzten Jahre und der verstärkten Reaktion auf die begangenen Verbrechen, ist die Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt immer noch eine große Herausforderung in der georgischen Gesellschaft. Die Lage von Menschen mit Behinderungen ist immer noch ernst. Ethnische und religiöse Minderheiten sowie Angehörige sexueller Minderheiten sind immer noch Gegenstand von systemischer Diskriminierung und Stigmatisierung (HRC 2021; vgl. US DOS 11.3.2020). In Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie wurden nicht dominante und bereits marginalisierten Gruppen aus dem Anti-Krisen-Aktionsplan ausgeschlossen. Die Krise wird vermutlich einen schweren und langfristigen Einfluss auf die Durchsetzung der Gleichstellungspolitik haben (HRC 2021). Die Straffreiheit bei Missbrauch durch Strafverfolgungsbehörden bleibt ein anhaltendes Problem (HRW 13.1.2021; vgl. US DOS 11.3.2020).
Georgien ist weiterhin, trotz der COVID-19-bedingten Herausforderungen, der Umsetzung, den Verpflichtungen und Zusagen des EU-Assoziierungsabkommens verpflichtet. Die Angleichung an die europäischen Standards im Bereich der Menschenrechte wurde auch 2020 im Großen und Ganzen fortgesetzt. Verbesserungen 2019/2020 konzentrierten sich auf die Entwicklung und Umsetzung einer neuen Menschenrechtsstrategie, die insbesondere auf die Rechte des Kindes, häusliche Gewalt und die Inklusion von Mitgliedern gefährdeter Gruppen/Minderheiten abzielt (EC 5.2.2021).
Es kommt weiterhin zu eklatanten Menschenrechtsverletzungen in den separatistischen Regionen Georgiens (HRC 2021; vgl. US DOS 11.3.2020), darunter rechtswidrige oder willkürliche Tötungen und Inhaftierungen (US DOS 11.3.2020).
Meinungs- und Pressefreiheit
Letzte Änderung: 29.03.2021
Die Verfassung und die Gesetze sehen Meinungs- und Pressefreiheit vor. Die Bürger können dieses Recht im Allgemeinen frei ausüben, obwohl es Vorwürfe gibt, die Regierung schütze die Freiheiten zuweilen nicht ausreichend (US DOS 11.3.2020; vgl. AA 17.11.2020). Die Medienlandschaft ist dynamisch und pluralistisch, aber auch polarisiert (EC 5.2.2021, vgl. RSF 2020, AA 17.11.2020, FH 3.3.2021). Im Laufe des Jahres 2019 äußerten Journalisten, NGOs und die internationale Gemeinschaft Bedenken hinsichtlich des Umfelds für den Medienpluralismus. Einige Medien und NGOs äußerten weiterhin ihre Besorgnis über die Lage der Medien und den politischen Einfluss (US DOS 11.3.2020; vgl. RSF 2020, AA 17.11.2020). Straftaten gegen Medienschaffende, Bürgerreporter und Medienunternehmen sind selten. Bei den Protesten im Juni 2019 wurden einige Journalisten verletzt und einzelne NGOs geben an, dass Journalisten von der Polizei gezielt angegriffen wurden (US DOS 11.3.2020).
Die Bürger genießen im Allgemeinen Meinungsfreiheit, auch in der Online-Kommunikation. Allerdings haben Watchdog-Gruppen in den letzten Jahren Bedenken geäußert, dass verschiedene sicherheitsrelevante Gesetze die staatlichen Behörden befähigen, Überwachung und Datenerfassung ohne eine angemessene unabhängige Aufsicht vorzunehmen (FH 3.3.2021, vgl. US DOS 11.3.2020, AA 17.11.2020).
Die Reformen der letzten Jahre haben die Transparenz des Medienbesitzes und den Pluralismus des Satellitenfernsehens verbessert, aber die Eigentümer bestimmen immer noch häufig die redaktionellen Inhalte. Gewalt gegen Journalisten kommt seltener vor, obwohl häufig von Drohungen berichtet wird. Laut „Reporter ohne Grenzen“ rangiert Georgien im „World Press Freedom Index 2020“, ebenso wie im Jahr davor, auf Platz 60 von 180 Ländern (RSF 2020).
Mangelnde Professionalität der Journalisten und parteiische Berichterstattung sind verbreitet und beschränken nicht nur Qualität, sondern auch Unabhängigkeit der Presse (AA 17.11.2020). Informationsmanipulation und Radikalisierung nehmen zu. Der Gebrauch von Hassreden, unanständiger Sprache und das Ignorieren journalistischer Ethiknormen sind Alltag, sowohl bei regierungsnahen als auch eindeutig oppositionellen Medien (HRC 2021).
Im März 2021 wurden geheime Tonaufnahmen aus den Jahren 2011-2012 veröffentlicht, gemäß denen Polizeibeamte beauftragt worden seien, Personen - oft Teenager - einzuschüchtern, die in sozialen Medien Bera Iwanischwili - Rapmusiker und Sohn des Gründers der heutigen Regierungs- bzw. damals noch Oppositionspartei Georgischer Traum, Bidzina Iwanischwili - kritisierten. In die Vorfälle war u.a. auch der spätere Premierminister Irakli Gharibaschwili involviert (OC 7.3.2021; vgl. GT 11.3.2021). Nach der Veröffentlichung leitete die Staatsanwaltschaft Ermittlungen wegen unerlaubten Abhören, Aufzeichnen und Veröffentlichen von Privatgesprächen ein; nicht jedoch wegen dem Inhalt dieser Gespräche (GT 11.3.2021).
Relevante Bevölkerungsgruppen
Frauen
Letzte Änderung: 29.03.2021
Gesetzlich sind Frauen den Männern gleichgestellt und genießen auch im öffentlichen Leben die gleichen Rechte, die sie aber aufgrund gesellschaftlicher Traditionen und Konventionen, ungeachtet gleich hohen Bildungsstandes, nicht immer ausüben können (AA 17.11.2020; vgl. FH 3.3.2021). Die Gleichstellung der Geschlechter stellt nach wie vor eine Herausforderung dar. Frauen zählen zu den vulnerabelsten Gruppen (PD 2.4.2020).
Gewalt gegen Frauen ist weiterhin ein ernstes Problem und zählt derzeit zu den wichtigsten Menschenrechtsthemen der Regierung. Fälle häuslicher Gewalt werden von der Gesellschaft und den Behörden meist als interne Familienangelegenheit betrachtet. Die Bereitschaft, dagegen Maßnahmen zu ergreifen, nimmt jedoch weiterhin zu (AA 17.11.2020; vgl. HRC 2021, FH 3.3.2021). Der Kampf gegen häusliche Gewalt ist eine der Prioritäten der Regierung und der Staatsanwaltschaft. Jedoch trotz der Fortschritte der vergangenen Jahre ist eine effiziente Strafverfolgung immer noch herausfordernd (HRC 2021). Die Unterstützung im Rahmen der bilateralen Zuweisung zwischen Georgien und der EU für 2019 konzentrierte sich auf die Entwicklung und Umsetzung einer neuen Menschenrechtsstrategie, die insbesondere auf die Rechte des Kindes, häusliche Gewalt und die Einbeziehung von Mitgliedern gefährdeter Gruppen/Minderheiten abzielt (EC 5.2.2021).
2019 wurden 4.185 Fälle häuslicher Gewalt von den Behörden strafrechtlich verfolgt, verglichen mit 3.232 im Jahr 2018 und 1.986 im Jahr 2017. Im Jahr 2019 wurden 51% der Beschuldigten in Untersuchungshaft genommen. Laut NGOs zeigten sowohl Strafverfolgungsbehörden als auch die Staatsanwälte in Tiflis eine verbesserte Professionalität bei der Bekämpfung von Verbrechen in Verbindung mit häuslicher Gewalt (US DOS 11.3.2020). Im Jahr 2019 wurden 19 Morde an Frauen gemeldet, von denen zehn Anzeichen von häuslicher Gewalt aufwiesen. Darüber hinaus wurden 22 versuchte Morde an Frauen gemeldet, davon 18 aufgrund häuslicher Gewalt (PD 2.4.2020).
Gesetze über häusliche Gewalt schreiben die Anordnung vorübergehender Schutzmaßnahmen vor, einschließlich einstweiliger Verfügungen, die es einem Täter verbieten, sich dem Opfer für sechs Monate zu nähern und Gemeinschaftseigentum, wie beispielsweise einen Wohnsitz oder ein Fahrzeug, zu nutzen. Das Büro der Ombudsperson erklärte, dass die Opfer oft berichteten, dass sie unangemessene Antworten von Strafverfolgungsbeamten auf Verstöße gegen einstweilige Verfügungen erhielten. Seit August 2018 gilt die Verletzung einer einstweiligen Verfügung als Straftat (US DOS 11.3.2020).
Schutz vor häuslicher Gewalt kann in Frauenhäusern oder Einrichtungen für Mütter und Kinder geboten werden (AA 17.11.2020). Lokale NGOs und die Regierung betreiben gemeinsam eine 24-Stunden-Hotline und Unterkünfte für misshandelte Frauen und ihre minderjährigen Kinder. Plätze in Schutzeinrichtungen sind begrenzt und nur vier der zehn Regionen des Landes verfügen über solche Einrichtungen (US DOS 11.3.2020). Häusliche Gewalt wird oft nur mit bedingten Strafen geahndet und es gibt Fälle, in denen die Polizei versucht, zwischen Opfer und Täter zu vermitteln, anstatt eine Anzeige aufzunehmen; insbesondere wenn Täter und Polizist sich kennen (ifact 12.7.2018).
Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz und im öffentlichen Raum wurden 2019 gesetzlich definiert (US DOS 11.3.2020; vgl. PD 2.4.2020). Man findet kaum Frauen in Führungspositionen (NZZ 30.12.2020; vgl. FH 3.3.2021). Der Global-Gender-Gap-Index des World Economic Forums sah Georgien 2020 auf Rang 74 (2018: 99) von 153 Ländern in Hinblick auf die Gesamtlage der Frauen. Beim Subindex 'political empowerment' lag das Land 2020 auf Rang 94 (WEF 2020).
Im Frühjahr 2020 wurden während der COVID-19-Krise besondere Maßnahmen ergriffen, um von häuslicher Gewalt Betroffene zu unterstützen. Sie wurden von Bewegungseinschränkungen befreit und Informationen über staatliche Unterstützung wurden bereitgestellt (EC 5.2.2021; vgl. HRC 2021). Die Zahl der Anzeigen wegen häuslicher Gewalt ist in dieser Zeit angestiegen (EC 5.2.2021).
Bewegungsfreiheit
Letzte Änderung: 29.03.2021
Georgier können im Allgemeinen frei ins Ausland und innerhalb des von der Regierung kontrollierten Territoriums reisen. Sie können ihren Wohnsitz, ihre Beschäftigung oder ihre Ausbildung ohne unangemessene Einmischung wechseln (FH 3.3.2021).
Es ist nach dem georgischen Recht illegal, von Russland aus über Südossetien oder Abchasien nach Georgien einzureisen. Wenn man auf diese Weise nach Georgien kommt, muss man mit Strafverfolgung rechnen, die mit potenziell hohen Bußgeldern und/oder einer Freiheitsstrafe von bis zu vier Jahren verbunden ist. Wenn der Reisepass mit Ein-/Ausreisestempeln der separatistischen Behörden versehen ist, können die georgischen Behörden dies als illegale Einreise über einen nicht anerkannten Grenzübergang betrachten (FCO 25.2.2021).
Bei der Ausreise aus Georgien erfolgt dem Anschein nach eine strenge Pass- und Identitätskontrolle. Ziel ist es, aufenthaltsrechtliche Verstöße, insbesondere aber mit Haftbefehl gesuchte Straftäter zu identifizieren. Die wiederholten Festnahmen von Personen, die mit internationalem Haftbefehl