TE Bvwg Erkenntnis 2021/8/23 W166 2193179-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 23.08.2021
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Entscheidungsdatum

23.08.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z5
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §9 Abs1 Z1
AsylG 2005 §9 Abs4
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z4
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs3 Z1
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch


W166 2193179-1/14E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Carmen LOIBNER-PERGER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen (BBU) GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 20.03.2018, Zahl XXXX , zu Recht erkannt:

A) Der Beschwerde wird stattgegeben und der angefochtene Bescheid ersatzlos aufgehoben.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 26.04.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

Mit gerichtsmedizinischen Gutachten wurde nach einer körperlichen Untersuchung des Beschwerdeführers am 08.07.2015 das dem Beschwerdeführer zugewiesene Geburtsdatum XXXX nicht widerlegt und die Vollendung des 17. Lebensjahres bei Stellung des Antrags auf internationalen Schutz am 26.04.2015 für möglich befunden.

Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) vom 07.12.2016 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten abgewiesen, dem Beschwerdeführer aber der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 07.12.2017 erteilt.

In der Begründung führte die belangte Behörde aus, dass der Beschwerdeführer nicht glaubhaft machen konnte, sein Heimatland aus wohlbegründeter Furcht vor einer Verfolgung verlassen zu haben. Im Falle einer Rückkehr könne jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass der Beschwerdeführer aufgrund fehlender sozialer Netzwerke in Afghanistan sowie aufgrund seines Analphabetismus und seiner schlechten Ausbildung einer realen Gefahr im Sinne des Art. 3 EMRK ausgesetzt wäre.

Mit Schreiben vom 28.11.2017 brachte der Beschwerdeführer einen Antrag auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung ein.

Aufgrund der Vormerkungen des Beschwerdeführers im kriminalpolizeilichen Aktenindex leitete das BFA in weiterer Folge ein Verfahren zur Aberkennung des subsidiären Schutzstatus ein. Am 19.03.2018 fand eine niederschriftliche Einvernahme des Beschwerdeführers im Aberkennungsverfahren statt.

Mit Bescheid des BFA vom 20.03.2018 wurde der dem Beschwerdeführer mit Bescheid vom 07.12.2016 zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 von Amts wegen aberkannt (Spruchpunkt I.). Die mit Bescheid vom 07.12.2016 erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter wurde ihm gem. § 9 Abs. 4 entzogen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 5 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung nach § 52 Abs. 2 Z 4 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan gemäß 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt V.). Weiters wurde ausgesprochen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt (Spruchpunkt VI.).

Die Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten begründete die belangte Behörde im Wesentlichen damit, dass die für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten maßgeblichen Gründe gem. § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG nicht mehr vorliegen würden. Die Zuerkennung des damaligen Schutzes sei dem Beschwerdeführer aufgrund seiner damaligen Minderjährigkeit erteilt worden. Nunmehr sei der Beschwerdeführer volljährig, gesund und arbeitsfähig und daher nicht mehr besonders schutzbedürftig.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, in welcher der Beschwerdeführer im Wesentlichen geltend machte, dass sich die Lage in Afghanistan und die persönlichen Umstände des Beschwerdeführers im Vergleich zum Entscheidungszeitpunkt über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht geändert hätten. Der Aberkennungsgrund des § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG liege nicht vor, zum Zeitpunkt der Gewährung des subsidiären Schutzes sei der Beschwerdeführer bereits volljährig gewesen und dies sei im Bescheid vom 07.12.2016 auch festgestellt worden. Die Feststellung des BFA, dem Beschwerdeführer sei subsidiärer Schutz aufgrund seiner Minderjährigkeit zuerkannt worden sei daher aktenwidrig.

Die Beschwerde samt dem Verwaltungsakt langte am 20.04.2018 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

Am 19.06.2018 verurteilte das Bezirksgericht XXXX den Beschwerdeführer zur Zahl XXXX wegen der Begehung des Vergehens des versuchten Diebstahls nach §§ 15, 127 StGB zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von sechs Wochen, bedingt unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren.

Am 26.06.2019 verurteilte das Landesgericht für Strafsachen XXXX den Beschwerdeführer zur Zahl XXXX wegen des Vergehens des (teils versuchten) unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften unter Anwendung von § 28 StGB nach § 15 StGB iVm § 27 Abs. 3 SMG zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von sieben Monaten, davon sechs Monate bedingt unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger von Afghanistan, gehört der Volksgruppe der Paschtunen an und ist sunnitischer Moslem. Er spricht die Sprache Paschtu.

Die Identität steht mit der für das Verfahren ausreichenden Sicherheit fest.

Das Geburtsdatum des Beschwerdeführers wird mit XXXX angenommen.

Der Beschwerdeführer wurde im Dorf XXXX im Distrikt XXXX in der Provinz Nangarhar in Afghanistan geboren. Der Beschwerdeführer hat keine Schule in Afghanistan besucht. Der Beschwerdeführer hat keine Geschwister und die Eltern des Beschwerdeführers sind 2013 verstorben. Ein Onkel des Beschwerdeführers väterlicherseits und zwei Onkel mütterlicherseits leben in Afghanistan. Der Beschwerdeführer hat zu seinen Verwandten seit seiner Ausreise aus Afghanistan keinen Kontakt mehr.

Der Beschwerdeführer ist volljährig, ledig, arbeitsfähig, gesund und steht nicht in ärztlicher Behandlung. Im Hinblick auf die Pandemie zum Corona-Virus SARS-CoV2 (COVID -19) ist festzuhalten, dass der Beschwerdeführer ein junger, gesunder Mann ohne schwerwiegende Erkrankung ist, womit er nicht unter die Risikogruppe der älteren Personen bzw. der Personen mit einschlägigen Vorerkrankungen fällt und in der Folge daher keiner spezifischen Gefahr durch die Pandemie ausgesetzt ist. Festgestellt wird daher, dass die aktuell vorherrschende Pandemie aufgrund des Corona-Virus kein Rückkehrhindernis darstellt. Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde.

Der Beschwerdeführer wurde in Österreich zwei Mal strafrechtlich verurteilt:

Am 19.06.2018 verurteilte das Bezirksgericht XXXX den Beschwerdeführer zur Zahl XXXX wegen der Begehung des Vergehens des versuchten Diebstahls nach §§ 15, 127 StGB zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von sechs Wochen, bedingt unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren.

Am 26.06.2019 verurteilte das Landesgericht für Strafsachen XXXX den Beschwerdeführer zur Zahl XXXX wegen des Vergehens des (teils versuchten) unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften unter Anwendung von § 28 StGB nach § 15 StGB iVm § 27 Abs. 3 SMG zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von sieben Monaten, davon sechs Monate bedingt unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren.

Der Beschwerdeführer bezieht Leistungen aus der Grundversorgung und ist nicht selbsterhaltungsfähig.

1.2. Zum Privat- und Familienleben des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer reiste im Jahr 2014 aus Afghanistan aus und stellte am 26.04.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz im österreichischen Bundesgebiet. Seit seiner Asylantragstellung am 26.04.2015 war der Beschwerdeführer als Asylwerber vorläufig rechtmäßig in Österreich aufhältig. Nach Erlassung des Bescheides des BFA vom 07.12.2016 war er in Österreich als subsidiär Schutzberechtigter rechtmäßig aufhältig, und zwar aufgrund einer bis zum 07.12.2017 befristet erteilten Aufenthaltsberechtigung.

Der inzwischen seit mehr als sechs Jahren in Österreich aufhältige Beschwerdeführer hat bisher Deutschkurse besucht, aber keine Deutschprüfung abgelegt. Der Beschwerdeführer hatte im Bundesgebiet noch kein Beschäftigungsverhältnis und hat keine Ausbildung absolviert. Familiäre Bindungen in Österreich bestehen nicht. Der Beschwerdeführer hält keinen privaten Kontakt zu Österreichern.

Dem Beschwerdeführer droht in seinem Herkunftsstaat Afghanistan keine individuelle sowie asylrelevante Verfolgung. Der Beschwerdeführer verfügte weder zur Zeit der Zuerkennung des subsidiären Schutzes, noch zur Zeit der Aberkennung über ein tragfähiges familiäres oder soziales Netz in Afghanistan. Dies hat sich auch im gegenständlichen Beschwerdeverfahren nicht geändert.

Der Beschwerdeführer war bereits zum Zeitpunkt der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten volljährig. Dies wurde mit Bescheid des BFA vom 07.12.2016 festgestellt.

Unter Berücksichtigung der individuellen Situation des Beschwerdeführers und der Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan (einschließlich der urbanen Gebiete, insbesondere Kabul, Mazar-e Sharif und Herat) wird festgestellt, dass sich die Umstände, die zur Gewährung des subsidiären Schutzes geführt haben, seit der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten durch die belangte Behörde nicht wesentlich und nachhaltig verändert bzw. verbessert haben. Vielmehr ist es aufgrund der Machtübernahme durch die Taliban mit Einnahme der Hauptstadt Kabul am 15.08.2021 zu einer drastischen Verschlechterung der Sicherheitslage gekommen.

1.3. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Kurzinformation der Staatendokumentation vom 20.08.2021

Aktuelle Lage

Die Spitzenpolitiker der Taliban sind aus Katar, wo viele von ihnen im Exil lebten, nach Afghanistan zurückgekehrt. Frauen werden Rechte gemas der Scharia [islamisches Recht] genießen, so der Sprecher der Taliban. Nach Angaben des Weisen Hauses haben die Taliban versprochen, dass Zivilisten sicher zum Flughafen von Kabul reisen können. Berichten zufolge wurden Afghanen auf dem Weg dorthin von Taliban-Wachen verprügelt. Lokalen Berichten zufolge sind die Straßen von Kabul ruhig. Die Militanten sind in der ganzen Stadt unterwegs und besetzen Kontrollpunkte (bbc.com o.D.a).

Die internationalen Evakuierungsmissionen von Ausländerinnen und Ausländern sowie Ortskräften aus Afghanistan gehen weiter, immer wieder gibt es dabei Probleme. Die Angaben darüber, wie viele Menschen bereits in Sicherheit gebracht werden konnten, gehen auseinander, die Rede ist von 2.000 bis 4.000, hauptsachlich ausländisches Botschaftspersonal. Es mehren sich aktuell Zweifel, dass auch der Großteil der Ortskräfte aus dem Land gebracht werden kann. Bei Protesten gegen die Taliban in Jalalabad wurden unterdessen laut Augenzeugen drei Menschen getötet (orf.at o.D.a). Jalalabad wurde kampflos von den Taliban eingenommen. Mit ihrer Einnahme sicherte sich die Gruppe wichtige Verbindungsstraßen zwischen Afghanistan und Pakistan. Am Mittwoch (18.8.2021) wurden jedoch Menschen in der Gegend dabei gefilmt, wie sie zur Unterstützung der alten afghanischen Flagge marschierten, bevor Berichten zufolge in der Nahe Schüsse abgefeuert wurden, um die Menschenmenge zu zerstreuen. Das von den Taliban neu ausgerufene Islamische Emirat Afghanistan hat bisher eine weiße Flagge mit einer schwarzen Schahada (Glaubensbekenntnis) verwendet. Die schwarz-rot-grüne Trikolore, die heute von den Demonstranten verwendet wurde, gilt als Symbol für die abgesetzte Regierung. Der Sprecher der Taliban erklärte, dass derzeit Gespräche über die künftige

Nationalflagge geführt werden, wobei eine Entscheidung von der neuen Regierung getroffen werden soll (bbc.com o.D.b).

Während auf dem Flughafen der afghanischen Hauptstadt Kabul weiter der Ausnahmezustand herrscht, hat es bei einer Kundgebung in einer Provinzhauptstadt erneut Tote gegeben. In der Stadt Asadabad in der Provinz Kunar wurden nach Angaben eines Augenzeugen mehrere Teilnehmer einer Kundgebung zum afghanischen Nationalfeiertag getötet. Widerstand bildete sich auch im Panjshirtal, eine Hochburg der Tadschiken nordöstlich von Kabul. In der „Washington Post“ forderte ihr Anführer Ahmad Massoud, Chef der Nationalen Widerstandsfront Afghanistans, Waffen für den Kampf gegen die Taliban. Er wolle den Kampf für eine freiheitliche Gesellschaft fortsetzen (orf.at o.D.c).

Einem Geheimdienstbericht für die UN zufolge verstärken die Taliban die Suche nach "Kollaborateuren". In mehreren Städten kam es zu weiteren Anti-Taliban-Protesten. Nach Angaben eines Taliban-Beamten wurden seit Sonntag mindestens 12 Menschen auf dem Flughafen von Kabul getötet. Westliche Länder evakuieren weiterhin Staatsangehörige und Afghanen, die für sie arbeiten. Der IWF erklärt, dass Afghanistan keinen Zugang mehr zu seinen Geldern haben wird (bbc.com o.D.d).

Vor den Taliban in Afghanistan flüchtende Menschen sind in wachsender medizinischer Not. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) berichtete, dass in Kliniken in Kabul und anderen afghanischen Städten immer mehr Fälle von Durchfallerkrankungen, Mangelernährung, Bluthochdruck und Corona-Symptomen aufträten. Dazu kämen vermehrt Schwangerschaftskomplikationen. Die WHO habe zwei mobile Gesundheitsteams bereitgestellt, aber der Einsatz müsse wegen der Sicherheitslage immer wieder unterbrochen werden (zdf.de 18.8.2021).

Priorität für die VN hat derzeit, dass die UNAMA-Mission in Kabul bleibe. Derzeit befindet sich ein Teil des VN-Personals am Flughafen, um einen anderen Standort (unklar ob in AF) aufzusuchen und von dort die Tätigkeit fortzuführen. Oberste Priorität der VN sei es die Präsenz im Land sicherzustellen. Zwecks Sicherstellung der humanitären Hilfe werde auch mit den Taliban verhandelt (? Anerkennung). Ein Schlüsselelement dabei ist die VN-SR Verlängerung des UNAMA-Mandats am 17. September 2021 (VN 18.8.2021).

Exkurs:

Die Anführer der Taliban

Mit der Eroberung Kabuls haben die Taliban 20 Jahre nach ihrem Sturz wieder die Macht in Afghanistan übernommen. Dass sie sich in ersten öffentlichen Statements gemäßigter zeigen, wird von internationalen Beobachtern mit viel Skepsis beurteilt. Grund dafür ist unter anderem auch, dass an der Spitze der Miliz vor allem jene Männer stehen, die in den vergangenen Jahrzehnten für Terrorangriffe und Gräueltaten im Namen des Islam verantwortlich gemacht werden. Geheimdienstkreisen zufolge führen die Taliban derzeit Gespräche, wie ihre Regierung aussehen wird, welchen Namen und Struktur sie haben soll und wer sie führen wird. Demzufolge könnte Abdul Ghani Baradar einen Posten ähnlich einem Ministerpräsidenten erhalten („Sadar-e Asam“) und allen Ministern vorstehen. Er trat in den vergangenen Jahren als Verhandler und Führungsfigur als einer der wenigen Taliban- Führer auch nach außen auf. Wesentlich weniger international im Rampenlicht steht der eigentliche Taliban-Chef und „Anführer der Gläubigen“ (arabisch: amir al-mu’minin), Haibatullah Akhundzada. Er soll die endgültigen Entscheidungen über politische, religiöse und militärische Angelegenheiten der Taliban treffen. Der religiöse Hardliner gehört ebenfalls zur Gründergeneration der Miliz, während der ersten Taliban-Herrschaft fungierte er als oberster Richter des Scharia- Gerichts, das für unzählige Todesurteile verantwortlich gemacht wird. Der Oberste Rat der Taliban ernannte 2016 zugleich Mohammad Yaqoob und Sirajuddin Haqqani zu Akhundzadas Stellvertretern. Letzterer ist zugleich Anführer des für seinen Einsatz von Selbstmordattentätern bekannten Haqqani-Netzwerks, das von den USA als Terrororganisation eingestuft wird. Es soll für einige der größten Anschläge der vergangenen Jahre in Kabul verantwortlich sein, mehrere ranghohe afghanische Regierungsbeamte ermordet und etliche westliche Bürger entführt haben. Vermutet wird, dass es die Taliban- Einsätze im gebirgigen Osten des Landes steuert und großen Einfluss in den Führungsgremien der Taliban besitzt. Der etwa 45-jährige Haqqani wird von den USA mit einem siebenstelligen Kopfgeld gesucht. Zur alten Führungsriege gehört weiters Sher Mohammad Abbas Stanikzai. In der Taliban- Regierung bis 2001 war er stellvertretender Außen- und Gesundheitsminister. 2015 wurde er unter Mansoor Akhtar Büroleiter der Taliban. Als Chefunterhändler führte er später die Taliban-Delegationen bei den Verhandlungen mit den USA und der afghanischen Regierung an. Ein weiterer offenkundig hochrangiger Taliban ist der bereits seit Jahren als Sprecher der Miliz bekannte Zabihullah Mujahid. In einer ersten Pressekonferenz nach der Machtübernahme schlug er, im Gegensatz zu seinen früheren Aussagen, versöhnliche Töne gegenüber der afghanischen Bevölkerung und der internationalen Gemeinschaft an (orf.at o.D.b; vgl. bbc.com o.D.c).

Stärke der Taliban-Kampftruppen

Obwohl in den vergangenen Jahren 100.000 ausländische Soldaten im Land waren, konnten die Taliban-Führer eine offenkundig von ausländischen Geheimdiensten unterschätzte Kampftruppe zusammenstellen. Laut BBC geht man derzeit von rund 60.000 Kämpfern aus, mit Unterstützern aus anderen Milizen sollen fast 200.000 Männer aufseiten der Taliban den Sturz der Regierung ermöglicht haben. Völlig unklar ist noch, wie viele Soldaten aus der Armee übergelaufen sind (orf.at o.D.b).

Quellen:

?        bbc.com (o.D.a): Afghan women to have rights within Islamic law, Taliban say,https://www.bbc.com/news/world-asia-58249952

?        bbc.com (o.D.b): Flag-waving protesters defy Taliban in Afghan city,https://www.bbc.com/news/live/world-asia-58219963, Zugriff 18.8.2021

?        bbc.com (o.D.c): Afghanistan: Who's who in the Taliban leadership, https://www.bbc.com/news/world-asia-58235639, Zugriff 18.8.2021

?        bbc.com (o.D.d): Taliban step up hunt for collaborators - UN report, https://www.bbc.com/news/live/world-asia-58219963, Zugriff 19.8.

?        orf.at (o.D.a): Sorge um afghanische Ortskräfte wächst, https://orf.at/stories/3225305/, Zugriff 18.8.2021

?        orf.at (o.D.b): Die Anführer des Taliban-Netzwerks, https://orf.at/stories/3225195/, Zugriff 18.8.2021

?        orf.at (o.D.c): Erneut Tote bei Kundgebung gegen Taliban, https://orf.at/stories/3225444/, Zugriff 19.8.2021

?        zdf.de (18.8.2021): Die aktuelle Entwicklung in Afghanistan, https://www.zdf.de/nachrichten/politik/afghanistan-taliban-blog-100.html, Zugriff 18.8.2021

?        UN Bericht – Ständige Vertretung Österreichs bei den VN (18.8.2021): Briefing zur Lage in AF in NY 17.8.2021, per Email

Sonderkurzinformation der Staatendokumentation vom 17.08.2021

Der afghanische Präsident Ashraf Ghani ist angesichts des Vormarsches der Taliban auf Kabul außer Landes geflohen. Laut al-Jazeera soll das Ziel Taschkent in Usbekistan sein. Inzwischen haben die Taliban die Kontrolle über den Präsidentenpalast in Kabul übernommen. Suhail Schahin, ein Unterhändler der Taliban bei den Gesprächen mit der afghanischen Regierung in Katar, versicherte den Menschen in Kabul eine friedliche Machtübernahme und keine Racheakte an irgendjemanden zu begehen (tagesschau.de 15.8.2021). Am 15.08.21 haben die Taliban mit der größtenteils friedlichen Einnahme Kabuls und der Besetzung der Regierungsgebäude und aller Checkpoints in der Stadt den Krieg für beendet erklärt und das Islamische Emirat Afghanistan ausgerufen. Man wünsche sich friedliche Beziehungen mit der internationalen Gemeinschaft. Die erste Nacht unter der Herrschaft der Taliban im Land sei ruhig verlaufen. Chaotische Szenen hätten sich nur am Flughafen in Kabul abgespielt, von welchem sowohl diplomatisches Personal verschiedener westlicher Länder evakuiert wurde als auch viele Afghanen versuchten, außer Landes zu gelangen. Den Taliban war es zuvor gelungen, innerhalb kürzester Zeit fast alle Provinzen sowie alle strategisch wichtigen Provinzhauptstädte wie z.B. Kandahar, Herat, Mazar-e Sharif, Jalalabad und Kunduz einzunehmen. In einigen der Städte seien Gefängnisse gestürmt und Insassen befreit worden (BAMF 16.8.2021; vgl. bbc.com o.D., orf.at 16.8.2021).

Die Taliban zeigten sich am Sonntag gegenüber dem Ausland unerwartet diplomatisch. „Der Krieg im Land ist vorbei“, sagte Taliban-Sprecher Mohammed Naim am Sonntagabend dem Sender al-Jazeera. Bald werde klar sein, wie das Land künftig regiert werde. Rechte von Frauen und Minderheiten sowie die Meinungsfreiheit würden respektiert, wenn sie der Scharia entsprächen. Man werde sich nicht in Dinge anderer einmischen und Einmischung in eigene Angelegenheiten nicht zulassen (orf.at 16.8.2021a). Schätzungen zufolge wurden seit Anfang 2021 über 550.000 Afghanen durch den Konflikt innerhalb des Landes vertrieben, darunter 126.000 neue Binnenvertriebene zwischen dem 7. Juli 2021 und dem 9. August 2021. Es gibt zwar noch keine genauen Zahlen über die Zahl der Afghanen, die aufgrund der Feindseligkeiten und Menschenrechtsverletzungen aus dem Land geflohen sind, es deuten aber Quellen darauf hin, dass Zehntausende von Afghanen in den letzten Wochen internationale Grenzen überquert haben (UNHCR 8.2021). Der Iran richtete angesichts des Eroberungszugs der militant-islamistischen Taliban im Nachbarland Pufferzonen für Geflüchtete aus dem Krisenstaat ein. Die drei Pufferzonen an den Grenzübergängen im Nord- sowie Südosten des Landes sollen afghanischen Geflüchteten vorerst Schutz und Sicherheit bieten. Indes schloss Pakistan am Sonntag einen wichtigen Grenzübergang zu seinem Nachbarland. Innenminister Sheikh Rashid verkündete die Schließung des Grenzübergangs Torkham im Nordwesten Pakistans am Sonntag, ohne einen Termin für die Wiedereröffnung zu nennen. Tausende Menschen säßen auf beiden Seiten der Grenze fest (orf.at 16.8.2021b). Mittlerweile baut die Türkei an der Grenze zum Iran weiter an einer Mauer. Damit will die Türkei die erwartete Ankunft von afghanischen Flüchtlingen verhindern (Die Presse 17.8.2021). Medienberichten zufolge haben die Taliban in Afghanistan Checkpoints im Land errichtet und sie kontrollieren auch die internationalen Grenzübergänge (bisherige Ausnahme: Flughafen Kabul). Seit Besetzung der strategischen Stadt Jalalabad durch die Taliban, wurde eine Fluchtbewegung in den Osten (Richtung Pakistan) deutlich erschwert. Die Wahrscheinlichkeit, dass Afghanen aus dem westlichen Teil des Landes oder aus Kabul nach Pakistan gelangen ist gegenwärtig eher gering einzuschätzen. Es ist naheliegender, dass Fluchtrouten ins Ausland über den Iran verlaufen. Es ist jedoch auch denkbar, dass die mehrheitlich sunnitische Bevölkerung Afghanistans (statt einer Route über den schiitisch dominierten Iran) stattdessen die nördliche, alternative Route über Tadschikistan oder auch Turkmenistan wählt. Bereits vor zwei Monaten kam es laut EU-Kollegen zu einem Anstieg von Ankünften afghanischer Staatsbürger in die Türkei. Insofern ist davon auszugehen, dass eine erste Migrationsbewegung bereits stattgefunden hat. Pakistan gibt laut Medienberichten an, dass der Grenzzaun an der afghanisch-pakistanischen Grenze halte (laut offiziellen Angaben sind etwa 90 Prozent fertiggestellt) (VB 17.8.2021).

Laut Treffen mit Frontex, kann zur Türkei derzeit noch keine Veränderung der Migrationsströme festgestellt werden. Es finden täglich nach Schätzungen ca. max. 500 Personen ihren Weg (geschleust) vom Iran in die Türkei. Dies ist aber keine außergewöhnlich hohe Zahl, sondern eher der Durchschnitt. Der Ausbau der Sicherung der Grenze zum Iran mit Mauer und Türmen schreitet immer weiter voran, und nach einstimmiger Meinung von Mig VB und anderen Experten kann die Türkei mit ihrem Militär (Hauptverantwortlich für die Grenzsicherung) und Organisationen (Jandarma, DCMM) jederzeit, je nach Bedarf die illegale Einreise von Flüchtlingen aus dem Iran kontrollieren. Die Türkei ist jedoch - was Afghanistan angeht - mit sehr hohem Interesse engagiert. Auch die Türkei möchte keine neunen massiven Flüchtlingsströme über den Iran in die Türkei (VB 17.8.2021a). IOM muss aufgrund der aktuellen Sicherheitslage in Afghanistan die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr und Reintegration mit sofortiger Wirkung weltweit aussetzen. Die Aussetzung der freiwilligen Rückkehr erfolgt bis auf Widerruf (IOM 16.8.2021). Während die radikalislamischen Taliban ihren Feldzug durch Afghanistan vorantreiben, gehören Frauen und Mädchen zu den am meisten gefährdeten Gruppen. Schon in der letzten Regierungszeit der Taliban (1996–2001) herrschten in Afghanistan extreme patriarchale Strukturen, Misshandlungen, Zwangsverheiratungen sowie strukturelle Gewalt und Hinrichtungen von Frauen. Die Angst vor einer Wiederkehr dieser Gräueltaten ist groß. Eifrig sorgten Kaufleute in Afghanistans Hauptstadt Kabul seit dem Wochenende bereits dafür, Plakate, die unverschleierte Frauen zeigten, aus ihren Schaufenstern zu entfernen oder zu übermalen – ein Sinnbild des Gehorsams und der Furcht vor dem Terror der Taliban (orf.at 17.8.2021).

Quellen:

• BAMF (16.8.2021): Briefing Notes, per Email

• bbc.com (o.D.): Afghanistan: US takes control of Kabul airport to evacuate staff from

countryhttps://www.bbc.com/news/world-asia-58227029, Zugriff 16.8.2021

• Die Presse (17.8.2021): Die Türkei schottet sich mit Mauer gegen Flüchtlinge ab,

https://www.diepresse.com/6021855/die-turkei-schottet-sich-mit-mauer-gegenfluchtlinge-ab,

Zugriff 17.8.2021

• IOM (16.8.2021): Aussetzung der Freiwilligen Rückkehr nach Afghanistan, per Email

• orf.at (16.8.2021): Krieg in Afghanistan ist vorbei, https://orf.at/stories/3225020/, Zugriff

16.8.2021

• orf.at (16.8.2021a): Verzweifelte Fluchtversuche aus Kabul,

https://orf.at/stories/3225106/, Zugriff 17.8.2021

• orf.at (16.8.2021b): Nachbarländer in großer Unruhe, https://orf.at/stories/3225071/,

Zugriff 17.8.2021

Wien, 17.8.2021

. BFA Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Seite 4 von 5

• orf.at (17.8.2021): Ein Alptraum für Frauen, https://orf.at/stories/3225041/, Zugriff

17.8.2021

• tagesschau.de (15.8.2021): Präsident Ghani ins Ausland geflohen,

https://www.tagesschau.de/ausland/asien/afghanistan-kabul-ghani-101.html, Zugriff

16.8.2021

• UNHCR (8.2021): UNHCR Position on Returns to Afghanistan, Refworld | UNHCR

Position on Returns to Afghanistan, Zugriff 17.8.2021

• VB – Verbindungsbeamtin des BMI für Thailand/Pakistan [Österreich] (17.8.2021):

Auskunft des VB, per Email

• VB – Verbindungsbeamter des BMI für Türkei [Österreich] (17.8.2021a): Auskunft des

VB, per Email

Kommentar der Staatendokumentation:

Sicherheitslage:

Derzeit ist es zu früh, definitive Schlüsse zu ziehen. Es wird davon abhängen, wie sich das Verhältnis zwischen der afghanischen Armee und Polizei zu den Taliban entwickelt (Armee und Polizei haben sich praktisch kampflos ergeben). Ein Zugriff der Taliban auf die Ausrüstung des Sicherheitsapparats würde die Position der Taliban stärken, was aber nicht ausschließt, dass sich aus Kreisen des Sicherheitsapparats oder anderer Akteure im Land Widerstand formiert, der zu Kampfhandlungen führen könnte.

Wirtschaft/Versorgung:

Es ist ein wirtschaftlicher Einbruch möglich, der auch die Versorgungslage treffen kann – einerseits durch die Machtergreifung der Taliban, der potentiellen Flucht gebildeterer und wohlhabenderer Bevölkerungsgruppen sowie aufgrund des Fehlens der Wirtschaftskraft der internationalen Truppen (z.B. via lokaler Angestellter) sowie aufgrund der Frage, ob NGOs und internationale Organisationen weiter agieren dürfen. Hinzukommt auch die Frage, wie weit sich die Machtergreifung der Taliban auf die Berufstätigkeit von Frauen auswirken wird.

Menschenrechtslage:

Gruppen wie die Taliban (oder auch der IS) greifen nach einer Machtergreifung nicht unbedingt sofort auf ein volles Instrumentarium an Repressionen zurück, sondern tun dies oft eher sukzessive. Ob die Taliban ihr Verhalten als Macht im Staate dieses Mal eventuell teilweise anders gestalten werden, wird sich zeigen. Informationen zur aktuellen Menschenrechtslage würden daher derzeit nur eine Momentaufnahme darstellen, ohne eine belastbare Entscheidungsgrundlage vor dem Hintergrund des Umsturzes darzustellen. Aussagekräftige, zeitlich länger gültige Informationen zu Kernbereichen werden erst später zur Verfügung stehen.

Kurzinformation der Staatendokumentation vom 02.08.2021

Sicherheitslage und Gebietskontrolle

In Afghanistan ist die Zahl der konfliktbedingten Todesopfer derzeit so hoch wie nie zuvor seit Beginn der Aufzeichnungen durch UNHCR, mit durchschnittlich 500-600 Sicherheitsvorfällen pro Woche. Berichten zufolge liegt die Gebietskontrolle der Regierung auf dem niedrigsten Stand seit 2001 (UNHCR 20.7.2021).

Nach Angaben des Long War Journals (LWJ) kontrollieren die Taliban 223 der 407 Distrikte Afghanistan. Die Regierungstruppen kämpfen aktuell (Ende Juli / Anfang August 2021) gegen Angriffe der Taliban auf größere Städte, darunter Herat, Lashkar Gah und Kandahar, dessen Flughafen von den Taliban bombardiert wurde. Seit 1.8.2021 gibt es keine Flüge mehr zu und von dem Flughafen (AJ 1.8.2021). Von den 17 Distrikten Herats sind nur Guzara und die Stadt Herat unter Kontrolle der Regierung. Die übrigen Bezirke werden von den Taliban gehalten, die versuchen, in das Zentrum der Stadt vorzudringen (TN 31.7.2021; vgl. ANI 2.8.2021). Die afghanische Regierung entsendet mehr Truppen nach Herat, da die Kämpfe mit den Taliban zunehmen (ANI 2.8.2021; vgl. AJ 1.8.2021).

Zivile Opfer und Fluchtbewegungen

Zwischen 1.1.2021 und 30.6.2021 dokumentierte UNAMA 5.183 zivile Opfer und fast eine Verdreifachung der zivilen Opfer durch den Einsatz von improvisierten Sprengsätzen (IEDs) durch regierungsfeindliche Kräfte. Zwischen Mai und Juni 2021 gab es nach Angaben von UNAMA fast so viele zivile Opfer wie in den vier Monate davor (UNAMA 26.7.2021). Nach Angaben von Human Rights Watch (HRW) halten die Taliban hunderte Einwohner der Provinz Kandarhar fest, denen sie vorwerfen mit der Regierung in Verbindung zu stehen. Berichten zufolge haben die Taliban einige Gefangene getötet, darunter Angehörige von Beamten der Provinzregierung sowie Mitglieder der Polizei und der Armee (HRW 23.7.2021). UNOCHA zufolge wurden zwischen 1.1.2021 und 18.7.2021 294.703 Menschen in Afghanistan durch den Konflikt vertrieben (UNOCHA 22.7.2021). Noch kann keine Massenflucht afghanischer Staatsbürger in den Iran festgestellt werden, jedoch hat die Zahl der Neuankömmlinge zugenommen. Der Notstandsplan wurde bislang noch nicht aktiviert. Sollte er aktiviert werden, rechnet die iranische Regierung mit einem Zustrom vom 500.000 Menschen innerhalb von sechs Monaten, wobei davon ausgegangen wird, dass ihr Aufenthalt nur vorübergehend sein wird. UNHCR rechnet mit 150.000 Menschen innerhalb von drei Monaten (UNHCR 20.7.2021).

Weitere Entwicklungen

Die Taliban haben im Juli 2021 erklärt, dass sie der afghanischen Regierung im August ihren Friedensplan vorlegen wollen und dass die Friedensgespräche beschleunigt werden sollen (UNHCR 20.7.2021). Die afghanische Regierung hat am 25.7.2021 eine einmonatige Ausgangssperre über fast das gesamte Land verhängt, um ein Eindringen der Taliban in die Städte zu verhindern. Ausnahmen sind die Provinzen Kabul, Panjshir und Nangarhar. Die Ausgangssperre verbietet alle Bewegungen zwischen 22:00 und 04:00 (BBC 25.7.2021; vgl. TG 24.7.2021). In den von den Taliban eroberten Gebieten im Norden dürften Frauen laut Meldung vom 14.7.2021 nur vollverschleiert und mit männlicher Begleitung auf die Straße gehen (BAMF 20.7.2021; vgl. VOA 9.7.2021). Aufgrund von COVID-19 waren alle Schulen und Universitäten bis zum 23.7.2021 geschlossen (BAMF 19.7.2021; AAN 25.7.2021). Nach Angaben der für das Gesundheits- und Bildungswesen zuständigen Beamten soll die Wiedereröffnung in den Provinzen schrittweise erfolgen, je nach Ausbreitung von COVID-19 (AAN 25.7.2021). Mit 2.8.2021 werden die Flughäfen von Kabul und Mazar-e Sharif weiterhin national und international angeflogen. Der Flughafen von Herat ist national erreichbar (F 24 2.8.2021)

Quellen:

• AAN - Afghan Analyst Network (25.7.2021): Schools reopen in Afghanistan after months of

COVID-19 closure, https://www.aa.com.tr/en/asia-pacific/schools-reopen-in-afghanistan-aftermonths-of-covid-19-closure/2313635, Zugriff am 2.8.2021

• AJ - Aljazeera (1.8.2021): Afghan forces bomb Taliban in bid to halt advance on cities,

https://www.aljazeera.com/news/2021/8/1/rockets-hit-kandahar-airport-in-southernafghanistan, Zugriff am 2.8.2021

• ANI - Asian News International (2.8.2021): Afghan govt deploys more troops in Herat as

clashes with Taliban intensify, https://www.aninews.in/news/world/asia/afghan-govt-deploysmore-troops-in-herat-as-clashes-with-taliban-intensify20210802031342/, Zugriff am 2.8.2021

• ANI - Asian News International (13.7.2021): Over 5000 families displaced by violence in

Afghanistan's Kandahar, https://www.aninews.in/news/world/asia/over-5000-familiesdisplaced-by-violence-in-afghanistans-kandahar20210713192229/, Zugriff am 2.8.2021

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• BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (19.7.2021): Briefing Notes,

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• BBC - British Broadcasting Corporation (25.7.2021): Afghanistan curfew imposed as Taliban

militants advance, https://www.bbc.com/news/world-asia-57933364, Zugriff am 2.8.2021

• F 24 - Flightradar 24 (2.8.2021): https://www.flightradar24.com/34.57,69.21/8,

• HRW - Human Rights Watch (23.7.2021): Afghanistan: Threats of Taliban Atrocities in

Kandahar, https://www.hrw.org/news/2021/07/23/afghanistan-threats-taliban-atrocitieskandahar, Zugriff am 2.8.2021

• TG - The Guardien (24.7.2021): Curfew imposed in Afghanistan to curb Taliban offensive,

https://www.theguardian.com/world/2021/jul/24/curfew-imposed-in-afghanistan-tocurb-taliban-offensive, Zugriff am 2.8.2021

• TN - Tolonews (31.7.2021): Taliban Gets Closer to Herat City as Clashes Intensify,

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• UNAMA - United Nations Assistance Mission in Afghanistan (26.7.2021): Afghanistan Midyear

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Emergency preparedness and response in Iran,

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• UNOCHA - United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (22.7.2021):

Afghanistan -Weekly Humanitarian Update,

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• VOA - Voice of America (9.7.2021): Taliban Impose New Restrictions on Women, Media In

Afghanistan’s North, https://www.voanews.com/extremism-watch/taliban-impose-newrestrictions-women-media-afghanistans-north, Zugriff am 2.8.2021

Kurzinformation der Staatendokumentation vom 19.07.2021

Sicherheitslage und Gebietskontrolle durch die Taliban

Seit dem Beginn des Abzugs der US-Truppen und anderer Koalitionskräfte am 1.5.2021 kam es zu mehr Kampfhandlungen als in den Monaten zuvor. Nach Einschätzung des Long War Journal vom 13.7.2021 kontrollieren die Taliban 223 der 407 Distrikte in Afghanistan. Am 3.6.2021 waren es noch 90 Distrikte (LWJ 13.7.2021). Das Afghan Analysts Network schätzt, dass sich mit Stand 16.7.2021 229 Distriktzentren in den Händen der Taliban befinden. Nur in vier Provinzen sind die Distriktzentren noch vollständig in Regierungshand: Kabul, Panjshir, Kunar und Daikundi. Einige Gebiete konnten von der Regierung zurückerobert werden (AAN 16.7.2021; vgl. REU 8.7.2021). Wichtige Grenzübergänge zu Turkmenistan und Iran, beide in der Provinz Herat (BBC 10.7.2021; vgl. DW 14.7.2021, TN 13.7.2021) sowie zu Usbekistan in der Provinz Balkh (AJ 15.7.2021; vgl. AP 15.7.2021), wurden im Juli durch die Taliban erobert. Berichten zufolge haben die Taliban außerdem die Kontrolle über den afghanisch-pakistanischen Grenzort Spin Boldak (Dawn 18.7.2021; vgl. France 24 17.7.2021). Anfang Juli flohen mehr als 1.000 afghanische Sicherheitskräfte über die Grenze nach Tadschikistan, als sie von den Taliban attackiert wurden (BBC 10.7.2021; vgl. RFE/RL 7.7.2021). Turkmenistan hat Anfang Juli begonnen, schwere Waffen, Hubschrauber und andere Flugzeuge näher an die Grenze zu Afghanistan zu verlegen, und in der Hauptstadt werden Reservisten in Alarmbereitschaft versetzt (RFE/RL 11.7.2021).

Truppenabzug

Nach Angaben von US-Präsident Biden wird der Truppenabzug am 31.8.2021 abgeschlossen sein. Er verpflichtete sich, Tausende von afghanischen Übersetzern und ihre Familien, die an der Seite der USA arbeiteten, schnell zu evakuieren, und sagte, dass der Zeitplan für die Bearbeitung spezieller Einwanderungsvisa "dramatisch beschleunigt" worden sei. Und er sagte, die USA würden weiterhin zivile und humanitäre Hilfe leisten und sich auch für die Rechte von Frauen und Mädchen einsetzen (WH 19.7.2021). Anfang Juli wurde die Bagram-Airbase in der Provinz Parwan an die afghanischen Sicherheitskräfte übergeben (RFE/RL 11.7.2021, BBC 10.7.2021, AJ 2.7.2021).

Angriff auf Zivilisten / gezielte Tötungen

Es kommt weiterhin zu Angriffen auf und gezielten Tötungen von Zivilisten. Seit dem Beginn der Friedensgespräche in Doha im vergangenen Jahr sind vor allem Mitarbeiter des Gesundheitswesens, humanitäre Organisationen, Menschenrechtsverteidiger und Journalisten Ziel einer Welle von gezielten Tötungen gewesen (AI 16.6.2021). So wurden beispielsweise im Juni fünf Mitarbeiter eines Polio-Impf-Teams (APN 15.6.2021; vgl. VOA 15.6.2021) und zehn Minenräumer getötet (AI 16.6.2021; vgl. AJ 16.6.2021). Laut Berichten war der Juni 2021 der tödlichste Monat mit den meisten militärischen und zivilen Opfern seit 20 Jahren in Afghanistan (TN 2.7.2021; vgl. AJ 2.7.2021)

COVID-19

Die Delta-Variante treibt Beobachtern zufolge die Covid-19-Infektionen in Afghanistan in die Höhe, wobei die Dunkelziffer an Fällen weiterhin als sehr hoch geschätzt wird. Krankenhäuser kommen weiterhin an ihre Belastungsgrenze und es sind nicht genug Betten vorhanden um neue Covid-19 Patienten zu behandeln (DW 17.6.2021; vgl. USAID 11.6.2021) Gesundheitseinrichtungen berichten auch von Engpässen bei medizinischem Material und Sauerstoff (USAID 11.6.2021). Schulen und Universitäten sind weiterhin geschlossen (DW 17.6.2021; vgl. VOA 13.7.2021) und es gibt Berichte, wonach sich Menschen nicht streng an die Vorgaben halten und häufig keine Masken tragen (DW 17.6.2021; vgl. VOA 13.7.2021). Anfang Juli erreichten mehr als 1,4 Millionen Impfdosen des Herstellers Johnson & Johnson Afghanistan. Die Impfraten in Afghanistan sind nach wie vor extrem niedrig, weniger als 4% der Bevölkerung sind geimpft (UNICEF 9.7.2021).

Quellen:

AAN – Afghanistan Analysts Network (16.7.2021): Menace, Negotiation, Attack: The Taleban

take more District Centres across Afghanistan, https://www.afghanistananalysts.org/en/reports/war-and-peace/menace-negotiation-attack-the-taleban-take-moredistrict-centres-across-afghanistan/, Zugriff 15.7.2021

• ACLED - Armed Conflict Location and Event Data (3.2020): ACLED Methodology and Coding

Decisions around the Conflict in Afghanistan, https://acleddata.com/acleddatanew/wpcontent/uploads/dlm_uploads/2019/01/ACLED_Methodology-and-Coding-Decisions-Aroundthe-Conflict-in-Afghanistan_Mar2020_update.pdf Zugriff 29.10.2020

• ACLED - Armed Conflict Location and Event Data (o.D.): ACLED Dashboard,

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• AI - Amnesty International (16.6.2021): Afghanistan: Deliberate killing of civilians must be

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• AJ - Aljazeera (15.7.2021): Afghan gov’t claims it retook border crossing, Taliban denies,

https://www.aljazeera.com/news/2021/7/15/afghan-govt-says-pakistan-border-crossingretaken-from-taliban, Zugriff 19.7.2021

• AJ - Aljazeera (14.7.2021): Taliban claims capturing key Afghan border crossing with Pakistan,

https://www.aljazeera.com/news/2021/7/14/taliban-claims-capturing-key-afghan-bordercrossing-with-pakistan, Zugriff 15.7.2021

• AJ - Aljazeera (2.7.2021): US forces leave Afghanistan’s Bagram airbase after 20 years,

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• AJ - Aljazeera (27.6.2021): Afghanistan: Thousands flee fighting between government, Taliban,

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• AJ - Aljazeera (16.6.2021): Afghan deminers to „continue to save lives“ despite deadly attack,

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• BBC - British Broadcasting Corporation (10.7.2021): Taliban capture key Afghanistan border

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• France 24 (17.7.2021): Border crossing between Pakistan and Afghanistan reopens after

Taliban seizure, https://www.france24.com/en/live-news/20210717-border-crossing-betweenpakistan-and-afghanistan-reopens-after-taliban-seizure, Zugriff 19.7.2021

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• REU - Reuters (14.7.2021): Afghan Taliban seize border crossing with Pakistan in major

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• VOA - Voice of America (13.7.2021): Pandemic Halts Schooling for Afghan Students,

https://www.voanews.com/student-union/pandemic-halts-schooling-afghan-students, Zugriff

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• VOA - Voice of America (15.6.2021): Gunmen Kill 5 Polio Vaccinators in Afghanistan,

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• WH - White House, The [USA] (8.7.2021): Remarks by President Biden on the Drawdown of

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Auszug aus dem Länderinformationsblatt vom 11.06.2021

„COVID-19

Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO: https: // www.who.int/ emergencies/ diseases/nov el-coronav irus-2019/ situation-reports oder der Johns-Hopkins-Universität: https:// gisanddata.maps.arcgis.com/apps/ opsdashboard/index.h tml#/ bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.

Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl UNOCHA 19.12.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 2.9.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.9.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 14.1.2021; vgl. UNOCHA 18.2.2021, USAID 12.1.2021, UNOCHA 19.12.2020, RFE/RL 23.2.2021a).

Die fortgesetzte Ausbreitung der Krankheit in den letzten Wochen des Jahres 2020 hat zu einem Anstieg der Krankenhauseinweisungen geführt, wobei jene Einrichtungen die als COVID-19- Krankenhäuser in den Provinzen Herat, Kandahar und Nangarhar gelten, nach Angaben von Hilfsorganisationen seit Ende Dezember voll ausgelastet sind. Gesundheitseinrichtungen sehen sich auch zu Beginn des Jahres 2021 großen Herausforderungen bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung ihrer Kapazitäten zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung grundlegender Gesundheitsdienste gegenüber, insbesondere, wenn sie in Konfliktgebieten liegen (BAMF 8.2.2021; vgl. IOM 18.3.2021).

Die WHO äußerte ihre Besorgnis über die Gefahr der Verbreitung mutierter Viren in Afghanistan. In Pakistan ist bereits ein deutlicher Anstieg der Infektionen mit einer neuen Variante, die potenziell ansteckender ist und die jüngere Bevölkerung trifft, festgestellt worden. Das afghanische Gesundheitsministerium bereite sich auf eine potenzielle dritte Welle vor. Die Überwachung an der Grenze soll ausgeweitet und Tests verbessert werden. Angesichts weiterer Berichte über unzureichende Testkapazitäten im Land bleibt die Wirkung der geplanten Maßnahmen abzuwarten (BAMF 29.3.2021).

Laut Meldungen von Ende Mai 2021 haben afghanische Ärzte Befürchtungen geäußert, dass sich die erstmals in Indien entdeckte COVID-19-Variante nun auch in Afghanistan verbreiten könnte. Viele der schwerkranken Fälle im zentralen Krankenhaus für COVID-Fälle in Kabul, wo alle 100 Betten belegt seien, seien erst kürzlich aus Indien zurückgekehrte Personen (BAMF 31.5.2021; vgl. TG 25.5.2021, DW 21.5.2021, UNOCHA 3.6.2021). Seit Ende des Ramadans und einige Woche nach den Festlichkeiten zu Eid al-Fitr konnte wieder ein Anstieg der COVID-19 Fälle verzeichnet werden. Es wird vom Beginn einer dritten Welle gesprochen (UNOCHA 3,6,2021; vgl. TG 25.5.2021). Waren die [Anm.: offiziellen] Zahlen zwischen Februar und März relativ niedrig, so stieg die Anzahl zunächst mit April und dann mit Ende Mai deutlich an (WHO 4.6.2021; vgl. TN 3.6.2021, UNOCHA 3.6.2021). Es gibt in Afghanistan keine landeseigenen Einrichtungen, um auf die aus Indien stammende Variante zu testen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).

Mit Stand 3.6.2021 wurden der WHO offiziell 75.119 Fälle von COVID-19 gemeldet (WHO 3.6.2021), wobei die tatsächliche Zahl der positiven Fälle um ein Vielfaches höher eingeschätzt wird (IOM 18.3.2021; vgl. HRW 14.1.2021).

Maßnahmen der Regierung und der Taliban

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams“ (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams“ sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.3.2021; vgl. WB 28.6.2020). Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.3.2021; vgl. IOM 1.2021).

Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden (IOM 18.3.2021). Auch wenn der Lockdown offiziell nie beendet wurde, endete dieser faktisch mit Juli bzw. August 2020 und wurden in weiterer Folge keine weiteren Ausgangsperren erlassen (ACCORD 25.5.2021).

Laut IOM sind Hotels, Teehäuser und andere Unterkunftsmöglichkeiten derzeit [Anm.: März 2021] nur für Geschäftsreisende geöffnet. Für eine Person, die unter der Schirmherrschaft der IOM nach Afghanistan zurückkehrt und eine vorübergehende Unterkunft benötigt, kann IOM ein Hotel buchen. Personen, die ohne IOM nach Afghanistan zurückkehren, können nur in einer Unterkunftseinrichtung übernachten, wenn sie fälschlicherweise angeben, ein Geschäftsreisender zu sein. Da die Hotels bzw. Teehäuser die Gäste benötigen, um wirtschaftlich überleben zu können, fragen sie nicht genau nach. Wird dies durch die Exekutive überprüft, kann diese - wenn der Aufenthalt auf der Angabe von falschen Gründen basiert - diesen jederzeit beenden. Die betreffenden Unterkunftnehmer landen auf der Straße und der Unterkunftsbetreiber muss mit einer Verwaltungsstrafe rechnen (IOM AUT 22.3.2021). Laut einer anderen Quelle gibt es jedoch aktuell [Anm.: März 2021] keine Einschränkungen bei der Buchung eines Hotels oder der Unterbringung in einem Teehaus und es ist möglich, dass Rückkehrer und Tagelöhner die Unterbringungsmöglichkeiten nutzen (RA KBL 22.3.2021).

Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China (BAMF 8.2.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).

Die Taliban erlauben den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. Guardian 2.5.2020) und gaben im Januar 2020 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Millionen Dollar unterstützt wird. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion „unterstützen und erleichtern“ (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021), wenn der Impfstoff in Abstimmung mit ihrer Gesundheitskommission und in Übereinstimmung mit deren Grundsätzen eingesetzt wird (NH 7.4.2021). Offizielle Stellen glauben, dass die Aufständischen die Impfteams nicht angreifen würden, da sie nicht von Tür zu Tür gehen würden (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021).

Bei der Bekanntgabe der Finanzierung sagte ein afghanischer Gesundheitsbeamter, dass das COVAX-Programm 20% der 38 Millionen Einwohner des Landes abdecken würde (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021, IOM 18.3.2021). Das Gesundheitsministerium plant 2.200 Einrichtungen im ganzen Land, um Impfstoffe zu verabreichen, und die Zusammenarbeit mit Hilfsorganisationen, die in Taliban-Gebieten arbeiten (NH 7.4.2021). Die Weltbank und die asiatische Entwicklungsbank gaben laut einer Sprecherin des afghanischen Gesundheitsministeriums an, dass sie bis Ende 2022 Impfstoffe für weitere 20% der Bevölkerung finanzieren würden (REU 26.1.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a). Um dies zu erreichen, müssen sich die Gesundheitsbehörden sowohl auf lokale als auch internationale humanitäre Gruppen verlassen, die dorthin gehen, wo die Regierung nicht hinkommt (NH 7.4.2021).

Im Februar 2021 hat Afghanistan mit seiner COVID-19-Impfkampagne begonnen, bei der zunächst Mitglieder der Sicherheitskräfte, Mitarbeiter des Gesundheitswesens und Journalisten geimpft werden (RFE/RL 23.2.2021a). Die Regierung kündigte an, 60% der Bevölkerung zu impfen, als die ersten 500.000 Dosen COVID-19-Impfstoff aus Indien in Kabul eintrafen. Es wurde angekündigt, dass zuerst 150.000 Mitarbeiter des Gesundheitswesens geimpft werden sollten, gefolgt von Erwachsenen mit gesundheitlichen Problemen. Die Impfungen haben in Afghanistan am 23.2.2021 begonnen (IOM 18.3.2021). Wochen nach Beginn der ersten Phase der Einführung des Impfstoffs gegen COVID-19 zeigen sich in einige Distrikten die immensen Schwierigkeiten, die das Gesundheitspersonal, die Regierung und die Hilfsorganisationen überwinden müssen, um das gesamte Land zu erreichen, sobald die Impfstoffe in größerem Umfang verfügbar sind. Hilfsorganisationen sagen, dass 120 von Afghanistans rund 400 Distrikten - mehr als ein Viertel - als „schwer erreichbar“ gelten, weil sie abgelegen sind, ein aktiver Konflikt herrscht oder mehrere bewaffnete Gruppen um die Kontrolle kämpfen. Ob eine Impfkampagne erfolgreich ist oder scheitert, hängt oft von den Beziehungen zu den lokalen Befehlshabern ab, die von Distrikt zu Distrikt sehr unterschiedlich sein können (NH 7.4.2021).

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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