TE Bvwg Erkenntnis 2021/8/25 G305 2217870-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 25.08.2021
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Entscheidungsdatum

25.08.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §2 Abs1 Z13
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch


G305 2217870-1/11E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Dr. Ernst MAIER, MAS als Einzelrichter über die Beschwerde des irakischen Staatsangehörigen XXXX, geboren am XXXX, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX.2019, Zl. XXXX nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 11.08.2021 zu Recht erkannt:

A)       Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)       Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Am XXXX.2015 stellte der zum Aufenthalt im Bundesgebiet nicht berechtigte Beschwerdeführer (BF), vor Organen der öffentlichen Sicherheitsbehörde einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Am XXXX.2015 wurde er von Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes niederschriftlich einvernommen.

Anlässlich dieser Einvernahme gab er zu seinen Fluchtgründen befragt, an, dass er Schiit sei und schiitische Milizen ihn für den Krieg hätten rekrutieren wollen, was er nicht akzeptiert habe. Er habe Familie und wolle niemanden töten. Er habe zwar Angst, in den Krieg zu ziehen, fürchte jedoch keine Bedrohung von staatlicher Seite.

3. Am XXXX.2018 wurde der BF ab 08:00 Uhr durch Organe des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge BFA oder belangte Behörde) einvernommen.

Er gab an, sein Name laute XXXX, XXXX sei der Stammesname; entgegen den Aussagen bei der Erstbefragung sei er auch XXXX im Verwaltungsbezirk Kufa gewesen. Hinsichtlich seiner Fluchtgründe gab er an, am XXXX (Anm.: eine Jahreszahl nannte der BF nicht) den Befehl bekommen zu haben, nach XXXX zu ziehen um dort gegen den IS zu kämpfen. Dort angekommen, sei er gemeinsam mit anderen Kollegen (aus jeder Stadt sollen dies 100 Polizisten gewesen sein) den Milizen unterstellt worden. In Zehnergruppen seien sie einem Regiment der Hashd al Shabi (Anm.: eine Überbezeichnung der Volksmobilisierungseinheiten bzw. Milizen) zugeteilt worden. Als XXXX seien sie in der Minderheit gewesen und habe man ihnen gesagt, das zu tun, was ihnen aufgetragen worden sei. Sein Regiment sei in einer Region tätig gewesen, in welcher Zivilisten umgebracht worden seien; diese habe man einfach erschossen. Er habe abgelehnt, mitzumachen. Einer von den Geistlichen habe daraufhin angerufen und mitgeteilt, dass alle Polizisten, die Befehle missachten, an Ort und Stelle umgebracht werden sollten. Bei Fragen solle man antworten, der IS habe diese Polizisten getötet. Er habe zusammen mit einer anderen Person versucht zu flüchten, sei dabei jedoch am Bein angeschossen worden. Mit einem Taxi sei er nach XXXX gefahren, habe einen Pass beantragt und dann mit Geld, welches er von seinem Vater bekommen habe, das Land verlassen. Weitere Fluchtgründe habe er nicht. Bei einer Rückkehr fürchte er seine Tötung, nach seiner Flucht habe man seine Familie dreimal aufgesucht. Die Niederschrift wurde rückübersetzt und vom BF unterfertigt.

4. Mit Schreiben vom 21.01.2019 wurde der BF aufgefordert, Fragen zu seinem Privat- und Familienleben zu beantworten und Integrationsnachweise zu übermitteln. Er erstattete keine Stellungnahme.

5. Mit Bescheid der belangten Behörde vom vom XXXX.2019, Zl. XXXX wies das BFA den Antrag der beschwerdeführenden Partei hinsichtlich des Antrages auf Erteilung von internationalem Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt I.) und des Antrages auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt II.) und sprach aus, dass ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt werde (Spruchpunkt III.), gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm. § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt werde und die Abschiebung in den Irak gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für seine freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.). Diese Entscheidung begründete die belangte Behörde im Kern damit, dass es dem BF nicht gelungen sei, eine asylrelevante Bedrohung glaubhaft zu machen. Vielmehr habe er seine Heimat wegen der dort herrschenden, unsicheren Lage verlassen. Die vom BF genannten Fluchtgründe würden eklatant divergieren und Ungereimtheiten aufzeigen. Er habe keinerlei Einzelheiten zu seinem Polizeidienst nennen können und ergäben sich auch aus den vorgelegten Dokumenten Widersprüche. All dies würde verdeutlichen, dass es zu keiner Zeit eine konkrete Bedrohung gegeben habe. Trotz seiner angeblich langjährigen Tätigkeit für die Polizei habe er die Struktur des irakischen Innenministeriums nicht erläutern und auch zu seinen Tätigkeiten keine genauen Angaben machen können. Auch über das irakische Strafgesetzbuch habe er nicht Bescheid gewusst. Schlussendlich sei auch eine staatliche Verfolgung auszuschließen, da der BF seinen Heimatstaat legal und ohne Probleme habe verlassen können. Es gäbe keinerlei Hinweise darauf, dass er im Falle einer Rückkehr einer Verfolgung im Sinne des Art 3 EMRK ausgesetzt wäre.

6. Gegen diesen Bescheid erhob der BF mit Schreiben vom 18.04.2019 Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht, die er einerseits mit der Anfechtungserklärung verband, den Bescheid vollumfänglich anfechten zu wollen, andererseits mit den Anträgen verknüpfte, 1.) eine mündliche Beschwerdeverhandlung anzuberaumen, 2.) den angefochtenen Bescheid hinsichtlich dessen Spruchpunkt I. abzuändern und ihm den Status eines Asylberechtigten gemäß § 3 AsylG zuzuerkennen, 3.) alle zu seinen Lasten gehenden Rechtswidrigkeiten amtswegig aufzugreifen, 4.) in eventu möge ihm gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 4 jeweils der Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat zuerkannt werden, 5.) in eventu den Bescheid hinsichtlich des Spruchpunkte III. aufzuheben und festzustellen, dass die erlassene Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig sei und ihm eine Aufenthaltsberechtigung zu erteilen, 6.) in eventu den angefochtenen Bescheid zur Gänze zu beheben und die Angelegenheit zur neuerlichen Erlassung eines Bescheides an das Bundesamt zurückzuverweisen. In der Beschwerde brachte der Beschwerdeführer vor, dass die Behörde unzureichende Länderfeststellungen getroffen hätte und diese mit seinem Vorbringen nicht in Verbindung gebracht worden wären. Er sei konkret der Asa‘ib Ahl al-Haqq Miliz zugewiesen worden. Die von ihm bekannt gegebene Schussverletzung sei durch das BFA nicht positiviert worden, ein fachärztliches Gutachten nicht eingeholt worden. Bei der Einvernahme vor dem BFA sei er zudem nach seinem Beruf in Syrien gefragt worden. Dies verdeutliche, dass die ermittelnde Behörde die Ernsthaftigkeit habe fehlen lassen. Der BF sei als XXXX desertiert und drohe ihm daher Verfolgung. Der von ihm vorgelegte Dienstausweis bestätige, entgegen der Ansicht des BFA, dass der BF Polizist gewesen sei; auch die Beweise hinsichtlich seiner Ausbildungen in den Jahren XXXX und XXXX würden dies bestätigen. Im Irak habe seine Ehefrau vor seiner Ausreise davon gesprochen, sich Scheidung lassen zu wollen.

7. Am 24.04.2019 legte die belangte Behörde die vorliegende Beschwerde dem Bundesverwaltungsgericht (BVwG) vor und beantragte zugleich, diese als unbegründet abzuweisen.

8. Mit Eingabe vom 25.01.2021 langte die Vollmachtsbekanntgabe der im Kopf genannten Rechtsberatungsorganisation ein.

9. Mit Schreiben vom 10.08.2021 wurde die zeugenschaftliche Vernehmung der Lebensgefährtin des BF beantragt; zusätzlich wurde eine Stellungnahme zu Art 8 EMRK eingereicht.

10. Am 11.08.2021 wurde am BVwG eine mündliche Verhandlung im Beisein des Beschwerdeführers durchgeführt. Bei dieser waren neben einer Dolmetscherin für die arabische Sprache die Rechtsvertreterin des BF und die beantragte Zeugin, XXXX, anwesend; Vertreter der belangten Behörde erschienen nicht.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Identitätsfeststellungen

Der BF führt die im Urteilskopf angegebene Identität und wurde am XXXX in XXXX geboren. Er ist irakischer Staatsangehöriger und gehört der Ethnie der Araber an und ist Moslem schiitischer Glaubensausrichtung. Seine Muttersprache, die er in Wort und Schrift beherrscht, ist Arabisch. Er verfügt über Deutschkenntnisse auf dem Niveau A2.

Seit dem XXXX.2016 hat er den Hauptwohnsitz im Bundesgebiet (seit dem XXXX.2021 an der Anschrift XXXX).

In Österreich und dem Rest Europas leben keine Verwandten des BF.

Er führt seit knapp zweieinhalb Jahren eine Beziehung mit der als XXXX tätigen, aus XXXX stammenden slowakischen Staatsangehörigen, XXXX, geboren am XXXX. Erst seit dem XXXX.2021 besteht ein gemeinsamer Haushalt.

1.2. Zur Ausreise, Reise, Einreise des Beschwerdeführers in Österreich und seiner darauffolgenden Asylantragstellung:

Vor seiner Ausreise aus dem Irak lebte der BF in der Provinz Najaf.

Am XXXX.2015 flog der BF legal mittels Flugzeugs nach Istanbul. Von dort gelangte er schlepperunterstützt mit dem Bus nach Izmir und weiter mit einem Schlauchboot nach Griechenland, wo er zwar von der Polizei aufgegriffen wurde, jedoch keine Fingerabdrücke abgenommen wurden. Nach einem Tag bekam er eine Ausweisung und fuhr mit einer Fähre nach Athen. Über ihm unbekannte Länder gelangte er schließlich nach Österreich, wo er am XXXX.2015 den verfahrensgegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

Eine von den öffentlichen Sicherheitsbehörden durchgeführte EURODAC-Abfrage verlief negativ.

1.3. Zur individuellen Situation des Beschwerdeführers im Heimatstaat:

In seiner Heimat besuchte der BF sechs Jahre die Grundschule in XXXX; nachdem er diese beendet hatte, unterstützte er seinen Vater in der Landwirtschaft. Er war als XXXX tätig und wurde hier als Patrouillenfahrer und für Kontrollen für z.B. Personenkontrollen oder auch zur Abnahme von Waffen eingesetzt; er verdingte sich jedoch zusätzlich als XXXX.

Der BF war bereits zweimal verheiratet. Der letzten Ehe mit XXXX, geboren XXXX, entstammt ein knapp achtjähriger Sohn; aus einer früheren Ehe, die XXXX mit XXXX geschlossen und im selben Jahr auch geschieden wurde, hat der BF bereits einen etwa zwölf Jahre alten Sohn.

Die Eltern und insgesamt elf Geschwister des BF leben in der Provinz XXXX in einem Ort namens XXXX. XXXX lebt zusammen mit dem zweiten Sohn in XXXX. Der erste Sohn des BF lebt in XXXX.

Zuletzt lebte der BF mit seiner Ehefrau und dem Sohn sowie mit seinen Eltern, mit einem Bruder und einer Schwester an derselben Anschrift in XXXX. Im Eigentum der Familie steht ein Haus und ein etwa 20.000 m² großes Grundstück.

Derzeit leben die betagten Eltern des BF zusammen mit einem Bruder, der als XXXX für den Lebensunterhalt dieser aufkommt, in einem im Eigentum des Bruders stehenden Haus mit drei Zimmern. Dieser Bruder führt die gleichen Tätigkeiten aus wie der BF, ist verheiratet und hat sechs Kinder. Die übrigen Geschwister sind verheiratet und leben jeweils in eigenen Häusern.

Die Versorgung mit Nahrungsmitteln und weiteren Dingen des täglichen Bedarfs konnte und kann durch Einkäufe auf etwa 15 Autominuten entfernten Märkten erfolgen. Ärzte und Apotheken sind in der Nähe des Wohnhauses situiert.

Zu seinem Vater hat der BF etwa einmal im Monat Kontakt; nicht jedoch zu seinen (geschiedenen) Ehefrauen die jeweils bei ihren Familien in XXXX und XXXX leben, die für deren Lebensunterhalt aufkommen.

Sämtliche im Irak aufhältigen Familienmitglieder leben, den dortigen wirtschaftlichen Umständen entsprechend, sicher und sind weder von staatlichen, noch sonstigen Stellen bedroht. Auch konnten anlassbezogen Gefährdungen durch Milizen nicht festgestellt werden.

1.4. Zu den Fluchtgründen der beschwerdeführenden Partei:

Der BF gehörte in seiner Heimat keiner politischen Bewegung an und hatte er weder mit der Polizei, noch mit den Verwaltungsbehörden, noch mit den Gerichten des Herkunftsstaates ein Problem. Er wurde zu keinem Zeitpunkt von staatlichen Organen oder von einer bewaffneten Gruppierung wegen seines Religionsbekenntnisses verfolgt.

Er wurde weder von einer schiitischen Miliz noch von öffentlichen Stellen wegen seiner (ehemaligen) Zugehörigkeit zu einem Polizeiwachkörper verfolgt. Anhaltspunkte, dass von einer dieser Gruppen eine Bedrohung gegen ihn ausgegangen wäre bzw. eine solche gegenwärtig von diesen Gruppierungen ausgehen würde, bestehen nicht. Es kam nie zu einem Rekrutierungsversuch durch schiitische Milizen. Eine Rückkehr in den Irak, genauer seine Heimatregion, ist - im Rahmen der dortigen Gegebenheiten - möglich.

1.5. Zu etwaigen Integrationsschritten des BF im Bundesgebiet:

Der BF hat nachweisliche ein Sprachzertifikat der Stufe A2 erworben und einen Deutschkurs für Fortgeschrittene der Stufe B2 besucht. Er nimmt an Veranstaltungen des Vereins „XXXX“ teil, einem Verein für Integrationsarbeit und Gesundheitsförderung im öffentlichen Raum. Er hat an einem Erste-Hilfe-Kurs über Hilfe im Notfall und einem Werte- und Orientierungskurs teilgenommen. Er hat zudem in einem in seinem Wohnort situierten Altersheim gemeinnützige Arbeiten verrichtet und an einem „XXXX“ teilgenommen. Für die Klinik XXXX ist er freiwillig tätig und erledigt Reinigungsarbeiten und Holztransporte, dies zweimal wöchentlich. Ihm wurde eine Einstellzusage für ein Restaurant in Wien ausgestellt.

Weitere Kurse oder Bildungseinrichtungen werden jedoch nicht besucht, Vereinsmitgliedschaften bestehen nicht.

Der BF ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.

Er ist gesund und nicht erwerbstätig; er bezieht derzeit keine staatlichen Leistungen aus der Grundversorgung.

1.6. Zur Lage im Irak wird festgestellt:

Nachdem es den irakischen Sicherheitskräften (ISF) gemeinsam mit schiitischen Milizen, den sogenannten Popular Mobilisation Forces (PMF), mit Unterstützung durch die alliierten ausländischen Militärkräfte im Laufe des Jahres 2016 gelungen war, die Einheiten der Terrororganisation Islamischer Staat (IS) sowohl aus den von ihr besetzten Teilen der südwestlichen Provinz Al Anbar bzw. deren Metropolen Fallouja und Ramadi als auch aus den nördlich an Bagdad anschließenden Provinzen Diyala und Salah al Din zu verdrängen, beschränkte sich dessen Herrschaftsgebiet in der Folge auf den Sitz seiner irakischen Kommandozentrale bzw. seines „Kalifats“ in der Stadt Mossul, Provinz Ninava, sowie deren Umgebung bis hin zur irakisch-syrischen Grenze. Ab November 2016 wurden die Umgebung von Mossul sowie der Ostteil der Stadt bis zum Ufer des Tigris sukzessive wieder unter die Kontrolle staatlicher Sicherheitskräfte gebracht, im Westteil wurde der IS von den irakischen Sicherheitskräften und ihren Verbündeten, die aus dem Süden, Norden und Westen in das Zentrum der Stadt vordrangen, in der Altstadt von Mossul eingekesselt. Der sunnitische IS wiederum versuchte parallel zu diesen Geschehnissen durch vereinzelte Selbstmordanschläge in Bagdad und anderen Städten im Süd- sowie Zentralirak seine wenn auch mittlerweile stark eingeschränkte Fähigkeit, die allgemeine Sicherheitslage zu destabilisieren, zu demonstrieren. Anfang Juli 2017 erklärte der irakische Premier Abadi Mossul für vom IS befreit. In der Folge wurden auch frühere Bastionen des IS westlich von Mossul in Richtung der irakisch-syrischen Grenze wie die Stadt Tal Afar durch die Militärallianz vom IS zurückerobert. Zuletzt richteten sich die Operationen der Militärallianz gegen den IS auf letzte Überreste seines früheren Herrschaftsgebiets im äußersten Westen der Provinz Anbar sowie eine Enklave um Hawija südwestlich von Kirkuk.

Südirak und Najaf:

Die irakische Regierung war gezwungen, dem Kampf gegen den IS im Zentral- und Nordirak in den letzten Jahren Vorrang einzuräumen, bedeutende militärische und polizeiliche Ressourcen aus dem Süden abzuziehen und in diese Gegenden zu entsenden. Vor diesem Hintergrund sind Stammeskonflikte, eskalierende Gesetzlosigkeit und Kriminalität ein Problem der lokalen Sicherheitslage. Die Bemühungen der Regierung, die Kontrolle wieder zu übernehmen, scheinen noch nicht zum entscheidenden Erfolg geführt zu haben. Regierungsnahe Milizen sind in unterschiedlichem Maße präsent, aber der Großteil ihrer Kräfte wird im Norden eingesetzt. Terrorismus und Terrorismusbekämpfung spielen im Süden nach wie vor eine Rolle, insbesondere in Babil, aber im Allgemeinen in geringerem Maße als weiter im Norden. Noch immer gibt es vereinzelte Terroranschläge.

Das Gouvernement Najaf liegt im südwestlichen Teil des Irak. Es grenzt an die Gouvernements Anbar, Babil, Qadissiya und Muthanna und teilt im Süden eine internationale Grenze mit Saudi-Arabien. Das Gouvernement ist in drei Distrikte unterteilt: Najaf, Kufah und Al-Manathera. Die Hauptstadt ist Najaf City. Das Gouvernement hat eine geschätzte Bevölkerung von 1 510 338, wobei die Mehrheit schiitische Araber sind.

Im Jahr 2017 wurde berichtet, dass durch den Einsatz von Sicherheitskräften im Jahr 2014 zur Bekämpfung des IS-Aufstands im Zentral- und Nordirak eine Sicherheitslücke entstand und die südliche Region anfällig für Stammeskämpfe, kriminelle Aktivitäten und politische Gewalt war. Ab 2020 ist die irakische Polizei für das Gouvernement Najaf zuständig, eine Quelle gab jedoch an, dass alle acht südlichen Gouvernements als Gebiete der gemeinsamen Kontrolle zwischen der irakischen Armee oder Polizei und der PMU betrachtet werden sollten. Es gibt auch Berichte über gewalttätige Demonstrationen im Gouvernement, hauptsächlich Ende 2019 und Anfang 2020. Demonstranten legten Feuer, beschädigten Gebäude und nahmen Rachemorde vor. Mehrere Demonstranten wurden getötet, als irakische Streitkräfte das Feuer eröffneten und sie angriffen. Im Mai 2020 wurden die Proteste wiederaufgenommen, jedoch mit einer geringeren Anzahl von Demonstranten.

ACLED meldete im Referenzzeitraum insgesamt 42 Sicherheitsvorfälle (durchschnittlich 0,5 Sicherheitsvorfälle pro Woche) im Gouvernement Najaf, von denen die meisten als Ausschreitungen kodiert wurden. In diesem Zeitraum wurden auch Kämpfe, Explosionen/Ferngewalt und Gewalt gegen Zivilisten gemeldet. Sicherheitsvorfälle ereigneten sich in allen Distrikten des Gouvernements, wobei die größte Gesamtzahl im Distrikt Najaf verzeichnet wurde. Die UNAMI verzeichnete 11 Vorfälle im Zusammenhang mit bewaffneten Konflikten, 10 davon im Jahr 2019 und 1 zwischen dem 1. Januar und 31. Juli 2020 (durchschnittlich 0,1 Sicherheitsvorfälle pro Woche für den gesamten Bezugszeitraum).

Im Jahr 2019 verzeichnete die UNAMI bei den oben genannten Vorfällen im Zusammenhang mit bewaffneten Konflikten insgesamt 19 zivile Opfer (4 Tote und 15 Verletzte). Vom 1. Januar bis 31. Juli 2020 wurden von der UNAMI keine Opfer gemeldet. Verglichen mit den offiziellen Bevölkerungszahlen im Gouvernement entspricht dies 1 zivilen Opfer pro 100 000 Einwohner für den gesamten Bezugszeitraum.

Juni 2020 beherbergte das Gouvernement Najaf insgesamt 12.546 Binnenvertriebene, von denen die überwiegende Mehrheit aus Ninewa stammte. Es wurden keine Rückkehrer in das Gouvernement Najaf verzeichnet.

Auf Najaf entfallen zusammen mit den Gouvernements Basra und Muthanna 98 % der Prävalenz von Streumunition, die die südlichen Gouvernements kontaminiert.

Die Lage im Irak ist seit der Tötung des iranischen Generals Qassem Soleimani durch einen Luftangriff der Vereinigten Staaten und einen Vergeltungsschlag des Irans gegen amerikanisch genutzte Militärstützpunkte sehr angespannt. Schiitische Milizen haben für die Tötung Soleimanis und eines hohen irakischen Milizenführers Vergeltung angekündigt, der bei dem amerikanischen Angriff ebenfalls ums Leben kam.

Betrachtet man jedoch insgesamt die Indikatoren, so kann der Schluss gezogen werden, dass im Gouvernement Najaf willkürliche Gewalt auf einem so geringen Niveau stattfindet, dass im Allgemeinen keine reale Gefahr besteht, dass ein Zivilist von dieser betroffen ist.

Der BF war im Herkunftsstaat keiner asylrelevanten Verfolgung oder Bedrohung ausgesetzt. Er hatte weder mit der Polizei, noch mit den Gerichten noch mit den Verwaltungsbehörden des Herkunftsstaates Probleme. Er war auch nie Adressat einer gegen ihnen gerichteten strafgerichtlichen Verfolgung. Auch liegt keine strafgerichtliche Verurteilung gegen ihn vor. Er war nie Mitglied einer im Herkunftsstaat tätigen bewaffneten Gruppierung (Al-Kaida, IS bzw. Milizen) bzw. wurde er von einer bewaffneten Gruppierung des Herkunftsstaates zu keinem Zeitpunkt angeworben, insbesondere für Kampfhandlungen. Insgesamt kam anlassbezogen nicht hervor, dass er im Herkunftsstaat einer asylrelevanten Bedrohung ausgesetzt gewesen wäre.

Quellen (Zugriff am 05.11.2021):

-        AA - Auswärtiges Amt (12.1.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1457267/4598_1548939544_auswaertiges- amt- bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2018-12-01-2019.pdf

-        ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (11.12.2019): ecoi.net-Themendossier zum Irak: Schiitische Milizen, https://www.ecoi.net/en/document/2021156.html

-        ACCORD-Anfragebeantwortung zur Sicherheitslage in Basra vom 10.06.2021 [a-11589-1], https://www.ecoi.net/de/dokument/2053521.html

-        BFA Staatendokumentation: Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Irak: Von schiitischen Milizen dominierte Gebiete (Ergänzung zum Länderinformationsblatt), 04.01.2018 https://www.ecoi.net/en/file/local/1422124/5618_1516263925_irak-sm-von-schiitischen-milizen-dominierte-gebiete-2018-01-04-ke.doc

-        Crisis Group (14.12.2018): Reviving UN Mediation on Iraq’s Disputed Internal Boundaries, https://www.crisisgroup.org/middle-east-north-africa/gulf-and-arabian-peninsula/iraq/194-reviving-un-mediation-iraqs-disputed-internal-boundaries

-        EASO – Security situation Iraq (Oktober 2020): https://www.ecoi.net/de/dokument/2043991.html

-        EASO – Country Guidance: Iraq (Stand Jänner 20219): https://www.ecoi.net/de/dokument/2045437.html

-        FPRI - Foreign Policy Research Institute (19.8.2019): The Future of the Iraqi Popular Mobilization Forces, https://www.fpri.org/article/2019/08/the-future-of-the-iraqi-popular-mobilization-forces/

-        GIZ - Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (1.2020a): Geschichte & Staat, https://www.liportal.de/irak/geschichte-staat/

-        Joel Wing, Musings on Iraq (3.2.2020): Violence Continues Its Up And Down Pattern In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/02/violence-continues-its-up-and-down.html

-        Rudaw (31.5.2019): Iraqi Security Forces ignore ISIS attacks on Kakai farmlands, https://www.rudaw.net/english/middleeast/iraq/31052019

-        Süß, Clara-Auguste (21.8.2017): Al-Hashd ash-Sha’bi: Die irakischen „Volksmobilisierungseinheiten“ (PMU/PMF), in BFA Staatendokumentation: Fact Finding Mission Report Syrien mit ausgewählten Beiträgen zu Jordanien, Libanon und Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1410004/5618_1507116516_ffm-bericht-syrien-mit-beitraegen-zu-jordanien-libanon-irak-2017-8-31-ke.pdf

-        UK Home Office: Country Policy and Information Note Iraq: Sunni (Arab) Muslims, 06/2017 https://www.ecoi.net/en/file/local/1403272/1226_1499246656_iraq-sunni-arabs-cpin-v2-0-june-2017.pdf

-        UNHCR – UN High Commissioner for Refugees: Iraq: Relevant COI for Assessments on the Availability of an Internal Flight or Relocation Alternative (IFA/IRA); Ability of Persons Originating from (Previously or Currently) ISIS-Held or Conflict Areas to Legally Access and Remain in Proposed Areas of Relocation, 12.04.2017, https://www.ecoi.net/en/file/local/1397131/1930_1492501398_58ee2f5d4.pdf

-        Wilson Center (27.4.2018): Part 2: Pro-Iran Militias in Iraq, https://www.wilsoncenter.org/article/part-2-pro-iran-militias-iraq

1.6.1. Sicherheitskräfte und Milizen

Der Irak verfügt über mehrere Sicherheitskräfte, die im ganzen Land operieren: Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) unter dem Innen- und Verteidigungsministerium, die dem Innenministerium unterstellten Strafverfolgungseinheiten der Bundes- und Provinzpolizei, der Dienst zum Schutz von Einrichtungen, Zivil- und Grenzschutzeinheiten, die dem Öl-Ministerium unterstellte Energiepolizei zum Schutz der Erdöl-Infrastruktur, sowie die dem Premierminister unterstellten Anti-Terroreinheiten und der Nachrichtendienst des Nationalen Sicherheitsdienstes (NSS). Neben den regulären irakischen Streitkräften und Strafverfolgungsbehörden existieren auch die Volksmobilisierungskräfte (PMF), eine staatlich geförderte militärische Dachorganisation, die sich aus etwa 40, überwiegend schiitischen Milizgruppen zusammensetzt, und die kurdischen Peshmerga der Kurdischen Region im Irak (KRI).

Zivile Behörden haben über einen Teil der Sicherheitskräfte keine wirksame Kontrolle.

Der Name „Volksmobilisierungskräfte“ (al-hashd al-sha‘bi, engl.: popular mobilization forces bzw. popular mobilization front, PMF oder popular mobilization units, PMU), bezeichnet eine Dachorganisation für etwa 40 bis 70 Milizen und demzufolge ein loses Bündnis paramilitärischer Formationen. Die PMF wurden vom schiitischen Groß-Ayatollah Ali As-Sistani per Fatwa für den Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) ins Leben gerufen und werden vorwiegend vom Iran unterstützt. PMF spielten eine Schlüsselrolle bei der Niederschlagung des IS. Die Niederlage des IS trug zur Popularität der vom Iran unterstützten Milizen bei.

Die verschiedenen unter den PMF zusammengefassten Milizen sind sehr heterogen und haben unterschiedliche Organisationsformen, Einfluss und Haltungen zum irakischen Staat. Sie werden grob in drei Gruppen eingeteilt: Die pro-iranischen schiitischen Milizen, die nationalistisch-schiitischen Milizen, die den iranischen Einfluss ablehnen, und die nicht schiitischen Milizen, die üblicherweise nicht auf einem nationalen Level operieren, sondern lokal aktiv sind. Zu letzteren zählen beispielsweise die mehrheitlich sunnitischen Stammesmilizen und die kurdisch-jesidischen „Widerstandseinheiten Schingal“. Letztere haben Verbindungen zur Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) in der Türkei und zu den Volksverteidigungseinheiten (YPG) in Syrien. Die PMF werden vom Staat unterstützt und sind landesweit tätig. Die Mehrheit der PMF-Einheiten ist schiitisch, was die Demografie des Landes widerspiegelt. Sunnitische, jesidische, christliche und andere „Minderheiten-Einheiten“ der PMF sind in ihren Heimatregionen tätig. In einigen Städten, vor allem in Gebieten, die früher vom IS besetzt waren, dominieren PMF die lokale Sicherheit. In Ninewa stellen sie die Hauptmacht dar, während die reguläre Armee zu einer sekundären Kraft geworden ist.

Es gibt große, gut ausgerüstete Milizen, quasi militärische Verbände, wie die Badr-Organisation, mit eigenen Vertretern im Parlament, aber auch kleine improvisierte Einheiten mit wenigen Hundert Mitgliedern, wie die Miliz der Schabak. Viele Milizen werden von Nachbarstaaten, wie dem Iran oder Saudi-Arabien, unterstützt. Die Türkei unterhält in Baschika nördlich von Mossul ein eigenes Ausbildungslager für sunnitische Milizen. Die Milizen haben eine ambivalente Rolle. Einerseits wäre die irakische Armee ohne sie nicht in der Lage gewesen, den IS zu besiegen und Großveranstaltungen wie die Pilgerfahrten nach Kerbala mit jährlich bis zu 20 Millionen Pilgern zu schützen. Andererseits stellen die Milizen einen enormen Machtfaktor mit Eigeninteressen dar, was sich in der gesamten Gesellschaft, der Verwaltung und in der Politik widerspiegelt und zu einem allgemeinen Klima der Korruption und des Nepotismus beiträgt. Vertreter und Verbündete der PMF haben Parlamentssitze inne und üben Einfluss auf die Regierung aus.

1.6.1.1. Asa‘ib Ahl al-Haqq

Die Asa‘ib Ahl al-Haqq (AAH; Liga der Rechtschaffenen oder Khaz‘ali-Netzwerk, League of the Righteous) wurde 2006 von Qais al-Khaz‘ali gegründet und bekämpfte zu jener Zeit die US-amerikanischen Truppen im Irak. Sie ist eine Abspaltung von As-Sadrs Mahdi-Armee und im Gegensatz zu As-Sadr pro-iranisch. Asa‘ib Ahl al-Haqq unternahm den Versuch, sich als politische Kraft zu etablieren, konnte bei den Parlamentswahlen 2014 allerdings nur ein einziges Mandat gewinnen. Ausgegangen wird von einer Gruppengröße von mindestens 3.000 Mann; einige Quellen sprechen von 10.000 bis 15.000 Kämpfern. Asa‘ib Ahl al-Haqq bildet die 41., 42. und 43. der PMF-Brigaden. Die Miliz erhält starke Unterstützung vom Iran und ist wie die Badr-Oganisation und Kata’ib Hizbullah vor allem westlich und nördlich von Bagdad aktiv. Sie gilt heute als gefürchtetste, weil besonders gewalttätige Gruppierung innerhalb der Volksmobilisierungskräfte, die religiös-politische mit kriminellen Motiven verbindet. Ihr Befehlshaber Qais al Khaz‘ali ist einer der bekanntesten Anführer der PMF.

1.6.1.2. Rechtsstellung und Aktivitäten der PMF

Obwohl das Milizenbündnis der PMF unter der Aufsicht des 2014 gegründeten Volksmobilisierungskomitees steht und Ende 2016 ein Gesetz in Kraft trat, das die PMF dem regulären irakischen Militär in allen Belangen gleichstellt und somit der Weisung des Premierministers unterstellt, hat der irakische Staat nur mäßige Kontrolle über die Milizen. In diesem Zusammenhang kommt vor allem Badr eine große Bedeutung zu: Die Milizen werden zwar von der irakischen Regierung in großem Umfang mit finanziellen Mitteln und Waffen unterstützt, unterstehen aber formal dem von Badr dominierten Innenministerium, wodurch keine Rede von umfassender staatlicher Kontrolle sein kann. Die einzelnen Teilorganisationen agieren größtenteils eigenständig und weisen eigene Kommandostrukturen auf, was zu Koordinationsproblemen führt und letztendlich eine institutionelle Integrität verhindert.

Die PMF genießen auch breite Unterstützung in der irakischen Bevölkerung für ihre Rolle im Kampf gegen den Islamischen Staat nach dem teilweisen Zusammenbruch der irakischen Armee im Jahr 2014. Die militärischen Erfolge der PMF gegen den IS steigerten ihre Popularität vor allem bei der schiitischen Bevölkerung, gleichzeitig wurden allerdings auch Berichte über Menschenrechtsverletzungen, wie willkürliche Hinrichtungen, Entführungen und Zerstörung von Häusern veröffentlicht.

Einige PMF haben sich Einkommensquellen erschlossen, die sie nicht aufgeben wollen, darunter Raub, Erpressung und Altmetallbergung. Es wird angenommen, dass die PMF einen Teil der lokalen Wirtschaft in Ninewa kontrollieren, was von diesen zurückgewiesen wird. Im Norden und Westen des Irak haben Amtspersonen und Bürger über Schikanen durch PMF-Milizen und deren Eingreifen in die Stadtverwaltungen und das alltägliche Leben berichtet. Damit geht der Versuch einher, bisweilen unter Einsatz von Demütigungen und Prügel, Kontrolle über Bürgermeister, Distrikt-Vorsteher und andere Amtsträger. In Gebieten, die vom IS zurückerobert wurden, klagen Einheimische, dass sich die PMF gesetzwidrig und unverhohlen parteiisch verhalten. In Mossul beispielsweise behaupteten mehrere Einwohner, dass die PMF weit davon entfernt seien, Schutz zu bieten, und durch Erpressung oder Plünderungen illegale Gewinne erzielten. PMF-Kämpfer haben im gesamten Nordirak Kontrollpunkte errichtet, um Zölle von Händlern einzuheben. Auch in Bagdad wird von solchen Praktiken berichtet. Darüber hinaus haben die PMF auch die Armee in einigen Gebieten verstimmt. Zusammenstöße zwischen den PMF und den regulären Sicherheitskräften sind häufig. Auch sind Spannungen zwischen den verschiedenen Gruppen der PMF weitverbreitet. Die Rivalität unter den verschiedenen Milizen ist groß.

Neben der Finanzierung durch den irakischen sowie den iranischen Staat bringen die Milizen einen wichtigen Teil der Finanzmittel selbst auf – mit Hilfe der organisierten Kriminalität. Ein Naheverhältnis zu dieser war den Milizen quasi von Beginn an in die Wiege gelegt. Vor allem bei Stammesmilizen waren Schmuggel und Mafiatum weit verbreitet. Die 2003/4 neu gegründeten Milizen kooperierten zwangsläufig mit den Mafiabanden ihrer Stadtviertel. Kriminelle Elemente wurden aber nicht nur kooptiert, die Milizen sind selbst in einem so hohen Ausmaß in kriminelle Aktivitäten verwickelt, dass manche Experten sie nicht mehr von der organisierten Kriminalität unterscheiden, sondern von Warlords sprechen, die in ihren Organisationen Politik und Sozialwesen für ihre Klientel und Milizentum vereinen – oft noch in Kombination mit offiziellen Positionen im irakischen Sicherheitsapparat. Die Einkünfte kommen hauptsächlich aus dem großangelegten Ölschmuggel, Schutzgelderpressungen, Amtsmissbrauch, Entführungen, Waffen- und Menschenhandel, Antiquitäten- und Drogenschmuggel. Entführungen sind und waren ein wichtiges Geschäft aller Gruppen, dessen hauptsächliche Opfer zahlungsfähige Iraker sind.

Eine Rekrutierung in die PMF erfolgt ausschließlich auf freiwilliger Basis und aus wirtschaftlichen Gründen, Desertion aus den PMF kam zudem seltener vor als bei den irakischen Streitkräften

Quellen (Zugriff am 05.11.2021):

-        AA - Auswärtiges Amt (12.1.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1457267/4598_1548939544_auswaertiges-amtbericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-20 18-12-01-2019.pdf

-        ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (11.12.2019): ecoi.net-Themendossier zum Irak: Schiitische Milizen, https://www.ecoi.net/en/ document/2021156.html

-        Al Monitor (23.2.2020): Iran struggles to regain control of post-Soleimani PMU, https://www.al-m onitor.com/pulse/originals/2020/02/iraq-iran-soleimani-pmu.html

-        Al-Tamini - Aymenn Jawad Al-Tamimi (31.10.2017): Hashd Brigade Numbers Index, http://www.ay mennjawad.org/2017/10/hashd-brigade-numbers-index

-        Clingendael - Netherlands Institute of International Relations (6.2018): Power in perspective:Four key insights into Iraq’s Al-Hashd al-Sha’abi, https://www.clingendael.org/sites/default/files/2018-0 6/PB_Power_in_perspective.pdf

-        DIS/Landinfo - Danish Immigration Service; Norwegian Country of Origin Information Center (5.11.2018): Northern Iraq: Security situation and the situation for internally displaced persons (IDPs) in the disputed areas, incl. possibility to enter and access the Kurdistan Region of Iraq (KRI), https://www.ecoi.net/en/file/local/1450541/1226_1542182184_ iraq-report-security-idps-and-access-nov2018.pdf

-        ICG - International Crisis Group (30.7.2018): Iraq’s Paramilitary Groups: The Challenge of Rebuilding a Functioning State, https://www.crisisgroup.org/middle-east-north-africa/gulf-and-arabia n-peninsula/iraq/188-iraqs-paramilitary-groups-challenge-rebuilding-functioning-state

-        FPRI - Foreign Policy Research Institute (19.8.2019): The Future of the Iraqi Popular Mobilization Forces, https://www.fpri.org/article/2019/08/the-future-of-the-iraqi-popular-mobilization-forces/

-        GIZ - Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (1.2020a): Geschichte & Staat, https://www.liportal.de/irak/geschichte-staat/

-        GS - Global Security (18.7.2019): Hashd al-Shaabi / Hashd Shaabi, Popular Mobilisation Units / People’s Mobilization Forces, https://www.globalsecurity.org/military/world/para/hashd-al-shaabi.h

-        MEE - Middle East Eye (16.2.2020): Iran and Najaf struggle for control over Hashd al-Shaabi after Muhandis’s killing, https://www.middleeasteye.net/news/iran-and-najaf-struggle-control-over-hash d-al-shaabi-after-muhandis-killing

-        MEMO - Middle East Monitor (21.1.2020): Iraq’s PMF appoints new deputy head as successor toAl-Muhandis, https://www.middleeastmonitor.com/20200221-iraqs-pmf-appoints-new-deputy-hea d-as-successor-to-al-muhandis/

-        Posch, Walter (8.2017): Schiitische Milizen im Irak und in Syrien –Volksmobilisierungseinheiten und andere, per E-mail

-        Reuters (29.8.2019): Baghdad’s crackdown on Iran-allied militias faces resistance, https://www.re uters.com/article/us-iraq-militias-usa/baghdads-crackdown-on-iran-allied-militias-faces-resistance -idUSKCN1VJ0GS

-        Süß, Clara-Auguste (21.8.2017): Al-Hashd ash-Sha’bi: Die irakischen „Volksmobilisierungseinheiten“ (PMU/PMF), in BFA Staatendokumentation: Fact Finding Mission Report Syrien mit ausgewählten Beiträgen zu Jordanien, Libanon und Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1410004/5618_1507116516_ffm-bericht-syrien-mit-beitraegen-zu-jordanien-libanon-irak-2017-8-31-ke.pdf

-        TDP - The Defense Post (3.7.2019): Mahdi orders full integration of Shia militias into Iraq’s armed forces, https://thedefensepost.com/2019/07/03/iraq-mahdi-orders-popular-mobilization-units-integ ration/

-        USDOS - United States Department of State (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 - Iraq, https://www.ecoi.net/de/dokument/2004254.html

-        USDOS - US Department of State (21.6.2019): 2018 Report on International Religious Freedom: https://www.ecoi.net/de/dokument/2011175.html

-        USDOS - US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 – Iraq, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026340.html

-        Wilson Center (27.4.2018): Part 2: Pro-Iran Militias in Iraq, https://www.wilsoncenter.org/article/p art-2-pro-iran-militias-iraq

1.6.2. Wehrdienst, Polizeidienst und Fernbleiben vom Polizeidienst:

Im Irak besteht keine Wehrpflicht. Männer zwischen 18 und 40 Jahren können sich freiwillig zum Militärdienst melden. Nach dem Sturz Saddam Husseins wurde die allgemeine Wehrpflicht abgeschafft und ein Freiwilligen-Berufsheer eingeführt. Finanzielle Anreize machen die Arbeit beim Militär zu einer attraktiven Karriere.

Im Zuge des Zusammenbruchs der irakischen Streitkräfte im Jahr 2014 und des dreijährigen Kampfes gegen den IS schlossen sich viele Freiwillige den paramilitärischen Volksmobilisierungseinheiten (PMF) an, was zu einem Rekrutierungswettkampf zwischen dem irakischen Verteidigungsministerium und den Volksmobilisierungseinheiten führte.

Laut Kapitel 5 des irakischen Militärstrafgesetzes von 2007 ist Desertion in Gefechtssituationen mit bis zu sieben Jahren Haft sanktioniert. Das Überlaufen zum Feind ist mit dem Tode sanktioniert. Die Armee hat kaum die Kapazitäten, um gegen Desertion von niederen Rängen vorzugehen. Es sind keine konkreten Fälle bekannt, in denen es zur Verfolgung von Deserteuren gekommen wäre. Im Jahr 2014 entließ das Verteidigungsministerium Tausende Soldaten, die während der IS-Invasion im Nordirak ihre Posten verlassen haben und geflohen sind. Im November 2019 wurden, mit der behördlichen Anordnung alle entlassenen Soldaten wieder zu verpflichten, über 45.000 wieder in Dienst gestellt.

Grundsätzlich ist es möglich, den Polizeidienst – im Gegensatz zum Militärdienst welcher grundsätzlich eine zweijährige Dienstzeit vorsieht – jederzeit ohne Angabe von Gründen zu kündigen bzw. freiwillig aus diesem auszuscheiden.

In der EASO Country Guidance mit Stand Jänner 2021, welche nach wie vor auf „EASO - Targeting of individuals“ mit Stand März 2019 verweist, wird festgestellt, dass im Fall von Polizisten nicht von Desertion wie bei Armeeangehörigen zu sprechen ist, sondern von einem „crime of absence“, also der Abwesenheit vom Dienst. Abhängig von der Stellung des den Dienst verweigernden Polizisten reicht die Bestrafung von Reduzierung oder Streichung des Lohnes bis hin zu mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe für Personen, die während Zeiten von groben Störungen oder Ausnahmezuständen mehr als zehn Tage abwesend waren. Bei Desertion in das Ausland ist eine dreijährige Haftstrafe möglich. Ein in die Niederlande geflüchteter Offizier wurde nach seiner Rückkehr unehrenhaft aus dem Dienst entlassen, sämtliche durch den Polizeidienst erworbenen Rechte und Ansprüche wurden aberkannt. Eine weitere Verurteilung oder Freiheitsstrafe wurde nicht ausgesprochen.

In einem Bericht aus dem Jahr 2014 wird festgestellt, dass eine allgemeine Amnestie für Angehörige der internen Sicherheitskräfte ausgestellt wurde, die abwesend waren oder ohne Erlaubnis den Dienst quittierten. Im Mai 2015 wurde durch das Büro des irakischen Premierministers bekanntgegeben, dass „der Premierminister beschlossen hat, jegliche rechtlichen Schritte gegen Angehörige der Streitkräfte und der inneren Sicherheitskräfte endgültig einzustellen, einschließlich der folgenden Straftaten: Flucht, Fehlzeiten, Fehlverhalten und Selbstverletzung, um den Dienst loszuwerden, sowie Verbrechen gegen die Militärregime und die Angelegenheiten des Dienstes“ (EASO- Iraq – Targeting of individuals, Seite 71).

Quellen (Zugriff am 05.11.2021):

-        ACCORD: https://www.ecoi.net/de/dokument/2023187.html

-        ACCORD: Anfragebeantwortung zum Irak: Gesetzliche Bestimmungen, die für Desertion aus der Polizei eine Haftstrafe vorsehen; Festnahme bei der Einreise [a-10473]: https://www.ecoi.net/de/dokument/1431191.html

-        EASO – Country Guidance: Iraq (Stand Jänner 20219): https://www.ecoi.net/de/dokument/2045437.html

1.6.3. Berufsgruppen:

Aus den Länderinformationen zum Herkunftsstaat der bfP geht hervor, dass Polizisten, Soldaten, Journalisten, Menschenrechtsverteidiger, Intellektuelle, Richter und Rechtsanwälte und alle Mitglieder des Sicherheitsapparats besonders gefährdet seien.

Inhaber von Geschäften, in denen Alkohol verkauft wird - fast ausschließlich Angehörige von Minderheiten, vor allem Jesiden und Christen, Zivilisten, die für internationale Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen oder ausländische Unternehmen arbeiten sowie medizinisches Personal seien ebenfalls immer wieder Ziel von Entführungen oder Anschlägen.

Trotz seiner Tätigkeiten als XXXX und XXXX ist der BF keiner besonderen Gefährdung ausgesetzt. Bei der XXXX des Herkunftsstaates bekleidete er lediglich eine untergeordnete Funktion; zu keinem Zeitpunkt war er als XXXX in einer herausragenden Funktion tätig, sodass schon deshalb von einer Gefährdung seiner Person auf Grund seiner beruflichen Tätigkeit nicht ausgegangen werden kann.

Quellen (Zugriff am 05.11.2021):

-        AA - Auswärtiges Amt (12.1.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1457267/4598_1548939544_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2018-12-01-2019.pdf

-        USDOS - US Department of State (21.6.2019): 2018 Report on International Religious Freedom: https://www.ecoi.net/de/dokument/2011175.html

1.6.4. Medizinische Versorgung

Das Gesundheitswesen besteht aus einem privaten und einem öffentlichen Sektor. Grundsätzlich sind die Leistungen des privaten Sektors besser, zugleich aber auch teurer. Ein staatliches Krankenversicherungssystem existiert nicht. Alle irakischen Staatsbürger, die sich als solche ausweisen können - für den Zugang zum Gesundheitswesen wird lediglich ein irakischer Ausweis benötigt - haben Zugang zum Gesundheitssystem. Fast alle Iraker leben maximal eine Stunde vom nächstgelegenen Krankenhaus bzw. Gesundheitszentrum entfernt. In ländlichen Gegenden lebt jedoch ein bedeutender Teil der Bevölkerung weiter entfernt von solchen Einrichtungen (IOM 1.4.2019). Staatliche, wie private Krankenhäuser sind fast ausschließlich in den irakischen Städten zu finden. Dort ist die Dichte an praktizierenden Ärzten, an privaten und staatlichen Kliniken um ein Vielfaches größer. Gleiches gilt für Apotheken und medizinische Labore. Bei der Inanspruchnahme privatärztlicher Leistungen muss zunächst eine Art Praxisgebühr bezahlt werden. Diese beläuft sich in der Regel zwischen 15.000 und 20.000 IQD (Anm.: ca. 12-16 EUR). Für spezielle Untersuchungen und Laboranalysen sind zusätzliche Kosten zu veranschlagen. Außerdem müssen Medikamente, die man direkt vom Arzt bekommt, gleich vor Ort bezahlt werden. In den staatlichen Zentren zur Erstversorgung entfällt zwar in der Regel die Praxisgebühr, jedoch nicht die Kosten für eventuelle Zusatzleistungen. Darunter fallen etwa Röntgen- oder Ultraschalluntersuchungen (GIZ 12.2019).

Insgesamt bleibt die medizinische Versorgungssituation angespannt (AA 12.1.2019). Auf dem Land kann es bei gravierenden Krankheitsbildern problematisch werden. Die Erstversorgung ist hier grundsätzlich gegeben; allerdings gilt die Faustformel: Je kleiner und abgeschiedener das Dorf, umso schwieriger die medizinische Versorgung (GIZ 12.2019). In Bagdad arbeiten viele Krankenhäuser mit eingeschränkter Kapazität. Die Ärzte und das Krankenhauspersonal gelten generell als qualifiziert, doch haben viele aus Angst vor Entführung oder Repression das Land verlassen. Die für die Grundversorgung der Bevölkerung besonders wichtigen örtlichen Gesundheitszentren (ca. 2.000 im gesamten Land) sind entweder geschlossen oder wegen baulicher, personeller und Ausrüstungsmängel nicht in der Lage, die medizinische Grundversorgung sicherzustellen (AA 12.1.2019). Spezialisierte Behandlungszentren für Personen mit psychosoziale Störungen existieren zwar, sind jedoch nicht ausreichend (UNAMI 12.2016). Laut Weltgesundheitsorganisation ist die primäre Gesundheitsversorgung nicht in der Lage, effektiv und effizient auf die komplexen und wachsenden Gesundheitsbedürfnisse der irakischen Bevölkerung zu reagieren (WHO o.D.).

Der BF ist gesund und liegen bei ihm keine medizinische Indikatoren vor, die einer Rückkehr in den Irak entgegenstehen.

Quellen (Zugriff am 05.11.2021):

-        AA - Auswärtiges Amt (12.1.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1457267/4598_1548939544_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2018-12-01-2019.pdf

-        GIZ - Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (12.2019): Alltag, https://www.liportal.de/irak/alltag/

-        IOM - Internationale Organisation für Migration (1.4.2019): Länderinformationsblatt Irak (Country Fact Sheet 2018), https://milo.bamf.de/milop/livelink.exe/fetch/2000/702450/698578/704870/698617/18363939/Irak_%2D_Country_Fact_Sheet_2018%2C_deutsch.pdf?nodeid=20101157&vernum=-2

-        UNAMI - United Nations Assistance Mission to Iraq (12.2016): Report on the Rights of Persons with Disabilities in Iraq, https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/UNAMI_OHCHR__Report_on_the_Rights_of_PWD_FINAL_2Jan2017.pdf

-        WHO - World Health Organization (o.D.): Iraq: Primary Health Care, http://www.emro.who.int/irq/programmes/primary-health-care.html

1.6.5. Grundversorgung und Wirtschaft:

Der Staat kann die Grundversorgung der Bürger nicht kontinuierlich und in allen Landesteilen gewährleisten. Die Iraker haben eine dramatische Verschlechterung in Bezug auf die Zurverfügungstellung von Strom, Wasser, Abwasser- und Abfallentsorgung, Gesundheitsversorgung, Bildung, Verkehr und Sicherheit erlebt. Der Konflikt hat nicht nur in Bezug auf die Armutsraten, sondern auch bei der Erbringung staatlicher Dienste zu stärker ausgeprägten räumlichen Unterschieden geführt. Der Zugang zu diesen Diensten und deren Qualität variiert demnach im gesamten Land erheblich.

Die über Jahrzehnte internationaler Isolation und Krieg vernachlässigte Infrastruktur ist sanierungsbedürftig. Trotz internationaler Hilfsgelder bleibt die Versorgungslage für ärmere Bevölkerungsschichten schwierig. Die genannten Defizite werden durch die grassierende Korruption zusätzlich verstärkt. Nach Angaben des UN-Programms „Habitat“ leben 70 Prozent der Iraker in Städten, die Lebensbedingungen von einem großen Teil der städtischen Bevölkerung gleichen denen von Slums.

In vom IS befreiten Gebieten muss eine Grundversorgung nach Räumung der Kampfmittel erst wiederhergestellt werden. Einige Städte sind weitgehend zerstört. Die Stabilisierungsbemühungen und der Wiederaufbau durch die irakische Regierung werden intensiv vom United Nations Development Programme (UNDP) und internationalen Gebern unterstützt.

1.6.5.1. Wirtschaftslage:

Der Irak erholt sich nur langsam vom Terror des IS und seinen Folgen. Nicht nur sind ökonomisch wichtige Städte wie Mosul zerstört worden. Dies trifft das Land, nachdem es seit Jahrzehnten durch Krieg, Bürgerkrieg, Sanktionen zerrüttet wurde. Wiederaufbauprogramme laufen bereits, vorsichtig-positive Wirtschaftsprognosen traf die Weltbank im Oktober 2018 für das Jahr 2019. Ob der Wiederaufbau zu einem nachhaltigen positiven Aufschwung beiträgt, hängt aus Sicht der Weltbank davon ab, ob das Land die Korruption in den Griff bekommt.

Das Erdöl stellt immer noch die Haupteinnahmequelle des irakischen Staates dar. Rund 90 Prozent der Staatseinnahmen stammen aus dem Ölsektor.

Noch im Jahr 2016 wuchs die irakische Wirtschaft laut Economist Intelligence Unit (EIU) und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) um 11 Prozent. Im Folgejahr schrumpfte sie allerdings um 0,8 Prozent. Auch 2018 wird das Wachstum um die 1 Prozent betragen, während für 2019 wieder ein Aufschwung von 5 Prozent zu erwarten ist. Laut Weltbank wird erwartet, dass das gesamte BIP-Wachstum bis 2018 wieder auf positive 2,5 Prozent ansteigt. Die Wachstumsaussichten des Irak dürften sich dank der günstigeren Sicherheitslage und der allmählichen Belebung der Investitionen für den Wiederaufbau verbessern. Die positive Entwicklung des Ölpreises ist dafür auch ausschlaggebend. Somit scheint sich das Land nach langen Jahren bewaffneter Auseinandersetzungen wieder in Richtung einer gewissen Normalität zu bewegen. Dieser positiven Entwicklung stehen gleichwohl weiterhin Herausforderungen gegenüber.

So haben der Krieg gegen den IS und der langwierige Rückgang der Ölpreise seit 2014 zu einem Rückgang der Nicht-Öl-Wirtschaft um 21,6 Prozent geführt, sowie zu einer starken Verschlechterung der Finanz- und Leistungsbilanz des Landes. Der Krieg und die weit verbreitete Unsicherheit haben auch die Zerstörung von Infrastruktur und Anlageobjekten in den vom IS kontrollierten Gebieten verursacht, Ressourcen von produktiven Investitionen abgezweigt, den privaten Konsum und das Investitionsvertrauen stark beeinträchtigt und Armut, Vulnerabilität und Arbeitslosigkeit erhöht. Dabei stieg die Armutsquote [schon vor dem IS, Anm.] von 18,9 Prozent im Jahr 2012 auf geschätzte 22,5 Prozent im Jahr 2014.

Jüngste Arbeitsmarktstatistiken deuten auf eine weitere Verschlechterung der Armutssituation hin. Die Erwerbsquote von Jugendlichen (15 bis 24 Jahre) ist seit Beginn der Krise im Jahr 2014 deutlich gesunken, von 32,5 Prozent auf 27,4 Prozent. Die Arbeitslosigkeit nahm vor allem bei Personen aus den ärmsten Haushalten und Jugendlichen und Personen im erwerbsfähigen Alter (25 bis 49 Jahre) zu. Die Arbeitslosenquote ist in den von IS-bezogener Gewalt und Vertreibung am stärksten betroffenen Provinzen etwa doppelt so hoch wie im übrigen Land (21,1 Prozent gegenüber 11,2 Prozent), insbesondere bei Jugendlichen und Ungebildeten.

Der Irak besitzt kaum eigene Industrie. Hauptarbeitgeber ist der Staat. Grundsätzlich ist der öffentliche Sektor sehr gefragt. Die IS-Krise und die Kürzung des Budgets haben Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt im privaten und öffentlichen Sektor. Jobangebote sind mit dem Schließen mehrerer Unternehmen zurückgegangen. Im öffentlichen Sektor sind ebenfalls viele Stellen gestrichen worden. Gute Berufschancen bietet jedoch derzeit das Militär. Das durchschnittliche monatliche Einkommen im Irak beträgt derzeit 350-1.500 USD, je nach Position und Ausbildung.

Das Ministerium für Arbeit und Soziales bietet Unterstützung bei der Arbeitssuche und stellt Arbeitsagenturen in den meisten Städten. Die Regierung hat auch ein Programm gestartet, um irakische Arbeitslose und Arbeiter, die weniger als 1 USD pro Tag verdienen, zu unterstützen. Aufgrund der derzeitigen Situation im Land wurde die Hilfe jedoch eingestellt. Weiterbildungsmöglichkeiten werden durch Berufsschulen, Trainingszentren und Agenturen angeboten.

1.6.5.2. Stromversorgung:

Die Stromversorgung des Irak ist im Vergleich zu der Zeit vor 2003 schlecht. Sie deckt nur etwa 60 Prozent der Nachfrage ab, wobei etwa 20 Prozent der Bevölkerung überhaupt keinen Zugang zu Elektrizität haben. Der verfügbare Stromvorrat variiert jedoch je nach Gebiet und Jahreszeit. Selbst in Bagdad ist die öffentliche Stromversorgung vor allem in den Sommermonaten, wenn bei Temperaturen von über 50 Grad flächendeckend Klimaanlagen eingesetzt werden, häufig unterbrochen. Dann versorgt sich die Bevölkerung aus privaten Generatoren, sofern diese vorhanden sind. Die Versorgung mit Mineralöl bleibt unzureichend und belastet die Haushalte wegen der hohen Kraftstoffpreise unverhältnismäßig. In der Autonomen Region Kurdistan erfolgt die Stromversorgung durch Betrieb eigener Kraftwerke, unterliegt jedoch wie in den anderen Regionen Iraks erheblichen Schwankungen und erreicht deutlich weniger als 20 Stunden pro Tag. Kraftwerke leiden unter Mangel an Brennstoff und es gibt erhebliche Leitungsverluste.

1.6.5.3. Wasserversorgung:

Die Wasserversorgung wird von der schlechten Stromversorgung in Mitleidenschaft gezogen. Der Irak befindet sich inmitten einer schweren Wasserkrise, die durch akute Knappheit, schwindende Ressourcen und eine stark sinkende Wasserqualität gekennzeichnet ist. Die Wasserknappheit dürfte sich kurz- bis mittelfristig noch verschärfen. Besonders betroffen sind die südlichen Provinzen, insbesondere Basra. Der Klimawandel ist dabei ein Faktor, aber auch große Staudammprojekte in der Türkei und im Iran, die sich auf den Wasserstand von Euphrat und Tigris auswirken und zur Verknappung des Wassers beitragen. Niedrige Wasserstände führen zu einem Anstieg des Salzgehalts, wodurch das bereits begrenzte Wasser für die landwirtschaftliche Nutzung ungeeignet wird.

Parallel zur Wasserknappheit tragen veraltete Leitungen und eine veraltete Infrastruktur zur Kontaminierung der Wasserversorgung bei. Es fehlt weiterhin an Chemikalien zur Wasseraufbereitung. Die völlig maroden und teilweise im Krieg zerstörten Leitungen führen zu hohen Transportverlusten und Seuchengefahr. Im gesamten Land verfügt heute nur etwa die Hälfte der Bevölkerung über Zugang zu sauberem Wasser. Im August 2018 meldete Iraks südliche Provinz Basra 17.000 Fälle von Infektionen aufgrund der Kontaminierung von Wasser. Der Direktor der Gesundheitsbehörde Basra warnte vor einem Choleraausbruch.

1.6.5.4. Nahrungsversorgung:

Laut Welternährungsorganisation sind im Irak zwei Millionen Menschen von Nahrungsmittelunsicherheit betroffen. 22,6 Prozent der Kinder sind unterernährt. Schätzungen des Welternährungsprogramms zufolge benötigen mindestens 700.000 Iraker Nahrungsmittelhilfe.

Die Landwirtschaft ist für die irakische Wirtschaft von entscheidender Bedeutung. Schätzungen zufolge hat der Irak in den letzten vier Jahren jedoch 40 Prozent seiner landwirtschaftlichen Produktion verloren. Im Zuge des Krieges gegen den IS waren viele Bauern gezwungen, ihre Betriebe zu verlassen. Ernten wurden zerstört oder beschädigt. Landwirtschaftliche Maschinen, Saatgut, Pflanzen, eingelagerte Ernten und Vieh wurden geplündert. Aufgrund des Konflikts und der Verminung konnten Bauern für die nächste Landwirtschaftssaison nicht pflanzen. Die Nahrungsmittelproduktion und -versorgung wurde unterbrochen, die Nahrungsmittelpreise auf den Märkten stiegen. Das Land ist stark von Nahrungsmittelimporten abhängig.

Das Sozialsystem wird vom sogenannten „Public Distribution System“ (PDS) dominiert, einem Programm, bei dem die Regierung importierte Lebensmittel kauft, um sie an die Öffentlichkeit zu verteilen. Das PDS ist das wichtigste Sozialhilfeprogramm im Irak, in Bezug auf Flächendeckung und Armutsbekämpfung. Es ist das wichtigste Sicherheitsnetz für Arme, obwohl es von schweren Ineffizienzen gekennzeichnet ist. Es sind zwar alle Bürger berechtigt, Lebensmittel im Rahmen des PDS zu erhalten. Das Programm wird von den Behörden jedoch sporadisch und unregelmäßig umgesetzt, mit begrenztem Zugang in den wiedereroberten Gebieten. Außerdem hat der niedrige Ölpreis die Mittel für das PDS weiter eingeschränkt.

Quellen (Zugriff am 05.11.2021):

-        AA - Auswärtiges Amt (12.1.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1457267/4598_1548939544_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2018-12-01-2019.pdf,

-        Clingendael - Netherlands Institute of International Relations (10.7.2018): More than infrastructures: water challenges in Iraq, https://www.clingendael.org/sites/default/files/2018-07/PB_PSI_water_challenges_Iraq.pdf

-        EPIC - Enabling Peace in Iraq Center (18.7.2017): Drought in the land between two rives, https://www.epic-usa.org/iraq-water/

-        Fanack (17.9.2019): Energy file: Iraq, https://fanack.com/fanack-energy/iraq/

-        FAO - Food and Agriculture Organization of the United Nations (31.1.2020): Country Briefs, Iraq, http://www.fao.org/giews/countrybrief/country.jsp?code=IRQ,

-        FAO - Food and Agriculture Organization

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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