TE Bvwg Erkenntnis 2021/8/26 W168 2163126-1

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Veröffentlicht am 26.08.2021
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Entscheidungsdatum

26.08.2021

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28

Spruch


W168 2163126 - 1/15E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter MMag. Dr. MACALKA als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. am XXXX , StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 16.06.2017, Zl. 15-1074413906/150707484, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 13.07.2021, zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides gemäß § 3 Abs. 1 als unbegründet abgewiesen.

II. Der Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 stattgegeben und wird XXXX der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter bis zum 26.08.2022 erteilt.

IV. Die Spruchpunkte III. bis VI. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I.       Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF) stellte nach unrechtmäßiger Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 20.06.2015 gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 des Asylgesetzes 2005 (AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100/2005 idF BGBl. I Nr. 24/2016BF.

2. Bei der mit einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes durchgeführten Erstbefragung des BF am selben Tag führte dieser zu seinem Fluchtgrund befragt zusammenfassend aus, dass sein Bruder ein Mädchen geliebt habe und dieses entführt sowie geehelicht habe, weshalb dieser aus Angst vor deren Familie geflohen sei. Da aus diesem Grund seine gesamte Familie bedroht werden würde, habe der BF das Land verlassen. Bei einer Rückkehr habe er Angst um sein Leben.

Zu seinen persönlichen Umständen befragt, gab der BF an, dass er von 2006 bis 2011 die Grundschule in Jalalabad besucht habe und vor seiner Ausreise als Hilfsarbeiter tätig gewesen sei. Im Herkunftsstaat seien nach wie vor seine Mutter sowie seiner drei Brüder aufhältig, ein Bruder sei in Österreich wohnhaft.

3. Am 18.05.2017 wurde der BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: "BFA" genannt), im Asylverfahren niederschriftlich einvernommen. Dabei führte er zusammenfassend aus, dass er weder Personaldokumente noch einen Reisepass besitze. Seine Mutter sowie seine drei Brüder seien nach wie vor in Afghanistan in der Provinz Nangarhar aufhältig. Eines seiner Brüder sei ebenfalls in Österreich wohnhaft. Auf Aufforderung, einen Lebenslauf anzugeben, brachte der BF vor, dass er in Nangarhar aufgewachsen sei und dort von 2006-2011 die Schule besucht habe. Er sei als selbstständiger Gemüsehändler tätig gewesen, sein Bruder und er hätten für den Lebensunterhalt der Familie gesorgt. Derzeit stehe er mit seiner Familie nicht in Kontakt. Die wirtschaftliche Situation seiner Familie sei insgesamt schlecht gewesen, da er insgesamt nur 100-200 Afghani am Tag verdient habe. Auf die Frage, ob er im Herkunftsstaat derzeit Angehörige habe, entgegnete der BF, dass seine Mutter sowie seine drei Brüder nach wie vor in Afghanistan an derselben Adresse wohnen würden. Die Fragen, ob er die Telefonnummer seiner Familie habe, mit dieser in Kontakt stehe oder im Falle einer Rückkehr wieder an seiner Wohnadresse oder bei Verwandten wohnen könnte, wurden vom BF verneint. Er habe auch keinen Kontakt mehr zu Freunden/Bekannten in Afghanistan und habe sich nie außerhalb der Provinz Nangarhar aufgehalten. Paschtu sei seine Muttersprache und er sei mit den kulturellen sowie gesellschaftlichen Gegebenheiten im Herkunftsstaat vertraut.

Zum Fluchtgrund befragt, führte der BF an, dass in seiner Region der IS vorherrschend gewesen sei und die Bevölkerung schlecht behandelt habe, weshalb die Einwohner einen Kommandanten um Unterstützung gebeten hätten, der den IS bereits zuvor mit Waffengewalt bekämpft habe. Der BF sei von seiner Familie ausgewählt worden, sich einer bewaffneten Gruppierung anzuschließen, die gegen den IS vorgehen hätte sollen. Der BF habe die Kämpfer lediglich mit Nahrung versorgt, sei jedoch selbst nicht für einen Einsatz herangezogen worden. Die Truppe des Kommandanten habe einzelne IS Mitglieder enthaupten können und durch eine Zurschaustellung der Leichen ihrer Opfer ihre Macht demonstriert. Als der BF eines Tages seinen Bruder zum Arzt begleitet habe und nach Hause gekommen sei, habe er von seinem Onkel erfahren, dass IS Anhänger in der Zwischenzeit das Haus überfallen und nach dem BF gesucht hätten. In weiterer Folge habe er erfahren, dass ihm die IS Spionage unterstellt hätten und für ihre Todesopfer verantwortlich gemacht hätten, weshalb ihm sein Onkel die Ausreise aus Afghanistan nahegelegt habe. Die Fragen, ob er in seiner Heimat von der Polizei, einer Staatsanwaltschaft oder einem Gericht gesucht werde oder in seiner Heimat jemals verhaftet worden sei, wurden vom BF verneint. Er habe in Afghanistan auch keine Probleme mit den Behörden gehabt, sei niemals Mitglied einer Gruppierung oder Partei gewesen und sei von staatlicher Seite niemals wegen seiner politischen Gesinnung, Rasse, Religion, Nationalität oder Volksgruppe verfolgt worden. Es habe jedoch von den Feinden seines Bruders Übergriffe auf seine Familie gegeben. Bei einer Rückkehr befürchte der BF, von IS Mitgliedern getötet zu werden. Ein Dorfbewohner sei vor Kurzem enthauptet worden, da man ihm ebenfalls der Spionage beschuldigt habe. Die Frage, ob er bei einer Rückkehr mit der Polizei oder anderen Behörden Probleme hätte, wurde vom BF verneint und ausgeführt, dass er ausschließlich mit den IS Probleme hätte. Nachgefragt, wieso er nicht in eine andere Stadt oder einen anderen Landesteil gezogen sei, gab der BF an, dass der IS im gesamten Land ein umfangreiches Netzwerk habe und ihn überall finden würde. Zur Frage, inwiefern eine persönliche Bedrohung stattgefunden habe, erklärte der BF, dass man ihm über seinen Onkel ausgerichtet habe, dass er der Spionage beschuldigt werde, eine direkte Begegnung mit dem IS jedoch seinen Tod zur Folge gehabt hätte. Auf Vorhalt, dass es vor diesem Hintergrund völlig unglaubwürdig sei, dass seinem Onkel nichts passiert sei, als er im Elternhaus des BF angetroffen worden sei bzw. auch in weiterer Folge zum erwähnten Stützpunkt gegangen sei und verschont worden sei, replizierte der BF, dass er selbst die einzige Zielscheibe des IS gewesen sei. Zum weiteren Vorhalt, dass er sich bei seiner Erstbefragung auf die Fluchtgründe seines Bruders bezogen habe, erklärte der BF, dass er sich nach seiner Ankunft nicht wohl gefühlt habe und müde gewesen sei, weshalb er rasch die wesentlichen Ausführungen wiedergegeben habe, die seine Familie betreffen würden. Auf Nachfrage, was mit der Frau seines Bruders passiert sei, entgegnete der BF, dass diese von ihren Brüdern getötet worden sei, da diese mit ihrer Eheschließung nicht einverstanden gewesen seien. Zum Vorhalt, dass die Geschehnisse bereits vier Jahre zurückliegen würden, weshalb nicht nachvollziehbar sei, dass er nach wie vor verfolgt werde, führte der BF an, dass eine Feindschaft ein ganzes Leben bestehen würde. Befragt, wieso nur er wegen dieses Problems weggeschickt worden sei, replizierte der BF, dass sein Bruder zwar geistig eingeschränkt sei, seine Familie wegen dieses Problems jedoch nach wie vor in Gefahr sei. Die Familie sei nach den Ereignissen von Jalalabad in ein Dorf gezogen, nach der Flucht seines Bruders habe die Familie jedoch Drohungen von den Taliban, der Polizei sowie der Familie des Mädchens erhalten. Nachgefragt, welche Aufgaben ihm innerhalb der Gruppierung zugewiesen worden seien, die sich gegen die IS gerichtet habe, erwiderte der BF, dass er rein organisatorische Aufgaben gehabt habe. Den Umgang mit einer Waffe oder deren Aufbau habe er im Zuge seiner Tätigkeiten jedenfalls nie gelernt. Er habe lediglich die Waffen sortiert und an die zugewiesenen Plätze gebracht. Auf die weitere Frage, ob er von einer eben berichteten Enthauptung selbst anwesend gewesen sei, erklärte der BF, dass er nur die Leichen gesehen habe und er beim Anblick erleichtert gewesen sei, dass diese zur Strecke gebracht worden seien. Auf Nachfrage, wieso der IS Angehörige der eigenen Volksgruppe, nämlich Paschtunen bedrohen sollte, erklärte der BF, dass es sich dabei um ein allgemeines Problem in Afghanistan handle. Befragt, worin die Bedrohung bestehe, dass er aufgefordert worden sei, sich beim Stützpunkt zu melden, erklärte der BF, dass er aufgrund der Flucht aus Afghanistan keine weiteren Informationen verfüge. Sein Onkel habe ihm jedenfalls berichtet, dass er auf der Liste der IS stehe und deswegen fliehen müsse. Der BF wisse nicht, ob sein Onkel tatsächlich bei dem besagten Stützpunkt gewesen sei. Nachgefragt, wieso es seinem Onkel möglich sei, sich auch weiterhin in Afghanistan aufzuhalten, erklärte der BF, dass er selbst das einzige Ziel der IS gewesen sei, weshalb nur für ihn selbst und nicht für seinen Onkel Gefahr bestanden habe. Auf Vorhalt, dass er zuvor angegeben habe, dass seine gesamte Familie in Gefahr sei, gab der BF zu Protokoll, dass sich die Probleme seiner Familie nur auf die Feinde seines Bruders bezogen hätten, er selbst werde von den IS lediglich verfolgt, da er für die genannte Gruppierung tätig gewesen sei.

Zu seinem Privat-und Familienleben befragt, führte der BF an, dass er seit Juni 2015 in Österreich aufhältig sei und einen Deutschkurs auf dem Niveau A2 abgeschlossen habe und anstrebe, die Prüfung zu absolvieren. Zudem besuche er drei bis viermal in der Woche ein Fitnesscenter. Er wolle eine Lehre als Automechaniker absolvieren, derzeit beziehe er jedoch Leistungen aus der Grundversorgung. Sein Bruder bezahle den Großteil der Miete. Die Frage, ob er über einen Schulabschluss verfüge oder Mitglied in einem Verein oder einer sonstigen Organisation sei, wurde vom BF verneint.

Im Rahmen der niederschriftlichen Einvernahme wurden vom BF eine Bestätigung des ÖIF vom 16.05.2017 über die Teilnahme an einer Lerngruppe vom 04.04.-16.05.2017 auf dem Niveau A2, eine Teilnahmebestätigung der GemNovaDienstleistungsGmbH vom 15.03.2017 über die erfolgreiche Teilnahme am Kurs A0 zwischen 01.11.2016 und 01.01.2017, eine Teilnahmebestätigung vom 16.05.2017 über die Teilnahme an „Deutschtraining leicht fortgeschritten“ vom November 2016 bis Mai 2017, ein Empfehlungsschreiben der Tiroler Sozialen Dienste vom 17.04.2017, eine Ambulanzkarte der Medizinischen Universität Wien sowie mehrere Artikel über Nangarhar in Vorlage gebracht.
4. Mit dem angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Dem BF wurde gemäß §§ 57 AsylG ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und weiters gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Weiters wurde ausgeführt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise des BF gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt IV.).

Zusammenfassend führte das BFA aus, dass die Behauptung einer konkreten Verfolgung in der Heimat des BF nur als eine in den Raum gestellte Behauptung gewertet werden könne, der aufgrund der mangelnden Plausibilität und Nachvollziehbarkeit keine Glaubwürdigkeit geschenkt werden könne. Bei der Erstbefragung unmittelbar nach seiner Ankunft habe sich der BF in seinem vorgebrachten Fluchtgrund auf seinen Bruder bezogen und dass er als Mitglied der Familie ebenfalls bedroht werde und deshalb fortgeschickt worden sei. Dazu sei zu erwähnen, dass der Bruder des BF bereits 2011 nach Österreich gekommen sei und aufgrund seiner persönlichen Bedrohung 2012 den Status des Asylberechtigten erhalten habe. Der BF und seine Familie sei weiterhin im Herkunftsstaat verblieben und der BF sei erst 2015 wegen der Familienzugehörigkeit verfolgt worden. In der Einvernahme vor dem BFA habe der BF sein Vorbringen dahingehend gesteigert, dass er plötzlich die Zugehörigkeit zu einer IS-Widerstandsgruppe vorgebracht habe, weshalb er vom IS bedroht worden sei. Die Unterstellung einer falschen Übersetzung sei durch die Unterschrift aller anwesenden Personen ausgeschlossen worden und stehe im Widerspruch zu den Angaben des BF, dass diese Gründe sehr wohl zu den neu vorgebrachten Gründen existent wären. In den folgenden Ausführungen seien die Angaben des BF jedoch relativiert worden, indem er angegeben habe, dass er lediglich aufgrund von Vermutungen von Seiten des IS verfolgt werde, da sich der BF nicht freiwillig einer Widerstandstruppe angeschlossen habe und zudem auch keinerlei Kampfhandlungen gegen den IS durchgeführt habe. Somit habe keine offensichtliche IS Gegnerschaft erkannt werden können und sei auch nicht behauptet worden. Es habe überdies keine Konsequenzen für seinen Onkel gegeben noch seien dem BF irgendwelche Konsequenzen angedroht worden. Die ganze Bedrohung habe darin bestanden, dass der BF von seinem Onkel informiert worden sei, dass nach ihm gesucht werde. Nachgefragt, wieso sein Onkel keinerlei Bedrohung von Seiten des IS zu befürchten habe, sei die lapidare Antwort des BF gewesen, dass zu diesem Zeitpunkt nur nach Verrätern und Spionen gesucht worden sei und er deshalb nichts zu befürchten gehabt habe. In krassem Widerspruch habe er sogar selbst in der Einvernahme ausgeführt, dass seine ganze Familie bedroht werden würde. Der BF habe selbst auf konkrete Nachfragen keine detaillierten Angaben zu den vom BF behaupteten Verfolgungsbehauptungen dargelegt und habe sich bereits in den Kernaussagen seines ausreisekausalen Vorbringens widersprochen. Die erkennende Behörde komme zum Ergebnis, dass die Angaben des BF vage, wenig detailreich, oberflächlich und widersprüchlich geblieben seien und das Vorbringen in einer Gesamtbetrachtung absolut nicht glaubwürdig gewesen sei.

5. Gegen den oben genannten Bescheid richtet sich die erhobene Beschwerde, welche fristgerecht beim BFA einlangte. In dieser wurde zusammenfassend insbesondere ausgeführt, dass im nunmehr bekämpften Bescheid jegliche Auseinandersetzung mit dem persönlichen Vorbringen des BF fehle. Dass der BF selbst zu den gefährdeten Personengruppen gehöre, welche von den Taliban verfolgt werden würden, würden auch die Länderinformationen der Staatendokumentationen bestätigen. Die Rückkehrbefürchtungen des BF seien nachvollziehbar und vor dem Hintergrund der Länderinformationen auch durchaus glaubhaft. Der BF könne nicht in den Herkunftsstaat zurückkehren, da ihm dort die Verfolgung bzw. der Tod drohe. Seit Februar 2017 wohne der BF bei seinem Bruder, der bereit sei, für alle Kosten aufzukommen, solange er noch nicht selbsterhaltungsfähig sei. Der BF verfüge daher in Österreich über einen sehr wichtigen Anknüpfungspunkt, weshalb bei einer Abschiebung nach Afghanistan Art. 8 EMRK verletzt wäre.

6. Mit Schriftsatz vom 21.08.2018 wurden vom bevollmächtigten Vertreter des BF eine Teilnahmebestätigung vom GemNova vom 15.03.2017 über die Teilnahme an einem Kurs vom 01.11.2016-01.01.2017, eine Bestätigung des ÖIF vom 16.05.2017 über die Teilnahme an einer Lerngruppe vom 04.04.-16.05.2017 (Niveau A2), eine Bestätigung des bfi Tirol vom 11.07.2018 über den Besuch des Kurses B1.1. vom 18.06.2017-11.07.2018, eine Bestätigung des bfi Tirol vom 08.08.2018 über den Besuch des Kurses B1.2. Deutsch Mittelstufe vom 16.07.2018-08.08.2018, eine Teilnahmebestätigung vom 16.05.2017 über die Teilnahme am Deutschtraining leicht fortgeschritten vom November 2016 bis Mai 2017, ein Zertifikat des ÖSD vom 07.11.2017 über eine bestandene Prüfung auf dem Niveau A2 und ein Empfehlungsschreiben der Tiroler Sozialen Dienste vom 17.04.2017 in Vorlage gebracht.

Am 03.12.2018 wurde vom bevollmächtigten Vertreter des BF eine Bestätigung des bfi Tirol vom 30.11.2018 über die Teilnahme am Kurs „Finanzielle Grundbildung“ vom 21.09.2018 bis 30.11.2018 in Vorlage gebracht.

Mit einem weiteren Schriftsatz vom 01.04.2019 wurden vom bevollmächtigten Vertreter des BF eine Teilnahmebestätigung vom 15.03.2017 über die erfolgreiche Teilnahme am Kurs A0 zwischen 01.11.2016 und 01.01.2017, ein ÖSD Zertifikat über eine bestandene Prüfung auf dem Niveau A2 vom 07.11.2017, eine Bestätigung des bfi vom 08.08.2018 über den Besuch des Kurses „B1.2 Deutsch Mittelstufe“ vom 16.07.2018 bis 08.08.2018, eine Bestätigung des bfi vom 11.07.2018 über den Besuch des Kurses „B1.1 Deutsch Mittelstufe“ vom 18.06.2018 bis 11.07.2018, eine Bestätigung eines Wohn-und Pflegehauses vom 20.03.2019 über die Beschäftigung des BF als Küchenhilfe seit dem 04.03.2019 im Ausmaß von 80 Wochenstunden im Monat, eine Teilnahmebestätigung vom 16.05.2017 über die Teilnahme am „Deutschtraining leicht fortgeschritten“ vom November 2016 bis Mai 2017, eine Bestätigung des BFI Tirol vom 30.11.2018 über die Teilnahme am Kurs „Finanzielle Grundbildung“ vom 21.09.2018 bis 30.11.2018, eine Bestätigung einer Gemeinde vom 13.03.2019 über die Durchführung von Arbeiten des BF im Bereich der Landschaftspflege von 01/2019-02/2019 und eine Bestätigung des ÖIF vom 16.05.2017 über die Teilnahme an einer Lerngruppe vom 04.04.-16.05.2017 in Vorlage gebracht.

7. Im Rahmen einer Beschwerdeergänzung wurde vom bevollmächtigten Vertreter des BF am 12.02.2020, beim Bundesverwaltungsgericht am 13.02.2020 eingelangt, ausgeführt, dass entgegen der Ansicht der belangten Behörde kein gesteigertes Vorbringen vorliege. Der afghanische Staat könne den BF nicht schützen, weil der afghanische Staat mangels eines ausreichenden Einflusses nicht schutzfähig sei. Der Onkel des BF sei nicht offiziell als Schutz für die Familie aufgetreten und habe sich vielmehr im Hintergrund darum gekümmert, dass der Familie nichts passiere.

8. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 13.07.2021 in Anwesenheit einer Dolmetscherin für die Sprache Pashto, sowie des gewillkürten Vertreters des BF eine öffentliche mündliche Verhandlung durch.

In dieser Verhandlung wurde der BF ausführlich zu den Gründen für die Stellung des gegenständlichen Antrages auf internationalen Schutz, den Beschwerdegründen, zu seinen Rückkehrbefürchtungen, zu seinen persönlichen Umständen in Österreich befragt.

Ebenso wurde dem BF die Gelegenheit geboten in Bezug auf die dem BF im Vorfeld der mündlichen Verhandlung übermittelten aktuellen Länderberichte zu Afghanistan Stellung zu nehmen und seine konkrete Situation im Falle einer allfälligen Rückkehr darzulegen.

Der BF wurde zudem konkret in Bezug auf seine persönliche Situation bei einer allfälligen Rückkehr in den Herkunftsstaat, dies unter konkreter Zugrundelegung der sich aus den aktuellen Länderfeststellungen ableitbaren allgemeinen Sicherheits- als auch Versorgungssituation, befragt.

Abschließend wurde der BF hinsichtlich der von ihm gesetzten integrativen Schritte im Bundesgebiet befragt und diesem die Möglichkeit geboten sämtliche seit der Einreise im Bundesgebiet gesetzten integrativen Schritte auszuführen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des BF:

Der BF ist in der Provinz Nangarhar geboren, gehört der Volksgruppe der Paschtunen an und ist sunnitischer Moslem. Seine Muttersprache ist Paschtu. Er ist ledig und hat keine Kinder.

Der BF hat von 2006-2011 in Jalalabad die Grundschule besucht, ist im Herkunftsstaat im afghanischen Familienverband aufgewachsen und hat vor seiner Ausreise als Gemüsehändler gearbeitet. Er hat sich vor seiner Ausreise ausschließlich in der Provinz Nangarhar aufgehalten.

Die Mutter und die drei Brüder des BF, mit denen der BF in regelmäßigen Kontakt steht, befinden sich gegenwärtig in Jalalabad, der Vater des BF ist bereits verstorben.

Der BF hat in Österreich familiäre Anknüpfungspunkte in Form eines Bruders, mit dem er seit Februar 2017 im gemeinsamen Haushalt lebt. Dieser Bruder unterstützt den BF finanziell regelmäßig, bzw.

In Österreich befindet sich ein Bruder des BF der den BF finanziell unterstützt, bzw. auch für den BF die Kosten der gewillkürten Vertretung bezahlt.

Der BF reiste schlepperunterstützt unberechtigt und unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und hält sich zumindest seit dem 20.06.2015 durchgehend in Österreich auf.

Der BF hat in Österreich Deutsch – und Basisbildungskurse besucht und eine Prüfung auf dem Niveau A2 abgeschlossen, bzw. ein Sprachzertifikat auf dem Niveau B1 mit 27.09.2019 absolviert. Zudem hat er an mehreren Kursen sowie Lerngruppen teilgenommen, war als Küchenhilfe für ein Wohn- und Pflegehaus tätig, hat BFI Kurse besucht, bzw. hat freiwillige Hilfstätigkeiten für eine Gemeinde im Bereich der Landschaftspflege bzw. für eine Gemeinde in Teilzeit gearbeitet.

Der BF ist gesund und befindet sich nicht in ärztlicher Behandlung.

Der BF erfüllt nicht die Voraussetzungen zur Gewährung eines Aufenthaltstitels gem. §57 AsylG.

Der BF ist strafgerichtlich unbescholten.

1.2. Zu den Fluchtgründen des BF:

Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF Afghanistan aufgrund einer glaubwürdigen, ihn unmittelbar persönlich treffenden asylrelevanten Verfolgung aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verlassen hat.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF unmittelbar und konkret im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Ansichten von staatlicher Seite oder von Seiten Dritter bedroht wäre.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF allein deshalb, weil er sich zuletzt in Europa aufgehalten hat und als afghanischer Staatsangehöriger in Afghanistan eine asylrelevante Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten hätte, bzw. sind im Verfahren keine konkreten Anhaltpunkte hervorgekommen, dass eine Asylantragstellung im Ausland oder eine rechtswidrige Ausreise mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu Sanktionen oder Repressionen in Afghanistan führen würde.

Der BF konnte nicht glaubhaft machen, dass im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine ihn unmittelbar und konkret betreffende asylrelevante Verfolgungsgefahr droht, bzw. hat der BF bei einer Rückkehr nach Afghanistan keine sonstige asylrelevante unmittelbar und konkret gegen seine Person gerichtete Bedrohung durch staatliche Organe oder durch Privatpersonen zu erwarten.

1.3. Zur Situation im Falle der Rückkehr:

Afghanistan ist von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban betroffen.

Aufgrund der vorliegenden aktuellen Länderinformationen zu Afghanistan können gegenwärtig keine Gebiete innerhalb Afghanistans ausgewiesen werden, die mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit als hinreichend gesicherte innerstaatliche Fluchtalternative dem BF zur Verfügung stehen.

Eine Verletzung oder ein relevanter Eingriff in insb. durch Art. 3 EMRK geschützte Rechte kann aufgrund der gegenwärtig volatilen und instabilen Sicherheitslage und der damit einhergehenden willkürlichen Gewalt in Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht ausgeschlossen werden.

Auch ist mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zum aktuellen Zeitpunkt nicht hinreichend gesichert, dass es dem BF in der Folge einer Rückkehr gegenwärtig zumutbar möglich ist grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft befriedigen zu können bzw. nicht ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.

Festgestellt wird, dass die aktuell weltweite Corona 19 Pandemie aufgrund auch der aktuellen diesbezüglichen Lage in Afghanistan kein Rückkehrhindernis darstellt. Der Beschwerdeführer ist gesund und gehört mit Blick auf sein Alter und das Fehlen physischer Vorerkrankungen keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 an. Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde.

Im Falle einer Verbringung des Beschwerdeführers in seinen Herkunftsstaat droht diesem gegenwärtig ein reales Risiko einer Verletzung der Art. 2 oder 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 210/1958 (in der Folge EMRK) oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bzw. würde eine solche Verbringung für den BF als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen.

1.4. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Im Folgenden werden die wesentlichen Feststellungen aus dem vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen Länderinformationsblatt der Staatendokumentation - Afghanistan (letzte Änderungen: 11.06.2021) auszugsweise und gekürzt durch das BVwG wiedergegeben:

Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-

Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 12.2019; vgl. CRS 12.2.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 12.2019).

Für die meisten zivilen Opfer im Jahr 2020 waren weiterhin regierungsfeindliche Elemente verantwortlich, 62% wurden ihnen zugeschrieben. Vom 1.1.2020 bis zum 31.12.2020 schrieb UNAMA 5.459 zivile Opfer (1.885 Tote und 3.574 Verletzte) regierungsfeindlichen Elementen zu. Dies bedeutete einen Gesamtrückgang um 15% im Vergleich zu 2019. Die Zahl der von regierungsfeindlichen Elementen getöteten Zivilisten stieg jedoch um 13% (UNAMA 2.2021a)

Taliban

Die Taliban sind seit Jahrzehnten in Afghanistan aktiv. Die Taliban-Führung regierte Afghanistan zwischen 1996 und 2001, als sie von US-amerikanischen/internationalen Streitkräften entmachtet wurde; nach ihrer Entmachtung hat sie weiterhin einen Aufstand geführt (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020). Seit 2001 hat die Gruppe einige Schlüsselprinzipien beibehalten, darunter eine strenge Auslegung der Scharia in den von ihr kontrollierten Gebieten (EASO 8.2020c; vgl. RFE/RL 27.4.2020).

Die Taliban sind eine religiös motivierte, religiös konservative Bewegung, die das, was sie als ihre zentralen „Werte“ betrachten, nicht aufgeben wird. Wie sich diese Werte in einer künftigen Verfassung widerspiegeln und in der konkreten Politik einer eventuellen Regierung der Machtteilung, die die Taliban einschließt, zum Tragen kommen, hängt von den täglichen politischen Verhandlungen zwischen den verschiedenen politischen Kräften und dem Kräfteverhältnis zwischen ihnen ab (Ruttig 3.2021). Sie sehen sich nicht als bloße Rebellengruppe, sondern als eine Regierung im Wartestand und bezeichnen sich selbst als „Islamisches Emirat Afghanistan“, der Name, den sie benutzten, als sie von 1996 bis zu ihrem Sturz nach den Anschlägen vom 11.9.2001 an der Macht waren (BBC 15.4.2021).

Struktur und Führung

Die Taliban positionieren sich selbst als SchattenregierungAfghanistans, und ihre Kommissionen und Führungsgremien entsprechen den Verwaltungsämtern und -pflichten einer typischen Regierung (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020). Die Taliban sind zu einer organisierten politischen Bewegung geworden, die in weiten Teilen Afghanistans eine Parallelverwaltung betreibt (EASO 8.2020c; vgl. USIP 11.2019; BBC 15.4.2021) und haben sich zu einem lokalen Regierungsakteur im Land entwickelt, indem sie Territorium halten und damit eine gewisse Verantwortung für das Wohlergehen der lokalen Gemeinschaften übernehmen (EASO 8.2020c; vgl. USIP 4.2020). Was militärische Operationen betrifft, so handelt es sich um einen vernetzten Aufstand mit einer starken Führung an der Spitze und dezentralisierten lokalen Befehlshabern, die Ressourcen auf Distriktebene mobilisieren können (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020).

Das wichtigste offizielle politische Büro der Taliban befindet sich in Katar (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020). Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.8.2019; vgl. EASO 8.2020c, UNSC 27.5.2020, AnA 28.7.2020) - Stellvertreter sind der Erste Stellvertreter Sirajuddin Jalaluddin Haqqani (Leiter des Haqqani-Netzwerks) und zwei weitere: Mullah Mohammad Yaqoob [Mullah Mohammad Yaqub Omari] (EASO 8.2020c; vgl. FP 9.6.2020) und Mullah Abdul Ghani Baradar Abdul Ahmad Turk (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020). Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.; vgl. BBC 15.4.2021). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018). Die Taliban sind keine monolithische Organisation (NZZ 20.4.2020); nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (BR 5.3.2020). Während der US-Taliban-Verhandlungen war die Führung der Taliban in der Lage, die Einheit innerhalb der Basis aufrechtzuerhalten, obwohl sich Spaltungen wegen des Abbruchs der Beziehungen zu Al-Qaida vertieft haben (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020). Seit Mai 2020 ist eine neue Splittergruppe von hochrangigen TalibanDissidenten entstanden, die als Hizb-e Vulayet Islami oder Hezb-e Walayat-e Islami (Islamische Gouverneurspartei oder Islamische Vormundschaftspartei) bekannt ist (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020). Die Gruppe ist gegen den US-Taliban-Vertrag und hat Verbindungen in den Iran (EASO 8.2020c; vgl. FP 9.6.2020). Eine gespaltene Führung bei der Umsetzung des US-Taliban-Abkommens und Machtkämpfe innerhalb der Organisation könnten den möglichen Friedensprozess beeinträchtigen (EASO 8.2020c; vgl. FP 9.6.2020).

Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll zwölf Ableger in acht Provinzen haben (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Sar-e Pul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.8.2019).

Rekrutierungsstrategien

Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.6.2017).

Es besteht relativer Konsens darüber, wie die Rekrutierung für die Streitkräfte der Taliban erfolgt: Sie läuft hauptsächlich über bestehende traditionelle Netzwerke und organisierte Aktivitäten im Zusammenhang mit religiösen Institutionen. Layha, der Verhaltenskodex der Taliban enthält einige Bestimmungen über verschiedene Formen der Einladung sowie Bestimmungen, wie sich die Kader verhalten sollen, um Menschen zu gewinnen und Sympathien aufzubauen. Eines der Sonderkomitees der Quetta Schura (Anm.: militante afghanische Organisation der Taliban mit Basis in Quetta / Pakistan) ist für die Rekrutierung verantwortlich (LI 29.6.2017). UNAMA hat Fälle der Rekrutierung und des Einsatzes von Kindern durch die Taliban dokumentiert, um IEDs (Improvised Explosive Devices) zu platzieren, Sprengstoff zu transportieren, bei der Sammlung nachrichtendienstlicher Erkenntnisse zu helfen und Selbstmordattentate zu verüben, wobei auch positive Schritte von der Taliban-Kommission für die Verhütung ziviler Opfer und Beschwerden unternommen wurden, um Fälle von Rekrutierung und Einsatz von Kindern zu untersuchen und korrigierend einzugreifen (UNAMA 2.2021a; vgl. UNAMA 7.2020). In Gebieten, in denen regierungsfeindliche Gruppen Kontrolle ausüben, gibt es eine Vielzahl an Methoden, um Kämpfer zu rekrutieren, darunter auch solche, die auf Zwang basieren (DAI/CNRR 10.2016), wobei der Begriff Zwangsrekrutierung von Quellen unterschiedlich interpretiert und Informationen zur Rekrutierung unterschiedlich kategorisiert werden (LI 29.6.2017). Grundsätzlich haben die Taliban keinen Mangel an freiwilligen Rekruten und machen nur in Ausnahmefällen von Zwangsrekrutierung Gebrauch. Druck und Zwang, den Taliban beizutreten, sind jedoch nicht immer gewalttätig (EASO 6.2018). Landinfo versteht Zwang im Zusammenhang mit Rekrutierung dahingehend, dass jemand, der sich einer Mobilisierung widersetzt, speziellen Zwangsmaßnahmen und Übergriffen (zumeist körperlicher Bestrafung) durch den Rekrutierer ausgesetzt ist. Die Zwangsmaßnahmen können auch andere schwerwiegende Maßnahmen beinhalten und gegen Dritte, beispielsweise Familienmitglieder, gerichtet sein. Auch wenn jemand keinen Drohungen oder körperlichen Übergriffen ausgesetzt ist, können Faktoren wie Armut, kulturelle Gegebenheiten und Ausgrenzung die Unterscheidung zwischen freiwilliger und zwangsweiser Beteiligung zum Verschwimmen bringen (LI 29.6.2017). Sympathisanten der Taliban sind Einzelpersonen und Gruppen von, vielfach jungen, desillusionierten Männern. Ihre Motive sind der Wunsch nach Rache und Heldentum, gepaart mit religiösen und wirtschaftlichen Gründen. Sie fühlen sich nicht zwingend den zentralen Werten der Taliban verpflichtet. Die meisten haben das Vertrauen in das Staatsbildungsprojekt verloren und glauben nicht länger, dass es möglich ist, ein sicheres und stabiles Afghanistan zu schaffen. Viele schließen sich den Aufständischen aus Angst oder Frustration über die Übergriffe auf die Zivilbevölkerung an. Armut, Hoffnungslosigkeit und fehlende Zukunftsperspektiven sind die wesentlichen Erklärungsgründe (LI 29.6.2017).

Vor einigen Jahren waren Mittel wie Pamphlete, DVDs und Zeitschriften bis hin zu Radio, Telefon und web-basierter Verbreitung wichtige Instrumente des Propagandaapparats der Taliban. Während Internet und soziale Medien wie Twitter, Blogs und Facebook sich in den letzten Jahren zu sehr wichtigen Foren und Kanälen für die Verbreitung der Botschaft dieser Bewegung entwickelt haben, dienen sie auch als Instrument für die Anwerbung. Über die sozialen Medien können die Taliban mit Sympathisanten und potenziellen Rekruten Kontakt aufnehmen. Die Taliban haben verstanden, dass ohne soziale Medien kein Krieg gewonnen werden kann. Sie haben ein umfangreiches Kommunikations- und Mediennetzwerk für Propaganda und Rekrutierung aufgebaut. Zusätzlich unternehmen die Taliban persönlich und direkt Versuche, die Menschen von ihrer Ideologie und Weltanschauung zu überzeugen, damit sie die Bewegung unterstützen. Ein Gutteil dieser Aktivitäten läuft über religiöse Netzwerke (LI 29.6.2017).

Die Entscheidung, Rekruten zu mobilisieren, wird von den Familienoberhäuptern, Stammesältesten und Gemeindevorstehern getroffen. Dadurch wird dies nicht als Zwangsrekrutierung wahrgenommen, da die Entscheidungen der Anführer als legitim und akzeptabel gesehen werden. Personen, die sich dem widersetzen, gehen ein Risiko ein, dass sie oder ihre Familien bestraft oder getötet werden (DAI/CNRR 10.2016; vgl. EASO 6.2018), wenngleich die Taliban nachsichtiger als der ISKP seien und lokale Entscheidungen eher akzeptieren würden (TST 22.8.2019). Andererseits wird berichtet, dass es in Gebieten, die von den Taliban kontrolliert werden oder in denen die Taliban stark präsent sind, de facto unmöglich ist, offenen Widerstand gegen die Bewegung zu leisten. Die örtlichen Gemeinschaften haben sich der Lokalverwaltung durch die Taliban zu fügen. Oppositionelle sehen sich gezwungen, sich äußerst bedeckt zu halten oder das Gebiet zu verlassen. Die Gruppe der Stammesältesten ist gezielten Tötungen ausgesetzt. Landinfo vermutet, dass dies vor allem regierungsfreundliche Stammesälteste betrifft, die gegen die Taliban oder andere aufständische Gruppen sind. Es gibt Berichte von Übergriffen auf Stämme oder Gemeinschaften, die den Taliban Unterstützung und die Versorgung mit Kämpfern verweigert haben. Gleichzeitig sind die militärischen Einheiten der Taliban in den Gebieten, in welchen sie operieren, von der Unterstützung durch die Bevölkerung abhängig. Wenn es auch Stimmen gibt, die meinen, dass die Taliban im Gegensatz zu früher nunmehr vermehrt auf die Wünsche und Bedürfnisse der Gemeinschaften Rücksicht nehmen würden, wenn bei einem Angriff oder drohenden Angriff auf eine örtliche Gemeinschaft Kämpfer vor Ort mobilisiert werden müssen, mag es schwierig sein, sich zu entziehen (LI 29.6.2017).Die erweiterte Familie kann angeblich auch eine Zahlung leisten, anstatt Rekruten zu stellen. Diese Praktiken implizieren, dass es die ärmsten Familien sind, die Kämpfer stellen, da sie keine Mittel haben, um sich freizukaufen. Es ist bekannt, dass - wenn Familienmitglieder in den Sicherheitskräften dienen - die Familie möglicherweise unter Druck steht, die betreffende Person zu einem Seitenwechsel zu bewegen. Der Grund dafür liegt in der Strategie der Taliban, Personen mit militärischem Hintergrund anzuwerben, die Waffen, Uniformen und Wissen über den Feind einbringen. Es kann aber auch Personen treffen, die über Know-how und Qualifikationen verfügen, welche die Taliban im Gefechtsfeld benötigen, etwa für die Reparatur von Waffen (LI 29.6.2017). Die Taliban wenden, laut Berichten von NGOs und UN, Täuschung, Geldzusagen, falsche religiöse Zusammenhänge oder Zwang an, um Kinder zu Selbstmordattentaten zu bewegen (USDOS 30.3.2021; vgl. EASO 6.2018, DAI/CNRR 10.2016), teilweise werden die Kinder zur Ausbildung nach Pakistan gebracht (EASO 6.2018). Im Jahr 2020 gab es laut UNAMA insgesamt 196 Jungen, hauptsächlich im Norden und Nordosten des Landes, die sowohl von den Taliban als auch von den afghanischen Sicherheitskräften rekrutiert wurden. Es ist wichtig anzumerken, dass Fälle der Rekrutierung und des Einsatzes von Kindern in Afghanistan aufgrund der damit verbundenen Sensibilität und der Sorge um die Sicherheit der Kinder in hohem Maße unterrepräsentiert sind (UNAMA 2.2021a).

Jüngste Entwicklungen und aktuelle Ereignisse

Während die Taliban behaupten, nicht mehr dieselbe brutale Gruppe zu sein die Afghanistan in den 1990er Jahren beherrschte, und versuchen inmitten der internationalen Bemühungen um eine Friedensregelung zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban ein versöhnlicheres Image zu vermitteln, sagen Afghanen, die derzeit unter der Kontrolle der Taliban leben, dass die militante Gruppe weiterhin in ihrer extremistischen Auslegung des Islam verwurzelt ist und mit Angst und Barbarei regiert (RFE/RL 13.4.2021), wobei sich viele innerhalb der Taliban erhoffen, ihr „Emirat“ wiederherstellen zu können (Ruttig 3.2021). Einem lokalen Vertreter der Talibanzufolge sind die Taliban von früher und die Taliban von heute dieselben (BBC 15.4.2021). Die Taliban haben sich offenbar absichtlich vage darüber geäußert, was sie mit der „islamischen Regierung“ meinen, die sie schaffen wollen. Einige Analysten sehen darin einen bewussten Versuch, interne Reibereien zwischen Hardlinern und gemäßigteren Elementen zu vermeiden (BBC 15.4.2021).

Es gibt Anzeichen für einen wirklichen Politikwandel in bestimmten Bereichen (z.B. bei der Nutzung der Medien, im Bildungssektor, eine größere Akzeptanz von NGOs und die Einsicht, dass ein zukünftiges politisches System zumindest einige ihrer politischen Rivalen aufnehmen muss), doch scheinen ihre politischen Anpassungen eher von politischen Notwendigkeiten als von grundlegenden Veränderungen in der Ideologie getrieben zu sein (Ruttig 3.2021; vgl. BBC 15.4.2021). In den letzten Jahren haben sich die Taliban dazu bekannt, Frauen ihre Rechte zu gewähren und ihnen zu erlauben, zu arbeiten und zur Schule zu gehen, wenn sie nicht gegen den Islam oder die afghanischen Werte verstoßen (RFE/RL 13.4.2021; vgl. BBC 15.4.2021), aber laut einer großen Zahl von Afghanen, die unter der Herrschaft der Taliban leben, hat sich die Politik der militanten Gruppe in Bezug auf die Bildung von Mädchen seit mehr als zwei Jahrzehnten nicht geändert (RFE/RL 13.4.2021). In einigen von den Taliban kontrollierten Gebieten sind Schulen für Mädchen komplett verboten (RFE/RL 13.4.2021; vgl. BBC 15.4.2021). In anderen Regionen gibt es Beschränkungen. Die Gruppe deutete auch an, dass sie die kürzlich gewonnenen Freiheiten der Frauen beschneiden will, die ihrer Meinung nach „Unmoral“ und „Unanständigkeit“ fördern (RFE/RL 13.4.2021). Angesichts ihres anhaltenden dominierenden Verhaltens, ihrer Intoleranz gegenüber politisch Andersdenkenden und ihrer Unterdrückung (insbesondere von Mädchen und Frauen) in den von ihnen kontrollierten Gebieten besteht die berechtigte Sorge, dass sie zu den Praktiken von vor dem Herbst 2001 zurückkehren könnten, wenn der politische Druck nach einem eventuellen Friedensabkommen und einem Truppenabzug nachlässt. Die Veränderungen in der Rhetorik und den Positionen der Taliban werfen jedoch ein Licht auf das, was sie in einer politischen Ordnung nach dem Friedensschluss in Afghanistan, in der sie sich mit anderen afghanischen Machtgruppen und Interessen zu einem Modus Vivendi zusammenfinden müssen, möglicherweise zu akzeptieren bereit sind. Ob einige Änderungen in der Herangehensweise aufrechterhalten werden, hängt von der Fähigkeit der afghanischen Gemeinschaft und politischen Gruppen ab, den Druck auf die Taliban aufrechtzuerhalten. Dies wiederum hängt von der anhaltenden internationalen Aufmerksamkeit gegenüber Afghanistan ab, insbesondere wenn es zu einer politischen Einigung und einer Machtteilung kommt und nachdem die ausländischen Soldaten abgezogen sind (Ruttig 3.2021). Die Taliban glauben, dass der Sieg ihnen gehört. Die Entscheidung von US-Präsident Joe Biden, den Abzug der verbleibenden US-Truppen auf September zu verschieben, was bedeutet, dass sie über den im letzten Jahr vereinbarten Termin 1.5.2021 hinaus im Land bleiben werden, hat eine scharfe Reaktion der politischen Führung der Taliban ausgelöst. Nichtsdestotrotz scheint das Momentum auf Seiten der Militanten zu sein. Im vergangenen Jahr gab es einen offensichtlichen Widerspruch im „Jihad“ der Taliban. Nach der Unterzeichnung eines Abkommens mit den USA stellten sie Angriffe auf internationale Truppen ein, kämpften aber weiter gegen die afghanische Regierung. Ein Taliban-Sprecher besteht jedoch darauf, dass es keinen Widerspruch gibt (BBC 15.4.2021; vgl. VIDC 26.4.2021). Für die Taliban ist die Errichtung einer „islamischen Struktur“ eine Priorität. Die Taliban sind noch nicht ins Detail gegangen, wie diese aussehen würde. Ähnliche Bedenken werden im Hinblick auf die Auslegung der Scharia und die Rechte der Frauen geäußert (VIDC 26.4.2021). Die Luftwaffe, vor allem die der Amerikaner, hat in den vergangenen Jahren entscheidend dazu beigetragen, den Vormarsch der Taliban aufzuhalten. Die USA haben ihre Militäroperationen bereits drastisch zurückgefahren, nachdem sie im vergangenen Jahr ein Abkommen mit den Taliban unterzeichnet hatten, und viele befürchten, dass die Taliban nach ihrem Abzug in der Lage sein werden, eine militärische Übernahme des Landes zu starten (BBC 15.4.2021; vgl. VIDC 26.4.2021).

Im Jahr 2020 verursachten die Taliban weiterhin die meisten zivilen Opfer von allen Parteien des bewaffneten Konflikts (UNAMA 2.2021a). Nach Erkenntnissen der AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) gingen die durch Taliban-Angriffe verursachten zivilen Opfer im Jahr 2020 im Vergleich zu 2019 um 40 % zurück (AIHRC 28.1.2021; vgl. ACCORD 6.5.2021) - nach Angaben der UNAMA war es ein Rückgang um 19 % (UNAMA 2.2021a). Der Hauptgrund für diesen Rückgang könnte ein Mangel an komplexen und Selbstmordattentaten in den großen Städten des Landes sein. Im Jahr 2020 wurden in Afghanistan insgesamt 4.567 Zivilisten durch Taliban-Angriffe getötet oder verletzt, während im gleichen Zeitraum 2019 die Gesamtzahl der durch Taliban-Angriffe verursachten zivilen Opfer bei 7.727 lag (AIHRC 28.1.2021; vgl ACCORD 6.5.2021). UNAMA schrieb den Taliban 3.960 zivile Opfer (1.470 Tote und 2.490 Verletzte) zu. Dieser Rückgang bezieht sich jedoch nur auf die verletzten Zivilisten, da Anstieg von getöteten Zivilisten um 13 % dokumentiert wurde (UNAMA 2.2021a). Selbstmord- und Nicht-Selbstmord-IEDs verursachten mehr als die Hälfte der den Taliban zugeschriebenen zivilen Opfer, wobei Nicht-Selbstmord-IEDs fünfmal mehr zivile Opfer verursachten als Selbstmord-IEDs. Bodenkämpfe, einschließlich des Einsatzes von Mörsern und Raketen, waren für fast ein Viertel der von den Taliban verursachten zivilen Opfer verantwortlich. (UNAMA 2.2021a). UNAMA schrieb den Taliban 6 % mehr getötete Zivilisten aus Bodenkämpfen und 15 % weniger verletzte Zivilisten im Vergleich zu 2019 zu. Dieser Rückgang war hauptsächlich auf das Ausbleiben wahlbezogener Gewalt im Jahr 2020 zurückzuführen, wurde jedoch teilweise durch eine höhere Zahl von zivilen Opfern aufgrund der anhaltend hohen Zahl von Bodenkämpfen mit zivilen Opfern während des gesamten Jahres ausgeglichen (UNAMA 2.2021a).

Die UNAMA verzeichnete außerdem einen Anstieg der Zahl der durch gezielte Tötungen der Taliban, zu denen auch „Attentate“ gehören, die bewusst auf Zivilisten abzielen, getöteten und verletzten Zivilisten um 22 % und einen Anstieg der zivilen Opfer bei Entführungen von Zivilisten durch die Taliban um 169% (UNAMA 2.2021a).

Ethnische Gruppen In Afghanistan leben laut Schätzungen zwischen 32 und 36 Millionen Menschen (NSIA 6.2020; vgl. CIA 16.2.2021). Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht (STDOK 7.2016 ; vgl. CIA 16.2.2021). Schätzungen zufolge sind: 40 bis 42% Paschtunen, 27 bis 30% Tadschiken, 9 bis 10% Hazara, 9% Usbeken, ca. 4% Aimaken, 3% Turkmenen und 2% Belutschen. Weiters leben in Afghanistan eine große Zahl an kleinen und kleinsten Völkern und Stämmen, die Sprachen aus unterschiedlichsten Sprachfamilien sprechen (GIZ 4.2019; vgl. CIA 2012, AA 16.7.2020).

Artikel 4 der Verfassung Afghanistans besagt: „Die Nation Afghanistans besteht aus den Völkerschaften der Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Paschai, Nuristani, Aimak, Araber, Kirgisen, Qizilbasch, Gojar, Brahui und anderen Völkerschaften. Das Wort ‚Afghane‘ wird für jeden Staatsbürger der Nation Afghanistans verwendet“ (STDOK 7.2016). Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnischen Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung (Artikel 16) sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt, wo die Mehrheit der Bevölkerung (auch) eine dieser Sprachen spricht: Usbekisch, Turkmenisch, Belutschisch, Pashai, Nuristani und Pamiri (AA 2.9.2019). Es gibt keine Hinweise, dass bestimmte soziale Gruppen ausgeschlossen werden. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Nichtsdestotrotz, beschweren sich unterschiedliche ethnische Gruppen, keinen Zugang zu staatlicher Anstellung in Provinzen zu haben, in denen sie eine Minderheit darstellen (USDOS 30.3.2021). Der Gleichheitsgrundsatz ist in der afghanischen Verfassung rechtlich verankert, wird allerdings in der gesellschaftlichen Praxis immer wieder konterkariert. Soziale Diskriminierung und Ausgrenzung anderer ethnischer Gruppen und Religionen im Alltag bestehen fort und werden nicht zuverlässig durch staatliche Gegenmaßnahmen verhindert (AA 16.7.2020). Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (USDOS 30.3.2021).

COVID-19

Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO: https: //www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports oder der Johns-Hopkins-Universität: https://gisanddata.maps.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.h tml#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.

Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl UNOCHA 19.12.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 2.9.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.9.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 14.1.2021; vgl. UNOCHA 18.2.2021, USAID 12.1.2021, UNOCHA 19.12.2020, RFE/RL 23.2.2021a).

Die fortgesetzte Ausbreitung der Krankheit in den letzten Wochen des Jahres 2020 hat zu einem Anstieg der Krankenhauseinweisungen geführt, wobei jene Einrichtungen die als COVID-19- Krankenhäuser in den Provinzen Herat, Kandahar und Nangarhar gelten, nach Angaben von Hilfsorganisationen seit Ende Dezember voll ausgelastet sind. Gesundheitseinrichtungen sehen sich auch zu Beginn des Jahres 2021 großen Herausforderungen bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung ihrer Kapazitäten zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung grundlegender Gesundheitsdienste gegenüber, insbesondere, wenn sie in Konfliktgebieten liegen (BAMF 8.2.2021; vgl. IOM 18.3.2021).

Die WHO äußerte ihre Besorgnis über die Gefahr der Verbreitung mutierter Viren in Afghanistan. In Pakistan ist bereits ein deutlicher Anstieg der Infektionen mit einer neuen Variante, die potenziell ansteckender ist und die jüngere Bevölkerung trifft, festgestellt worden. Das afghanische Gesundheitsministerium bereite sich auf eine potenzielle dritte Welle vor. Die Überwachung an der Grenze soll ausgeweitet und Tests verbessert werden. Angesichts weiterer Berichte über unzureichende Testkapazitäten im Land bleibt die Wirkung der geplanten Maßnahmen abzuwarten (BAMF 29.3.2021). Laut Meldungen von Ende Mai 2021 haben afghanische Ärzte Befürchtungen geäußert, dass sich die erstmals in Indien entdeckte COVID-19-Variante nun auch in Afghanistan verbreiten könnte. Viele der schwerkranken Fälle im zentralen Krankenhaus für COVID-Fälle in Kabul, wo alle 100 Betten belegt seien, seien erst kürzlich aus Indien zurückgekehrte Personen (BAMF 31.5.2021; vgl. TG 25.5.2021, DW 21.5.2021, UNOCHA 3.6.2021). Seit Ende des Ramadans und einige Woche nach den Festlichkeiten zu Eid al-Fitr konnte wieder ein Anstieg der COVID19 Fälle verzeichnet werden. Es wird vom Beginn einer dritten Welle gesprochen (UNOCHA 3,6,2021; vgl. TG 25.5.2021). Waren die [Anm.: offiziellen] Zahlen zwischen Februar und März relativ niedrig, so stieg die Anzahl zunächst mit April und dann mit Ende Mai deutlich an (WHO 4.6.2021; vgl. TN 3.6.2021, UNOCHA 3.6.2021). Es gibt in Afghanistan keine landeseigenen Einrichtungen, um auf die aus Indien stammende Variante zu testen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).

Mit Stand 3.6.2021 wurden der WHO offiziell 75.119 Fälle von COVID-19 gemeldet (WHO 3.6.2021), wobei die tatsächliche Zahl der positiven Fälle um ein Vielfaches höher eingeschätzt wird (IOM 18.3.2021; vgl. HRW 14.1.2021).

Maßnahmen der Regierung und der Taliban

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams“ (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams“ sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.3.2021; vgl. WB 28.6.2020). Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.3.2021; vgl. IOM 1.2021).

Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden (IOM 18.3.2021). Auch wenn der Lockdown offiziell nie beendet wurde, endete dieser faktisch mit Juli bzw. August 2020 und wurden in weiterer Folge keine weiteren Ausgangsperren erlassen (ACCORD 25.5.2021).

Laut IOM sind Hotels, Teehäuser und andere Unterkunftsmöglichkeiten derzeit [Anm.: März 2021] nur für Geschäftsreisende geöffnet. Für eine Person, die unter der Schirmherrschaft der IOM nach Afghanistan zurückkehrt und eine vorübergehende Unterkunft benötigt, kann IOM ein Hotel buchen. Personen, die ohne IOM nach Afghanistan zurückkehren, können nur in einer Unterkunftseinrichtung übernachten, wenn sie fälschlicherweise angeben, ein Geschäftsreisender zu sein. Da die Hotels bzw. Teehäuser die Gäste benötigen, um wirtschaftlich überleben zu können, fragen sie nicht genau nach. Wird dies durch die Exekutive überprüft, kann diese wenn der Aufenthalt auf der Angabe von falschen Gründen basiert - diesen jederzeit beenden.

Die betreffenden Unterkunftnehmer landen auf der Straße und der Unterkunftsbetreiber muss mit einer Verwaltungsstrafe rechnen (IOM AUT 22.3.2021). Laut einer anderen Quelle gibt es jedoch aktuell [Anm.: März 2021] keine Einschränkungen bei der Buchung eines Hotels oder der Unterbringung in einem Teehaus und es ist möglich, dass Rückkehrer und Tagelöhner die Unterbringungsmöglichkeiten nutzen (RA KBL 22.3.2021).

Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China (BAMF 8.2.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).

Die Taliban erlauben den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. Guardian 2.5.2020) und gaben im Januar 2020 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Millionen Dollar unterstützt wird. NachAngaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion „unterstützen und erleichtern“ (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021), wenn der Impfstoff in Abstimmung mit ihrer Gesundheitskommission und in Übereinstimmung mit deren Grundsätzen eingesetzt wird (NH 7.4.2021). Offizielle Stellen glauben, dass die Aufständischen die Impfteams nicht angreifen würden, da sie nicht von Tür zu Tür gehen würden (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021).

Bei der Bekanntgabe der Finanzierung sagte ein afghanischer Gesundheitsbeamter, dass das COVAX-Programm 20% der 38 Millionen Einwohner des Landes abdecken würde (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021, IOM 18.3.2021). Das Gesundheitsministerium plant 2.200 Einrichtungen im ganzen Land, um Impfstoffe zu verabreichen, und die Zusammenarbeit mit Hilfsorganisationen, die in Taliban-Gebieten arbeiten (NH 7.4.2021). Die Weltbank und die asiatische Entwicklungsbank gaben laut einer Sprecherin des afghanischen Gesundheitsministeriums an, dass sie bis Ende 2022 Impfstoffe für weitere 20% der Bevölkerung finanzieren würden (REU 26.1.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a). Um dies zu erreichen, müssen sich die Gesundheitsbehörden sowohl auf lokale als auch internationale humanitäre Gruppen verlassen, die dorthin gehen, wo die Regierung nicht hinkommt (NH 7.4.2021). Im Februar 2021 hat Afghanistan mit seiner COVID-19-Impfkampagne begonnen, bei der zunächst Mitglieder der Sicherheitskräfte, Mitarbeiter des Gesundheitswesens und Journalisten geimpft werden (RFE/RL 23.2.2021a). Die Regierung kündigte an, 60% der Bevölkerung zu impfen, als die ersten 500.000 Dosen COVID-19-Impfstoff aus Indien in Kabul eintrafen. Es wurde angekündigt, dass zuerst 150.000 Mitarbeiter des Gesundheitswesens geimpft werden sollten, gefolgt von Erwachsenen mit gesundheitlichen Problemen. Die Impfungen haben in Afghanistan am 23.2.2021 begonnen (IOM 18.3.2021). Wochen nach Beginn der ersten Phase der Einführung des Impfstoffs gegen COVID-19 zeigen sich in einige Distrikten die immensen Schwierigkeiten, die das Gesundheitspersonal, die Regierung und die Hilfsorganisationen überwinden müssen, um das gesamte Land zu erreichen, sobald die Impfstoffe in größerem Umfang verfügbar sind. Hilfsorganisationen sagen, dass 120 von Afghanistans rund 400 Distrikten mehr als ein Viertel - als „schwer erreichbar“ gelten, weil sie abgelegen sind, ein aktiver Konflikt herrscht oder mehrere bewaffnete Gruppen um die Kontrolle kämpfen. Ob eine Impfkampagne erfolgreich ist oder scheitert, hängt oft von den Beziehungen zu den lokalen Befehlshabern ab, die von Distrikt zu Distrikt sehr unterschiedlich sein können (NH 7.4.2021) Mit Stand 2.6.2021 wurden insgesamt 626.290 Impfdosen verabreicht (WHO 4.6.2021; vgl UNOCHA 3.6.2021). Etwa 11% der Geimpften haben beide Dosen des COVID-19-Impfstoffs erhalten. Insgesamt gibt es nach wie vor große Bedenken hinsichtlich des gerechten Zugangs zu Impfstoffen für Afghanen, insbesondere für gefährdete Gruppen wie Binnenvertriebene, Rückkehrer und nomadische Bevölkerungsgruppen sowie Menschen, die in schwer zugänglichen Gebieten leben (UNOCHA 3.6.2021).

Gesundheitssystem und medizinische Versorgung

COVID-19-Patienten können in öffentlichen Krankenhäusern stationär diagnostiziert und behandelt werden (bis die Kapazitäten für COVID-Patienten ausgeschöpft sind). Staatlich geführte Krankenhäuser bieten eine kostenlose Grundversorgung im Zusammenhang mit COVID-19 an, darunter auch einen molekularbiologischen COVID-19-Test (PCR-Test). In den privaten Krankenhäusern, die von der Regierung autorisiert wurden, COVID-19-infizierte Patienten zu behandeln, werden die Leistungen in Rechnung gestellt. Ein PCR-Test auf COVID-19 kostet 3.500 Afghani (AFN) (IOM 18.3.2021).

Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 12.1.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, HRW 13.1.2021, AA 16.7.2020, WHO 8.2020). Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (BAMF 8.2.2021). Mit Mai 2021 wird vor allem von einem starken Mangel an Sauerstoff berichtet (TN 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).

Während öffentliche Krankenhäuser im März 2021 weiterhin unter einem Mangel an ausreichenden Testkapazitäten für die gesamte Bevölkerung leiden, können stationäre Patienten während ihres Krankenhausaufenthalts kostenfreie P

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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