TE Bvwg Erkenntnis 2021/8/31 W128 1426704-2

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Veröffentlicht am 31.08.2021
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Entscheidungsdatum

31.08.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z5
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §9 Abs1 Z1
AsylG 2005 §9 Abs4
BFA-VG §18 Abs2 Z1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs3 Z1
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3
FPG §55 Abs4

Spruch


W128 1426704-2/12E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Michael FUCHS-ROBETIN über die Beschwerde des afghanischen Staatsangehörigen XXXX , geboren am XXXX , vertreten durch die Bundesagentur für Betreuung und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 19.12.2019, Zl. 13-820415903/191095737 zu Recht:

A)

I. Der Beschwerde wird gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG stattgegeben und die Spruchpunkte I. bis VI. des angefochtenen Bescheides ersatzlos behoben.

II. Spruchpunkt VII. des angefochtenen Bescheides wird dahingehend abgeändert, dass dem Antrag vom 16.12.2019 auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 Asylgesetz 2005 (AsylG) stattgegeben und XXXX für die Dauer von zwei Jahren ab Rechtskraft dieser Entscheidung eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter erteilt wird.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe

I. Verfahrensgang

1. Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 06.04.2012 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

2. Mit Bescheid vom 25.04.2012 wies das BFA den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz vollumfänglich ab und wies den Beschwerdeführer aus Österreich aus.

3. Der gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde gab das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 09.02.2015, rechtskräftig seit 11.02.2015, hinsichtlich Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides statt und erkannte dem Beschwerdeführer gemäß § 8 Abs. 1 AsylG den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu.

Begründend führte das Bundesverwaltungsgericht zusammengefasst aus, der Beschwerdeführer verfüge über keine Schul- oder Berufsausbildung. In Afghanistan habe er lediglich als Kochgehilfe gearbeitet und verfüge dort über eine Tante mütterlicherseits, welche in der Provinz Kunar lebe. In Kunar habe sich die Sicherheitslage jedoch verschlechtert. Auch eine innerstaatliche Fluchtalternative in Kabul stehe ihm nicht offen, da er dort über kein soziales Netzwerk verfüge, staatliche Unterstützung unwahrscheinlich und aufgrund seiner fehlenden Berufsausbildung auch nicht zu erwarten sei, dass der Beschwerdeführer am Erwerbsleben teilnehmen könne.

4. Mit Strafverfügung der Bezirkshauptmannschaft Kufstein vom 12.07.2018 wurde gegen den Beschwerdeführer eine Geldstrafe von € 70,-- wegen Störung der öffentlichen Ordnung nach § 81 Abs. 1 SPG erlassen.

5. Mit Strafverfügung der Bezirkshauptmannschaft Kufstein vom 28.11.2018 wurde gegen den Beschwerdeführer eine Geldstrafe von € 260,-- wegen Störung der öffentlichen Ordnung nach § 81 Abs. 1 SPG sowie ungebührlicher Erregung störenden Lärms nach § 1 Abs. 1 Tiroler Landes-Polizeigesetz (LPolizeiG) erlassen.

6. Im Rahmen seiner niederschriftlichen Einvernahme vor dem BFA am 16.12.2019 stellte der Beschwerdeführer einen Antrag auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung und gab zusammengefasst an, dass er in Afghanistan keine Schulbildung erhalten habe und daher Analphabet sei. In Österreich hätte er bei verschiedenen Firmen Arbeitserfahrung gesammelt. Seine Mutter, zwei Brüder sowie seine beiden Söhne würden in Pakistan leben. Einer seiner Brüder würde mit Autoteilen handeln und so die Familie versorgen. In Afghanistan habe er als Textilarbeiter und Koch gearbeitet. Auch habe er ein eigenes Textilgeschäft besessen. Zudem verfüge er über einen Freund in Kabul, bei welchem er ein oder zwei Tage unterkommen könne.

7. Mit Aktenvermerk vom 17.12.2019 leitete das BFA ein Aberkennungsverfahren gegen den Beschwerdeführer wegen geänderter Verhältnisse im Herkunftsstaat sowie geänderter persönlicher Verhältnisse ein. Über diese Einleitung wurde der Beschwerdeführer mit Schreiben vom 17.12.2019 verständigt.

8. Mit dem (hier) angefochtenen Bescheid erkannte das BFA dem Beschwerdeführer den mit BVwG-Erkenntnis vom 09.02.2015, Zl. W217 1426704-1/7E zuerkannten Status als subsidiär Schutzberechtigter gemäß § 9 Abs. 1 AsylG von Amts wegen ab (Spruchpunkt I.), entzog ihm gemäß § 9 Abs. 4 AsylG die mit Bescheid vom 13.02.2018 erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkt II.), erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III.), erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.), stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.), setzte die Frist für die freiwillige Ausreise mit vierzehn Tagen fest (Spruchpunkt VI.) und wies seinen Antrag vom 16.12.2019 auf eine Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG ab (Spruchpunkt VII.).

Begründend führte das BFA im Wesentlichen aus, dass für den Beschwerdeführer mittlerweile eine Rückkehr aufgrund einer wesentlichen Änderung seiner persönlichen Verhältnisse zumutbar sei. So verfüge er über Berufserfahrung sowohl in Österreich als auch in Afghanistan. Zudem habe sich die Situation im Herkunftsstaat maßgeblich verbessert, da der Beschwerdeführer nach eigenen Angaben mittlerweile über soziale Anknüpfungspunkte in Kabul verfügen würde. Überdies sei der Beschwerdeführer mittlerweile befähigt, sich bei einer Rückkehr selbst zu versorgen. So bestehe für den Beschwerdeführer in den Städten Kabul und Herat (mittlerweile) jeweils eine innerstaatliche Fluchtalternative.

9. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde, in welcher er zusammengefasst vorbrachte, dass sich die Sicherheitslage in Afghanistan keinesfalls maßgeblich verbessert habe. Der Beschwerdeführer habe in Österreich zwar Berufserfahrung sammeln können, diese sei für ein Leben in Afghanistan jedoch nicht nützlich. Weiters sei der Beschwerdeführer nach wie vor Analphabet und daher nicht fähig, sich in Afghanistan selbst zu erhalten. Auch verfüge er dort bloß über oberflächliche Bekanntschaften, sodass diese ihm bei einer Rückkehr keine maßgebliche Unterstützung anbieten würden. Auch die Bekanntschaft in Kabul sei jedenfalls nur so oberflächlich, da der Beschwerdeführer zu diesem Bekannten seit zwei oder drei Jahren keinen Kontakt mehr gehabt hätte, dass der Beschwerdeführer bei diesem Bekannten nur kurz unterkommen könne. Auch ergebe sich aus den UNHCR-Richtlinien zu Afghanistan, dass Kabul keine innerstaatliche Fluchtalternative darstelle. Überdies lege die belangte Behörde nicht dar, inwiefern sich die persönliche Situation des Beschwerdeführers im Vergleich zur letzten Verlängerung des Aufenthaltsrechts 2018 verbessert hätte. Zudem sei aus den Länderfeststellungen keine – von der Rechtsprechung geforderte – langfristige und maßgebliche Veränderung der Sicherheitslag in Afghanistan erkennbar.

10. Mit rechtskräftigem Strafurteil des Bezirksgerichts Kufstein vom 01.12.2020 zu AZ 3 U 173/19v wurde der Beschwerdeführer wegen des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 StGB zu einer Geldstrafe von 70 Tagessätzen zu je € 6,-- verurteilt, wobei 35 Tagessätze unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurden.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen

1.1. Zum Beschwerdeführer

1.1.1. Der am XXXX im Dorf XXXX , Distrikt Sawakai, Provinz Kunar, geborene Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger, bekennt sich zum sunnitisch-muslimischen Glauben und gehört der Volksgruppe der Paschtunen an. Er spricht Paschtu, ist verwitwet und hat zwei Söhne.

Der Beschwerdeführer erhielt in Afghanistan keine Schulbildung, arbeitete jedoch als Koch und selbständiger Textilhändler.

Die Mutter, zwei Brüder sowie die beiden Söhne des Beschwerdeführers leben in Pakistan. Eine Schwester sowie die Tante des Beschwerdeführers mütterlicherseits leben in Afghanistan.

Ende 2010 verließ der Beschwerdeführer Afghanistan in Richtung Pakistan. Im Frühjahr 2012 reiste er nach Österreich ein, wo er am 06.04.2012 einen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

1.1.2. In Österreich war der Beschwerdeführer bei verschiedenen Firmen unter anderem als Bau- und Lagerarbeiter tätig.

1.1.3. Der Beschwerdeführer ist gesund und arbeitsfähig.

1.1.4. Mit rechtskräftigem Strafurteil des Bezirksgerichts Kufstein vom 01.12.2020 zu AZ 3 U 173/19v wurde er wegen des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 StGB zu einer Geldstrafe von 70 Tagessätzen zu je € 6,-- verurteilt, wobei 35 Tagessätze unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurden.

1.2. Zur hier relevanten Situation in Afghanistan

Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 11. Juni 2021

-        UNHCR-Position zur Rückkehr nach Afghanistan, August 2021

1.2.1. Ethnische Gruppen

In Afghanistan leben laut Schätzungen zwischen 32 und 36 Millionen Menschen. Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht. Schätzungen zufolge sind: 40 bis 42% Paschtunen, 27 bis 30% Tadschiken, 9 bis 10% Hazara, 9% Usbeken, ca. 4% Aimaken, 3% Turkmenen und 2% Belutschen. Weiters leben in Afghanistan eine große Zahl an kleinen und kleinsten Völkern und Stämmen, die Sprachen aus unterschiedlichsten Sprachfamilien sprechen.

Artikel 4 der Verfassung Afghanistans besagt: „Die Nation Afghanistans besteht aus den Völkerschaften der Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Paschai, Nuristani, Aimak, Araber, Kirgisen, Qizilbasch, Gojar, Brahui und anderen Völkerschaften. Das Wort ‚Afghane‘ wird für jeden Staatsbürger der Nation Afghanistans verwendet“. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnischen Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung (Artikel 16) sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt, wo die Mehrheit der Bevölkerung (auch) eine dieser Sprachen spricht: Usbekisch, Turkmenisch, Belutschisch, Pashai, Nuristani und Pamiri. Es gibt keine Hinweise, dass bestimmte soziale Gruppen ausgeschlossen werden. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Nichtsdestotrotz, beschweren sich unterschiedliche ethnische Gruppen, keinen Zugang zu staatlicher Anstellung in Provinzen zu haben, in denen sie eine Minderheit darstellen.

Der Gleichheitsgrundsatz ist in der afghanischen Verfassung rechtlich verankert, wird allerdings in der gesellschaftlichen Praxis immer wieder konterkariert. Soziale Diskriminierung und Ausgrenzung anderer ethnischer Gruppen und Religionen im Alltag bestehen fort und werden nicht zuverlässig durch staatliche Gegenmaßnahmen verhindert. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen.

Paschtunen

Ethnische Paschtunen sind mit ca. 40 % der Gesamtbevölkerung die größte Ethnie Afghanistans. Sie sprechen Paschtu/Pashto; als Verkehrssprache sprechen viele auch Dari. Sie sind sunnitische Muslime (MRG o.D.e). Die Paschtunen haben viele Sitze in beiden Häusern des Parlaments - jedoch nicht mehr als 50 % der Gesamtsitze. Die Paschtunen sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 44 % in der Afghan National Army (ANA) und der Afghan National Police (ANP) repräsentiert.

Paschtunen siedeln in einem halbmondförmigen Gebiet, das sich von Nordwestafghanistan über den gesamten Süden und die Gebiete östlich von Kabul bis in den Nordwesten Pakistans erstreckt. Kleinere Gruppen sind über das gesamte Land verstreut, auch im Norden des Landes, wo Paschtunen Ende des 19. Jahrhunderts speziell angesiedelt wurden und sich seitdem auch selbst angesiedelt haben.

Grundlage des paschtunischen Selbstverständnisses sind ihre genealogischen Überlieferungen und die darauf beruhende Stammesstruktur. Eng mit der Stammesstruktur verbunden ist ein komplexes System von Wertvorstellungen und Verhaltensrichtlinien, die häufig unter dem Namen Paschtunwali zusammengefasst werden und die besagen, dass es für einen Paschtunen nicht ausreicht, Paschtu zu sprechen, sondern dass man auch die Regeln dieses Ehren- und Verhaltenskodex befolgen muss. Die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stammlinienverband bedeutet viele Verpflichtungen, aber auch Rechte, weshalb sich solche Verbände als Solidaritätsgruppen verstehen lassen.

Die Taliban sind eine vorwiegend paschtunische Bewegung, werden aber nicht als nationalistische Bewegung gesehen. Die Taliban rekrutieren auch aus anderen ethnischen Gruppen. Die Unterstützung der Taliban durch paschtunische Stämme ist oftmals in der Marginalisierung einzelner Stämme durch die Regierung und im Konkurrenzverhalten oder der Rivalität zwischen unterschiedlichen Stämmen begründet.

(Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 11. Juni 2021, S. 302 ff)

1.2.2. Aktuelle Situation in Afghanistan

Als Folge des Rückzugs der internationalen Truppen aus Afghanistan hat sich die Sicherheits- und Menschenrechtslage in großen Teilen des Landes rapide verschlechtert. Die Taliban haben in einer schnell wachsenden Anzahl an Provinzen die Kontrolle übernommen, wobei sich ihr Vormarsch im August 2021 nochmals beschleunigte, als sie 26 von 34 Provinzhauptstädten innerhalb von zehn Tagen einnahmen und schließlich den Präsidentenpalast in Kabul unter ihre Kontrolle brachten. Die stark zunehmende Gewalt hat schwerwiegende Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung, einschließlich Frauen und Kindern. UNHCR ist besorgt über die Gefahr von Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung, einschließlich Frauen und Kindern, sowie an Afghan*innen, bei denen die Taliban davon ausgehen, dass sie mit der afghanischen Regierung oder den internationalen Streitkräften in Afghanistan oder mit internationalen Organisationen im Land in Verbindung stehen oder standen.

Aufgrund der Unbeständigkeit der Situation in Afghanistan hält UNHCR es nicht für angemessen, afghanischen Staatsangehörigen und Personen mit vormaligem gewöhnlichen Aufenthalt in Afghanistan internationalen Schutz mit der Begründung einer internen Flucht- oder Neuansiedlungsperspektive zu verwehren.

(UNHCR-Position zur Rückkehr nach Afghanistan, August 2021, S. 1 f)

1.2.3. Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität.

Taliban

Die Taliban sind seit Jahrzehnten in Afghanistan aktiv. Die Taliban-Führung regierte Afghanistan zwischen 1996 und 2001, als sie von US-amerikanischen/internationalen Streitkräften entmachtet wurde; nach ihrer Entmachtung hat sie weiterhin einen Aufstand geführt. Seit 2001 hat die Gruppe einige Schlüsselprinzipien beibehalten, darunter eine strenge Auslegung der Scharia in den von ihr kontrollierten Gebieten.

Die Taliban sind eine religiös motivierte, religiös konservative Bewegung, die das, was sie als ihre zentralen „Werte“ betrachten, nicht aufgeben wird. Wie sich diese Werte in einer künftigen Verfassung widerspiegeln und in der konkreten Politik einer eventuellen Regierung der Machtteilung, die die Taliban einschließt, zum Tragen kommen, hängt von den täglichen politischen Verhandlungen zwischen den verschiedenen politischen Kräften und dem Kräfteverhältnis zwischen ihnen ab. Sie sehen sich nicht als bloße Rebellengruppe, sondern als eine Regierung im Wartestand und bezeichnen sich selbst als „Islamisches Emirat Afghanistan“, der Name, den sie benutzten, als sie von 1996 bis zu ihrem Sturz nach den Anschlägen vom 11.9.2001 an der Macht waren.

(Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 11. Juni 2021, S. 239 f)

2. Beweiswürdigung

Der festgestellte Sachverhalt stützt sich auf die im Rahmen der Feststellungen jeweils in Klammern angeführten Beweismittel und im Übrigen auf nachstehende Beweiswürdigung:

2.1. Die wesentlichen biografischen Feststellungen zum Beschwerdeführer sowie zu seinem beruflichen Werdegang beruhen auf der unbedenklichen Aktenlage.

2.2. Die Feststellungen zur Situation in Afghanistan beruhen auf den oben genannten Quellen. Angesichts der Seriosität dieser Quellen und der Plausibilität ihrer Aussagen besteht für das Bundesverwaltungsgericht kein Grund, an deren Richtigkeit zu zweifeln.

3. Rechtliche Beurteilung

3.1 Zu Spruchpunkt A) Stattgabe der Beschwerde

3.1.1. Gemäß § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG ist einem Fremden der Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuerkennen, wenn die Voraussetzungen für die Zuerkennung dieses Schutzstatus
(§ 8 Abs. 1 leg. cit.) nicht oder nicht mehr vorliegen.

Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes erfasst der erste Fall des § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG die Konstellation, in der der Fremde schon im Zeitpunkt der Zuerkennung von subsidiärem Schutz die dafür notwendigen Voraussetzungen nicht erfüllt hat. § 9 Abs. 1 Z 1 zweiter Fall AsylG betrifft hingegen jene Konstellationen, in denen die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nachträglich weggefallen sind (vgl. VwGH 27.05.2019, Ra 2019/14/0153, Rn. 77; 14.08.2019, Ra 2016/20/0038, Rn. 32; 17.10.2019, Ro 2019/18/0005, Rn. 17). Die Heranziehung des zweiten Tatbestandes des
§ 9 Abs. 1 Z 1 AsylG setzt voraus, dass sich der Sachverhalt seit der Zuerkennung des subsidiären Schutzes bzw. der erfolgten Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung nach § 8 Abs. 4 AsylG (die nur im Falle des weiteren Vorliegens der Voraussetzungen für die Zuerkennung erteilt werden darf) geändert hat (vgl. dazu etwa VwGH 17.10.2019, Ra 2019/18/0353, m.w.N.).

Nicht jede Änderung des Sachverhalts rechtfertigt allerdings die Aberkennung des subsidiären Schutzes. Eine maßgebliche Änderung liegt unter Bedachtnahme auf die unionsrechtlichen Vorgaben von Art. 19 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 16 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95/EU (Statusrichtlinie) vielmehr nur dann vor, wenn sich die Umstände so wesentlich und nicht nur vorübergehend gerändert haben, dass ein Anspruch auf subsidiären Schutz nicht länger besteht (vgl. etwa VwGH 17.12.2019, Ra 2019/18/0381).

In Bezug auf die Frage, ob sich die Umstände so wesentlich und nicht nur vorübergehend gerändert haben, dass ein Anspruch auf subsidiären Schutz nicht länger besteht, kommt es nicht allein auf den Eintritt eines einzelnen Ereignisses an. Der Wegfall der Notwendigkeit, auf den Schutz eines anderen Staates angewiesen zu sein, kann sich durchaus auch als Ergebnis unterschiedlicher Entwicklungen von Ereignissen, die sowohl in der Person des Fremden als auch in der in seinem Heimatland gegebenen Situation gelegen sind, darstellen (vgl. dazu etwa VwGH 29.11.2019, Ra 2019/14/0449; VwGH 27.05.2019, Ra 2019/14/0153).

Gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG ist einem Fremden (unter anderem) bei Abweisung des Antrags auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status als Asylberechtigter der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn eine Zurückweisung oder Zurückschiebung in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

Die Beurteilung eines drohenden Verstoßes gegen Art. 2 oder 3 EMRK setzt eine Einzelfall-prüfung voraus, in deren Rahmen konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zu der Frage zu treffen sind, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr („real risk“) insbesondere einer gegen Art. 2 oder 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht. Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat (siehe etwa VwGH 23.01.2018, Ra 2017/20/0361, m.w.N.). Dabei ist auf den tatsächlichen Zielort eines Beschwerdeführers bei seiner Rückkehr abzustellen. Dies ist in der Regel seine Herkunftsregion, in die er typischerweise zurückkehren wird (vgl. etwa EuGH 17.02.2009, C-465/07, Elgafaji; VfGH 13.09.2013, U370/2012; VwGH 12.11.2014, Ra 2014/20/0029).

Gemäß § 8 Abs. 3 AsylG ist einem Fremden der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuzuerkennen, wenn für ihn eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG) offensteht. Eine innerstaatliche Fluchtalternative liegt dann vor, wenn in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates sowohl die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht vorliegen. Dabei ist auf die allgemeinen Gegebenheiten des Herkunftsstaates und auf die persönlichen Umstände des Asylwerbers zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag abzustellen (siehe VwGH 06.11.2018, Ra 2018/01/0106, mit Verweis auf VwGH 23.01.2018, Ra 2018/18/0001).

Gemäß § 9 Abs. 2 Z 3 AsylG ist einem subsidiär Schutzberechtigten dieser Status abzuerkennen, wenn er von einem inländischen Gericht wegen eines Verbrechens (§ 17 StGB) rechtskräftig verurteilt worden ist. Verbrechen gemäß § 17 StGB sind vorsätzliche Handlungen, die mit lebenslanger oder mit mehr als dreijähriger Freiheitsstrafe bedroht sind.

Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist es dem Verwaltungsgericht bei der Verneinung der Voraussetzungen nach § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG nicht verwehrt, die Voraussetzungen nach § 9 Abs. 2 AsylG zu prüfen (siehe dazu VwGH 17.10.2019, Ro 2019/18/0005).

3.1.2. Für den Beschwerdeführer bedeutet dies Folgendes:

Die vom BFA festgestellte nachhaltige Verbesserung hinsichtlich der maßgeblichen Umstände ist nicht eingetreten. So konnte der Beschwerdeführer in Österreich zwar bereits Berufserfahrung sammeln. Auch verbesserten sich dadurch seine individuellen Chancen am afghanischen Arbeitsmarkt (nachhaltig). Eine (nachhaltige) Verbesserung der Sicherheitslage im Herkunftsstaat ist hingegen nicht eingetreten.

Vielmehr kann in Anbetracht des jüngst erfolgten Regierungsumsturzes durch die Taliban und der derzeit vorherrschenden unsicheren Sicherheitslage zum Entscheidungszeitpunkt nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, dass für den Beschwerdeführer als Zivilperson mit der Abschiebung eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen Konflikts verbunden ist.

Mit nur (noch) wenigen Ausnahmen befindet sich ganz Afghanistan – so auch die Herkunftsprovinz des Beschwerdeführers – unter der Kontrolle der Taliban. Zwar ergibt sich aus den vorhandenen Berichten, dass die Taliban das Land künftig regieren wollen, eine etablierte Nachfolgeregierung nach dem Umsturz der bisherigen ist jedoch noch nicht erfolgt. Im Hinblick darauf gibt es momentan kein Gebiet in Afghanistan, das nicht unter der Kontrolle regierungsfeindlicher Kräfte steht bzw. ohne Kontakt mit solchen erreichbar wäre – und somit als Fluchtalternative in Betracht käme.

Zusätzlich ist zu berücksichtigen, dass IOM aufgrund der aktuellen Sicherheitslage in Afghanistan die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr und Reintegration für Afghanistan mit sofortiger Wirkung weltweit aussetzen musste.

Demnach ist sogar von einer wesentlichen Verschlechterung der Sicherheitslage in Afghanistan auszugehen. Da für den Beschwerdeführer – entgegen der Ansicht des BFA – derzeit keine innerstaatliche Fluchtalternative offensteht, ist der Beschwerde vollumfänglich stattzugeben.

Wie festgestellt, wurde der Beschwerdeführer von einem inländischen Gericht nach § 83 Abs. 1 StGB rechtskräftig verurteilt. Da das Delikt der (einfachen) Körperverletzung ein Vergehen darstellt, liegt (auch) kein Aberkennungsgrund nach § 9 Abs. 2 Z 3 AsylG vor.

3.1.3. Da dem Beschwerdeführer somit (nach wie vor) der Status des subsidiär Schutzberechtigten zukommt, ist Spruchpunkt VII. des angefochtenen Bescheides dahingehend abzuändern, dass dem Antrag des Beschwerdeführers vom 16.12.2019 auf Verlängerung der Aufenthaltsberechtigung stattzugeben und diese ab Rechtskraft der Entscheidung um zwei Jahre zu verlängern ist.

3.1.4. Aufgrund Stattgabe der Beschwerde gegen die Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und der damit verbundenen Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung liegen die Voraussetzungen für die Versagung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen sowie Anordnung einer Ausreiseverpflichtung nicht mehr vor, weshalb die Spruchpunkte I. bis VI. des angefochtenen Bescheides zu beheben sind (vgl. dazu auch VfGH 13.09.2013, U 370/2012; VwGH 04.08.2016, Ra 2016/21/0162).

3.1.5. Von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung konnte abgesehen werden, weil der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint (vgl. dazu etwa VwGH 10.08.2017, Ra 2019/19/0116, m.w.N.).

3.2. Zur Unzulässigkeit der Revision (Spruchpunkt B)

3.2.1. Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

3.2.2. Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt: Dass dem Beschwerdeführer (unverändert) der Status des subsidiär Schutzberechtigten zukommt, entspricht der oben angeführten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes.

Schlagworte

Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten Behebung der Entscheidung Voraussetzungen Wegfall der Gründe

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2021:W128.1426704.2.00

Im RIS seit

08.11.2021

Zuletzt aktualisiert am

08.11.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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