TE Bvwg Erkenntnis 2021/9/1 W127 2194195-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 01.09.2021
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Entscheidungsdatum

01.09.2021

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs4
AVG §13 Abs7
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §17
VwGVG §28
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §31 Abs1
VwGVG §7 Abs2

Spruch


W127 2194195-1/9E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin MMag. Dr. FISCHER-SZILAGYI über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX alias XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch RA Mag. Robert BITSCHE, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 05.04.2018, Zl. 1094205801-151718336, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 01.09.2021

A)

I.       beschlossen:

Das Verfahren über die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wird wegen Zurückziehung der Beschwerde eingestellt.

II.      zu Recht erkannt:

a.       Der Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

b.       Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für die Dauer eines Jahres erteilt.

c.       In Erledigung der Beschwerde werden die Spruchpunkte III., IV., V. und VI. des angefochtenen Bescheides ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist nicht zulässig.

Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1.       Der nunmehrige Beschwerdeführer ist gemeinsam mit seiner Mutter, zwei Schwestern und zwei Brüdern in die Republik Österreich eingereist und hat am 06.11.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt.

2.       Bei der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 07.11.2015 gab der Beschwerdeführer zu seinem Fluchtgrund an, sein Vater sei vor vier Jahren verstorben und sein Onkel habe die Familie bedroht und unter Druck gesetzt und die vom Vater vererbten Grundstücke übernommen. Die Familie des Beschwerdeführers sei daher in den Iran geflüchtet. Dort sei der Beschwerdeführer in den Krieg nach Syrien geschickt worden und habe drei Monate lang ohne Kontakt zu seiner Familie gekämpft. Der Beschwerdeführer habe Angst gehabt und sei zurück in den Iran geflüchtet. In der Folge sei der Beschwerdeführer mit seiner Familie nach Europa geflüchtet.

3.       Am 29.03.2018 wurde der Beschwerdeführer vom Bundesamt einvernommen. Zu seinem Gesundheitszustand befragt, gab der Beschwerdeführer an, er habe leichte psychische Beschwerden und nehme Medikamente ein. Der Beschwerdeführer legte diesbezüglich einen Arztbrief vom 05.08.2017 und einen nervenfachärztlichen Befundbericht vom 21.07.2017 vor. Seine Ausreise in den Iran und in weiterer Folge nach Österreich begründete der Beschwerdeführer wieder mit einer Bedrohung durch einen Onkel väterlicherseits im Zusammenhang mit Grundstücksstreitigkeiten.

4.       Mit dem angefochtenen Bescheid wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) und hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Gemäß § 57 AsylG 2005 wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt (Spruchpunkt III.) und gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Weiters wurde festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Es wurde ausgesprochen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.).

In der Begründung wertete das Bundesamt die Fluchtgeschichte des Beschwerdeführers als unglaubhaft und ging überdies von einer innerstaatlichen Fluchtalternative in Kabul aus. Zum Gesundheitszustand des Beschwerdeführers wurde festgestellt, dass dieser arbeitsfähig sei, aber an Panikstörungen und an einer posttraumatischen Belastungsstörung leide. Aufgrund der bis dato ausgeübten Arbeitstätigkeit des Beschwerdeführers als Landwirt bestehe kein Zweifel, dass dieser sich als arbeitsfähiger und gesunder Mann auch in Kabul selbst versorgen könne. Überdies sei auch der Aufenthalt seiner Familienangehörigen in Österreich nur ein vorübergehender, sodass er im Falle der Rückkehr auf die Unterstützung dieser Angehörigen zurückgreifen könne.

5.       Hiegegen wurde Beschwerde erhoben und der Bescheid zur Gänze wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes sowie Verletzung wesentlicher Verfahrensvorschriften bekämpft. In der Rechtsmittelschrift wurde darauf hingewiesen, dass der Beschwerdeführer bereits im Kindesalter mit seiner Familie aufgrund einer Verfolgung durch den Onkel väterlicherseits im Zusammenhang mit Grundstücksstreitigkeiten in den Iran ausgereist und anschießend im Iran gezwungen worden sei, in den Syrienkrieg zu ziehen. Seitdem leide der Beschwerdeführer an schweren psychischen Problemen, stehe in ärztlicher Behandlung und nehme regelmäßig Medikamente ein. Der Beschwerdeführer habe auch keinerlei familiäre Anknüpfungspunkte mehr in Afghanistan. Sein Vater sei bereits seit mehreren Jahren verstorben, seine Mutter und seine Geschwister würden mit ihm in Österreich leben. Aufgrund der in der Beschwerde näher dargestellten Situation in Afghanistan sei mit Blick auf die persönliche Situation des Beschwerdeführers zu erkennen, dass der Beschwerdeführer von der dortigen prekären Sicherheitslage im Falle einer Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit individuell betroffen wäre und dass es dem Beschwerdeführer nicht möglich sei, sich ohne reale Gefährdung insbesondere seiner durch Artikel 2 und Artikel 3 EMRK geschützten Güter in seinen Herkunftsstaat zu begeben.

6.       Die Beschwerde und der bezughabende Verwaltungsakt langten am 02.05.2018 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

7.       Auf Grund einer Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses wurde die Rechtssache am 01.10.2018 neu zugewiesen.

8.       Mit Schreiben vom 27.11.2019 übermittelte der Vertreter des Beschwerdeführers dem Bundesverwaltungsgericht den Beschluss eines Bezirksgerichtes vom 09.11.2019, mit dem für den Beschwerdeführer aufgrund einer festgestellten psychischen Störung ein einstweiliger Erwachsenenvertreter bestellt wurde. Als Wirkungskreis des Erwachsenenvertreters wurde die Vertretung im Asyl- und in allen fremdenrechtlichen Verfahren festgelegt.

9.       Auf Grund einer weiteren Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses wurde die Rechtssache am 01.06.2021 wieder neu zugewiesen.

10.      Mit Schreiben vom 23.08.2021 wurde dem Bundesverwaltungsgericht ein Konvolut von Unterlagen betreffend den psychischen Gesundheitszustand sowie die Integration des Beschwerdeführers in Österreich übermittelt.

11.      Am 01.09.2021 führte das Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der das Bundesamt nicht teilnahm. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wurde zurückgezogen. Das gegenständliche Erkenntnis einschließlich Beschluss wurden mündlich verkündet.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Beweis wurde erhoben durch Einsicht in den vorliegenden Verwaltungsakt und in den Gerichtsakt, durch Befragung der Schwester des Beschwerdeführers in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht und Einsichtnahme in die vorgelegten Dokumente sowie durch Einsicht insbesondere in folgende Länderberichte: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA), Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan, 11.06.2021; European Asylum Support Office (EASO), Country Guidance Afghanistan, Dezember 2020; EASO, Afghanistan: Security Situation, September 2020; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, 15.07.2021; Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR), Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 30.08.2018; EASO, Afghanistan: Sozioökonomische Schlüsselindikatoren – Mit Schwerpunkt auf den Städten Kabul, Mazar-e Sharif und Herat, August 2020; BFA, Analyse der Staatendokumentation zu Afghanistan: IOM-Reintegrationsprojekt Restart III, 15.07.2020; IOM – International Organization for Migration, Information: the socio-economic situation in the light of COVID-19 in Afghanistan, 18.03.2021; UNHCR, Position zur Rückkehr nach Afghanistan, August 2021, sowie Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Briefing Notes vom 16.08. und 23.08.2021, BFA, Kurzinformationen der Staatendokumentation vom 17.08. und 20.08.2021 und aktuelle Medienberichte (u.a. BBC News, Washington Post).


1. Feststellungen:

1.1.    Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger von Afghanistan, der Volksgruppe der Hazara zugehörig und bekennt sich zum schiitisch-muslimischen Glauben. Er ist in das Bundesgebiet eingereist und hat am 06.11.2015 gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz gestellt.

Der Beschwerdeführer ist in der Provinz Bamyan geboren und aufgewachsen. Er absolvierte keine Berufsausbildung und arbeitete lediglich in der Landwirtschaft seines Vaters. Ungefähr im Jahr 2013 reiste der Beschwerdeführer mit seiner Familie im Iran und lebte dort mit zu seiner Reise nach Europa im Jahr 2015.

Der Vater des Beschwerdeführers ist bereits vor der Ausreise der Familie in den Iran verstorben, die Mutter des Beschwerdeführers ist im Dezember 2020 in Österreich verstorben. Zwei Schwestern des Beschwerdeführers wurde der Status von Asylberechtigten verliehen und leben beide in Österreich. Der Antrag auf internationalen Schutz des ältesten Bruders des Beschwerdeführers, XXXX , wurde rechtskräftig abgewiesen und es wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung erlassen (vgl. BVwG 29.08.2018, W241 2185185-1/4E). Dem zweiten nach Österreich gereisten Bruder des Beschwerdeführers, XXXX , wurde mit hg. Erkenntnis vom heutigen Tag der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt. Nach Angaben des Beschwerdeführers leben eine weitere Schwester in Schweden und eine im Iran.

Der Beschwerdeführer hat sich noch nie in Kabul oder einer anderen afghanischen Großstadt aufgehalten und verfügt dort auch über keine nahen Angehörigen. Er ist volljährig, nicht verheiratet und hat keine Kinder.

Der Beschwerdeführer ist physisch gesund und arbeitsfähig, leidet aber zumindest seit dem Jahr 2017 an einer psychischen Störung, steht regelmäßig in psychiatrischer Behandlung und nimmt Medikamente ein. Aus einem fachärztlichen Befund vom 25.05.2021 und einem Patientenbrief vom 19.08.2021 gehen betreffend den Beschwerdeführer folgende Diagnosen hervor: F33.1 rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode; F10.1 psychische und Verhaltensstörungen durch Alkohol: schädlicher Gebrauch; F43.1 posttraumatische Belastungsstörung; F40.1 soziale Phobie; F11.2 psychische und Verhaltensstörungen durch Opioide: Abhängigkeitssyndrom sowie I10.0 essentielle Hypertonie.

Die Erwachsenenvertretung ist weiterhin aufrecht.

Der Beschwerdeführer hat in Österreich einen Integrationskurs sowie Deutschkurse absolviert und spricht bereits etwas Deutsch. Er hat in Österreich außer den angeführten Familienangehörigen keine engen sozialen Bindungen. Der Beschwerdeführer ist nicht legal in das Bundesgebiet eingereist, hatte nie ein nicht auf das Asylverfahren gegründetes Aufenthaltsrecht in Österreich und bezieht Leistungen aus der Grundversorgung. Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

1.2.    Zur Situation im Falle einer Rückkehr:

Der Beschwerdeführer wäre bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund seiner persönlichen Umstände in Verbindung mit der aktuell sehr instabilen Sicherheitslage – auch im Zusammenhang mit der faktischen Machtübernahme durch die Taliban – sowie der schlechten Versorgungssituation unter Berücksichtigung der Auswirkungen der COVID-19-Pandemie nicht in der Lage, grundlegende Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung und Unterkunft hinreichend zu befriedigen und würde daher in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation geraten.

1.3.    Zur allgemeinen Lage in Afghanistan:

1.3.1.  Bevölkerungsstruktur:

In Afghanistan leben laut Schätzungen zwischen 32 und 36 Millionen Menschen. Schätzungen zufolge sind 40 bis 42 % Paschtunen, 27 bis 30 % Tadschiken, 9 bis 10 % Hazara, 9 % Usbeken, ca. 4 % Aimaken, 3 % Turkmenen und 2 % Belutschen. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnischen Minderheiten. Soziale Diskriminierung und Ausgrenzung anderer ethnischer Gruppen und Religionen im Alltag bestehen allerdings fort und werden nicht zuverlässig durch staatliche Gegenmaßnahmen verhindert. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen können weiterhin in Konflikten und Tötungen resultierten.

Etwa 99,7 % der Bevölkerung Afghanistans sind Muslime, die Sunniten werden auf 80 bis 89,7 % und die Schiiten auf 10 bis 19 % der Gesamtbevölkerung geschätzt. Andere Glaubensgemeinschaften wie die der Sikhs, Hindus, Baha´i und Christen machen weniger als 0,3 % der Bevölkerung aus.

1.3.2.  Hazara:

Die schiitische Minderheit der Hazara besiedelt traditionell das Bergland in Zentralafghanistan, das sich zwischen Kabul im Osten und Herat im Westen erstreckt. Das Kernland dieser Region umfasst die Provinzen Bamyan, Ghazni, Daikundi und den Westen der Provinz Wardak. Für die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgten Hazara hat sich die Lage grundsätzlich verbessert, gesellschaftliche Spannungen bestehen aber fort und leben lokal in unterschiedlicher Intensität gelegentlich wieder auf. Berichten zufolge halten Angriffe durch den ISKP (Islamischer Staat Khorasan Provinz) und andere aufständische Gruppierungen auf spezifische religiöse und ethno-religiöse Gruppen – inklusive der schiitischen Hazara – an.

1.3.3.  Sicherheitslage:

Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt insgesamt volatil und weist starke regionale Unterschiede auf. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermieden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen, welche in der Nähe von Provinzhauptstädten stationiert waren – wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hochburg in der Provinz Nangarhar im November 2019) Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen. Mit April bzw. Mai 2021 nahmen die Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen stark zu. Im Mai 2021 übernahmen die Taliban die Kontrolle über den Distrikt Dawlat Shah in der ostafghanischen Provinz Laghman und den Distrikt Nerkh in der Provinz (Maidan) Wardak, einen strategischen Distrikt etwa 40 Kilometer von Kabul entfernt. Spezialkräfte wurden in dem Gebiet eingesetzt, um den Distrikt Nerkh zurückzuerobern, nachdem Truppen einen „taktischen Rückzug“ angetreten hatten. Aufgrund der sich intensivierenden Kämpfe zwischen den Taliban und der Regierung an unterschiedlichsten Fronten in mindestens fünf Provinzen (Baghlan, Kunduz, Helmand, Kandahar und Laghman) sind im Mai 2021 bis zu 8.000 Familien vertrieben worden. Berichten zufolge hatten die Vertriebenen keinen Zugang zu Unterkunft, Verpflegung, Schulen oder medizinischer Versorgung. Ende Mai bzw. Anfang Juni übernahmen die Taliban die Kontrolle über weitere Distrikte. Die Taliban verstärkten den Druck in allen Regionen des Landes, auch in Laghman, Logar und Wardak – drei wichtigen Provinzen, die an Kabul grenzen. Damit hatten die Taliban seit Beginn des Truppenabzugs am 01.05.2021 bis Anfang Juni mindestens zwölf Distrikte erobert.

Nach dem Abkommen zwischen den USA und den Taliban dokumentierte UNAMA einen Rückgang der Opfer unter der Zivilbevölkerung bei groß angelegten Angriffen in städtischen Zentren durch regierungsfeindliche Elemente, insbesondere die Taliban, und bei Luftangriffen durch internationale Streitkräfte. Dies wurde jedoch teilweise durch einen Anstieg der Opfer unter der Zivilbevölkerung durch gezielte Tötungen von regierungsfeindlichen Elementen, durch Druckplatten-IEDs der Taliban und durch Luftangriffe der afghanischen Luftwaffe sowie durch ein weiterhin hohes Maß an Schäden für die Zivilbevölkerung bei Bodenkämpfen kompensiert. In der zweiten Jahreshälfte 2020 nahmen insbesondere die gezielten Tötungen von Personen des öffentlichen Lebens (Journalisten, Menschenrechtler usw.) zu. Personen, die offen für ein modernes und liberales Afghanistan entraten, wurden landesweit vermehrt Opfer von gezielten Attentaten. Vom 01.01.2020 bis zum 31.12.2020 dokumentierte UNAMA 8.820 zivile Opfer (3.035 Getötete und 5.785 Verletzte), während AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) für das gesamte Jahr 2020 insgesamt 8.500 zivile Opfer registrierte, darunter 2.958 Tote und 5.542 Verletzte. Das ist ein Rückgang um 15 % (21 % laut AIHRC) gegenüber der Zahl der zivilen Opfer im Jahr 2019 und die geringste Zahl ziviler Opfer seit 2013. Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch haben aufständische Gruppen in Afghanistan ihre gezielten Tötungen von Frauen und religiösen Minderheiten erhöht. Bei den von den Konfliktparteien eingesetzten Methoden, die die meisten zivilen Opfer verursacht haben, handelt es sich um IEDs und Straßenminen, gezielte Tötungen, Raketenbeschuss, komplexe Selbstmordanschläge, Bodenkämpfe und Luftangriffe.

Während sich die Taliban inmitten der internationalen Bemühungen um eine Friedensregelung mit der afghanischen Regierung um ein versöhnlicheres Image bemühten, berichteten Afghanen, die bereits unter der Kontrolle der Taliban lebten, dass die militante Gruppe weiterhin in ihrer extremistischen Auslegung des Islam verwurzelt ist und mit Angst und Barbarei regiert. Angesichts ihres anhaltenden dominierenden Verhaltens, ihrer Intoleranz gegenüber politisch Andersdenkenden und ihrer Unterdrückung (insbesondere von Mädchen und Frauen) in den von ihnen kontrollierten Gebieten besteht die begründete Sorge, dass die Taliban zu den Praktiken von vor dem Herbst 2001 zurückkehren könnten, wenn der politische Druck nach einem eventuellen Friedensabkommen und einem Truppenabzug nachlässt.

In den Großstädten Afghanistans ist auch Straßenkriminalität ein Problem. Im Jahr 2020 wurden in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif Tausende von Fällen von Straßenraub und Hausüberfällen gemeldet. Nach einem Anstieg der Kriminalität und der Sicherheitsvorfälle in Kabul kündigte der Vizepräsident Amrullah Saleh im Oktober 2020 an, auf Anordnung von Präsident Ashraf Ghani für einige Wochen die Verantwortung für die Sicherheit in Kabul zu übernehmen und hart gegen Kriminalität in Kabul vorzugehen.

1.3.4.  Wirtschafts- und Versorgungslage:

Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt. Die Grundversorgung ist für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung, dies gilt in besonderem Maße für Rückkehrer. Diese bereits prekäre Lage hat sich seit März 2020 durch die COVID-19-Pandemie weiter verschärft. Es wird erwartet, dass 2021 bis zu 18,4 Millionen Menschen (2020: 14,0 Millionen Menschen) auf humanitäre Hilfe angewiesen sein werden. Das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten bleibt eklatant. Außerhalb der Hauptstadt Kabul und der Provinzhauptstädte gibt es vielerorts nur unzureichende Infrastruktur für Energie, Trinkwasser und Transport. Die Armutsrate in den Städten war bis zum Zeitraum 2019-20 bereits auf mehr als 45 % angewachsen und dürfte im Verlauf des letzten Jahres weiter angestiegen sein. Zudem stiegen die Lebensmittelpreise 2020 im Vergleich zum Vorjahr um durchschnittlich 10 %. Die Situation der Ernährungssicherheit hat sich im Vergleich zu den letzten drei Jahren und im Vergleich zu den Prognosen aus früheren Analysen relativ verbessert. Die Verbesserung ist auf die geringeren Auswirkungen von COVID-19 als ursprünglich prognostiziert und die Aufstockung der humanitären Nahrungsmittelhilfe als Reaktion auf die COVID-19-Krise zurückzuführen. Die Situation der Ernährungssicherheit ist jedoch nach wie vor besorgniserregend und wird sich in der mageren Jahreszeit 2021-2022 voraussichtlich weiter verschlechtern.

Etwa 3,5 Millionen Afghaninnen und Afghanen, insbesondere Rückkehrende und Binnenvertriebene, leben in Behausungen mit ungeklärten bzw. umstrittenen Eigentumsverhältnissen. Etwa 45 % der bereits seit längerem und 38 % der kürzlich zurückgekehrten Rückkehrende berichten, dass sie offiziell nicht berechtigt sind, in ihrer aktuellen Unterkunft zu leben. In Kabul gibt es etwa 54 „informelle Siedlungen“, deren Bewohnerinnen und Bewohner, häufig Binnenvertriebene oder Rückkehrende, eine besonders vulnerable Gruppe bilden. Unterbringungsmöglichkeiten wie Hotels und Teehäuser, können etwa von Tagelöhnern zur Übernachtung genutzt werden. Auch eine Person, die in Afghanistan über keine Familie oder Netzwerk verfügt, sollte in der Lage sein, dort Wohnraum zu finden.

Die afghanische Wirtschaft stützt sich hauptsächlich auf den informellen Sektor (einschließlich illegaler Aktivitäten), der 80 bis 90 % der gesamten Wirtschaftstätigkeit ausmacht und weitgehend das tatsächliche Einkommen der afghanischen Haushalte bestimmt. Lebensgrundlage für rund 80 % der Bevölkerung ist die Landwirtschaft, wobei der landwirtschaftliche Sektor gemäß Prognosen der Weltbank im Jahr 2019 einen Anteil von 18,7 % am Bruttoinlandsprodukt (BIP) hatte. 80 % der afghanischen Arbeitskräfte befinden sich in „prekären Beschäftigungsverhältnissen“, mit hoher Arbeitsplatzunsicherheit und schlechten Arbeitsbedingungen. Angesichts eines rapiden Bevölkerungswachstums von rund 2,3 % im Jahr (d.h. Verdoppelung der Bevölkerung innerhalb einer Generation) wäre ein konstantes Wirtschaftswachstum nötig, um den jährlich etwa 500.000 Personen, die in den Arbeitsmarkt einsteigen, eine Perspektive zu bieten. Bei der Arbeitssuche spielen persönliche Kontakte eine wichtige Rolle. Ohne Netzwerke ist die Arbeitssuche schwierig. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit. Ungelernte Arbeiter erwirtschaften ihr Einkommen als Tagelöhner, Straßenverkäufer oder durch das Betreiben kleiner Geschäfte. Der Durchschnittslohn für einen ungelernten Arbeiter ist unterschiedlich, für einen Tagelöhner beträgt er etwa 5 USD pro Tag. Während der COVID-19-Pandemie ist die Situation für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftszweige durch die Sperr- und Restriktionsmaßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ beeinflusst wurden.

1.3.5.  Lage in den Provinzen Kabul, Balkh und Bamyan:

Die Provinz Kabul liegt im Zentrum Afghanistans. Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und auch ein Distrikt in der Provinz Kabul. Es ist die bevölkerungsreichste Stadt Afghanistans, mit einer geschätzten Einwohnerzahl von 4,5 Millionen Personen für den Zeitraum 2020-21. Die genaue Bevölkerungszahl ist jedoch umstritten und Schätzungen reichen von 3,5 Millionen bis zu 6,5 Millionen Einwohnern. Kabul ist zu einer der am schnellsten wachsenden Städte der Welt geworden, deren Einwohnerzahl sich seit 2001 vervierfacht hat. Was die ethnische Verteilung der Stadtbevölkerung betrifft, so ist Kabul Zielort für verschiedene ethnische, sprachliche und religiöse Gruppen, und jede von ihnen hat sich an bestimmten Orten angesiedelt, je nach der geografischen Lage ihrer Heimatprovinzen. In Kabul-Stadt gibt es einen Flughafen, der mit Stand Mai 2021 für die Abwicklung von internationalen und nationalen Passagierflügen geöffnet ist.

Die Wirtschaft der Provinz Kabul hat einen weitgehend städtischen Charakter, wobei die wirtschaftlich aktive Bevölkerung in Beschäftigungsfeldern, wie dem Handel, Dienstleistungen oder einfachen Berufen tätig ist. Kabul-Stadt hat einen hohen Anteil an Lohnarbeitern, während Selbstständigkeit im Vergleich zu den ländlichen Gebieten Afghanistans weniger verbreitet ist. Zu den wichtigsten Arbeitgebern in Kabul gehört der Dienstleistungssektor, darunter auch die öffentliche Verwaltung. Die Gehälter sind in Kabul im Allgemeinen höher als in anderen Provinzen, insbesondere für diejenigen, welche für ausländische Organisationen arbeiten. Trotz der niedrigeren Erwerbsquoten ist der Frauenanteil in hoch qualifizierten Berufen in Kabul am größten (49,6 %). Im Jahr 2018 lebten Berichten zufolge schätzungsweise 70 % der Bevölkerung in Kabul in informellen Siedlungen, die definiert sind als „Wohngebiete, die entweder auf Grundstücken errichtet wurden, auf die die Bewohner keinen Rechtsanspruch haben, und/oder Gebiete mit Wohneinheiten, die nicht den Planungs- und Bauvorschriften entsprechen“. Die COVID-19-Pandemie hatte im Allgemeinen keine besonderen Auswirkungen auf die Miet- und Kaufpreise von Wohnungen in Kabul.

Im Jahr 2020 dokumentierte UNAMA 817 zivile Opfer (255 Tote und 562 Verletzte) in der Provinz Kabul. Dies entspricht einem Rückgang von 48 % gegenüber 2019. Die Hauptursache für die Opfer waren gezielte Tötungen, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) und Selbstmordanschlägen. Während des zweiten Quartals 2020 hat die Gewalt Berichten zufolge wieder zugenommen und im letzten Quartal 2020 stieg die Gewalt weiter an und war weit höher als im Vergleichszeitraum des Vorjahres. In Kabul wurden in den ersten Wochen des Jahres 2021 mehrere Anschläge mit kleinen „sticky bombs“ verübt, die unter Fahrzeugen angebracht und ferngesteuert oder mit Zeitzündern gezündet wurden. Die Gruppe „Islamischer Staat“ (ISKP) hat die Verantwortung für einige der Anschläge übernommen, während die afghanische Regierung einige den Taliban zuschrieb. Im Mai 2021 explodierte eine Autobombe vor einer Mädchenschule in Dasht-e Barchi in Kabul, einem mehrheitlich von schiitischen Hazara bewohntem Gebiet, und tötete bis zu 85 Menschen, darunter auch Schülerinnen, und verletzte mindestens 150.

Mazar-e Sharif ist die Hauptstadt der Provinz Balkh im nördlichen Teil Afghanistans. Die Bevölkerung von Balkh ist heterogen, wobei Tadschiken und Paschtunen die größten Gruppen bilden, gefolgt von Usbeken, die in bestimmten Distrikten der Provinz sowie in mehreren Nachbarprovinzen die Mehrheit stellen, sowie Hazara, Turkmenen, Arabern, Belutschen, Aimaq und sunnitischen Hazara (Kawshi). Nach Schätzungen leben nahezu 1,5 Millionen Menschen in der Provinz Balkh, davon etwa 480.000 in der Provinzhauptstadt Mazar-e Sharif. In Mazar-e Sharif gibt es einen Flughafen mit Linienverkehr zu nationalen und internationalen Zielen.

Mazar-e Sharif und die Provinz Balkh sind historisch betrachtet das wirtschaftliche und politische Zentrum der Nordregion Afghanistans. Mazar-e Sharif profitierte dabei von seiner geografischen Lage, einer vergleichsweise effektiven Verwaltung und einer relativ guten Sicherheitslage. Balkh ist landwirtschaftlich eine der produktivsten Regionen Afghanistans wobei Landwirtschaft und Viehzucht die Distrikte der Provinz dominieren. Mazar-e Sharif ist ein regionales Handelszentrum für Nordafghanistan und ein Industriezentrum mit großen Produktionsbetrieben und einer riesigen Zahl von KMU, die Kunsthandwerk, Vorleger und Teppiche anbieten. Die Arbeitsmarktsituation ist auch in Mazar-e Sharif eine der größten Herausforderungen. Auf Stellenausschreibungen melden sich innerhalb einer kurzen Zeitspanne sehr viele Bewerber und ohne Kontakte ist es schwer, einen Arbeitsplatz zu finden. In den Distrikten ist die Anzahl der Arbeitslosen hoch; die meisten Arbeitssuchenden begeben sich nach Mazar-e Sharif, um Arbeit zu finden. In Mazar-e Sharif stehen zahlreiche Wohnungen zur Verfügung. Auch eine Person, die in Mazar-e Sharif keine Familie hat, sollte in der Lage sein, dort Wohnraum zu finden, wenn finanzielle Mittel zur Verfügung stehen. Des Weiteren gibt es in Mazar-e Sharif eine Anzahl von Hotels sowie Gast- oder Teehäusern, welche unter anderem von Tagelöhnern zur Übernachtung benutzt werden.

Balkh zählte zu den relativ friedlichen Provinzen im Norden Afghanistans, jedoch hat sich die Sicherheitslage in den letzten Jahren in einigen ihrer abgelegenen Distrikte verschlechtert, da militante Taliban versuchten, in dieser wichtigen nördlichen Provinz Fuß zu fassen. Ziel der Anschläge waren oftmals Sicherheitskräfte, jedoch kam es auch zu zivilen Opfern. Im Jahr 2020 dokumentierte UNAMA 712 zivile Opfer (263 Tote und 449 Verletzte) in der Provinz Balkh. Dies entspricht einer Steigerung von 157 % gegenüber 2019. Die Hauptursache für die Opfer waren Bodenkämpfe, gefolgt von Luftangriffen und improvisierten Sprengkörpern (IEDs; ohne Selbstmordattentate). Ungeachtet der Friedensgespräche fanden weiterhin sicherheitsrelevante Vorfälle in der Hauptstadt und den Distrikten statt. Es kam zu direkten Kämpfen und Angriffen der Taliban auf Distriktzentren.

Die Provinz Bamyan hat ungefähr 500.000 Einwohner und die Bevölkerung setzt sich vorwiegend aus Hazara sowie aus Tadschiken und Paschtunen zusammen. Etwa 90 % der Bewohner von Bamyan sind Schiiten. In Bamyan gibt es einen Flughafen, aber mit Wissensstand Mai 2021 gibt es keine kommerziellen Flüge von und nach Bamyan. Berichten zufolge soll die Start- und Landebahn des Flughafens beschädigt und nicht sicher für Flüge sein. Über den Landweg kann Bamyan von Kabul aus entweder über die Fernstraße Kabul-Bamyan, über die Provinz (Maidan) Wardak oder über Parwan erreicht werden.

Bamyan galt seit einigen Jahren als eine der sichersten Regionen des Landes. Im Jahr 2020 dokumentierte UNAMA 96 zivile Opfer (22 Todesopfer und 74 Verletzte) in der Provinz Bamyan. Dies entspricht einer Steigerung von 1.820 % gegenüber 2019. Hauptursache waren improvisierte Sprengkörper (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate), nicht explodierte Kampfmittel (unexploded ordnances, UXOs) bzw. Landminen und gezielte Tötungen. Im September 2020 wurde von Talibanangriffen auf einen Sicherheitsposten der Regierungskräfte bzw. eine Spezialeinheit der Polizei im Distrikt Shebar berichtet. Der Angriff auf den Sicherheitsposten erfolgte nach einem Besuch von Präsident Ashraf Ghani in der Provinz. Die Talibankämpfer waren aus dem benachbarten Baghlan nach Bamyan gekommen. Ende November 2020 detonierten zwei improvisierte Sprengsätze (imrovised explosive devices, IEDs) in Bamyan-Stadt, mindestens 17 Personen wurden getötet und über 50 weitere verletzt. Niemand bekannte sich zu der Tat, die Taliban bestritten eine Beteiligung. Nach Angaben eines Vertreters der Sicherheitskräfte war dies der erste Angriff dieser Art in Bamyan seit dem Sturz des Taliban-Regimes im Jahr 2001.

1.3.6.  Aktuelle Entwicklungen:

Den Taliban ist es gelungen, innerhalb kürzester Zeit fast alle Provinzen sowie alle strategisch wichtigen Provinzhauptstädte wie z.B. Kandahar, Herat, Mazar-e Sharif, Jalalabad und Kunduz einzunehmen. In einigen der Städte sollen Gefängnisse gestürmt und Insassen befreit worden sein. Am 15.08.2021 haben die Taliban mit der größtenteils friedlichen Einnahme Kabuls und der Besetzung der Regierungsgebäude und aller Checkpoints in der Stadt den Krieg für beendet erklärt und das Islamische Emirat Afghanistan ausgerufen. Präsident Ashraf Ghani ist zusammen mit seiner Familie und Verbündeten außer Landes geflohen, andere Regierungsmitglieder wie u.a. Mohammad Mohaqiq, Karim Khalili, Ahmad Zia Massoud und Yunus Qanooni sind am 15.08.2021 nach Islamabad/Pakistan ausgereist. Die erste Nacht unter der Herrschaft der Taliban ist relativ ruhig verlaufen – bis auf den Flughafen in Kabul, von dem aus sowohl diplomatisches Personal verschiedener westlicher Länder evakuiert wurde als auch viele Afghanen versuchten, außer Landes zu gelangen. Alle kommerziellen Flüge wurden bis auf weiteres eingestellt und Hunderte Afghanen belagerten den Flughafen.

Mit Stand vom 20.08.2021 gingen die internationalen Evakuierungsmissionen von Ausländerinnen und Ausländern sowie Ortskräften aus Afghanistan weiter, es kam aber immer wieder zu Problemen. Die Angaben darüber, wie viele Menschen bereits in Sicherheit gebracht werden konnten, gehen auseinander, die Rede ist von 2.000 bis 4.000, hauptsächlich handelt es sich dabei um ausländisches Botschaftspersonal. Es mehren sich aktuell Zweifel, dass auch der Großteil der Ortskräfte aus dem Land gebracht werden kann. Bei Protesten gegen die Taliban in Jalalabad wurden unterdessen laut Augenzeugen drei Menschen getötet.

Vor den Taliban in Afghanistan flüchtende Menschen sind in wachsender medizinischer Not. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) berichtet, dass in Kliniken in Kabul und anderen afghanischen Städten immer mehr Fälle von Durchfallerkrankungen, Mangelernährung, Bluthochdruck und Corona-Symptomen auftreten. Dazu kommen vermehrt Schwangerschaftskomplikationen. Die WHO hat zwei mobile Gesundheitsteams bereitgestellt, aber der Einsatz musste wegen der Sicherheitslage immer wieder unterbrochen werden.

Ein landesweit einheitliches Vorgehen der Taliban ist derzeit nicht erkennbar. Am 17.08.2021 haben Taliban in ihrer ersten Pressekonferenz zwar für alle Beamten der Republik eine Generalamnestie verkündet und Frauen dazu aufgerufen, sich an der Regierung zu beteiligen. Laut einem Bericht des Norwegian Center for Global Analyses im Auftrag der UN vom 18.08.2021 würden die Taliban jedoch in Kabul und anderen Städten von Haus zu Haus gehen und gezielt nach Personen suchen, die mit westlichen Staaten zusammengearbeitet oder zentrale Positionen im afghanischen Militär, der Polizei und den Ermittlungsbehörden innegehabt hätten. Auch Familienmitglieder dieser Personen sollen in Haft genommen worden sein. Die Taliban erklärten am 22.08.2021, dass ihre Kämpfer auf dem Weg in die nordwestlich von Kabul gelegene Provinz Panjshir seien. Es handelt sich hierbei um die einzige Provinz, die noch nicht unter Kontrolle der Taliban steht. Die dortigen afghanischen Sicherheitskräfte und Milizen unter der Führung von Ahmad Massoud seien zu Verhandlungen bereit. In der nördlichen Provinz Baghlan sollen Anti-Taliban-Kräfte drei Distrikte zurückerobert haben.

In Kabul sind Pressemeldungen zufolge Ministerien, Passämter und Banken weiterhin geschlossen. Die Lage am Flughafen ist nach wie vor angespannt, es kommt zu gelegentlichen Schusswechseln mit unbekannten Angreifern, in die neben amerikanischen auch deutsche Soldaten verwickelt sind. Bei Tumulten kamen nach NATO-Angaben in den letzten Tagen mindestens 20 Menschen ums Leben (Stand 23.08.2021). Taliban sollen die Zugänge zum Flughafen kontrollieren. Die Verantwortung für die Sicherheit in Kabul sollen die Taliban dem Haqqani-Netzwerk übertragen haben. Diesem werden gute Beziehungen zu al-Qaida nachgesagt und das Netzwerk wird für zahlreiche Anschläge in den letzten Jahren, insbesondere in Kabul, verantwortlich gemacht.

Bei einem der Gruppierung „Islamischer Staat“ zugeschrieben Bombenanschlag am Flughafen Kabul sind am 26.08.2021 laut Berichten von BBC-News zumindest 170 Personen getötet worden.

1.3.7.  Rückkehrsituation:

In den letzten zehn Jahren sind Millionen von Migranten und Flüchtlingen nach Afghanistan zurückgekehrt. Während der Großteil der Rückkehrer aus den Nachbarländern Iran und Pakistan kommt, sinken die Anerkennungsquoten für Afghanen im Asylbereich in der Europäischen Union und die Zahl derer die freiwillig, unterstützt und zwangsweise nach Afghanistan zurückkehren, nimmt zu. Die freiwillige Rückkehr nach Afghanistan ist über den Luftweg möglich, es gibt internationale Flüge nach Kabul, Mazar-e Sharif und Kandahar. „Erfolglosen“ Rückkehrern aus Europa haftet oft das Stigma des „Versagens“ an. Wirtschaftlich befinden sich viele der Rückkehrer in einer schlechteren Situation als vor ihrer Flucht nach Europa, was durch die aktuelle Situation im Hinblick auf die COVID-19-Pandemie noch verschlimmert wird. Sprachliche Barrieren, von denen vor allem Rückkehrer aus dem Iran betroffen sind, weil sie Farsi oder Dari mit iranischem Akzent sprechen, sowie die fehlende Vertrautheit mit kulturellen Besonderheiten und sozialen Normen können die Integration und Existenzgründung erschweren. Rückkehrer aus Europa oder dem westlichen Ausland werden von der afghanischen Gesellschaft häufig misstrauisch wahrgenommen. Dem deutschen Auswärtigen Amt und IOM Kabul sind jedoch keine Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nachweislich aufgrund ihres Aufenthalts in Europa Opfer von Gewalttaten wurden. Wenn ein Rückkehrer mit im Ausland erlangten Fähigkeiten und Kenntnissen zurückkommt, stehen ihm mehr Arbeitsmöglichkeiten zur Verfügung als den übrigen Afghanen, was bei der hohen Arbeitslosigkeit zu Spannungen innerhalb der Gemeinschaft führen kann. Teile der afghanischen Gesellschaft, vor allem in Städten (z.B. Kabul-Stadt), sind „westlichen“ Ansichten zugänglich, während andere Teile, vor allem im ländlichen oder konservativen Umfeld, diese ablehnen. Afghanen, die sich mit „westlichen“ Werten identifizieren, können zum Ziel aufständischer Gruppierungen werden, da sie als unislamisch oder regierungsfreundlich wahrgenommen bzw. für Spione gehalten werden können.

Ohne familiäre Netzwerke kann es sehr schwer sein, sich selbst zu erhalten, da in Afghanistan vieles von sozialen Netzwerken abhängig ist. Eine Person ohne familiäres Netzwerk ist jedoch die Ausnahme und nur wenige Personen verfügen über keine Familienmitglieder in Afghanistan, da diese entweder in den Iran, nach Pakistan oder weiter nach Europa migrierten. Wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage, den ohnehin großen Familienverbänden und individuellen Faktoren ist diese Unterstützung jedoch meistens nur temporär und nicht immer gesichert. Neben der Familie als zentrale Stütze der afghanischen Gesellschaft kommen noch weitere wichtige Netzwerke zum Tragen, wie z. B. der Stamm, der Clan, die lokale Gemeinschaft sowie berufliche oder politische Netzwerke. Sollten diese Netzwerke im Einzelfall schwach ausgeprägt sein, kann die Unterstützung verschiedener Organisationen und Institutionen in Afghanistan in Anspruch genommen werden. Auch wenn scheinbar kein koordinierter Mechanismus existiert, der garantiert, dass alle Rückkehrer die Unterstützung erhalten, die sie benötigen und dass eine umfassende Überprüfung stattfindet, können Personen, die freiwillig oder zwangsweise nach Afghanistan zurückgekehrt sind, dennoch verschiedene Unterstützungsformen in Anspruch nehmen. Für Rückkehrer leisten UNHCR und IOM in der ersten Zeit Unterstützung. Bei der Anschlussunterstützung ist die Transition von humanitärer Hilfe hin zu Entwicklungszusammenarbeit allerdings nicht immer lückenlos. Eine Reihe unterschiedlicher Organisationen ist für Rückkehrer/innen und Binnenvertriebene (IDP) in Afghanistan zuständig. Rückkehrer/innen erhalten Unterstützung von der afghanischen Regierung, den Ländern, aus denen sie zurückkehren, und internationalen Organisationen (z.B. IOM) sowie lokalen Nichtregierungsorganisationen (NGOs).

Die internationale Organisation für Migration (IOM – International Organization for Migration) unterstützt mit diversen Projekten die freiwillige Rückkehr und Reintegration von Rückkehrern nach Afghanistan. In Bezug auf die Art und Höhe der Unterstützungsleistung muss zwischen unterstützter freiwilliger und zwangsweiser Rückkehr unterschieden. Im Rahmen der unterstützten freiwilligen Rückkehr kann Unterstützung entweder nur für die Rückkehr (Reise) oder nach erfolgreicher Aufnahme in ein Reintegrationsprojekt auch bei der Wiedereingliederung geleistet werden. Mit 01.01.2020 startete das durch den Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds (AMIF) der Europäischen Union und das österreichische Bundesministerium für Inneres kofinanzierte Reintegrationsprojekt RESTART III. Das Projekt ist auf drei Jahre, nämlich bis 31.12.2022 ausgerichtet und verfügt über eine Kapazität von 400 Personen. Für alle diese 400 Personen ist neben Beratung und Information – in Österreich sowie in Afghanistan – sowohl die Bargeldunterstützung in der Höhe von 500 Euro wie auch die Unterstützung durch Sachleistungen in der Höhe von 2.800 Euro vorgesehen. Derzeit kann die Unterstützung durch IOM am Flughafen in Kabul, im IOM-Hauptbüro in Kabul sowie in den sieben Unterbüros (einschließlich Herat und Mazar-e Sharif) geleistet werden. Das IOM-Personal befindet sich teilweise im Homeoffice, aber die Rückkehrer können die IOM-Büros aufsuchen. Dies kann sich jedoch je nach Entwicklung von COVID-19 jederzeit ändern. Mit Stand 18.03.2021 wurden bereits 105 Teilnahmen im Rahmen des RESTART III Projektes akzeptiert und 86 Personen sind im Zuge des Projektes freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt. Sowohl mit ihnen, als auch mit potenziellen Projektteilnehmern, die sich noch in Österreich befinden, steht IOM Österreich in Kontakt und bietet Beratung/Information über virtuelle Kommunikationswege an. Bis zum 18.03.2021 haben 58 RESTART-III-Projektteilnehmer ihre Reintegrationspläne und die dazugehörigen Unterlagen bei IOM eingereicht und 42 Rückkehrer haben zumindest einen Teil ihrer Wiedereingliederungshilfe (die, üblicherweise in zwei Tranchen geleistet wird) bereits erhalten. Mit Stand 25.05.2021 ist das Projekt RESTART III weiter aktiv und Teilnehmer melden sich. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte der angekündigte Abzug der internationalen Truppen keinerlei Auswirkungen auf dieses Projekt.

IOM hat mit finanzieller Unterstützung der Europäischen Union das Projekt „RADA“ (Reintegration Assistance and Development in Afghanistan) entwickelt. Innerhalb dieses Projektes gibt es eine kleine Komponente (PARA – Post Arrival Reception Assistance), die sich speziell an zwangsweise rückgeführte Personen wendet. Der Leistungsumfang ist stark limitiert und nicht mit einer Reintegrationsunterstützung vergleichbar. Die Unterstützung umfasst einen kurzen medical check (unmittelbare medizinische Bedürfnisse) und die Auszahlung einer Bargeldunterstützung in der Höhe von 12.500 Afghani (rund 140 Euro) zur Deckung unmittelbarer, dringender Bedürfnisse (temporäre Unterkunft, Weiterreise, etc.). Diese ist jedoch nur für Rückkehrer zugänglich, die über den internationalen Flughafen von Kabul reisen.

Rückkehrende können bis zu zwei Wochen im IOM Empfangszentrum Spinzar Hotel unterkommen. Die Kosten dafür betragen 1.425 AFN pro Nacht (IOM 2020). Viele Rückkehrer wohnen nach ihrer Ankunft übergangsweise in Teehäusern. Diese waren während des Lockdowns in Afghanistan im März 2020 vorübergehend geschlossen, sind jedoch aktuell wieder geöffnet (Stand 30.11.2020).

1.3.8.  Auswirkungen der COVID-19-Pandemie:

Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35 % der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 02.09.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet. Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters wurden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert. Die fortgesetzte Ausbreitung der Krankheit in den letzten Wochen des Jahres 2020 führte zu einem Anstieg der Krankenhauseinweisungen geführt, wobei jene Einrichtungen die als COVID-19-Krankenhäuser in den Provinzen Herat, Kandahar und Nangarhar gelten, nach Angaben von Hilfsorganisationen seit Ende Dezember voll ausgelastet waren. Gesundheitseinrichtungen sahen sich auch zu Beginn des Jahres 2021 großen Herausforderungen bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung ihrer Kapazitäten zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung grundlegender Gesundheitsdienste gegenüber, insbesondere, wenn sie in Konfliktgebieten liegen. Mit Stand 03.06.2021 wurden der WHO offiziell 75.119 Fälle von COVID-19 gemeldet, wobei die tatsächliche Zahl der positiven Fälle um ein Vielfaches höher eingeschätzt wird.

Zuletzt gab es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie. Das afghanische Gesundheitsministerium hatte die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden. Auch wenn der Lockdown offiziell nie beendet wurde, endete dieser faktisch mit Juli bzw. August 2020 und wurden in weiterer Folge keine weiteren Ausgangsperren erlassen.

Die Taliban erlauben den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 und gaben im Jänner 2020 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Millionen Dollar unterstützt wird. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion „unterstützen und erleichtern“, wenn der Impfstoff in Abstimmung mit ihrer Gesundheitskommission und in Übereinstimmung mit deren Grundsätzen eingesetzt wird. Mit Stand 02.06.2021 wurden in Afghanistan insgesamt 626.290 Impfdosen verabreicht. Etwa 11 % der Geimpften haben beide Dosen des COVID-19-Impfstoffs erhalten.

COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei. Die veröffentlichte IPC-Analyse schätzt, dass sich im April 2021 12,2 Millionen Menschen – mehr als ein Drittel der Bevölkerung – in einem Krisen- oder Notfall-Niveau der Ernährungsunsicherheit befinden. In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17 % stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Lebensmittelpreise haben sich mit Stand März 2021 auf einem hohen Niveau stabilisiert: Nach Angaben des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht waren die Preise für Weizenmehl von November bis Dezember 2020 stabil, blieben aber auf einem Niveau, das 11 % über dem des Vorjahres und 27 % über dem Dreijahresdurchschnitt lag.

Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes. Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch langanhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten.

2. Beweiswürdigung:

2.1.    Zur Person des Beschwerdeführers:

Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit, Herkunft, Religions- und Volksgruppenzugehörigkeit, Schulbildung und Arbeitserfahrung des Beschwerdeführers sowie zu seinen Aufenthaltsorten und seinen Verwandten beruhen auf den diesbezüglich plausiblen und im Wesentlichen gleichbleibenden Angaben des Beschwerdeführers sowie seiner ebenfalls nach Österreich gereisten Verwandten im Laufe des Asylverfahrens.

Auch die Feststellungen zur Volljährigkeit und zum Familienstand des Beschwerdeführers stützen sich auf dessen insofern plausible Angaben.

Den Feststellungen zum Gesundheitszustand des Beschwerdeführers gründen auf den vorgelegten Unterlagen – insbesondere einem fachärztlichen Befund vom 25.05.2021 und einem Patientenbrief vom 19.08.2021 – sowie auf den Angaben der Schwester des Beschwerdeführers in der mündlichen Verhandlung.

Die Feststellungen zur Einreise, Antragstellung und dem Aufenthalt des Beschwerdeführers in Österreich ergeben sich aus dem Inhalt des Verwaltungsaktes.

Hinsichtlich des aktuellen Privat- und Familienlebens sowie insbesondere der Integration des Beschwerdeführers in Österreich wurden das Vorbringen des Beschwerdeführers sowie die vorgelegten Unterlagen den Feststellungen zugrunde gelegt. Der Bezug von Leistungen aus der Grundversorgung geht aus einem seitens des Bundesverwaltungsgerichtes eingeholten Auszug aus dem Betreuungsinformationssystem (GVS) hervor. Die Unbescholtenheit des Beschwerdeführers ergibt sich aus einer aktuellen Abfrage des Strafregisters der Republik Österreich.

2.2.    Zur Situation im Falle einer Rückkehr und zur allgemeinen Lage in Afghanistan:

Die Länderfeststellungen beruhen auf den ins Verfahren eingebrachten Länderberichten, insbesondere dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation mit Stand 11.06.2021 – das basierend auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger unbedenklicher Quellen einen in den Kernaussagen schlüssigen Überblick über die aktuelle Lage in Afghanistan gewährleistet. Ergänzend wurden die EASO-Berichte Country Guidance: Afghanistan vom Dezember 2020 und Afghanistan: Sozioökonomische Schlüsselindikatoren – Mit Schwerpunkt auf den Städten Kabul, Mazar-e Sharif und Herat vom August 2020 sowie der Bericht des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik Deutschland über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 15.07.2021 herangezogen. Ergänzend wurden zu den jüngsten Entwicklungen in Afghanistan die letzten Kurzberichte der Staatendokumentation und des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge sowie tagesaktuelle Medienberichte herangezogen.

Angesichts der Seriosität der genannten Quellen und der Plausibilität ihrer Aussagen besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln, sodass sie den Feststellungen zur Situation in Afghanistan zugrunde gelegt werden konnten.

Das Bundesverwaltungsgericht verkennt dabei nicht, dass aufgrund der aktuellen Ereignisse im Rahmen der Machtübernahme durch die Taliban Teile der gegenständlich herangezogenen Länderberichte die gegenwärtige Situation noch nicht zur Gänze berücksichtigen können bzw. noch keine verlässliche Grundlage darstellen, um langfristige Entwicklungen abzuschätzen. Aufgrund der zum Entscheidungszeitpunkt verfügbaren Informationen (vgl. etwa die aktuellen Kurzberichte der Staatendokumentation und des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge) und der Berichte über die Situation in Gebieten, die schon länger unter der Kontrolle der Taliban stehen, ist im Ergebnis dennoch nicht zu erkennen, dass sich in Afghanistan allgemein und für den gegenständlichen Fall relevant eine solche Lageveränderung ergeben hat, die eine anderslautende Entscheidung möglich erscheinen lässt. Vielmehr ist aufgrund der jüngsten Entwicklungen eine weitere Verschlechterung der Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan zu erwarten (vgl. auch UNHCR-Position zur Rückkehr nach Afghanistan, August 2021).


3. Rechtliche Beurteilung:

3.1. Zur Zuständigkeit und Kognitionsbefugnis:

Gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 BFA-VG entscheidet über Beschwerden gegen Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl das Bundesverwaltungsgericht.

Gemäß § 6 BVwGG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Gegenständlich liegt Einzelrichterzuständigkeit vor.

Sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist, hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen (§ 28 Abs. 1 VwGVG).

Zu A)

3.2.    Zur Einstellung des Verfahrens über die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides:

Gemäß § 7 Abs. 2 VwGVG ist eine Beschwerde nicht mehr zulässig, wenn die Partei nach Zustellung oder Verkündung des Bescheides ausdrücklich auf die Beschwerde verzichtet hat. Eine Zurückziehung der Beschwerde durch den Beschwerdeführer ist in jeder Lage des Verfahrens ab Einbringung der Beschwerde bis zur Erlassung der Entscheidung möglich (Eder/Martschin/Schmid, Das Verfahrensrecht der Verwaltungsgerichte, § 7 VwGVG, K 6).

Dasselbe folgt sinngemäß aus § 17 VwGVG iVm § 13 Abs. 7 AVG.

Die Annahme, eine Partei ziehe die von ihr erhobene Berufung zurück, ist nur dann zulässig, wenn die entsprechende Erklärung keinen Zweifel daran offen lässt. Maßgebend ist daher das Vorliegen einer in dieser Richtung eindeutigen Erklärung (vgl. VwGH 22.11.2005, 2005/05/0320, zur insofern auf die Rechtslage nach dem VwGVG übertragbaren Judikatur zum AVG).

Eine solche eindeutige Erklärung lag im vorliegenden Fall vor, da der Beschwerdeführer im Rahmen der mündlichen Verhandlung am 01.09.2021 im Wege seiner Rechtsvertretung die Zurückziehung der Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides eindeutig zum Ausdruck gebracht hat.

In welchen Fällen „das Verfahren einzustellen“ ist (§ 28 Abs. 1 VwGVG), regelt das VwGVG nicht ausdrücklich. Die Einstellung steht nach allgemeinem Verständnis am Ende jener Verfahren, in denen ein Erledigungsanspruch nach Beschwerdeeinbringung verloren geht, worunter auch der Fall der Zurückziehung der Beschwerde zu subsumieren ist (vgl. Fister/Fuchs/Sachs, Das neue Verwaltungsgerichtsverfahren2 [2018] § 28 VwGVG, Anm. 5).

Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides ist sohin rechtskräftig geworden. Damit ist einer Sachentscheidung die Grundlage entzogen, weshalb insoweit mit Beschluss die Einstellung des Beschwerdeverfahrens auszusprechen ist (vgl. VwGH 29.04.2015, Fr 2014/20/0047).

3.3.    Zur Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides:

Wird ein Antrag auf internationalen Schutz in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen, so ist dem Fremden gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Artikel 2 EMRK, Artikel 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

Gemäß § 8 Abs. 2 AsylG 2005 ist die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach § 8 Abs. 1 AsylG 2005 mit der abweisenden Entscheidung nach § 3 AsylG 2005 oder der Aberkennung des Status des Asylberechtigten nach § 7 AsylG 2005 zu verbinden.

Gemäß § 8 Abs. 3 AsylG 2005 sind Anträge auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuweisen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11) offensteht.

Kann Asylwerbern in einem Teil ihres Herkunftsstaates vom Staat oder sonstigen Akteuren, die den Herkunftsstaat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, Schutz gewährleistet werden, und kann ihnen der Aufenthalt in diesem Teil des Staatsgebietes zugemutet werden, so ist gemäß § 11 Abs. 1 AsylG 2005 der Antrag auf internationalen Schutz abzuweisen (Innerstaatliche Fluchtalternative). Schutz ist gewährleistet, wenn in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates keine wohlbegründete Furcht nach Artikel 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention vorliegen kann und die Voraussetzungen zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (§ 8 Abs. 1) in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates nicht gegeben sind.

Bei der Prüfung, ob eine innerstaatliche Fluchtalternative gegeben ist, ist auf die allgemeinen Gegebenheiten des Herkunftsstaates und auf die persönlichen Umstände der Asylwerber zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag abzustellen (§ 11 Abs. 2 AsylG 2005).

Gemäß Artikel 2 EMRK wird das Recht jedes Menschen auf das Leben gesetzlich geschützt. Gemäß Artikel 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Die Protokolle Nr. 6 und Nr. 13 zur Konvention beinhalten die Abschaffung der Todesstrafe.

§ 8 Abs. 1 Asylgesetz 1997, BGBl. I Nr. 76/1997 idF BGBl. I Nr. 101/2003, verwies auf § 57 Fremdengesetz, BGBl. I Nr. 75/1997 idF BGBl. I Nr. 126/2002 (im Folgenden: FrG) wonach die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung Fremder in einen Staat unzulässig ist, wenn dadurch Artikel 2 EMRK, Artikel 3 EMRK oder das Protokoll Nr. 6 zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe verletzt würde. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu § 57 FrG – welche in wesentlichen Teilen auf § 8 Abs. 1 AsylG 2005 übertragen werden kann – ist Voraussetzung für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten, dass eine konkrete, den Berufungswerber (Beschwerdeführer) betreffende, aktuelle, durch staatliche Stellen zumindest gebilligte oder (infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt) von diesen nicht abwendbare Gefährdung bzw. Bedrohung vorliegt. Die Anforderungen an die Schutzwilligkeit und Schutzfähigkeit des Staates entsprechen jenen, wie sie bei der Frage des Asyls bestehen (VwGH 08.06.2000, 2000/20/0141). Die Gefahr muss sich auf das gesamte Staatsgebiet beziehen (VwGH 30.06.2005, 2002/20/0205, mwN). Herrscht in einem Staat eine extreme Gefahrenlage, durch die praktisch jeder, der in diesen Staat abgeschoben wird – auch ohne einer bestimmten Bevölkerungsgruppe oder Bürgerkriegspartei anzugehören –, der konkreten Gefahr einer Verletzung der durch Artikel 3 EMRK gewährleisteten Rechte ausgesetzt wäre, so kann dies der Abschiebung eines Fremden in diesen Staat entgegenstehen (VwGH 17.09.2008, 2008/23/0588). Die bloße Möglichkeit einer dem Artikel 3 EMRK widersprechenden Behandlung in jenem Staat, in den ein Fremder abgeschoben wird, genügt nicht, um seine Abschiebung in diesen Staat als unzulässig erscheinen zu lassen; vielmehr müssen konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass gerade der Betroffene einer derartigen Gefahr ausgesetzt sein würde (VwGH 18.10.2005, 2005/01/0461).

Unter Gefahr in diesem Sinne ist eine ausreichend reale, nicht nur auf Spekulationen gegründete Gefahr („a sufficiently real risk“) möglicher Konsequenzen für den Betroffenen im Zielstaat zu verstehen (vgl. etwa VwGH 19.02.2004, 99/20/0573). Es müssen stichhaltige Gründe für die Annahme sprechen, dass eine Person einem realen Risiko einer unmenschlichen Behandlung ausgesetzt wäre und es müssen konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass gerade die betroffene Person einer derartigen Gefahr ausgesetzt sein würde. Die bloße Möglichkeit eines realen Risikos oder Vermutungen, dass der Betroffene ein solches Schicksal erleiden könnte, reichen nicht aus. Gemäß der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes erfordert die Beurteilung des Vorliegens eines tatsächlichen Risikos eine ganzheitliche Bewertung der Gefahr an dem für die Zulässigkeit aufenthaltsbeendender Maßnahmen unter dem Gesichtspunkt des Artikel 3 EMRK auch sonst gültigen Maßstab des „real risk“, wobei sich die Gefahrenprognose auf die persönliche Situa

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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