TE Bvwg Erkenntnis 2021/9/2 W184 2196810-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 02.09.2021
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Entscheidungsdatum

02.09.2021

Norm

AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28

Spruch


W184 2196810-1/20E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Werner PIPAL als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX alias XXXX , StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 27.04.2018, Zl. 1050003903/150046526, zu Recht erkannt:

A)

Der Beschwerde wird zu Spruchpunkt II. des angefochenen Bescheides stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung für ein Jahr erteilt.

Die Spruchpunkte III. bis VI. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos behoben.

B)

Die ordentliche Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

Die beschwerdeführende Partei, ein männlicher Staatsangehöriger Afghanistans, brachte nach der illegalen Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 15.01.2015 den vorliegenden Antrag auf internationalen Schutz ein.

Mit dem angefochtenen Bescheid wurde folgende Entscheidung über diesen Antrag getroffen:

„I. Der Antrag auf internationalen Schutz wird hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen.

II. Der Antrag auf internationalen Schutz wird hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen.

III. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wird gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt.

IV. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 in Verbindung mit § 9 BFA-VG wird eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen.

V. Es wird gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig ist.

VI. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG beträgt die Frist für die freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung.“

Die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens, die Sachverhaltsfeststellungen und die Beweiswürdigung wurden im angefochtenen Bescheid folgendermaßen zusammengefasst (gekürzt und teilweise anonymisiert durch das Bundesverwaltungsgericht):

„… A) Verfahrensgang

Sie reisten spätestens am 15.01.2015 in das Bundesgebiet ein und stellten am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz. Dabei gaben Sie an, … am XXXX in Afghanistan geboren worden … zu sein.

Bei der Erstbefragung … am 15.01.2015 gaben Sie zu Ihrem Fluchtgrund Folgendes an:

Sie seien illegal im Iran aufhältig gewesen, hätten keine Dokumente besessen, konnten deshalb keine Schule besuchen und auch kein normales Leben führen. Weiters hatten Sie Angst, dass man Sie nach Afghanistan zurückschiebt.

Am 15.05.2015 wurde ein Sachverständigengutachten zur Volljährigkeitsfeststellung erstellt. Ihr fiktives Geburtsdatum ist der XXXX .

Am 28.06.2017 wurden Sie beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl … niederschriftlich einvernommen. Die wesentlichen Passagen gestalteten sich wie folgt (F = Frage, A = Antwort):

F: Können Sie Ihr Geburtsdatum auch im afghanischen Kalender angeben?

A: Kann ich nicht sagen.

F: Welche Sprachen sprechen Sie?

A: Dari, ein wenig Farsi, Deutsch und Englisch.

F: Sprechen Sie schon etwas Deutsch?

(Der Asylwerber spricht schon sehr gut Deutsch.)

F: Wie geht es Ihnen gesundheitlich?

A: Mir geht es gut …

F: Nehmen Sie Medikamente oder sind Sie in ärztlicher Behandlung?

A: Nein.

F: Wo haben Sie die letzte Nacht vor Ihrer Ausreise verbracht?

A: In meinem Elternhaus in Afghanistan.

F: Können Sie bitte einen kurzen Lebenslauf bezüglich ihrer Person schildern? Z. B.: Wo sind Sie aufgewachsen, welche Schulausbildung haben Sie absolviert, welchen Beruf haben Sie ausgeübt, etc.?

A: Mit neun Jahren habe ich die Schule begonnen. Sechs Jahre war ich in der Schule. Mit ca. 15 Jahren habe ich von zuhause mit einem Schulkollegen Geld gestohlen. Wir sind in den Iran gegangen … Bei einer Ziegelfirma habe ich gearbeitet, ca. sechs Monate. Dabei habe ich mir ein wenig Geld verdient und damit bin ich nach Europa.

F: Sind Sie verheiratet und haben Sie Kinder?

A: Nein.

F: Welcher Volksgruppe gehören Sie an?

A: Hazara.

F: Welcher Religionsgemeinschaft gehören Sie an?

A: Moslem, Schiit.

F: Haben Sie noch Angehörige in Afghanistan?

A: Meine ganze Familie lebt in Deutschland (Eltern und drei Schwestern, die vierte Schwester ist auch mit ihrem Mann in Deutschland). Sie haben einen positiven Bescheid.

F: Wann hatten Sie zuletzt Kontakt zu Ihren Angehörigen?

A: Letzte Woche.

F: Haben Sie überhaupt Kontakt zu Personen, die in Afghanistan leben?

A: Nein.

F: Haben Ihre Eltern Geschwister?

A: Ich habe einen Onkel väterlicherseits in Afghanistan, aber er ist verstorben. Sonst habe ich keine Verwandten in Afghanistan. Meine Mutter hat niemanden gehabt. Die Großeltern sind alle verstorben.

F: Konnten Sie sich im Iran selbst erhalten?

A. Ja. Da ich illegal war, war ich sehr vorsichtig. Ich wurde gemobbt.

F: Beantworten Sie die nachstehenden Fragen mit „ja“ oder „nein“. Sie haben später noch die Gelegenheit, sich ausführlich zu diesen Fragen zu äußern:

F: Sind Sie vorbestraft oder waren Sie in Ihrem Heimatland inhaftiert oder hatten Sie Probleme mit den Behörden in der Heimat?

A: Dreimal nein.

F: Bestehen gegen Sie aktuelle staatliche Fahndungsmaßnahmen, wie Haftbefehl, Strafanzeige, Steckbrief, etc.?

A: Nein.

F: Sind oder waren Sie politisch tätig?

A: Nein.

F: Sind oder waren Sie Mitglied einer politischen Partei?

A: Nein.

F: Hatten Sie in Ihrem Herkunftsstaat aufgrund Ihres Religionsbekenntnisses bzw. Ihrer Volksgruppenzugehörigkeit irgendwelche Probleme?

A: Ja.

F: Hatten Sie größere Probleme mit Privatpersonen (Blutfehden, Racheakte, etc.)?

A: Nein.

F: Nahmen Sie in Ihrem Heimatland an bewaffneten oder gewalttätigen Auseinandersetzungen aktiv teil?

A: Nein.

F: Schildern Sie die Gründe, warum Sie Ihr Heimatland verlassen und einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt haben, von sich aus vollständig, detailliert und wahrheitsgemäß …

A: Ich bin in XXXX geboren, wir waren Hazara, Schiiten. Das Nachbardorf heißt XXXX und da leben viele Paschtunen, sie sind Sunniten und die meisten sind auch Taliban. Durch diese Paschtunen hatten wir immer Probleme. Ich fühlte mich nie frei dort. Ein Freund schlug mir vor, dass wir in den Iran gehen sollten. Als ich ca. 15 Jahre war, bin ich in den Iran geflüchtet. Sechs Monate habe ich in einer Ziegelfabrik gearbeitet. Im Iran wurde ich gemobbt. Es war ein sehr schweres Leben. Ich hatte auch Angst, dass mich die iranischen Behörden auch in den Syrien-Krieg schicken würden. Dann bin ich nach Europa geflüchtet. Mein Onkel wurde zwischen XXXX und XXXX von den Taliban, nach einer Drohung gegen meinen Vater, denn dieser war LKW-Fahrer, getötet. Bei diesem Vorfall war ich schon im Iran. Bis letzte Woche, seit drei Jahren, hatte ich keinen Kontakt zu meinen Eltern. Durch Facebook habe ich meine Familie wiedergefunden. Der Gatte meiner Schwester hat dabei geholfen.

F: Gibt es noch andere Gründe, warum Sie Ihren Herkunftsstaat verlassen haben?

A: Nein. Es ist sehr schwer, wenn man als Hazara in Afghanistan lebt.

F: Was würde Sie konkret erwarten, wenn Sie jetzt in Ihren Herkunftsstaat zurückkehren müssten?

A: Sie haben meinen Onkel getötet und so würde es auch mir ergehen.

F: Könnten Sie - wenn die geschilderten Probleme nicht wären - in einer der größeren Städte Afghanistans (Kabul, Mazar-e Sharif, Herat, Jalalabad) leben?

A. Nein. Ich kann nirgends dort leben, denn ich vertraue keinem Afghanen mehr.

F: Haben Sie Verwandte in Österreich?

A: Meine ganze Familie lebt in Deutschland.

F: Besuchen Sie eine Schule oder einen Kurs?

A: Ja, ich gehe in die Hauptschule …

F: Wie sehen Ihre sozialen Kontakte und Aktivitäten in Österreich aus?

A: Ich spiele Fußball in einem Verein … Ich habe Freunde …, mit denen verbringe ich viel Zeit. Ich habe sonst auch viel mit Österreichern zu tun.

F: Wann und warum sind Ihre Eltern geflüchtet?

A: 2016 sind sie geflüchtet. Ihr Leben war in Afghanistan in Gefahr.

F: Warum?

A: Wegen der Bedrohung meines Vaters und des Onkels von den Taliban.

F: Was wissen Sie über diese Bedrohung?

A: Sie haben meinem Vater gesagt, er soll nicht mehr LKW fahren. So wurde das Leben meiner Familie schwer und gefährlich.

F: Wann und wie wurde Ihr Vater bedroht? Brief, etc.?

A: Ich weiß nicht, wann es gewesen ist. Er wurde mündlich bedroht.

F: Wie hat das stattgefunden?

A: Ich war damals nicht in Afghanistan. In der Arbeit hat man das meinem Vater gesagt.

F: Wer hat ihn da bedroht?

A: Taliban.

F: Hat Ihr Vater bei einer Firma gearbeitet?

A: Für ein großes Lebensmittelgeschäft … hat mein Vater gearbeitet.

F: Wissen Sie, wie das abgelaufen ist?

A: Ich weiß nicht mehr.

F: Woher wissen Sie das alles?

A: Mein Vater hat es mir erzählt, als ich in Deutschland war.

F: Waren da auch noch anderen Fahrer bei dieser Firma und wurden diese auch bedroht?

A: Ich weiß nicht. Andere Fahrer waren auch in der Firma. Die anderen waren alle Paschtunen.

F: Schildern Sie nochmals Ihre Flucht, mit Jahreszahlen.

A: Ende 1392 = 2013 bin ich in den Iran gegangen. Sechs Monate war ich dort, bis zur Kirschenernte, ca. Mitte 1393 = 2014. Dann bin ich in die Türkei für 15 Tage. Zweieinhalb Monate war ich in einem Jugendheim, wir durften nicht hinausgehen. Insgesamt war ich dreieinhalb Monate in Griechenland, dann Mazedonien, Serbien, zehn Tage in Ungarn.

…“

Es folgten im angefochtenen Bescheid die Sachverhaltsfeststellungen, die Beweiswürdigung und die rechtliche Beurteilung zu den einzelnen Spruchpunkten. Der Status des Asylberechtigten könne nicht zuerkannt werden, weil ein asylrelevantes Fluchtvorbringen nicht glaubhaft gemacht worden sei und es auch keine Gruppenverfolgung der Hasara gebe und außerdem eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative in Kabul bestünde. Auch eine refoulementrelevante Gefährdung bestehe nicht. Die Voraussetzungen für einen Aufenthaltstitel aus Gründen des Art. 8 EMRK und für eine Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz lägen nicht vor, weshalb eine Rückkehrentscheidung zu erlassen sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise betrage mangels besonderer Umstände zwei Wochen.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, in welcher im Wesentlichen das bisherige Vorbringen wiederholt und weiters ausgeführt wurde, dass nach aktuellen Länderberichten die Sicherheitslage in ganz Afghanistan schlecht sei. Insbesondere Hasara seien Opfer von Diskriminierung. Die beschwerdeführende Partei spreche bereits gut Deutsch und besuche eine Hauptschule, außerdem habe er in Österreich Freunde und spiele in einem Verein Fußball.

Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 28.11.2018 wurde die Beschwerde gemäß §§ 3, 8, 10, 57 AsylG 2005, §§ 52, 55 FPG und § 9 BFA-VG als unbegründet abgewiesen.

Dieses Erkenntnis wurde mit Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 26.02.2019, E 4944/2018, hinsichtlich der Spruchpunkte II. bis VI. aufgehoben, während hinsichtlich der Asylfrage die Behandlung der Beschwerde abgelehnt wurde.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Zur Person und den Fluchtgründen der beschwerdeführenden Partei wird festgestellt:

Die beschwerdeführende Partei ist Staatsbürger Afghanistans und gehört der Volksgruppe der Hasara und der schiitischen Religion an. Er lebte in der Provinz XXXX , wo er sechs Jahre die Schule besuchte.

Zur Rückkehrsituation der beschwerdeführenden Partei wird Folgendes festgestellt:

Der beschwerdeführenden Partei droht im Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer unmenschlichen Behandlung.

Zur Lage im Herkunftsstaat wird Folgendes festgestellt:

Aktuelle Lage

Die Spitzenpolitiker der Taliban sind aus Katar, wo viele von ihnen im Exil lebten, nach Afghanistan zurückgekehrt. Frauen werden Rechte gemäß der Scharia [islamisches Recht] genießen, so der Sprecher der Taliban. Nach Angaben des Weißen Hauses haben die Taliban versprochen, dass Zivilisten sicher zum Flughafen von Kabul reisen können. Berichten zufolge wurden Afghanen auf dem Weg dorthin von Taliban-Wachen verprügelt. Lokalen Berichten zufolge sind die Straßen von Kabul ruhig. Die Militanten sind in der ganzen Stadt unterwegs und besetzen Kontrollpunkte (bbc.com o.D.a). Die internationalen Evakuierungsmissionen von Ausländern sowie Ortskräften aus Afghanistan gehen weiter, immer wieder gibt es dabei Probleme. Die Angaben darüber, wie viele Menschen bereits in Sicherheit gebracht werden konnten, gehen auseinander, die Rede ist von 2.000 bis 4.000, hauptsächlich ausländisches Botschaftspersonal. Es mehren sich aktuell Zweifel, dass auch der Großteil der Ortskräfte aus dem Land gebracht werden kann. Bei Protesten gegen die Taliban in Jalalabad wurden unterdessen laut Augenzeugen drei Menschen getötet (orf.at o.D.a). Jalalabad wurde kampflos von den Taliban eingenommen. Mit ihrer Einnahme sicherte sich die Gruppe wichtige Verbindungsstraßen zwischen Afghanistan und Pakistan. Am Mittwoch (18.8.2021) wurden jedoch Menschen in der Gegend dabei gefilmt, wie sie zur Unterstützung der alten afghanischen Flagge marschierten, bevor Berichten zufolge in der Nähe Schüsse abgefeuert wurden, um die Menschenmenge zu zerstreuen. Das von den Taliban neu ausgerufene Islamische Emirat Afghanistan hat bisher eine weiße Flagge mit einer schwarzen Schahada (Glaubensbekenntnis) verwendet. Die schwarz-rot-grüne Trikolore, die heute von den Demonstranten verwendet wurde, gilt als Symbol für die abgesetzte Regierung. Der Sprecher der Taliban erklärte, dass derzeit Gespräche über die künftige Nationalflagge geführt werden, wobei eine Entscheidung von der neuen Regierung getroffen werden soll (bbc.com o.D.b). Während auf dem Flughafen der afghanischen Hauptstadt Kabul weiter der Ausnahmezustand herrscht, hat es bei einer Kundgebung in einer Provinzhauptstadt erneut Tote gegeben. In der Stadt Asadabad in der Provinz Kunar wurden nach Angaben eines Augenzeugen mehrere Teilnehmer einer Kundgebung zum afghanischen Nationalfeiertag getötet. Widerstand bildete sich auch im Panjshirtal, eine Hochburg der Tadschiken nordöstlich von Kabul. In der „Washington Post“ forderte ihr Anführer Ahmad Massoud, Chef der Nationalen Widerstandsfront Afghanistans, Waffen für den Kampf gegen die Taliban. Er wolle den Kampf für eine freiheitliche Gesellschaft fortsetzen (orf.at o.D.c). Einem Geheimdienstbericht für die UN zufolge verstärken die Taliban die Suche nach "Kollaborateuren". In mehreren Städten kam es zu weiteren Anti-Taliban-Protesten. Nach Angaben eines Taliban-Beamten wurden seit Sonntag mindestens 12 Menschen auf dem Flughafen von Kabul getötet. Westliche Länder evakuieren weiterhin Staatsangehörige und Afghanen, die für sie arbeiten. Der IWF erklärt, dass Afghanistan keinen Zugang mehr zu seinen Geldern haben wird (bbc.com o.D.d). Vor den Taliban in Afghanistan flüchtende Menschen sind in wachsender medizinischer Not. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) berichtete, dass in Kliniken in Kabul und anderen afghanischen Städten immer mehr Fälle von Durchfallerkrankungen, Mangelernährung, Bluthochdruck und Corona-Symptomen aufträten. Dazu kämen vermehrt Schwangerschaftskomplikationen. Die WHO habe zwei mobile Gesundheitsteams bereitgestellt, aber der Einsatz müsse wegen der Sicherheitslage immer wieder unterbrochen werden (zdf.de 18.8.2021). Priorität für die VN hat derzeit, dass die UNAMA-Mission in Kabul bleibe. Derzeit befindet sich ein Teil des VN-Personals am Flughafen, um einen anderen Standort (unklar ob in AF) aufzusuchen und von dort die Tätigkeit fortzuführen. Oberste Priorität der VN sei es die Präsenz im Land sicherzustellen. Zwecks Sicherstellung der humanitären Hilfe werde auch mit den Taliban verhandelt. Ein Schlüsselelement dabei ist die VN-SRVerlängerung des UNAMA-Mandats am 17. September 2021 (VN 18.8.2021).

Quellen:

bbc.com (o.D.a): Afghan women to have rights within Islamic law, Taliban say, https://www.bbc.com/news/world-asia-58249952

bbc.com (o.D.b): Flag-waving protesters defy Taliban in Afghan city, https://www.bbc.com/news/live/world-asia-58219963, Zugriff 18.8.2021

bbc.com (o.D.c): Afghanistan: Who's who in the Taliban leadership, https://www.bbc.com/news/world-asia-58235639, Zugriff 18.8.2021

bbc.com (o.D.d): Taliban step up hunt for collaborators - UN report, https://www.bbc.com/news/live/world-asia-58219963, Zugriff 19.8.

orf.at (o.D.a): Sorge um afghanische Ortskräfte wächst, https://orf.at/stories/3225305/, Zugriff 18.8.2021

orf.at (o.D.b): Die Anführer des Taliban-Netzwerks, https://orf.at/stories/3225195/, Zugriff 18.8.2021

orf.at (o.D.c): Erneut Tote bei Kundgebung gegen Taliban, https://orf.at/stories/3225444/, Zugriff 19.8.2021

zdf.de (18.8.2021): Die aktuelle Entwicklung in Afghanistan, https://www.zdf.de/nachrichten/politik/afghanistan-taliban-blog-100.html, Zugriff 18.8.2021 UN Bericht – Ständige Vertretung Österreichs bei den VN (18.8.2021): Briefing zur Lage in AF in NY 17.8.2021, per Email

2. Beweiswürdigung:

Die Feststellungen ergeben sich aus der Aktenlage im gegenständlichen Verfahren und sind unstrittig.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu A) Stattgabe der Beschwerde:

Zu Spruchpunkt II. bis VI. des angefochtenen Bescheides:

Die maßgebliche Bestimmung des Asylgesetzes 2005 lautet:

§ 8 (1) Der Status des subsidiär Schutzberechtigten ist einem Fremden zuzuerkennen,

1.       der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird oder

2.       dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist,

wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

(3) Anträge auf internationalen Schutz sind bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuweisen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11) offen steht.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist dabei eine Einzelfallprüfung vorzunehmen, in deren Rahmen konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zu der Frage zu treffen sind, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr („real risk“) einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht. Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat. Die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann auch dann eine Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Eine solche Situation ist nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK reicht nicht aus. Vielmehr ist es zur Begründung einer drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK notwendig, detailliert und konkret darzulegen, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen (VwGH 27.05.2019, Ra 2019/14/0153; 21.05.2019, Ro 2019/19/0006; 29.04.2019, Ra 2019/20/0175).

Weiters hat der Verwaltungsgerichtshof in seiner Rechtsprechung festgehalten, dass, wenn im Herkunftsstaat eines Asylwerbers eine prekäre allgemeine Sicherheitslage herrscht, in der die Bevölkerung durch Akte willkürlicher Gewalt betroffen ist, stichhaltige Gründe für die Annahme eines realen Risikos bzw. für die ernsthafte Bedrohung von Leben oder Unversehrtheit eines Asylwerbers bei Rückführung in diesen Staat dann vorliegen, wenn diese Gewalt ein solches Ausmaß erreicht hat, dass es nicht bloß möglich, sondern geradezu wahrscheinlich erscheint, dass auch der betreffende Asylwerber tatsächlich Opfer eines solchen Gewaltaktes sein wird. Davon kann in einer Situation allgemeiner Gewalt nur in sehr extremen Fällen ausgegangen werden, wenn schon die bloße Anwesenheit einer Person in der betroffenen Region Derartiges erwarten lässt. Davon abgesehen können nur besondere in der persönlichen Situation des Betroffenen begründete Umstände dazu führen, dass gerade bei ihm ein - im Vergleich zur Bevölkerung des Herkunftsstaats im Allgemeinen - höheres Risiko besteht, einer dem Art. 2 oder Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein bzw. eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit befürchten zu müssen (VwGH 31.01.2019, Ra 2018/14/0196).

Soweit es die Beurteilung betrifft, ob eine innerstaatliche Fluchtalternative besteht, hat der Verwaltungsgerichtshof festgehalten, dass die Frage der Sicherheit des Asylwerbers in dem als innerstaatliche Fluchtalternative geprüften Gebiet des Herkunftsstaates wesentliche Bedeutung hat. Es muss mit ausreichender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden können, dass der Asylwerber in diesem Gebiet Schutz vor asylrechtlich relevanter Verfolgung und vor Bedingungen, die nach § 8 Abs. 1 AsylG 2005 die Gewährung von subsidiärem Schutz rechtfertigen würden, findet. Sind diese Voraussetzungen zu bejahen, so wird dem Asylwerber unter dem Aspekt der Sicherheit regelmäßig auch die Inanspruchnahme der innerstaatlichen Fluchtalternative zuzumuten sein. Um von einer zumutbaren innerstaatlichen Fluchtalternative sprechen zu können, reicht es aber nicht aus, dem Asylwerber entgegen zu halten, dass er in diesem Gebiet keine Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erwarten hat. Es muss ihm vielmehr möglich sein, im Gebiet der innerstaatlichen Fluchtalternative nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Das Kriterium der Zumutbarkeit ist im Sinn einer unionsrechtskonformen Auslegung gleichbedeutend mit dem Erfordernis nach Art. 8 Abs. 1 Statusrichtlinie, dass vom Asylwerber vernünftigerweise erwartet werden kann, sich im betreffenden Gebiet seines Herkunftslandes niederzulassen (VwGH 23.01.2018, Ra 2018/18/0001).

Eine schwierige Lebenssituation, insbesondere bei der Arbeitsplatz- und Wohnraumsuche sowie in wirtschaftlicher Hinsicht, die ein Fremder im Fall der Rückkehr in sein Heimatland vorfinden würde, reicht nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes für sich betrachtet nicht aus, um die Verletzung des nach Art. 3 EMRK geschützten Rechts mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit annehmen zu können oder um eine innerstaatliche Fluchtalternative zu verneinen. Zudem entspricht es der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass es einem gesunden Asylwerber im erwerbsfähigen Alter, der eine der Landessprachen Afghanistans beherrsche, mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates vertraut sei und die Möglichkeit habe, sich durch Gelegenheitstätigkeiten eine Existenzgrundlage zu sichern, die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative in bestimmten Gebieten Afghanistans zugemutet werden könne, und zwar selbst dann, wenn er nicht in Afghanistan geboren worden sei, dort nie gelebt und keine Angehörigen in Afghanistan habe, sondern im Iran aufgewachsen und dort in die Schule gegangen sei (VwGH 29.04.2019, Ra 2019/20/0175).

Im vorliegenden Fall liegen nach den getroffenen Sachverhaltsfeststellungen Umstände vor, welche ein Refoulement der beschwerdeführenden Partei in den Herkunftsstaat als unzulässig erscheinen lassen. Die aktuelle Lage in Afghanistan stellt für Rückkehrer wie die beschwerdeführende Partei eine reale und nicht bloß spekulative Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention dar.

Zu dem Antrag auf Durchführung einer Verhandlung wird ausgeführt:

Gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG kann eine mündliche Verhandlung unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht. Im Übrigen gilt § 24 VwGVG.

Den Umfang der Verhandlungspflicht aufgrund dieser Bestimmung umschrieb der Verwaltungsgerichtshof in seinem grundlegenden Erkenntnis vom 28.05.2014, Ra 2014/20/0017, worin die Kriterien für die Annahme eines geklärten Sachverhaltes zusammengefasst wurden, folgendermaßen (seither ständige Rechtsprechung, z. B. zuletzt VwGH 20.09.2018, Ra 2018/20/0149; 11.09.2018, Ra 2018/14/0052; 06.09.2018, Ra 2018/18/0010; vgl. zum grundrechtlichen Gesichtspunkt auch VfGH 26.02.2018, E 3296/2017; 24.11.2016, E 1079/2016; 14.03.2012, U 466/11, U 1836/11):

„Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offengelegt haben und das Bundesverwaltungsgericht muss die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinaus gehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstanziiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt. Auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten ist bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen.“

Im vorliegenden Fall liegen die Tatbestandsvoraussetzungen des § 21 Abs. 7 erster Fall BFA-VG und die dazu von der ständigen Rechtsprechung aufgestellten Kriterien vor. Der Sachverhalt ist aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt. In einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren wurde der beschwerdeführenden Partei ausreichend Parteiengehör eingeräumt, und auch die Beschwerde zeigt nicht plausibel auf, inwieweit eine neuerliche Einvernahme zu einer weiteren Klärung der Sache führen könnte.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen. Nach Art. 133 Abs. 4 erster Satz B-VG idF BGBl. I Nr. 51/2012 ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

Im vorliegenden Fall ist die ordentliche Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung abhängt. Denn das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf eine ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen. Die maßgebliche Rechtsprechung wurde bei den Erwägungen zu den einzelnen Spruchpunkten des angefochtenen Bescheides wiedergegeben.

Schlagworte

befristete Aufenthaltsberechtigung Ersatzentscheidung Rückkehrsituation Sicherheitslage subsidiärer Schutz unmenschliche Behandlung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2021:W184.2196810.1.00

Im RIS seit

08.11.2021

Zuletzt aktualisiert am

08.11.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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