TE Bvwg Erkenntnis 2021/9/13 W215 2156818-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 13.09.2021
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Entscheidungsdatum

13.09.2021

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §54 Abs1 Z1
AsylG 2005 §55 Abs1 Z1
AsylG 2005 §55 Abs1 Z2
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9 Abs3
B-VG Art133 Abs4
FPG §52
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §31 Abs1

Spruch


1) W215 2156809-1/28E
2) W215 2156830-1/14E
3) W215 2156811-1/12E
4) W215 2156818-1/11E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. STARK über die Beschwerden von XXXX alle Staatsangehörigkeit Republik Armenien, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 21.04.2017, Zahlen 1) 14-1000929603-14055859, 2) 14-1000929701-14055930, 3) 14-1000929810-14055948 und 4) 14-1000929309-14055905, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

I. Die Verfahren werden wegen Zurückziehung der Beschwerden hinsichtlich der Spruchpunkte I., II. sowie III. 1. Satz, gemäß § 28 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 33/2013 (VwGVG), eingestellt.

II. Im Übrigen wird den Beschwerden stattgegeben, die Bescheide werden hinsichtlich der bekämpften Spruchpunkte III. 2. und 3. Satz sowie IV. aufgehoben, Rückkehrentscheidungen gemäß § 52 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (FPG), in der Fassung BGBl. I Nr. 110/2019, iVm § 9 Abs. 3 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 87/2012 (BFA-VG), in der Fassung BGBl. I Nr. 56/2018, für auf Dauer unzulässig erklärt und XXXX gemäß
§ 54 Abs. 1 Z 1 Asylgesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (AsylG), in der Fassung BGBl. I
Nr. 87/2012, iVm § 55 Abs. 1 Z 1 und Z 2 Asyl, in der Fassung BGBl. I Nr. 56/2018, jeweils der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ für die Dauer von zwölf Monaten erteilt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz,
BGBl Nr. 1/1930 (B-VG), in der Fassung BGBl. I Nr. 51/2012, nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

Die erste beschwerdeführende Partei (P1) ist die Mutter der (mittlerweile) volljährigen zweiten beschwerdeführenden Partei (P2) und der minderjährigen dritten und vierten beschwerdeführenden Parteien (P3 und P4). P1 ist mit dem Vater ihrer Kinder, Herrn XXXX , standesamtlich verheiratet.

1. Der Ehegatte von P1 brachte nach dessen illegaler Einreise am 06.01.2013 einen Antrag auf internationalen Schutz ein, P1 bis P4 stellten am 28.01.2014 ihre Anträge auf internationalen Schutz, nachdem sie ebenfalls zu einem nicht feststellbaren Zeitpunkt illegal in das österreichische Bundesgebiet eingereist waren.

Anlässlich einer niederschriftlichen Erstbefragung am 28.01.2014 gab P1 zusammengefasst an, der Volksgruppe der Armenier anzugehören und christlichen Glaubens zu sein. P1 sei mit P2 bis P4 von ihrem Heimatort XXXX aus am 10.01.2014 problemlos legal mit armenischen Reisepässen über den internationalen Flughafen von XXXX nach XXXX ausgereist und später weiter illegal nach Österreich gekommen. P1 habe ausschließlich wegen den Gründen ihres Ehegatten Probleme gehabt und sei geflüchtet, mit den armenischen Behörden habe P1 keinerlei Probleme. P2 bis P4 hätten keine eigenen Asylgründe: „…Mein Mann musste im Jahr 2012 Armenien aufgrund seiner Probleme verlassen. Er hat mir keine Einzelheiten über seine Schwierigkeiten erzählt, er sagte mir lediglich, dass er etwas beobachtete, was er hätte nicht sehen dürfen. Danach bekam ich immer wieder anonyme Anrufe. Die Anrufer wollten den Aufenthaltsort meines Mannes wissen bzw. verlangten von mir Geld und behaupteten, dass mein Mann Geld schuldig sei. Sie drohten, falls ich nicht bezahle, würden sie mir und meinen Kindern etwas Schlimmes antun. Ich habe diese Aussagen aber nicht ernst genommen. Bis ich dann am 03.11.2013 mit meinem Sohn XXXX am Nachhause-Weg plötzlich von 2 maskierten Männern angegriffen wurden. Wir wurden geschlagen, die Männer verlangten wieder Geld und wollten auch wissen, wo sich mein Mann aufhalte. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt 60.000 Dram und ein Handy, die Männer nahmen mir alles ab. Ich bin dann bewusstlos geworden, als ich zu mir kam, stellte ich fest, dass ich mich im Krankenhaus befinde. Nach einem Tag habe ich das Krankenhaus auf eigene Verantwortung verlassen. Am 27.12.2013 wurde mein Sohn XXXX , der mit dem Fahrrad unterwegs war, von einem dunklen Auto von der Straße gedrängt, der Wagen wollte ihn überfahren. Mein Sohn ist dann gegen eine Mauer gefahren und hat sich dabei verletzt. Ich bekam später immer wieder Drohanrufe, nach diesen Vorfällen habe ich diese auch ernst genommen. Aus diesem Grund habe ich mein Land verlassen, da ich Angst um mich und meine Kinder hatte. Das ist mein Fluchtgrund, andere habe ich nicht.“

Im Zuge der niederschriftlichen Befragung am 25.10.2016, datiert mit 05.10.2016, wurde ein Konvolut von Unterlagen vorgelegt und P1 gab neu an wegen der Probleme ihres Ehegatten sogar vergewaltigt worden zu sein. P1 legte eine kaum leserliche ärztliche Bestätigung aus der Republik Armenien vor, die nachweisen sollte, dass P1 wegen der Probleme ihres Ehegatten fast ein Jahr vor der Ausreise vergewaltigt wurde, in Folge an einer Geschlechtskrankheit litt und mit Hilfe starker Medikamente drei Monate lang für ihre Gesundheit kämpfen haben müssen (siehe die dazu vom Bundesverwaltungsgericht veranlassten Erhebungen in der Republik Armenien: Verfahrensgang 2. auf Seite 10 1. Absatz dieses Erkenntnisses):

F: Haben Sie irgendwelche Krankheiten und wenn ja, welche?

A: Ich habe Migräne und darunter leide ich.

[…]

F: Können Sie Unterlagen zu Ihrem Gesundheitszustand wie etwa ärztliche Schreiben, Befunde, Überweisungen, Rezepte, etc. vorlegen? Wenn nein, werden Sie aufgefordert, innerhalb von zwei Wochen aktuelle ärztliche Bescheinigungen vorzulegen.

A: Ja.

XXXX

XXXX

XXXX

XXXX

XXXX

XXXX

XXXX

XXXX

[…]

F: Haben Sie sich mittlerweile irgendwelche Dokumente besorgt?

A: Ja ich lege folgende Unterlagen vor:

?        Unterlagen Sprachkurse

?        Diverse Unterstützungsschreiben

?        Diverse Fotos

?        Zeitungsbericht

[…]

F: Haben Sie irgendwelche Personaldokumente oder andere Dokumente in Österreich, die Sie noch nicht vorgelegt haben?

A: Ja. Ich lege die Heiratsurkunde und die Geburtsurkunden der Kinder vor.

[…]

F: Unter welchen Lebensumständen haben Sie gelebt?

A: Ich bin im Dorf XXXX geboren und aufgewachsen. Ich habe dort 10 Jahre die Mittelschule besucht. Danach habe ich XXXX gelernt. Im Jahr XXXX habe ich geheiratet. Gleich im Jahr XXXX ist unser erster Sohn geboren worden. Ich habe gearbeitet. Wir hatten ein Haus und eine Landwirtschaft. Wir lebten in guten wirtschaftlichen Verhältnissen.

F: Hat Ihre Familie irgendwelche Besitztümer in Ihrem Heimatland, z.B. Häuser, Grund?

A: Wir haben einen Grund und zwei Häuser.

[…]

A: Seit dem Jänner 2012 war mein Mann sehr gereizt und genervt gewesen. Am 04.02.2012 kam er nach Hause mit körperlichen Verletzungen. Überall hatte er Wunden und Prellungen und Blut. Er hatte offensichtlich auch Kopfverletzungen und sonst hat er sich über seine linke Seite beklagt, dass er dort Schmerzen hat. Ich war sprachlos. Ich habe ihn gefragt, was geschehen ist. Er hat gereizt reagiert und er hat gesagt, ich soll ihn in Ruhe lasse, er habe große Probleme. Ich habe seine Wunden gepflegt und versucht mit ihm zu sprechen. Er hat sich in ein Zimmer eingesperrt und wollte nicht reden. Er hat sich über Rückenschmerzen beklagt und am 14.05.2012 wurde er operiert. Am 18.05.2012 wurde er entlassen. Trotz seines noch nicht guten Gesundheitszustandes ist er am 20.05.2012 in die Arbeit gegangen. Ich habe ihn versucht zu überreden, noch zu Hause zu bleiben und zu schonen. Daraufhin hat er gesagt, dass er in die Arbeit muss. Er arbeitete zu der Zeit und war fast immer in einem sehr schlechten Zustand. Er war schlecht gelaunt und nachdenklich. Er wollte nie zu Hause über die Arbeit reden, wenn ich ihn darauf angesprochen habe. Am 19.08.2012 hat er gesagt, dass er jetzt Urlaub bekommen hat, worüber er sich sehr freute. Am 20.08.2012 ist er nach Georgien ohne uns, aber mit einem Freund in den Urlaub gefahren. Mein Mann hatte zwei Handys. Ein Diensthandy und ein privates Handy. Sein Diensthandy hat er während seines Urlaubs zu Hause gelassen, damit er nicht gestört wird. Nachdem mein Mann im Urlaub war, am fünften Tag kamen zwei Männer zu uns und sagten, dass sie aus der Firma meines Mannes wären. Er soll bitte umgehend in die Arbeit zurückkommen, wenn er aus dem Urlaub kommt. Ich habe gleich danach meinen Mann angerufen und erzählt, dass wir Besuch hatten. Am 26.08.2012 kam mein Mann aus dem Urlaub zurück und am 27.08.2012 ging er gleich in die Arbeit. Am 27.08.2012 nachts sehr spät, kam mein Mann aus der Arbeit nach Hause mit Verletzungen. Er wurde geschlagen und war aufgewühlt. Er weinte. In so einem Zustand habe ich ihn noch nie gesehen. Ich habe versucht zu erfahren was passiert ist. Er konnte kaum reden. Er hat mir gesagt, dass diese Leute von ihm 30.000.000 Dram verlangen. Er soll dieses Geld bezahlen, sonst bekommt er große Probleme. Wir haben am Abend beschlossen, dass er untertauchen soll, er soll sich verstecken. Dennoch in Armenien bleiben soll, aber sich an einem anderen Ort aufhalten soll. Ich wusste seinen Aufenthaltsort nicht. Aber ich wusste, dass er in Armenien war. Ab und zu hatten wir Kontakt. Wir hatten eine extra Karte mit einer neuen Nummer genommen, damit wir in Kontakt bleiben konnten. Gleich nach zwei Tagen haben Leute uns angerufen und nachgefragt, wo mein Mann ist. Ich habe gesagt, dass ich nicht weiß, wo mein Mann ist. Wir haben uns getrennt. Wir haben Probleme und ich kann nicht sagen, wo er ist. Am 10.09.2012 habe ich meinen Sohn XXXX zur Sportstunde begleitet. Am Eingang hat uns ein Mann mitgeteilt, dass sie keinen Platz mehr für meinen Sohn haben. Er soll bitte nicht mehr zum Sport kommen. Ich habe sofort geahnt, was die Sache ist. Mein Sohn wurde von der Sportschule entfernt. Er war sehr traurig. Im September habe ich dreimal die Gebühren unseren Laden bekommen, dass ich Strafe bezahlen muss. Ich wusste nicht, um welche Ordnungsgelder es sich handelt. Am 15.09.2012 kamen zwei Männer mit einem silbernen Jeep, Kennzeichen 21021, zu uns nach Hause. Sie haben nach meinem Mann gefragt. Sie waren sehr aggressiv. Sie sagten, dass er ihnen Geld schuldet. Ich habe gesagt, dass ich es nicht weiß und keine Ahnung habe wo er ist. Sie sollen mich in Ruhe lassen und dass ich keine Information habe. Irgendwann sind sie gegangen. Ich habe meinem Mann erzählt, dass diese Männer gekommen sind und ich Ordnungsgelder bekommen habe. Er hat gesagt, wir sollen den Laden schließen. Bis Ende September habe ich alle Waren ausverkauft und den Laden geschlossen. Wir haben uns mit meinem Mann in der Zeit, als er sich versteckte, zwei, drei Mal mit den Kindern getroffen. Das war in XXXX auf dem Markt XXXX . Er hat erzählt, dass er wahrscheinlich ins Ausland gehen soll, weil er ja so nicht weiter versteckt leben kann. Außerdem habe ich meinem Mann gesagt, dass diese Leute zwei, dreimal in der Woche stören und das geschah auch im Oktober, November, Dezember zweimal die Woche kamen und fragten, wo mein Mann und das Geld sind. Am 30.12.2012 hat mein Mann mich angerufen und gesagt, dass er unsere Kinder sehen will. Wir haben uns im Haus meiner Oma im Dorf XXXX getroffen. Mein Mann hat kurze Zeit mit unseren Kindern verbracht und ist gegangen. Er hat mir erzählt, dass er einen Mann kennen gelernt hat, der ihm bei der Ausreise helfen wird. Er hat sein Auto verkauft und hat damit seine Reise bezahlt. Am 08.01.2013 habe ich das erste Mal dann von ihm gehört. Er hat angerufen und hat gesagt, dass er in Europa ist, aber nicht in welchem Land. Nach 15 Tagen hat er mich angerufen und sagte, dass er in Österreich ist. Diese Leute haben mich nicht mehr in Ruhe gelassen. Sie meinten, mein Mann solle sich selber denen stellen, sonst würden sie ihn umbringen, wenn sie ihn finden. (AW beginnt zu weinen) Dann ist etwas Grausames passiert, was keiner Frau passieren darf. Am 01.03.2013 bin ich zu unserem Grundstück gegangen. Es war schon früher Abend – 4 oder 5 Uhr. Ich war alleine und dann man ein schwarzes Auto vorbei und ist angehalten. Ein Mann ist ausgestiegen. Er hat mich gefragt, wo mein Mann ist. Ich habe gesagt, dass er mich in Ruhe lassen soll, ich weiß es nicht. Daraufhin hat er mich gepackt und ins Auto geworfen. Er hat mir gesagt, dass ich den Aufenthaltsort meines Mannes verheimliche. Sie wissen jeden Schritt von mir und ich soll ihnen sagen, wo er ist. Dann haben sie mich hin und her geschupst und geschlagen. Dann haben mich diese zwei Männer vergewaltigt. Am nächsten Tag zu Mittag haben sie mich zurückgebracht. Die ganze Nacht davor bin ich dort geblieben. Am nächsten Tag haben sie mich zurückgebracht. Ich war in einem sehr schlechten Zustand. Mir ging es sehr schlecht. Ich wollte mich umbringen. Dann habe ich aber meine Kinder vor meinen Augen gehabt und deren Hilflosigkeit. Ich habe nur gedacht, was soll mit meinen Kindern passieren. Nur wegen meinen Kindern habe ich meinem Leben kein Ende gesetzt. Ich habe alle gehasst, ich habe die ganze Welt gehasst. Ich habe meinen Mann gehasst. Ich habe furchtbare Schmerzen erlitten. Aber ich habe auch da nicht gesagt, wo mein Mann ist. Danach haben sie mich einen Monat in Ruhe gelassen und keiner hat sich gemeldet. Danach haben sie sich gemeldet und gesagt, dass ich nach all dem den Aufenthaltsort meines Mannes verraten soll. Angeblich hat es mir auch gefallen, was geschehen ist, wenn ich es immer noch geheim halte und eine Wiederholung wünsche. Danach geschah noch etwas ganz schlimmes. Danach habe ich mich ganz schlecht gefühlt, bin aber nicht zum Arzt gegangen. Ende Mai 2013 war ich auf unserem Grund. Es ist mir so schlecht geworden. Ich hatte Probleme im Unterleib. Dann bin ich zum Arzt gegangen. Dann haben sie gesagt, dass ich eine Geschlechtskrankheit habe. Am 07.06.2013 habe ich von dem Arzt starke Medikamente verschrieben bekommen, gegen meine Infektion. Der Arzt meinte, dass ich diese Medikamente nehmen müsse, um gesund zu werden. Der Arzt meinte, dass die Behandlung drei Monate dauern wird. Ich sollte dafür kämpfen, gesund zu werden. Ich weiß nicht, wie ich in mir die Kraft gefunden habe, das ganze überstehen zu können. Wenn ich manchmal an diese Tage denke, wird mir so schlecht, dass ich einfach sterben möchte. Im September 2013 haben sie mich wieder kontaktiert. Ich bin oft nicht rangegangen, wenn ich wusste, dass es diese Leute waren. Wenn ich abgenommen habe und sah, dass es diese Leute waren, habe ich geschrien und geschimpft. Meine Kinder haben es mitbekommen, dass es mir sehr schlecht geht. Über den wahren Grund habe ich natürlich nichts erzählt. Ich habe nur gesagt, dass es mir nicht gut geht. Oft habe ich meine Kinder zu meiner Mutter geschickt. Freitag, Samstag, Sonntag waren sie meistens bei meiner Mutter. Ich hatte große Sorge um meine Kinder, weil ich aus meiner eigenen Erfahrung wusste, wozu diese Menschen bereit sind. Ich habe meinem Mann gesagt, dass diese Leute uns stören, sich immer wieder melden. Ich habe ihm über diesen Vorfall und die Infektion nichts erzählt. Ich wollte generell nicht mit ihm reden. Ich habe ihm vor einem Monat darüber erzählt. Er hat extremen Stress erlebt. Er war in einem sehr schlechten Zustand danach, als er das erfahren hat. Anfang Oktober 2013 haben sie mich nochmal angerufen und Ende Oktober. Sie haben mich übelst beschimpft und bedroht und gesagt, dass mir das gleich wieder passieren wird. Sie haben gesagt, dass ich es ernst nehmen soll. Am 01.10.2013 zwischen 24 Uhr und 1 Uhr nachts kamen zwei Leute zu uns nach Hause. Das waren die gleichen Leute. Einer stand in der Tür und der andere kam rein. Ich habe extreme Angst bekommen. In unserem Haus hatte ich überall Verteidigungsgegenstände versteckt. Sogar ein Messer und meinem Kissen. Sonst überall irgendwelche Sachen, für den Fall der Verteidigung. Als er reinkam, bin ich ins Zimmer gelaufen, um das Messer zu holen. Er kam mir nach. Ich habe das Messer genommen und damit ihn attackiert. Ich habe seine Hand verletzt. Ich habe die ganze Zeit laut geschrien und gerufen, damit jemand zu Hilfe kommt. Als er verletzt wurde, hat er sich umgedreht, weiter geschimpft und er ging weg. Ich habe laut geschrien und gerufen. Dann hat er beim Verlassen unseres Hauses gesagt, dass wir es verantworten werden. Am 06.11.2013 ist noch ein schrecklicher Vorfall passiert, was ich nie wieder vergessen werde. Ich bin in den Laden gegangen, um ein paar Privatgegenstände abzuholen, die dort noch gelegen sind. Ich war mit dem XXXX unterwegs. An der Kreuzung hat ein schwarzes Auto angehalten. Da sind zwei Leute ausgestiegen und haben uns geschlagen und beschimpft. Sie haben nach meinem Mann gefragt und mich bedroht. Aus meiner Hand haben sie das Handy gerissen und nach der Nummer von XXXX gesucht. Sie haben die alte Nummer von XXXX gewählt und sie sind aggresiv geworden, dass keiner antwortete. Ich hatte 60.000 Dram dabei, die sie mir weggenommen haben. Sie haben meinen Sohn am Hals gepackt. Das hat mich so benommen, dass ich sofort die Männer attackiert habe. Sie wollten meinem Kind etwas antun. Diese Leute haben mich auch geschupst. Ich bin gegen eine Wand gestoßen und in Ohnmacht gefallen. Als ich kurz zu mir kam, saß ich im Auto von diesen Männern. Ich habe nach meinem Sohn gerufen. Ich habe gesehen, dass er neben mir sitzt. Dann habe ich wieder mein Bewusstsein verloren. Danach kam ich zu mir in einem Klinik, mit einer Infusion an der Hand. Als ich gefragt habe, wo ich bin und wie ich hier her kam, hat mir die Krankenschwester gesagt, dass ich von einem Mann und einer Frau hingebracht wurde. Aber ich wusste, dass es nicht so war, weil ich gesehen habe, dass ich im Auto von diesen Leuten war. XXXX war auch in der Klinik mit mir. Er hatte Prellungen an den Armen und an den Beinen. Er hatte nichts Ernstes. Ich habe seit jener Zeit bleibende Schäden an den Fingern. Ich habe dort ein Taubheitsgefühl und sie verkrampfen. Ich wollte nach Hause. Ich habe der Krankenschwester gesagt, dass ich entlassen werden möchte. Sie sagte, dass das nicht möglich sei. In der Nacht habe ich heimlich die Klinik verlassen. Ich bin mit meinem Sohn mit dem Taxi nach Hause gefahren. Als ich nach Hause kam, habe ich meinen Bruder angerufen und gesagt, dass er zu mir kommen soll. Ich habe es ihm erzählt, was passiert ist an diesem Tag und dass er niemanden darüber erzählen soll. Am Morgen darauf habe ich meinen Mann angerufen. Ich habe erzählt, dass diese Leute uns attackiert haben. Er hat gesagt, dass ich alles verkaufen soll, was möglich ist und ich zu ihm kommen soll und Armenien verlassen soll. Ich kann dort nicht weiter leben. Ich habe als erstes gedacht, was ich alles verkaufen kann. Ich konnte den Laden verkaufen, weil der Nachbar eine Tankstelle hatte und wahrscheinlich war, dass er meinen Laden kaufen könnte. Ich habe ihn um 14.000 Dollar verkauft. Ich habe einen Teil unseres Grundstückes verkauft und Gold verkauft. Ich habe meinen Bruder gebeten, dass er sich informiert und uns eine Reise organisiert. In der Zeit haben sie mich weiterhin kontaktiert. Sie haben uns nicht in Ruhe gelassen. Am 27.12.2013 war mein älterer Sohn mit dem Fahrrad zu seinem Freund unterwegs. Ein schwarzes Auto ist auf ihn zugefahren, dass er sich an die Wand gedrückt hat und vom Fahrrad gefallen ist in einen Bach. Er hat eine Verletzung an der Hand erlitten. Es war kein Bruch. Eine Homöopathin hat geholfen, dass diese Verletzung heilt. Mein Sohn hat Stress gehabt und hat auch gesagt, dass das Auto absichtlich auf ihn zugefahren ist. Ich habe versucht ihm zu sagen, dass es ein Unfall war und er keine Angst haben soll. Meine Kinder haben richtigen Stress erlebt. Sie haben manchmal sich nicht getraut alleine zu bleiben. Wenn ich duschen ging, hat mein mittlerer Sohn immer gebeten, dort während des Duschens im Bad zu stehen, weil er nicht ohne mich bleiben kann. Mein Sohn ist jetzt auch sehr kontaktscheu. Er redet nicht viel. In der Schule redet er kaum. Die Lehrer sagen, dass XXXX sich nicht meldet und kein Wort spricht. Zu Hause ist er auch immer sehr ruhig in einer einsamen Ecke. Meine Kinder haben Angst – wir wohnen im ersten Stock. Sie haben Angst ins Erdgeschoss zu gehen, Wasser zu holen. Mit dreizehn Jahre hat mein Sohn Angst runter zu gehen, wenn es dunkel ist. Ich lasse immer die Schlafzimmertür offen, um einschlagen zu können. Ich weiß nicht, woher ich heute diese Kraft hatte, alles durchzustehen. (Ende der freien Erzählung)

[…]

F: Sie werden nochmals auf das Neuerungsverbot im Beschwerdeverfahren aufmerksam gemacht. Ich frage Sie daher jetzt nochmals, ob Sie noch etwas Asylrelevantes angeben möchten oder etwas vorbringen möchten, was Ihnen wichtig erscheint, ich jedoch nicht gefragt habe?

A: Nein, ich habe alles erzählt. Ich habe keine weiteren Gründe mehr vorzubringen...“

Mit Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 21.04.2017, Zahlen
1) 14-1000929603-14055859, 2) 14-1000929701-14055930, 3) 14-1000929810-14055948 und 4) 14-1000929309-14055905, wurden die Anträge auf internationalen Schutz vom 28.01.2014, jeweils in Spruchpunkte I. bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG und in Spruchpunkte II. gemäß
§ 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Armenien abgewiesen. In den Spruchpunkten III. wurde gemäß § 57 AsylG Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt (1. Satz), gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG gegen die Beschwerdeführer Rückkehrentscheidungen gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (2. Satz) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebungen der Beschwerdeführer nach Armenien gemäß § 46 FPG zulässig sind (3. Satz). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidungen festgesetzt (Spruchpunkte IV.). Mit Verfahrensanordnungen vom 24.04.2017 wurden P1 bis P4 gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG ein Rechtsberater amtswegig zur Seite gestellt.

Gegen diese Bescheide, zugestellt am 26.04.2017, erhob P1 fristgerecht am 09.05.2017 für sich und P2 bis P4 die gegenständlichen Beschwerden.

2. Die Beschwerdevorlagen vom 10.05.2017 langten am 12.05.2017 im Bundesverwaltungsgericht ein und wurden einer Gerichtsabteilung zur Erledigung zugewiesen. Am 07.12.2017 wurde ein Konvolut an fremdsprachigen Unterlagen vorgelegt. Am 20.08.2018 wurde ein Konvolut an Unterlagen zur Integration der Beschwerdeführer seitens des zur Vertretung bevollmächtigten Rechtsvertreters vorgelegt.

Am 23.10.2018 wurden die Verfahren einer anderen Gerichtsabteilung zur Erledigung zugewiesen und am 18.11.2018 ein Konvolut an fremdsprachigen Unterlagen sowie Unterlagen zur Integration der Beschwerdeführer vorgelegt.

Aus einer mit Zustimmung von P1 und ihres Ehegatten vom Bundesverwaltungsgericht veranlassten Erhebungen in der Republik Armenien bzw. der am 24.12.2020 eingelangten Anfragebeantwortung über den Vertrauensanwalt in der Republik Armenien, geht unter anderem hervor:

„…Lässt sich über die Nachbarn eruieren, ob sich am 01.10.2013 nachts ein Überfall im Haus XXXX auf die Ehegattin der beschwerdeführenden Partei ereignete, bei welchem sie laut geschrien und sich mit einem Messer verteidigt hat?

Ermittlungen vor Ort wurden durchgeführt. Die häufigsten Antworten, die ich dort erhielt, lauteten: „ich weiß es nicht“, „niemals gehört“. Tatsächlich hat niemand das angegebenen Ereignis bestätigt.

[…]

Hinsichtlich der Ehegattin der beschwerdeführenden Partei wurde ein medizinischer Befund (vgl. Beilage, XXXX vorgelegt, dessen Inhalt – mangels Lesbarkeit - nicht zur Gänze übersetzt werden konnte. Kann vom ausstellenden Arzt bestätigt werden, dass mit diesem Befund entweder eine Vergewaltigung (01.03.2013) oder Übertragung einer Geschlechtskrankheit bewiesen ist?

Ich habe die Angelegenheit mit Frau XXXX einer Ärztin, die die Ehefrau der beschwerdeführenden Partei untersucht und das Dokument ausgestellt hat, besprochen.

Sie hat bestätigt, dass das Dokument von ihr ausgestellt worden ist. Sie erklärte, dass kein wichtiges Problem während der Ultraschalluntersuchung festgestellt worden wäre. Laut ihren Angaben wurde eine leichte Entzündung im Beckenbereich festgestellt, welche nicht durch eine Vergewaltigung beziehungsweise eine sexuell übertragbare Geschlechtskrankheit verursacht werden hätte können…“ (schriftliche Ausfertigung des am XXXX mündlich verkündeten Erkenntnisses des Bundesverwaltungsgerichts vom XXXX .

Die Verfahren wurden am 01.02.2021 der nunmehr zur Erledigung berufenen Gerichtsabteilung zugewiesen.

Im Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts im zweiten Asylverfahren des Ehegatten von P1 wird unter anderem festgestellt: „…Es kann nicht festgestellt werden, dass die bP den von ihr behaupteten Gefährdungen ausgesetzt war bzw. im Falle einer Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit solchen Gefährdungen ausgesetzt wäre. Insbesondere steht fest, dass die bP im Herkunftsstaat nicht gesucht wird, nicht vom ehemaligen Arbeitgeber verfolgt wird und auch keinerlei unrechtmäßige Verfahren gegen sie durchgeführt wurden...“ schriftliche Ausfertigung des am XXXX mündlich verkündeten Erkenntnisses des Bundesverwaltungsgerichts vom XXXX ). Begründend wird unter anderem ausgeführt, dass erhebliche Zweifel an der persönlichen Glaubwürdigkeit des Ehegatten von P1 bestehen, bereits das Vorbringen im ersten Asylverfahren war nicht glaubhaft und auch nicht jenes im zweiten Asylverfahren, zudem hat der Ehegatte von P1 dieses auch noch bis zuletzt in der Beschwerdeverhandlung gesteigert (schriftliche Ausfertigung des am XXXX mündlich verkündeten Erkenntnisses des Bundesverwaltungsgerichts vom XXXX ).

Mit Ladungen vom 11.06.2021 wurde für den 27.08.2021 zur Ermittlung des maßgeblichen Sachverhaltes eine öffentliche mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht anberaumt, zu welcher P1, zugleich auch als gesetzliche Vertreterin der minderjährigen P3 und P4, und der mittlerweile Volljährige P2, in Begleitung ihres Rechtsanwalts, erschienen. Das ordnungsgemäß geladene Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl hatte sich bereits vorab mit Schreiben vom 16.06.2021 entschuldigt und war nicht erschienen. Zu Beginn der Verhandlung gaben P1 und P2 bekannt, dass sie ihre Beschwerden bzw. P1 auch für die minderjährigen P3 und P4 gegen die Spruchpunkte I., II. und III. 1. Satz der erstinstanzlichen Bescheide zurückziehen. Das Bundesverwaltungsgericht räumte den Verfahrensparteien eine zweiwöchige Frist zur Abgabe von Stellungnahmen ein.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat über die zulässigen Beschwerden erwogen:

1. Feststellungen:

a) Zu den persönlichen Verhältnissen der Beschwerdeführer:

Die Identitäten der Beschwerdeführer stehen nicht fest. P1 hat glaubhaft gemacht die Mutter des mittlerweile volljährigen P2 und der minderjährigen P3 und P4 zu sein. Alle Beschwerdeführer sind Staatsangehörige der Republik Armenien, gehören der Volksgruppe der Armenier an und sind christlichen Glaubens. Die Muttersprache der Beschwerdeführer ist Armenisch, darüber hinaus sprechen P1 und P2 auch sehr gut Deutsch.

Vor der problemlosen legalen Ausreise am 10.01.2014 lebte P1 mit ihren Kinder P2 bis P4 in XXXX , ihr Ehegatte Herr XXXX lebte zu diesem Zeitpunkt bereits als Asylwerber in Österreich. Die Eltern von P1 sowie ein Bruder und eine Schwester leben nach wie vor im XXXX

b) Zu den bisherigen Verfahrensverläufen:

Im ersten Asylverfahren des Ehegatten von P1 und Vaters von P2 bis P4, Herrn XXXX , wurde dessen erster Antrag auf internationalen Schutz mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 06.09.2013 gemäß § 3 Abs 1 AsylG abgewiesen und der Status eines Asylberechtigten nicht zuerkannt (Spruchpunkt I.). Gemäß
§ 8 Abs 1 Z 1 AsylG wurde der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Armenien nicht zugesprochen (Spruchpunkt II.). Gemäß § 10 Abs 1 Z 2 AsylG wurde die Ausweisung aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Armenien verfügt (Spruchpunkt III.). Eine dagegen erhobene Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom XXXX , Zahl XXXX , rechtskräftig abgewiesen.

Der Ehegatte von P1, Herr XXXX , befindet sich bereits seit 06.01.2013 in Österreich. Es wurde auch dessen zweiter Antrag auf internationalen Schutz, mit Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl, vom XXXX , gemäß
§ 3 Abs 1 AsylG abgewiesen und der Status eines Asylberechtigten nicht zuerkannt (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs 1 Z 1 AsylG wurde der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Armenien nicht zugesprochen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 wurde nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Ehegatten von P1 eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung nach Armenien gemäß § 46 FPG zulässig sei. Eine Frist zur freiwilligen Ausreise wurde mit 14 Tagen gewährt.

P1 bis P4 reisten im Jahr 2014 problemlos legal mit ihren armenischen Auslandsreispässen über den internationalen Flughaften aus der Republik Armenien aus, zu einem nicht feststellbaren Zeitpunkt illegal nach Österreich ein und stellten hier am 28.01.2014 Anträge auf internationalen Schutz. Mit Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 21.04.2017, Zahlen 1) 14-1000929603-14055859, 2) 14- 1000929701-14055930, 3) 14-1000929810-14055948 und 4) 14-1000929309-14055905, wurden die Anträge auf internationalen Schutz von P1 bis P4 vom 28.01.2014, wegen der unglaubwürdigen Behauptungen von P1 zu ihren angeblichen Problemen in der Republik Armenien jeweils in Spruchpunkte I. bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG und in Spruchpunkte II. gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Armenien abgewiesen. In den Spruchpunkten III. wurde gemäß § 57 AsylG Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt (1. Satz), gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG gegen die Beschwerdeführer Rückkehrentscheidungen gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (2. Satz) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebungen der Beschwerdeführer nach Armenien gemäß § 46 FPG zulässig sind (3. Satz). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidungen festgesetzt (Spruchpunkte IV.).

Gegen diese Bescheide, zugestellt am 26.04.2017, erhob P1 fristgerecht am 09.05.2017 für sich und P2 bis P4 die gegenständlichen Beschwerden.

Eine im zweiten Asylverfahren des Ehegatten von P1 erhobene Beschwerde wurde mittlerweile mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts XXXX , wegen der unglaubwürdigen Angaben von P1 zu seinen frei erfundenen Problemen in der Republik Armenien abweisende entschieden. P1 bis P4 hatten mit den Behörden der Republik Armenien keinerlei Probleme. P1 hat im Asylverfahren behauptet, ausschließlich wegen der von ihrem Ehegatten behaupteten Probleme, im Herkunftsstaat Probleme bekommen zu haben, sie sei deswegen misshandelt und am 01.03.2013 vergewaltigt worden, in Folge habe sie an eine Geschlechtskrankheit gelitten und mit Hilfe starker Medikamente drei Monate lang für ihre Gesundheit kämpfen müssen.

Aus einer mit Zustimmung von P1 und ihres Ehegatten vom Bundesverwaltungsgericht veranlassten Erhebungen in der Republik Armenien bzw. der am 24.12.2020 eingelangten Anfragebeantwortung über den Vertrauensanwalt in der Republik Armenien, geht unter anderem hervor:

„…Hinsichtlich der Ehegattin der beschwerdeführenden Partei wurde ein medizinischer Befund (vgl. Beilage, XXXX vorgelegt, dessen Inhalt – mangels Lesbarkeit - nicht zur Gänze übersetzt werden konnte. Kann vom ausstellenden Arzt bestätigt werden, dass mit diesem Befund entweder eine Vergewaltigung (01.03.2013) oder Übertragung einer Geschlechtskrankheit bewiesen ist?

Ich habe die Angelegenheit mit Frau XXXX einer Ärztin, die die Ehefrau der beschwerdeführenden Partei untersucht und das Dokument ausgestellt hat, besprochen.

Sie hat bestätigt, dass das Dokument von ihr ausgestellt worden ist. Sie erklärte, dass kein wichtiges Problem während der Ultraschalluntersuchung festgestellt worden wäre. Laut ihren Angaben wurde eine leichte Entzündung im Beckenbereich festgestellt, welche nicht durch eine Vergewaltigung beziehungsweise eine sexuell übertragbare Geschlechtskrankheit verursacht werden hätte können…“ (schriftliche Ausfertigung des am XXXX mündlich verkündeten Erkenntnisses des Bundesverwaltungsgerichts vom XXXX .

Für den 27.08.2021 wurde zur Ermittlung des maßgeblichen Sachverhaltes eine öffentliche mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht anberaumt, zu welcher P1, zugleich als gesetzliche Vertreterin der minderjährigen P3 und P4, sowie der mittlerweile volljährigen P2, in Begleitung ihres Rechtsanwalts, erschienen. Kurz nach Beginn der Verhandlung zogen P2 und P1 für sich sowie P3 und P4, die Beschwerden gegen die Spruchpunkte I. und II. sowie Spruchpunkte III. 1. Satz der erstinstanzlichen Bescheide zurück (Verhandlungsschrift Seite 08f).

c) Zum Privat- und Familienleben der Beschwerdeführer in Österreich:

P1 bis P4 reisten problemlos legal mit ihren armenischen Auslandsreisepässen über einen internationalen Flughafen aus ihrem Herkunftsstaat aus und zu einem nicht feststellbaren Zeitpunkt illegal in das Bundesgebiet ein, wo am 28.01.2014 Anträge auf internationalen Schutz gestellt wurden. Der Ehegatte von P1 und Vater von P2 bis P4 befand sich zu diesem Zeitpunkt bereits in Österreich, alle Beschwerdeführer halten sich seither durchgehend im Bundesgebiet auf.

Nach Zustellung der Ladung vom 11.06.2021, für die Beschwerdeverhandlung am 23.08.2021, wurde P1 mit Bescheid des Arbeitsmarktservice XXXX , vom XXXX eine Beschäftigungsbewilligung vom XXXX (bzw. Geltungsdauer bis XXXX ) für die berufliche Tätigkeit als XXXX erteilt, diese Ganztagsbeschäftigung gelte im Ausmaß von 40 Wochenstunden und einem Bruttomonatsentgelt in Höhe von EUR XXXX ,-.

P2 legte in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht sein Jahreszeugnis der Höheren technischen Bundeslehr- und Versuchsanstalt (HTL), datiert mit XXXX vor (Deutschnote 4).

Für P3 und P4 wurden in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht Schulzeugnisse vorgelegt, für P3 XXXX (Deutschnote 3), und für P4 XXXX (Deutschnote 3), beide datiert mit XXXX .

Konvolute von Empfehlungsschreiben und Integrationsunterlagen, in allen Akten von P1 bis P4, zeigen ein laufendes Bemühen um Integration in die jeweiligen Klassengemeinschaften bzw. in die Ortsgemeinschaft und zeugt von Kooperationsbemühungen aller Beschwerdeführer.

2. Beweiswürdigung:

a) Zu den persönlichen Verhältnissen der Beschwerdeführer:

Die Identitäten der Beschwerdeführer können mangels Vorlage staatlicher Identitätsdokumente mit Lichtbild im Original nicht festgestellt werden; so wurden nicht einmal die armenischen Auslandsreisepässe bis dato vorgelegt. Die Eheschließung und die Verwandtschaft wurden auf Grund der vorgelegten armenischen Eheschließungsurkunde und den Geburtsurkunden der Kinder zumindest glaubhaft gemacht; diese können jedoch, mangels Lichtbilder, nicht zum Nachweis der Identität herangezogen werden. Die Feststellungen zu Staatsangehörigkeit, Volksgruppenzugehörigkeit und Glauben beruhen auf den diesbezüglich gleichbleibenden Behauptungen von P1 und P2. Die Feststellungen zu den Sprachkenntnissen von P1 und P2 beruhen auf eigenen Angaben der Beschwerdeführer und der richterlichen Wahrnehmung in der öffentlich mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 27.08.2021.

b) Zu den bisherigen Verfahrensverläufen:

Die Feststellungen zu den bisherigen Verfahrensverläufen von P1 bis P4 ergeben sich aus den gegenständlichen Akten des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl und des Bundesverwaltungsgerichts; bezüglich des Ehegatten von P1 aus den Akten des Bundesverwaltungsgerichts zu seinen beiden Asylverfahren, Zahlen XXXX

c) Zum Privat- und Familienleben der Beschwerdeführer in Österreich:

Die Feststellungen zum Privat- und Familienleben der Beschwerdeführer in Österreich beruhen auf den Vorbringen von P1 und P2 im Lauf der gegenständlichen Verfahren und den vorgelegten Unterlagen sowie auf Abfragen in den entsprechenden amtlichen österreichischen Registern (Zentrales Melderegister, Zentrales Fremdenregister, Grundversorgungs-Informationssystem, Strafregister) und den schriftlichen Stellungnahmen samt vorgelegten Unterlagen, insbesondere aus den vorgelegten Bestätigungen und Schreiben, den Zertifikaten über die bestandene Deutschprüfung von P1 zu A1 und A2, der Bestätigungen über diverse Kurse, Unterschriftenlisten, Empfehlungsschreiben, den Schulbesuchsbestätigungen und Zeugnissen von P2 bis P4, sowie den Unterstützungsschreiben zum Beleg des sozialen Netzes. Von den bei P1 sowie P2 vorhandenen Deutschkenntnissen konnte sich die erkennende Richterin in der Beschwerdeverhandlung am 27.08.2021 überzeugen.

Aus den vorgelegten Beweismitteln ist ersichtlich, dass sich das Privat- und Familienleben von P2 bis P4 zwischenzeitlich in Österreich abspielt, wohingegen sie zu ihrem Herkunftsstaat mit ihren dort lebenden zahlreichen Verwandten vergleichswiese geringere Bindungen aufweisen; dazu wird auf die nachfolgende rechtliche Beurteilung, zu Spruchpunkt II. dieser Erkenntnisse verwiesen.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu A)

Zu Spruchpunkt I. dieser Erkenntnisse

Kurz nach Beginn der Beschwerdeverhandlung zogen P2 und P1 für sich sowie P3 und P4, mit ausdrücklicher Zustimmung ihres Rechtsanwalts, die Beschwerden gegen die Spruchpunkte I., II. sowie III. 1. Satz der erstinstanzlichen Bescheide zurück.

Eine Zurückziehung der Beschwerde durch den Einschreiter ist in jeder Lage des Verfahrens ab Einbringung der Beschwerde bis zur Erlassung der Entscheidung möglich. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes erfolgt die Einstellung infolge Zurückziehung der Beschwerde durch Beschluss (VwGH 29.04.2015, Fr 2014/20/0047).

Mit der Zurückziehung ist das Rechtsschutzinteresse der beschwerdeführenden Parteien weggefallen, womit Sachentscheidungen die Grundlage entzogen und die Einstellung der betreffenden Verfahren – in dem von der Zurückziehung betroffenen Umfang – auszusprechen ist (Götzl/Gruber/Reisner/Winkler, Das neue Verfahrensrecht der Verwaltungsgerichte, 2015, § 7 VwGVG, Rz 20; Eder/Martschin/Schmid, Das Verfahrensrecht der Verwaltungsgerichte, 2. Auflage 2017, § 7 VwGVG, K 6ff).

Die Annahme, eine Partei ziehe die von ihr erhobene Beschwerde zurück, ist nur dann zulässig, wenn die entsprechende Erklärung keinen Zweifel daran offenlässt. Maßgebend ist daher das Vorliegen einer in dieser Richtung eindeutigen Erklärung (zu Berufungen Hengstschläger/Leeb, AVG, § 63, Rz 75 mit zahlreichen Hinweisen zur Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes).

P1 bis P4 wurden in der Beschwerdeverhandlung am 27.08.2021 von einem Rechtsanwalt vertreten und dieser erklärte, dass bereits vor der Verhandlung eine entsprechende Manuduktion bezüglich der rechtlichen Folgen von Zurückziehungen stattgefunden habe und die Beschwerdeführer teile der Beschwerden zurückziehen wollen. Auf Nachfrage der Richterin erklärten P1 und P2, alle Beschwerden gegen die Spruchpunkte I., II. sowie III. 1. Satz der Bescheide zurückziehen zu wollen (Verhandlungsschrift Seite 08f). Mit den Zurückziehungen ist das Rechtschutzinteresse weggefallen und Entscheidungen in Beschwerdeverfahren die Grundlage entzogen. Die Spruchpunkte I., II. sowie III. 1. Satz der Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl erwuchsen mit diesen Zurückziehungen in Rechtskraft und die Beschwerdeverfahren sind hinsichtlich dieser Spruchpunkte einzustellen.

Zu Spruchpunkt II. dieser Erkenntnisse

In den Spruchpunkten III. 2 Satz wurden gegen die Beschwerdeführer gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG Rückkehrentscheidungen gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen. Es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung der Beschwerdeführer nach Armenien gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkte III. 3. Satz). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt IV.).

Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG, in der Fassung BGBl. I Nr. 145/2017, ist eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz mit einer Rückkehrentscheidung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen und in den Fällen der Z 1 und 3 bis 5 des § 10 von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG nicht erteilt wird.

Gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG, in der Fassung BGBl. I Nr. 145/2017, hat das Bundesamt gegen einen Drittstaatsangehörigen unter einem (§ 10 AsylG) mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn dessen Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird und ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zukommt. Dies gilt nicht für begünstigte Drittstaatsangehörige.

Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist (§ 9 Abs. 1 BFA-VG).

Gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG ist der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:
1.         die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,
2.         das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,
3.         die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,
4.         der Grad der Integration,
5.         die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,
6.         die strafgerichtliche Unbescholtenheit,
7.         Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,
8.         die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,
9.         die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.

Über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§ 45 oder §§ 51 ff Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005) verfügen, unzulässig wäre. (§ 9 Abs. 3 BFA-VG, in der Fassung
BGBl. I Nr. 70/2015).

Gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig und in diesem Sinne auch verhältnismäßig ist.

Die Verhältnismäßigkeit einer Rückkehrentscheidung ist dann gegeben, wenn der Konventionsstaat bei seiner aufenthaltsbeendenden Maßnahme einen gerechten Ausgleich zwischen dem Interesse des Fremden auf Fortsetzung seines Privat- und Familienlebens einerseits und dem staatlichen Interesse auf Verteidigung der öffentlichen Ordnung andererseits, also dem Interesse des Einzelnen und jenem der Gemeinschaft als Ganzes gefunden hat. Dabei variiert der Ermessensspielraum des Staates je nach den Umständen des Einzelfalles und muss in einer nachvollziehbaren Verhältnismäßigkeitsprüfung in Form einer Interessenabwägung erfolgen.

Das Recht auf Achtung des Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK schützt das Zusammenleben der Familie. Es umfasst jedenfalls alle durch Blutsverwandtschaft, Eheschließung oder Adoption verbundene Familienmitglieder, die effektiv zusammenleben; das Verhältnis zwischen Eltern und minderjährigen Kindern auch dann, wenn es kein Zusammenleben gibt (EGMR 27.10.1994, Kroon u.a. gg. die Niederlande, ÖJZ 1995, 296; siehe auch VfGH 28.06.2003, G 78/00).

Nach der Rechtsprechung des EGMR garantiert die Konvention Fremden kein Recht auf Einreise und Aufenthalt in einem Staat. Unter gewissen Umständen können von den Staaten getroffene Entscheidungen auf dem Gebiet des Aufenthaltsrechts (z.B. eine Ausweisungsentscheidung) aber in das Privatleben eines Fremden eingreifen. Dies beispielsweise dann, wenn ein Fremder den größten Teil seines Lebens in dem Gastland zugebracht oder besonders ausgeprägte soziale oder wirtschaftliche Bindungen im Aufenthaltsstaat vorliegen, die sogar jene zum eigentlichen Herkunftsstaat an Intensität deutlich übersteigen (EGMR 08.04.2008, Nnyanzi gg. das Vereinigte Königreich, Appl. 21.878/06; 04.10.2001, Fall Adam, Appl. 43.359/98, EuGRZ 2002, 582; 09.10.2003, Fall Slivenko, Appl. 48.321/99, EuGRZ 2006, 560; 16.06.2005, Fall Sisojeva, Appl. 60.654/00, EuGRZ 2006, 554).

Das Recht auf Achtung des Privatlebens sichert dem Einzelnen zudem einen Bereich, innerhalb dessen er seine Persönlichkeit frei entfalten und erfüllen kann. Unter dem „Privatleben“ sind nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte persönliche, soziale und wirtschaftliche Beziehungen eines Menschen zu verstehen (EGMR 15.01.2007, Sisojeva u.a. gegen Lettland, Appl. 60654/00). In diesem Zusammenhang kommt dem Grad der sozialen Integration des Betroffenen eine wichtige Bedeutung zu.

Für den Aspekt des Privatlebens spielt zunächst der verstrichene Zeitraum im Aufenthaltsstaat eine zentrale Rolle, wobei die bisherige Rechtsprechung keine Jahresgrenze festlegt, sondern eine Interessenabwägung im speziellen Einzelfall vornimmt (dazu Chvosta, Die Ausweisung von Asylwerbern und Art 8 MRK, ÖJZ 2007, 852 ff). Die zeitliche Komponente ist insofern wesentlich, als – abseits familiärer Umstände – eine von Art. 8 EMRK geschützte Integration erst nach einigen Jahren im Aufenthaltsstaat anzunehmen ist (Thym, EuGRZ 2006, 541). Der Verwaltungsgerichtshof geht in seinem Erkenntnis vom 26.06.2007, 2007/01/0479, davon aus, dass „der Aufenthalt im Bundesgebiet in der Dauer von drei Jahren [...] jedenfalls nicht so lange ist, dass daraus eine rechtlich relevante Bindung zum Aufenthaltsstaat abgeleitet werden könnte“. Darüber hinaus hat der Verwaltungsgerichthof bereits mehrfach zum Ausdruck gebracht, dass einer Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung für die durchzuführende Interessenabwägung zukommt (VwGH 30.07.2015, Ra 2014/22/0055).

Zur Gewichtung der öffentlichen Interessen ist insbesondere das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 17.03.2005, G 78/04, zu erwähnen. Demnach ist das Gewicht der öffentlichen Interessen im Verhältnis zu den privaten Interessen bei der Ausweisung von Fremden, die sich etwa jahrelang legal in Österreich aufgehalten haben, und Asylwerbern, die an sich über keinen Aufenthaltstitel verfügen und denen bloß während des Verfahrens Abschiebeschutz zukommt, unterschiedlich zu beurteilen. Es ist auf die Besonderheiten der aufenthaltsrechtlichen Stellung von Asylwerbern Bedacht zu nehmen, zumal das Gewicht einer aus dem langjährigen Aufenthalt in Österreich abzuleitenden Integration dann gemindert ist, wenn dieser Aufenthalt lediglich auf unberechtigte Asylanträge zurückzuführen ist (VwGH 17.12.2007, 2006/01/0216).

Bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden ist regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen. Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, sind Aufenthaltsbeendigungen ausnahmsweise auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen (VwGH 16.11.2016, Ra 2016/18/0041 mit Hinweis auf E 30.08.2011, 2008/21/0605; E 14.04.2016, Ra 2016/21/0029 bis 0032; E 30.06.2016, Ra 2016/21/0165; VwGH 04.08.2016, Ra 2015/21/0249 bis 0253-12).

Betreffend Eingriff in das Privat- und Familienleben der Beschwerdeführer ist Folgendes zu erwägen:

P1 bis P4 leben seit mittlerweile mehr als siebeneinhalb Jahren im Bundesgebiet; der Ehegatte von P1 und Vater von P2 bis P4 bereits seit mehr als achteinhalb Jahren, wobei alle im gemeinsamen Haushalt leben.

Im Hinblick auf ihr gemäß Art. 8 EMRK geschütztes Recht auf Achtung des Privatlebens ist zu berücksichtigen, dass sich P1 seit ihrer illegalen Einreise bis zur Erlassung des angefochtenen Bescheides drei Jahre im Bundesgebiet aufgehalten hat. Die Verfahrensdauer war nicht der Sphäre von P1 zuzurechnen. Der Aufenthalt im Inland war P1 aber lediglich auf Grund ihres Antrags erlaubt, die sich auf Grund der bewusst unwahren Behauptungen von P1 als unberechtigt erwiesen hat. Die Beschwerdeführer sind nicht aus Furcht vor Verfolgung(sgefahr) aus ihrem Herkunftsstaat ausgereist, sondern P1 und ihr Ehegatte haben die angeblichen Probleme im Herkunftsstaat erfunden und diesbezüglich während der Verfahren, der Ehegatte sogar bis zuletzt in dessen Beschwerdeverhandlung am XXXX , bewusst unwahre Angaben gemacht. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl hat in den Bescheiden vom 21.04.2017 zutreffend erkannt, dass die Angaben von P1 zu den Ausreisegründen nicht den Tatsachen entsprechen. Zugunsten von P1 ist aber auch zu berücksichtigen, dass P1 zu Beginn der Beschwerdeverhandlung, von sich aus, die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. bis III. erster Satz ihres erstinstanzlichen Bescheides zurückzog, was aufzeigt, dass P1 ihre unwahren Angaben im Asylverfahren nicht länger aufrechterhalten wollte, womit P1 ihr mittlerweile erworbenes Verständnis für die österreichische Rechtsordnung und ihren Respekt vor dieser zum Ausdruck brachte.

Dazu kommt, dass P1, nach Zustellung der Ladung vom 11.06.2021 für die Beschwerdeverhandlung am 23.08.2021, doch noch am XXXX Arbeit als XXXX bekommen und erzielt ein monatliches Bruttoeinkommen iHv EUR XXXX Das Einkommen ihres Ehegatten beträgt derzeit nur EUR XXXX ,- pro Stunde und nicht mehr als XXXX ,- pro Monat, im Übrigen liegt das zweite Asylverfahren des Ehegatten, nach (wegen des unglaubwürdigen Vorbringens) abweisender Entscheidung mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts XXXX , derzeit aufgrund einer außerordentlichen Revision beim Verwaltungsgerichtshof.

Geht man im vorliegenden Fall von einem bestehenden Privatleben der Beschwerdeführer in Österreich aus, fällt die gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK gebotene Abwägung nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes bei P1 in Zusammenschau aller vorgelegten Unterlagen und unter Berücksichtigung einer (schließlich doch noch) positiven Zukunftsprognose, nicht nur in Hinblick auf ihre Integration in die Ortsgemeinschaft, sondern vor allem hinsichtlich des bei P1 gezeigten Bemühens um wirtschaftliche Selbsterhaltungsfähigkeit, zu ihren Gunsten aus und die Ausweisung würde bei P1 einen unzulässigen Eingriff im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK darstellen. Ähnliches gilt für P2, der eine Höhere Technische Lehranstalt besucht, diese abschließen will, aktiv im örtlichen Fußballverein als Spieler mitwirkt und dessen nächstes Ziel es ist einen österreichischen Führerschein zu erlangen.

Auch wenn es vor allem P1 anzulasten ist, dass diese erst nach dem negativem Abschluss des ersten Asylverfahrens des Ehegatten (Erstbescheid vom 16.09.2013) illegal mit ihren Kindern ins Bundesgebiet nachgekommen ist (Antragstellungen 28.01.2014), obwohl sie sich immer des unsicheren Aufenthalts bewusst sein musste, ist anzuerkennen, dass P1 (doch noch), jedenfalls aber der bereits volljährige P2, während ihres Aufenthalts, seit ihrer Asylantragstellung im Jänner 2014, mittlerweile deutliche Integrationserfolge gezeigt haben (siehe Konvolute vorgelegter Unterlagen in den Akten).

Soweit, wie im vorliegenden Fall, Kinder von der Rückkehrentscheidung betroffen sind, sind nach der Judikatur des EGMR die besten Interessen und das Wohlergehen dieser Kinder, insbesondere das Maß an Schwierigkeiten, denen sie im Heimatstaat begegnen, sowie die sozialen, kulturellen und familiären Bindungen sowohl zum Aufenthaltsstaat als auch zum Heimatstaat zu berücksichtigen (Urteile des EGMR vom 18.10.2006, Üner gegen die Niederlande, Beschwerde Nr. 46410/99, Rz 58, und vom 06.07.2010, Neulinger und Shuruk gegen die Schweiz, Beschwerde Nr. 41615/07, Rz 146). Maßgebliche Bedeutung hat der EGMR dabei den Fragen beigemessen, wo die Kinder geboren wurden, in welchem Land und in welchem kulturellen und sprachlichen Umfeld sie gelebt haben, wo sie seine Schulbildung absolviert haben, ob sie die Sprache des Heimatstaats sprechen, und insbesondere, ob sie sich in einem anpassungsfähigen Alter („adaptable age“; vgl. dazu die Urteile des EGMR vom 31.07.2008, Darren Omoregie und andere gegen Norwegen, Beschwerde Nr. 265/07, Rz 66, vom 17.02.2009, Onur gegen das Vereinigte Königreich, Beschwerde Nr. 27319/07, Rz 60, und vom 24.11.2009, Omojudi gegen das Vereinigte Königreich, Beschwerde Nr. 1820/08, Rz 46) befinden (VwGH 21.04.2011, 2011/01/0132).

Dabei ist zusätzlich zu beachten, dass dem bei der Einreise minderjährigen P2 bzw. den aktuell minderjährigen P3 und P4 der objektiv unrechtmäßige Aufenthalt subjektiv nicht im gleichen Ausmaß wie P1 zugerechnet werden kann (VfGH 07.10.2014, U 2459/2012 u.a.).

Der nunmehr volljährige P2 und die minderjährigen P3 und P4 wurden im Alter von XXXX von P1 nach Österreich gebracht und sind mittlerweile XXXX alt. P2 und P3 gehen seither in Österreich weiter zur Schule. P4 hat den bei weitem überwiegenden Teil seines Lebens in Österreich verbracht, hier den Kindergarten besucht und wurden hier eingeschult. P2 bis P4 sind in ihre Klassengemeinschaften und in die örtliche Gemeinschaft integriert und es wurden mehrere Unterstützungsschreiben vorgelegt.

Dem öffentlichen Interesse, eine über die Dauer des Asylverfahrens hinausgehende Aufenthaltsverfestigung von Personen, die sich bisher bloß auf Grund ihrer Asylantragstellung im Inland aufhalten durften, zu verhindern kommt aus der Sicht des Schutzes und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung (Art. 8 Abs. 2 EMRK) ein hoher Stellenwert zu (vgl. etwa VfGH 01.07.2009, U992/08 bzw. VwGH 17.12.2007, 2006/01/0216; 26.06.2007, 2007/01/0479; 16.01.2007, 2006/18/0453; 08.11.2006, 2006/18/0336 bzw. 2006/18/0316; 22.06.2006, 2006/21/0109; 20.09.2006, 2005/01/0699). Bei P1 bis P4 überwiegen aber - seit ihrer Asylantragstellung im Jänner 2014 (welche die Familie mit dem bereits länger in Österreich aufhältigen Ehegatten von P1 bzw. Vater von P2 bis P4 zusammenführte und damit als Kernfamilie in Österreich zu begreifen ist) – mittlerweile die familiären und privaten Interessen von P1 bis P4 an ihrem Verbleib in Österreich das öffentliche Interesse an Aufenthaltsbeendigungen.

Es liegt zwar illegale Migration bzw. offensichtliche Umgehung der fremdenrechtlichen Einwanderungsbestimmungen vor, was aber nur P1 vorzuwerfen ist und nicht P2 bis P4. Zudem kann mittlerweile auf Grund der obigen Ausführungen in Verbindung mit der mehr als siebeneinhalbjährige Aufenthaltsdauer bei P2 bis P4 (bzw. bezüglich P1 schließlich doch noch) von einer gelungenen Integration ausgegangen werden. Bei Rückkehrentscheidungen würde mittlerweile eine Verletzung des Privatlebens drohen, weshalb die Rückkehrentscheidungen in Bezug auf den Herkunftsstaat Republik Armenien gemäß § 52 FPG, in der Fassung BGBl. I Nr. 110/2019, iVm § 9 Abs. 3 BFA-VG, in der Fassung BGBl. I Nr. 70/2015, auf Dauer für unzulässig zu erklären sind.

Gemäß § 54 Abs. 1 AsylG, in

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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