Entscheidungsdatum
22.09.2021Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W229 2192640-1/14E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag.a Elisabeth WUTZL als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. am XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch Rechtsanwalt XXXX , Mozartstraße 11/6, 4020 Linz, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 14.03.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:
A)
I. Die Beschwerde wird hinsichtlich des Spruchpunktes I. des angefochtenen Bescheides gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und es wird XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.
III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für die Dauer von einem Jahr erteilt.
IV. Die Spruchpunkte III. und VI. des Bescheides werden ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 08.10.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz.
Im Rahmen seiner Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am selben Tag gab der Beschwerdeführer an, er sei am 01.01.1996 geboren und habe zuletzt bis zu seiner Ausreise in Kabul/Afghanistan, gelebt. Seine Muttersprache sei Dari, er sei Tadschike und Moslem. Er habe zwölf Jahre lang die Grundschule sowie 1 ½ Jahre lang eine Berufsbildende Höhere Schule in Kabul besucht. Er habe keine Berufsausbildung und sei Student. Er sei ledig und habe keine Kinder. Seine Mutter, sein Vater, seine drei Schwestern und seine sechs Brüder seien in Afghanistan.
Befragt nach seinem Fluchtgrund gab der Beschwerdeführer an, dass die Lage in Afghanistan sehr schlecht sei und es keine Sicherheit gebe. Seine Familie habe Feindschaften und sie sei wegen Grundstücksstreitigkeiten bedroht worden. Der Beschwerdeführer sei auch öfters von diesen Personen angegriffen und mit einem Messer verletzt worden. Zudem habe er keine Möglichkeit auf weitere Bildung gehabt. Weitere Fluchtgründe habe er keine. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan fürchte er um sein Leben, da es keine Sicherheit in Afghanistan gebe. Konkrete Hinweise, dass dem Beschwerdeführer bei einer Rückkehr unmenschliche Behandlung, unmenschliche Strafe oder die Todesstrafe drohe, gebe es nicht. Er habe auch nicht mit sonstigen Sanktionen zu rechnen. Bei einer Rückkehr habe er Angst um sein Leben, es gebe keine Sicherheit in Afghanistan.
2. Im weiteren Verfahrensverlauf gab der Beschwerdeführer in seiner niederschriftlichen Einvernahme im Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) am 13.03.2018 an, dass bei seiner Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sein Geburtsdatum nicht korrekt aufgenommen und protokolliert worden sei, dass seine zwei Neffen seine Brüder seien. Sein Geburtsdatum sei der XXXX . Der Beschwerdeführer sei in Peshawar/Pakistan geboren, wo er bis zu seinem 9. Lebensjahr mit seiner Mutter, seinem Vater, einem Bruder und zwei Schwestern gelebt habe. Danach sei die Familie nach Kabul/Afghanistan gezogen, dort habe er bis November 2015 in einem Haus, welches seinem Vater gehört habe, gewohnt. Er gehöre der Volksgruppe der Tadschiken an, sei sunnitischer Moslem und Staatsangehöriger Afghanistans. Nach dem Abschluss der Schule im Jahr 2012 habe er das Studium der Elektrotechnik aufgenommen. Er habe nicht gearbeitet. Er beherrsche die Sprache Dari in Wort und Schrift. Der Beschwerdeführer sei ledig und habe keine Kinder. Der Vater des Beschwerdeführers sei circa 68 Jahre alt und Maurer gewesen, seine Mutter circa 58 Jahre und Hausfrau. Seit etwa einem Jahr lebe die Familie des Beschwerdeführers im Iran. Er habe einen circa 40-jährigen Bruder, der zwei Söhne habe, sowie eine circa 22-/23-jährige Schwester, die verheiratet sei, und eine circa 20-jährige Schwester. Drei Brüder und eine Schwester seien während des Bürgerkrieges im Jahr 1992 durch eine Rakete, die das Haus der Familie getroffen habe, getötet worden. In Kabul seien Onkel und Tanten des Beschwerdeführers wohnhaft, zu denen er keinen Kontakt habe. Zu seiner Familie im Iran habe er alle drei Monate telefonisch Kontakt. In Österreich habe der Beschwerdeführer keine Verwandten, in seiner Asylunterkunft habe er Freundschaften mit dort wohnhaften Afghanen geschlossen.
Zu seinen Fluchtgründen befragt, gab der Beschwerdeführer an, dass er Afghanistan verlassen habe, da er mit dem Tod bedroht worden und sein Leben in Gefahr gewesen sei. Ein früheres Mitglied der Mudschaheddin, welches nach der Machtübernahme der Taliban 1996 für diese als Richter tätig gewesen sei, habe früher Probleme mit dem Vater des Beschwerdeführers gehabt. Dieser Mann habe als Mitglied der Mudschaheddin zu der Zeit, als diese die russische Armee in Afghanistan bekämpften, den damals im Transportgeschäft und für die damalige afghanische Regierung tätigen Vater des Beschwerdeführers aufgefordert, für ihn Waffen zu transportieren. Dies habe der Vater des Beschwerdeführers abgelehnt. Nach der Flucht der Familie des Beschwerdeführers aus Afghanistan während des Bürgerkriegs und nachdem die Taliban an die Macht gekommen seien, habe dieser Mann im Haus der Familie des Beschwerdeführers mit Hilfe einer gefälschten Besitzurkunde bis zum Ende des Taliban-Regimes bzw. bis zum Antritt der Regierung Karzai gewohnt. Als die Familie des Beschwerdeführers aus Pakistan nach Kabul gekommen sei, habe diese ihr Haus zurückbekommen. Der Vater des Beschwerdeführers habe im Jahr 2015 Anrufe erhalten, in denen er aufgefordert worden sei, das Haus zu verlassen, da es dem Mann, der als Richter für die Taliban gearbeitet habe, gehöre. Von den Anrufern seien die afghanische Regierung und die afghanischen Behörden nicht anerkannt worden, da sie ihre eigenen Behörden und ihre eigene Regierung hätten. Der Beschwerdeführer sei im Mai 2015 von ihm fremden Personen, die dem Mann, der als Richter für die Taliban tätig gewesen sei, zuzurechnen seien, beim Haus der Familie zusammengeschlagen und mit einem Messer verletzt worden. Durch lautes Schreien des Beschwerdeführers seien ihm Nachbarn zu Hilfe gekommen, woraufhin die Angreifer vom Beschwerdeführer abgelassen hätten. Der Beschwerdeführer sei für circa vier bis fünf Tage in einem Krankenhaus gewesen und dessen Vater habe Anzeige bei der Polizei erstattet. Der Vater habe einen Anruf erhalten, mit dem er aufgefordert worden sei, mit den Taliban zusammenzuarbeiten. Nach einem weiteren Anruf sei es mit Unterstützung der afghanischen Polizei im August 2015 zu einem Treffen von Vertretern des Vaters des Beschwerdeführers mit den Taliban in der Provinz Loghan gekommen. Von den Taliban sei mitgeteilt worden, dass der Mann, der für die Taliban als Richter tätig gewesen sei, auch eine Besitzurkunde für das Haus habe und es ihm gehöre. Dem Vater des Beschwerdeführers sei gesagt worden, er solle entweder 200.000 US-Dollar an den Mann, der für die Taliban als Richter tätig gewesen sei, zahlen oder seinen Sohn, den Beschwerdeführer, zu den Taliban als Unterstützung schicken. Der Beschwerdeführer sei telefonisch und im November 2015 mit einem Brief bedroht worden. In dem Brief sei gestanden, dass der Beschwerdeführer ein Spion sowie für die Ungläubigen tätig sei und von den Taliban getötet werden würde, wenn sie ihn erwischen würden. Einen Tag nach Erhalt des Drohbriefs und Besprechung mit den Vertretern seines Vaters, die sich mit den Taliban getroffen hätten, habe er Afghanistan verlassen. Ein Schlepper habe die Ausreise des Beschwerdeführers aus Afghanistan ermöglicht. Während seines Aufenthalts in Griechenland sei der Bruder des Beschwerdeführers von Taliban bedroht und dessen Geschäft niedergebrannt worden. Der Bruder sei dann mit seiner Familie aus Afghanistan geflüchtet. Vor einem Jahr habe die restliche Familie die Flucht in den Iran angetreten. Die Eltern seien seit fast einem Jahr im Iran.
In Österreich habe der Beschwerdeführer einen Deutschkurs besucht. Er bemühe sich sehr, Deutsch zu lernen.
Der Beschwerdeführer legte unter anderem seine Tazkira, eine Kopie einer Bestätigung der Technischen Universität, eine Kopie seines Maturazeugnisses, einen Drohbrief, eine Anzeige, eine Bestätigung über den Besuch eines Deutschkurses sowie eine Bestätigung seiner Quartiergeber vor.
3. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 14.03.2018 wies das BFA den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) ab. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 wurde nicht erteilt (Spruchpunkt III.); gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) wurde eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde eine Frist von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung für die freiwillige Ausreise festgelegt (Spruchpunkt VI.).
4. Mit Verfahrensanordnung des BFA vom 15.03.2018 wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG amtswegig die ARGE Rechtsberatung – Diakonie und Volkshilfe als Rechtsberatung für das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht zur Seite gestellt.
5. Im Wege seiner damaligen Rechtsvertretung erhob der Beschwerdeführer gegen den oben genannten Bescheid fristgerecht Beschwerde, welche am 12.04.2018 beim BFA einlangte und in weiterer Folge an das Bundesverwaltungsgericht weitergeleitet wurde (eingelangt am 17.04.2018).
6. Mit Schreiben vom 11.12.2020 legte die ARGE Rechtsberatung – Diakonie und Volkshilfe die ihr vom Beschwerdeführer am 28.03.2018 erteilte Vollmacht mit Wirkung zum 31.12.2020 zurück.
7. Am 24.06.2021 führte das Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Beschwerdeverhandlung durch, an welcher der Beschwerdeführer sowie sein Rechtsvertreter teilnahmen und in welcher ein Dolmetscher für die Sprache Dari beigezogen wurden. Ein Vertreter des BFA nahm an der Verhandlung entschuldigt nicht teil.
Der Beschwerdeführer legte Integrationsunterlagen vor, unter anderem ein Unterstützungsschreiben seiner Quartiergeber vom 20.06.2021, ein Zeugnis zur Integrationsprüfung Sprachniveau A2 vom 15.01.2021, eine Kursbesuchsbestätigung der Kärntner Volkshochschulen vom 28.05.2021, eine Kursbesuchsbestätigung der Kärntner Volkshochschulen vom 15.02.2021, drei Schulbesuchsbestätigungen (vom 04.02.2020, vom 07.02.2020 und vom 07.07.2020) des Bundesgymnasiums, Bundesrealgymnasiums und wirtschaftskundlichen Bundesrealgymnasiums für Berufstätige XXXX , Ferdinand-Jergitschstraße 21 sowie eine Teilnahmebestätigung Werte- und Orientierungskurs vom 09.08.2018.
9. Am 01.07.2021 langte beim Bundesverwaltungsgericht eine Stellungnahme des Beschwerdeführers ein.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer, XXXX , wurde am XXXX in Peshawar/Pakistan geboren, lebte bis zu seinem 9. Lebensjahr in Pakistan und danach bis zu seiner Ausreise im Jahr 2015 in Kabul. Er ist afghanischer Staatsangehöriger, Tadschike und sunnitischer Moslem. Seine Muttersprache ist Dari, er spricht weiters Paschtu und Deutsch.
Der Beschwerdeführer besuchte zwölf Jahre lang die Grundschule und studierte zweieinhalb Jahre lang Elektrotechnik in Kabul.
Die Familie des Beschwerdeführers umfasst seinen circa 69 Jahre alten Vater, seine circa 61 Jahre alte Mutter, einen Bruder und zwei Schwestern. Vier Geschwister, eine Schwester und drei Brüder, sind während des Bürgerkriegs in Afghanistan im Jahr 1992 ums Leben gekommen.
Die Eltern des Beschwerdeführers, zu denen dieser Kontakt hat, wohnen in Kabul. Im Iran leben eine Schwester des Beschwerdeführers sowie sein Bruder samt Familie. Die andere Schwester des Beschwerdeführers lebt in Kabul und ist verheiratet. Ein Onkel väterlicherseits lebte bis zu seinem Tod in Kabul, weiters hat der Beschwerdeführer eine Tante mütterlicherseits.
Der Vater des Beschwerdeführers arbeitete früher in Afghanistan auf Baustellen, die Mutter war bzw. ist Hausfrau, der Bruder arbeitete in einem Geschäft, welches mit unter anderem Treibstoff handelte.
Der Beschwerdeführer ist gesund und arbeitsfähig. Er ist ledig und hat keine Kinder.
1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer stellte am 08.10.2016 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.
Seinen Antrag auf internationalen Schutz begründete der Beschwerdeführer im Wesentlichen damit, dass ausgehend von einer Auseinandersetzung das Haus seines Vaters betreffend seine Familie von den Taliban aufgefordert worden sei, 200.000 US-Dollar an diese zu bezahlen, im Falle der Nicht-Zahlung sei der Beschwerdeführer dazu gezwungen gewesen, sich den Taliban anzuschließen.
Das erkennende Gericht hält dazu Folgendes fest:
Der Beschwerdeführer persönlich ist in Afghanistan keiner Verfolgung und damit einhergehenden physischen und/oder psychischen Gewalt durch die Taliban auf Grund einer Auseinandersetzung um das Haus des Vaters des Beschwerdeführers und einer Weigerung, sich den Taliban anzuschließen, ausgesetzt.
Konkret ist der Beschwerdeführer auf Grund der Tatsache, dass er sich in Europa aufgehalten hat und damit einhergehend „westlicher“ orientiert ist, in Afghanistan keiner psychischen und/oder physischen Gewalt ausgesetzt bzw. hat er – oder jeder derartige „Rückkehrer“ – eine solche im Falle seiner Rückkehr nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten.
Auch ist der Beschwerdeführer keiner derartigen Gefahr aufgrund eines Abfalls vom Islam ausgesetzt.
Insgesamt ist der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan nicht aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Ansichten von staatlicher Seite oder von Seiten Dritter bedroht.
1.3. Zum Leben des Beschwerdeführers in Österreich:
Der Beschwerdeführer hält sich seit Oktober 2016 in Österreich auf. Er befindet sich in Grundversorgung und wohnt seit November 2016 in einer Unterkunft für Asylwerber in Kärnten.
Der Beschwerdeführer besuchte seit 12.02.2018 regelmäßig einen Deutschkurs auf dem Niveau Basisdeutschkenntnisse, erlangte nach Ablegung der entsprechenden Prüfung am 15.01.2021 ein Zeugnis zur Integrationsprüfung Sprachniveau A2, besuchte von 12.02.2021 bis 16.04.2021 den Deutschkurs im Rahmen des Projektes „DaZ AsylwerberInnen – Grundversorgung B1“ und von 22.04.2021 bis 28.05.2021 den Deutschzusatzkurs im Rahmen des Projektes „DaZ AslywerberInnen – Grundversorgung B1“, nahm am 09.08.2018 am Werte- und Orientierungskurs gemäß § 5 Integrationsgesetz teil und besuchte in XXXX am Bundesgymnasium, Bundesrealgymnasium und wirtschaftskundlichen Bundesrealgymnasium für Berufstätige das Modul „Deutsch als Zweitsprache (DaZ)“ mit sechs Wochenstunden.
Er war im Jahr 2017 und 2018 für jeweils circa vier Wochen für die Gemeinde, in der er wohnt, tätig und hat hierfür eine Entschädigung erhalten.
In seiner Freizeit geht der Beschwerdeführer schwimmen, joggen und Fußball spielen. Er hat einen Freundeskreis, dem auch Österreicher angehören. Einem circa 76-jährigen österreichischen Freund, den er 2020 kennen gelernt hat, hilft der Beschwerdeführer gelegentlich.
Der Beschwerdeführer hat in Österreich keine Familienangehörige und keine Lebensgefährtin.
Er ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
1.4. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:
Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:
- Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der aktualisierten Version 5 16.09.2021 (LIB)
- The Danisch Immigration Service, Country of Origin Information, Afghanistan “Recent developments in the security situation, impact on civilians and targeted individuals, September 2021 (Danish Immigration Service)
1.4.1 Politische Lage - Letzte Änderung: 16.09.2021
Afghanistan war [vor der Machtübernahme der Taliban] ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen bis 39 Millionen Menschen (LIB, S 10).
Nachdem der bisherige Präsident Ashraf Ghani am 15.8.2021 aus Afghanistan geflohen war, nahmen die Taliban die Hauptstadt Kabul als die letzte aller großen afghanischen Städte ein. Ghani gab auf seiner Facebook-Seite eine Erklärung ab, in der er den Sieg der Taliban vor Ort anerkannte. Diese Erklärung wurde weithin als Rücktritt interpretiert, obwohl nicht klar ist, ob die Erklärung die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für einen Rücktritt des Präsidenten erfüllt. Amrullah Saleh, der erste Vizepräsident Afghanistans unter Ghani, beanspruchte in der Folgezeit das Amt des Übergangspräsidenten für sich. Er ist Teil des Widerstands gegen die Taliban im Panjshir-Tal. Ein so genannter Koordinationsrat unter Beteiligung des früheren Präsidenten Hamid Karzai, Abdullah Abdullah (dem früheren Außenminister und Leiter der Delegation der vorigen Regierung bei den letztendlich erfolglosen Friedensverhandlungen) und Gulbuddin Hekmatyar führte mit den Taliban informelle Gespräche über eine Regierungsbeteiligung, die schließlich nicht zustande kam Denn unabhängig davon, wer nach der afghanischen Verfassung das Präsidentenamt innehat, kontrollieren die Taliban den größten Teil des afghanischen Staatsgebiets. Sie haben das Islamische Emirat Afghanistan ausgerufen und am 7.9.2021 eine neue Regierung angekündigt, die sich größtenteils aus bekannten Taliban-Figuren zusammensetzt (LIB, S 10).
Die Taliban lehnen die Demokratie und ihren wichtigsten Bestandteil, die Wahlen, generell ab. Sie tun dies oftmals mit Verweis auf die Mängel des demokratischen Systems und der Wahlen in Afghanistan in den letzten 20 Jahren, wie auch unter dem Aspekt, dass Wahlen und Demokratie in der vormodernen Periode des islamischen Denkens, der Periode, die sie als am authentischsten „islamisch“ ansehen, keine Vorläufer haben. Sie halten einige Methoden zur Auswahl von Herrschern in der vormodernen muslimischen Welt für authentisch islamisch - zum Beispiel die Shura Ahl al-Hall wa’l-Aqd, den Rat derjenigen, die qualifiziert sind, einen Kalifen im Namen der muslimischen Gemeinschaft zu wählen oder abzusetzen. Ende August 2021 kündigten die Taliban an, eine Verfassung auszuarbeiten, jedoch haben sie sich zu den Einzelheiten des Staates, den ihre Führung in Afghanistan errichten möchte, bislang bedeckt gehalten (LIB, S 10).
Im September 2021 kündigten sie die Bildung einer „Übergangsregierung“ an. Entgegen früherer Aussagen handelt es sich dabei nicht um eine „inklusive“ Regierung unter Beteiligung unterschiedlicher Akteure, sondern um eine reine Talibanregierung. Darin vertreten sind Mitglieder der alten Talibanelite, die schon in den 1990er Jahren zentrale Rollen besetzte, ergänzt mit Taliban-Führern, die im ersten Emirat noch zu jung waren, um zu regieren. Die allermeisten sind Paschtunen. Angeführt wird die neue Regierung von Mohammad Hassan Akhund. Er ist Vorsitzender der Minister, eine Art Premierminister. Akhund ist ein wenig bekanntes Mitglied des höchsten Taliban-Führungszirkels, der sogenannten Rahbari-Shura, besser bekannt als QuettaShura. Einer seiner Stellvertreter ist Abdul Ghani Baradar, der bisher das politische Büro der Taliban in Doha geleitet hat und so etwas wie das öffentliche Gesicht der Taliban war, ein weiterer Stellvertreter ist Abdul Salam Hanafi, der ebenfalls im politischen Büro in Doha tätig war. Mohammad Yakub, Sohn des Taliban-Gründers Mullah Omar und einer der Stellvertreter des Taliban-Führers Haibatullah Akhundzada, ist neuer Verteidigungsminister. Sirajuddin Haqqani, der Leiter des Haqqani-Netzwerks, wurde zum Innenminister ernannt. Das Haqqani-Netzwerk wird von den USA als Terrororganisation eingestuft. Der neue Innenminister steht auf der Fahndungsliste des FBI und auch der Vorsitzende der Minister, Akhund, befindet sich auf einer Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrates (LIB, S 10f).
Ein Frauenministerium findet sich nicht unter den bislang angekündigten Ministerien, auch wurden keine Frauen zu Ministerinnen ernannt [Anm.: Stand 7.9.2021]. Dafür wurde ein Ministerium für „Einladung, Führung, Laster und Tugend“ eingeführt, das die Afghanen vom Namen her an das Ministerium „für die Förderung der Tugend und die Verhütung des Lasters“ erinnern dürfte. Diese Behörde hatte während der ersten Taliban-Herrschaft von 1996 bis 2001 Menschen zum Gebet gezwungen oder Männer dafür bestraft, wenn sie keinen Bart trugen. Die höchste Instanz der Taliban in religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten, der „Amir al Muminin“ oder „Emir der Gläubigen“ Mullah Haibatullah Akhundzada wird sich als „Oberster Führer“ Afghanistans auf religiöse Angelegenheiten und die Regierungsführung im Rahmen des Islam konzentrieren. Er kündigte an, dass alle Regierungsangelegenheiten und das Leben in Afghanistan den Gesetzen der Scharia unterworfen werden (LIB, S 11).
Bezüglich der Verwaltung haben die Taliban Mitte August 2021 nach und nach die Behörden und Ministerien übernommen. Sie riefen die bisherigen Beamten und Regierungsmitarbeiter dazu auf, wieder in den Dienst zurückzukehren, ein Aufruf, dem manche von ihnen auch folgten. Es gibt Anzeichen dafür, dass einige Anführer der Gruppe die Grenzen ihrer Fähigkeit erkennen, den Regierungsapparat in technisch anspruchsvolleren Bereichen zu bedienen. Zwar haben die Taliban seit ihrem Erstarken in den vergangenen zwei Jahrzehnten in einigen ländlichen Gebieten Afghanistans eine so genannte Schattenregierung ausgeübt, doch war diese rudimentär und von begrenztem Umfang, und in Bereichen wie Gesundheit und Bildung haben sie im Wesentlichen die Dienstleistungen des afghanischen Staates und von Nichtregierungsorganisationen übernommen (LIB, S 11).
Bis zum Sturz der alten Regierung wurden ca. 75% bis 80% des afghanischen Staatsbudgets von Hilfsorganisationen bereitgestellt, Finanzierungsquellen, die zumindest für einen längeren Zeitraum ausgesetzt sein werden, während die Geber die Entwicklung beobachten. So haben die EU und mehrere ihrer Mitgliedsstaaten in der Vergangenheit mit der Einstellung von Hilfszahlungen gedroht, falls die Taliban die Macht übernehmen und ein islamisches Emirat ausrufen sollten, oder Menschen- und Frauenrechte verletzen sollten. Die USA haben rund 9,5 Milliarden US-Dollar an Reserven der afghanischen Zentralbank sofort [nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul] eingefroren, Zahlungen des IWF und der EU wurden ausgesetzt. Die Taliban verfügen weiterhin über die Einnahmequellen, die ihren Aufstand finanzierten, sowie über den Zugang zu den Zolleinnahmen, auf die sich die frühere Regierung für den Teil ihres Haushalts, den sie im Inland aufbrachte, stark verließ. Ob neue Geber einspringen werden, um einen Teil des Defizits auszugleichen, ist noch nicht klar (LIB, S 11f).
Die USA zeigten sich angesichts der Regierungsbeteiligung von Personen, die mit Angriffen auf US-Streitkräfte in Verbindung gebracht werden, besorgt und die EU erklärte, die islamistische Gruppe habe ihr Versprechen gebrochen, die Regierung „integrativ und repräsentativ“ zu machen. Deutschland und die USA haben eine baldige Anerkennung der von den militant-islamistischen Taliban verkündeten Übergangsregierung Anfang September 2021 ausgeschlossen. China und Russland haben ihre Botschaften auch nach dem Machtwechsel offengehalten (LIB, S 12).
Vertreter der National Resistance Front (NRF) haben die internationale Gemeinschaft darum gebeten, die Taliban-Regierung nicht anzuerkennen. Ahmad Massoud, einer der Anführer der NRF, kündigte an, nach Absprachen mit anderen Politikern eine Parallelregierung zu der von ihm als illegitim bezeichneten Talibanregierung bilden zu wollen (LIB, S 12).
1.4.2 Friedensverhandlungen und Abzug der internationalen Truppen - Letzte Änderung: 16.09.2021
1.4.2.1 Friedensverhandlungen
2020 fanden die ersten ernsthaften Verhandlungen zwischen allen Parteien des Afghanistan Konflikts zur Beendigung des Krieges statt. Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet - die damalige afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthielt das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nicht-amerikanischen NATO-Truppen sollten abgezogen werden. Dafür hatten die Taliban beispielsweise zugesichert, zu verhindern, dass „irgendeiner ihrer Mitglieder, andere Individuen oder Gruppierungen, einschließlich Al-Qaida, den Boden Afghanistans nutzt, um die Sicherheit der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten zu bedrohen“ (LIB, S 13).
Die Verhandlungen mit den USA lösten bei den Taliban ein Gefühl des Triumphs aus. Indem sie mit den Taliban verhandelten, haben die USA sie offiziell als politische Gruppe und nicht mehr als Terroristen anerkannt [Anm.: das mit den Taliban verbundene Haqqani-Netzwerk wird von den USA mit Stand 7.9.2021 weiterhin als Terrororganisation eingestuft]. Gleichzeitig unterminierten die Verhandlungen aber auch die damalige afghanische Regierung, die von den Gesprächen zwischen den Taliban und den USA ausgeschlossen wurde (LIB, S 14).
Im September 2020 starteten die Friedensgespräche zwischen der damaligen afghanischen Regierung und den Taliban in Katar. Der Regierungsdelegation gehörten nur wenige Frauen an, aufseiten der Taliban war keine einzige Frau an den Gesprächen beteiligt. Auch Opfer des bewaffneten Konflikts waren nicht vertreten, obwohl Menschenrechtsgruppen dies gefordert hatten (LIB, S 14).
Die Gewalt ließ jedoch nicht nach, selbst als afghanische Unterhändler zum ersten Mal in direkte Gespräche verwickelt wurden. Insbesondere im Süden, herrscht trotz des Beginns der Friedensverhandlungen weiterhin ein hohes Maß an Gewalt, was weiterhin zu einer hohen Zahl von Opfern unter der Zivilbevölkerung führt (LIB, S 14).
Mitte Juli 2021 kam es zu einem weiteren Treffen zwischen der ehemaligen afghanischen Regierung und den Vertretern der Taliban in Katar. In einer Erklärung, die nach zweitägigen Gesprächen veröffentlicht wurde, erklärten beide Seiten, dass sie das Leben der Zivilbevölkerung, die Infrastruktur und die Dienstleistungen schützen wollen. Ein Waffenstillstand wurde allerdings nicht beschlossen (LIB, S 14).
1.4.2.2 Abzug der Internationalen Truppen
Im April 2021 kündigte US-Präsident Joe Biden den Abzug der verbleibenden Truppen - etwa 2.500 - 3.500 US-Soldaten und etwa 7.000 NATO Truppen - bis zum 11.9.2021 an, nach zwei Jahrzehnten US-Militärpräsenz in Afghanistan. Er erklärte weiter, die USA würden weiterhin „terroristische Bedrohungen“ überwachen und bekämpfen sowie „die Regierung Afghanistans“ und „die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte weiterhin unterstützen“, allerdings ist nicht klar, wie die USA auf wahrgenommene Bedrohungen zu reagieren gedenken, sobald ihre Truppen abziehen. Die Taliban zeigten sich von der Ankündigung eines vollständigen und bedingungslosen Abzugs nicht besänftigt, sondern äußerten sich empört über die Verzögerung, da im Doha-Abkommen der 30.4.2021 als Datum für den Abzug der internationalen Truppen festgelegt worden war. In einer am 15.4.2021 veröffentlichten Erklärung wurden Drohungen angedeutet: Der „Bruch“ des Doha-Abkommens „öffnet den Mudschaheddin des Islamischen Emirats den Weg, jede notwendige Gegenmaßnahme zu ergreifen, daher wird die amerikanische Seite für alle zukünftigen Konsequenzen verantwortlich gemacht werden, und nicht das Islamische Emirat“. Am 31.8.2021 zog schließlich der letzte US-amerikanische Soldat aus Afghanistan ab. Schon zuvor verließ der bis dahin amtierende afghanische Präsident Ashraf Ghani das Land und die Taliban übernahmen die Hauptstadt Kabul am 15.8.2021 kampflos (LIB, S 14f).
US-amerikanische, britische und deutsche Beamte sowie internationale NGOs wie Human Rights Watch (HRW) äußerten sich besorgt über die Sicherheit von ehemaligen Mitarbeitern der internationalen Streitkräfte, während die Taliban angaben, nicht gegen (ehemalige) Mitarbeiter der internationalen Truppen vorgehen zu wollen. Die Taliban behaupteten in der Erklärung, dass Afghanen, die für die ausländischen „Besatzungstruppen“ gearbeitet hätten, „irregeführt“ worden seien und „Reue“ für ihre vergangenen Handlungen zeigen sollten, da diese einem „Verrat“ am Islam und an Afghanistan gleichkämen (LIB, S 15).
1.4.3 Sicherheitslage Letzte Änderung: 16.09.2021
Jüngste Entwicklungen - Machtübernahme der Taliban
Mit April bzw. Mai 2021 nahmen die Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen stark zu, aber auch schon zuvor galt die Sicherheitslage in Afghanistan als volatil. Laut Berichten war der Juni 2021 der bis dahin tödlichste Monat mit den meisten militärischen und zivilen Opfern seit 20 Jahren in. Gemäß einer Quelle veränderte sich die Lage seit der Einnahme der ersten Provinzhauptstadt durch die Taliban - Zaranj in Nimruz - am 6.8.2021 in „halsbrecherischer Geschwindigkeit“, innerhalb von zehn Tagen eroberten sie 33 der 34 afghanischen Provinzhauptstädte. Auch eroberten die Taliban mehrere Grenzübergänge und Kontrollpunkte, was der finanziell eingeschränkten Regierung dringend benötigte Zolleinnahmen entzog. Am 15.8.2021 floh Präsident Ashraf Ghani ins Ausland und die Taliban zogen kampflos in Kabul ein. Zuvor waren schon Jalalabad im Osten an der Grenze zu Pakistan gefallen, ebenso wie die nordafghanische Metropole Mazar-e Scharif. Ein Bericht führt den Vormarsch der Taliban in erster Linie auf die Schwächung der Moral und des Zusammenhalts der Sicherheitskräfte und der politischen Führung der Regierung zurück. Die Kapitulation so vieler Distrikte und städtischer Zentren ist nicht unbedingt ein Zeichen für die Unterstützung der Taliban durch die Bevölkerung, sondern unterstreicht vielmehr die tiefe Entfremdung vieler lokaler Gemeinschaften von einer stark zentralisierten Regierung, die häufig von den Prioritäten ihrer ausländischen Geber beeinflusst wird, auch wurde die weit verbreitete Korruption, beispielsweise unter den Sicherheitskräften, als ein Problem genannt (LIB, S 17).
Im Panjshir-Tal, rund 55 km von Kabul entfernt, formierte sich nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul Mitte August 2021 Widerstand in Form der National Resistance Front (NRF), welche von Amrullah Saleh, dem ehemaligen Vizepräsidenten Afghanistans und Chef des National Directorate of Security [Anm.: NDS, afghan. Geheimdienst], sowie Ahmad Massoud, dem Sohn des verstorbenen Anführers der Nordallianz gegen die Taliban in den 1990ern, angeführt wird. Ihr schlossen sich Mitglieder der inzwischen aufgelösten Afghan National Defense and Security Forces (ANDSF) an, um im Panjshir-Tal und umliegenden Distrikten in Parwan und Baghlan Widerstand gegen die Taliban zu leisten. Sowohl die Taliban, als auch die NRF betonten zu Beginn, ihre Differenzen mittels Dialog überwinden zu wollen. Nachdem die US-Streitkräfte ihren Truppenabzug aus Afghanistan am 30.8.2021 abgeschlossen hatten, griffen die Taliban das Pansjhir-Tal jedoch an. Es kam zu schweren Kämpfen und nach sieben Tagen nahmen die Taliban das Tal nach eigenen Angaben ein, während die NRF am 6.9.2021 bestritt, dass dies geschehen sei. Mit Stand 6.9.2021 war der Aufenthaltsort von Saleh und Massoud unklar, jedoch verkündete Massoud, in Sicherheit zu sein sowie nach Absprachen mit anderen Politikern eine Parallelregierung zu der von ihm als illegitim bezeichneten Talibanregierung bilden zu wollen (LIB, S 17).
Weitere Kampfhandlungen gab es im August 2021 beispielsweise im Distrikt Behsud in der Provinz Maidan Wardak und in Khedir in Daikundi, wo es zu Scharmützeln kam, als die Taliban versuchten, lokale oder ehemalige Regierungskräfte zu entwaffnen. Seit der Beendigung der Kämpfe zwischen den Taliban und den afghanischen Streitkräften ist die Zahl der zivilen Opfer deutlich zurückgegangen (LIB, S 17).
Verfolgung von Zivilisten und ehemaligen Mitgliedern der Streitkräfte
Bereits vor der Machtübernahme intensivierten die Taliban gezielte Tötungen von wichtigen Regierungsvertretern, Menschenrechtsaktivisten und Journalisten. Die Taliban kündigten nach ihrer Machtübernahme an, dass sie keine Vergeltung an Anhängern der früheren Regierung oder an Verfechtern verfassungsmäßig garantierter Rechte wie der Gleichberechtigung von Frauen, der Redefreiheit und der Achtung der Menschenrechte üben werden. Es gibt jedoch glaubwürdige Berichte über schwerwiegende Übergriffe von Taliban-Kämpfern, die von der Durchsetzung strenger sozialer Einschränkungen bis hin zu Verhaftungen, Hinrichtungen im Schnellverfahren und Entführungen junger, unverheirateter Frauen reichen. Einige dieser Taten scheinen auf lokale Streitigkeiten zurückzuführen oder durch Rache motiviert zu sein; andere scheinen je nach den lokalen Befehlshabern und ihren Beziehungen zu den Führern der Gemeinschaft zu variieren. Es ist nicht klar, ob die Taliban-Führung ihre eigenen Mitglieder für Verbrechen und Übergriffe zur Rechenschaft ziehen wird. Auch wird berichtet, dass es eine neue Strategie der Taliban sei, die Beteiligung an gezielten Tötungen zu leugnen, während sie ihren Kämpfern im Geheimen derartige Tötungen befehlen. Einem Bericht zufolgekann derzeit jeder, der eine Waffe und traditionelle Kleidung trägt, behaupten, ein Talib zu sein, und Durchsuchungen und Beschlagnahmungen durchführen. Die Taliban-Kämpfer auf der Straße kontrollieren die Bevölkerung nach eigenen Regeln und entscheiden selbst, was unangemessenes Verhalten, Frisur oder Kleidung ist. Frühere Angehörige der Sicherheitskräfte berichten, dass sie sich weniger vor der Taliban-Führung als vor den einfachen Kämpfern fürchten würden. Es wurde von Hinrichtungen von Zivilisten und Zivilistinnen sowie ehemaligen Angehörigen der afghanischen Sicherheitskräfte und Personen, die vor kurzem Anti-Taliban-Milizen beigetreten waren, berichtet. In der Provinz Ghazni soll es zur gezielten Tötung von neun Hazara-Männern gekommen sein. Während die Nachrichten aus weiten Teilen des Landes aufgrund der Schließung von Medienzweigstellen und der Einschüchterung von Journalisten durch die Taliban spärlich sind, gibt es Berichte über die Verfolgung von Journalisten und die Entführung einer Menschenrechtsanwältin. Die Taliban haben in den Tagen nach ihrer Machtübernahme systematisch in den von ihnen neu eroberten Gebieten Häftlinge aus den Gefängnissen entlassen: Eine Richterin wie auch eine Polizistin gaben an, von ehemaligen Häftlingen verfolgt bzw. von diesen identifiziert und daraufhin von den Taliban verfolgt worden zu sein (LIB, S 18f).
1.4.4 Erreichbarkeit - Letzte Änderung: 16.09.2021
Die Infrastruktur bleibt ein kritischer Faktor für Afghanistan, trotz der seit 2002 erreichten Infrastrukturinvestitionen und -optimierungen. Seit dem Fall der ersten Taliban wurde das afghanische Verkehrswesen in städtischen und ländlichen Gebieten grundlegend erneuert. Beachtenswert ist die Vollendung der „Ring Road“, welche Zentrum und Peripherie des Landes sowie die Peripherie mit den Nachbarländern verbindet. Investitionen in ein integriertes Verkehrsnetzwerk werden systematisch geplant und umgesetzt. Dies beinhaltet beispielsweise Entwicklungen im Bereich des Schienenverkehrs und im Straßenbau (z.B. Vervollständigung und Instandhaltung der Kabul Ring Road, des Salang-Tunnels, des Lapis Lazuli Korridors etc.), aber auch Investitionen aus dem Ausland zur Verbesserung und zum Ausbau des Straßennetzes und der Verkehrswege (LIB, S 26).
1.4.4.1 Internationale Flughäfen in Afghanistan
In Afghanistan gab es [vor der Machtübernahme der Taliban] insgesamt vier internationale Flughäfen; alle vier werden für militärische und zivile Flugdienste genutzt. Trotz jahrelanger Konflikte verzeichnete die afghanische Luftfahrtindustrie einen zahlenmäßigen Anstieg ihrer wettbewerbsfähigen Flugrouten. Daraus folgt ein erleichterter Zugang zu Flügen für die afghanische Bevölkerung. Die heimischen Flugdienste sehen sich mit einer wachsenden Konkurrenz durch verschiedene Flugunternehmen konfrontiert. Flugrouten wie Kabul - Herat und Kabul - Kandahar, die früher ausschließlich von Ariana Afghan Airlines angeboten wurden, wurden nun auch von internationalen Fluggesellschaften abgedeckt (LIB, S 31).
1.4.4.1.1 Internationaler Flughafen Hamid Karzai [Internationaler Flughafen Kabul]
Ehemals bekannt als internationaler Flughafen Kabul, wurde er im Jahr 2014 in „Internationaler Flughafen Hamid Karzai“ umbenannt. Er liegt 16 km außerhalb des Stadtzentrums von Kabul. In den letzten Jahren wurde der Flughafen erweitert und modernisiert. Ein neues internationales Terminal wurde hinzugefügt und das alte Terminal wird nun für nationale Flüge benutzt (LIB, S 31f).
Die Taliban haben Katar um technische Hilfe bei der Wiederaufnahme des Flughafenbetriebs auf dem Hamid-Karzai-Flughafen gebeten, der bei der überstürzten Evakuierung von mehr als 120.000 Menschen nach dem Abzug der amerikanischen Truppen am 30. August schwer beschädigt worden war. Vertreter aus Katar erklärten Anfang September, der Flughafen von Kabul sei zu 90 % wieder betriebsbereit (LIB, S 32).
Nationale (Kam Air, Ariana Afghan Airlines) und internationale Fluggesellschaften (z.B. Air India, Air Arabia, Fly Dubai…) boten [vor der Machtübernahme der Taliban] internationale Flüge von der Türkei, China, Indien, Aserbaidschan, Usbekistan, Pakistan, Saudi-Arabien, Kuwait und den Vereinigten Arabischen Emiraten nach Kabul an. Innerstaatlich gingen Flüge von und nach Kabul (durch Kam Air bzw. Ariana Afghan Airlines) zu den Flughäfen von Kandahar, Bost (Helmand, nahe Lashkargah), Tarinkot, Faizabad, Zaranj, Kunduz, Farah, Herat und Mazar-e Sharif (LIB, S 32).
1.4.4.1.2 Internationaler Flughafen Mazar-e Sharif
Im Jahr 2013 wurde der internationale Maulana Jalaluddin Balkhi Flughafen in Mazar-e Sharif, der Hauptstadt der Provinz Balkh, eröffnet. Nationale Airlines (Kam Air, Ariana Air) boten [vor der Machtübernahme der Taliban] internationale Flüge von Indien und der Türkei nach Mazar-e Sharif an. Innerstaatlich gingen Flüge von und nach Mazar-e Sharif (durch Kam Air bzw. Ariana Afghan Airlines) zum Flughafen von Kabul (LIB, S 32).
1.4.4.1.3 Internationaler Flughafen Herat
Der Flughafen Herat befindet sich etwa 10 km südlich von Herat-Stadt entfernt. Vor der Machtübernahme der Taliban wurden auf dem Flughafen jährlich etwa 350.000 Passagiere abgefertigt und die Verwaltung des Flughafens sowie die Instandhaltung des Flugplatzes wurden [vor ihrem Abzug] von den NATO-Streitkräften unter italienischem Kommando durchgeführt. Nationale Airlines (Kam Air und Ariana Afghan Airlines) flogen Herat international aus Saudi-Arabien an. Innerstaatlich gingen Flüge von und nach Herat (durch Kam Air bzw. Ariana Afghan Airlines) zum Flughafen von Kabul (LIB, S 32).
1.4.4.2 Nach der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021
Nachdem die Taliban die Kontrolle über Afghanistan übernommen haben, sind Tausende von Menschen über die Grenze von Chaman ins benachbarte Pakistan oder über den Grenzübergang Islam Kala in den Iran geflohen. Der Grenzübergang Torkham - neben Chaman der wichtigste Grenzübergang zwischen Afghanistan und Pakistan - war zeitweilig geschlossen, wurde Mitte September 2021 nach Angaben eines pakistanischen Behördenvertreters für Fußgänger jedoch wieder geöffnet. Ein ehemaliger US-Militärvertreter erklärte Anfang September 2021, Überlandverbindungen seien riskant, aber zurzeit die einzige Möglichkeit zur Flucht. Laut US-Militärkreisen haben die Taliban weitere Kontrollpunkte auf den Hauptstraßen nach Usbekistan und Tadschikistan errichtet. Die Islamisten verbieten zudem Frauen, ohne männliche Begleitung zu reisen (LIB, S 33)
1.4.5 Zentrale Akteure - Letzte Änderung: 16.09.2021
In Afghanistan sind unterschiedliche Gruppierungen aktiv, welche der [bis August 2021 im Amt befindlichen] Regierung feindlich gegenüber standen - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan war eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP), Al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und Eastern Turkistan Movement (LIB, S 40).
Die Geschichte Afghanistans ist seit langem von der Interaktion lokaler Kräfte mit dem Staat geprägt - von der Kooptation von Stammeskräften durch dynastische Herrscher über die Entstehung von Partisanen- und Mudschaheddin-Kräften nach der sowjetischen Invasion bis hin zu den anarchischen Milizkämpfen, die in den 1990er Jahren an die Stelle der Politik traten. Das Erbe der letzten Jahrzehnte der Mobilisierung und Militarisierung, der wechselnden Loyalitäten und der Umbenennung (sog. „re-hatting“: wenn eine bewaffnete Gruppe einen neuen Schirmherrn oder ein neues Etikett erhält, aber ihre Identität und Kohärenz beibehält) ist auch heute noch einer der stärksten Faktoren, die die afghanischen Kräfte und die damit verbundene politische Dynamik prägen. Die unmittelbar nach 2001 durchgeführten Reformen des Sicherheitssektors und die Demobilisierungswellen haben diese nie wirklich aufgelöst. Stattdessen wurden sie zu neuen Wegen, um die Parteinetzwerke und Klientelpolitik zu rehabilitieren oder zu legitimieren, oder in einigen Fällen neue sicherheitspolitische Akteure und Machthaber zu schaffen. Angesichts des Truppenabzugs der US-Streitkräfte haben verschiedene Machthaber Afghanistans, wie zum Beispiel Mohammad Ismail Khan (von der Partei Jamiat-e Islami), Abdul Rashid Dostum (Jombesh-e Melli Islami), Mohammad Atta Noor (Vorsitzender einer Jamiat-Fraktion), Mohammad Mohaqeq (Hezb-e Wahdat-e Mardom) und Gulbuddin Hekmatyar (Hezb-e Islami), im Sommer 2021 zum ersten Mal seit 20 Jahren wieder öffentlich über die Mobilisierung bewaffneter Männer außerhalb der afghanischen Armee- und Regierungsstrukturen gesprochen. Während die Präsenz von Milizen für viele Afghanen seit Jahren eine lokale Tatsache ist, wurde [in der Ära der afghanischen Regierungen 2001 -15.8.2021] doch noch nie so deutlich öffentlich die Notwendigkeit einer Mobilisierung gesprochen oder der Wunsch, autonome Einflusssphären zu schaffen, geäußert (LIB, 40f ).
1.4.5.1 Verbleibende und neue Akteure in Afghanistan
Obwohl die Taliban die Kontrolle über ganz Afghanistan haben - mit Ausnahme des Panjshir-Tals und anderer kleiner Widerstandsnester - ist anzumerken, dass die Taliban nicht der einzige Akteur im Land sind (Danish Immigration Service).
Im Panjshir -Tal hatten die Überreste der ehemaligen afghanischen Regierung und lokaler Milizen die National Resistance Front (NRF) unter der Führung des ehemaligen Vizepräsidenten der Republik Amrullah Saleh und Ahmad Massoud gebildet. Die NRF soll vor der Eroberung von Panjshir durch die Taliban aus mehreren Tausend Mann mit Ausrüstung der afghanischen Armee bestehen. In den Tagen nach der Eroberung von Panjshir durch die Taliban gelobte Massoud, dass die NRF den Taliban weiterhin Widerstand leisten werde (Danish Immigration Service).
Al-Qaida besteht aus rund 500 Mitgliedern und ist nach Einschätzung des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen (UNSC) in mindestens 15 der 34 Provinzen Afghanistans vor allem in den östlichen, südlichen und südöstlichen Regionen tätig. Der UNSC erklärt weiter, dass die Gruppe weiterhin eng mit den Taliban verbunden ist (Danish Immigration Service)
Es wird geschätzt, dass der Islamische Staat der Provinz Khorasan (ISKP) eine Kerngruppe von etwa 1.500 bis 2.200 Kämpfern hauptsächlich in kleinen Gebieten der östlichen Provinzen Kunar und Nangarhar hält, aber auch in geringerer Zahl in nördlichen Provinzen wie Balkh und Badakhshan präsent ist , Kunduz und Sar-e Pul. Die Gruppe erlitt im Jahr 2020 erhebliche Gebiets- und Personalverluste, erleichtert jedoch weiterhin Angriffe in ganz Afghanistan, einschließlich größerer Städte wie Dschalalabad und Kabul (Danish Immigration Service)
Unter anderen in Afghanistan noch präsenten Akteuren ist die Islamische Bewegung Usbekistans (IMU), die aus etwa 700 Kämpfern besteht, die in den Provinzen Faryab, Sar-e Pul und Jawzjan ansässig sind, wo sie auf lokale Zweige der Taliban zur finanziellen Unterstützung angewiesen sind (Danish Immigration Service)
1.4.5.2 Taliban - Letzte Änderung: 14.09.2021
Die Taliban sind seit Jahrzehnten in Afghanistan aktiv. Die Taliban-Führung regierte Afghanistan zwischen 1996 und 2001, als sie von US-amerikanischen/internationalen Streitkräften entmachtet wurde. Nach ihrer Entmachtung hat sie weiterhin einen Aufstand geführt. 2018 begannen die USA Verhandlungen mit einer Taliban-Delegation in Doha, im Februar 2020 wurde der Vertrag, in welchem sich die US-amerikanische Regierung zum Truppenabzug verpflichtete, unterschrieben, wobei die US-Truppen bis Ende August 2021 aus Afghanistan abzogen. Nachdem der bisherige Präsident Ashraf Ghani am 15.8.2021 aus Afghanistan geflohen war, nahmen die Taliban die Hauptstadt Kabul als die letzte aller großen afghanischen Städte ein. Die Taliban-Führung kehrte daraufhin aus Doha zurück, wo sie erstmals 2013 ein politisches Büro eröffnet hatte. Im September 2021 kündigten sie die Bildung einer „Übergangsregierung“ an. Entgegen früherer Aussagen handelt es sich dabei nicht um eine „inklusive“ Regierung unter Beteiligung unterschiedlicher Akteure, sondern um eine reine Talibanregierung (LIB, S 42f).
Seit 2001 hat die Gruppe einige Schlüsselprinzipien beibehalten, darunter eine strenge Auslegung der Scharia in den von ihr kontrollierten Gebieten. Die Taliban sind eine religiös motivierte, religiös konservative Bewegung, die das, was sie als ihre zentralen „Werte“ betrachten, nicht aufgeben wird. Wie sich diese Werte in einer künftigen Verfassung widerspiegeln und in der konkreten Politik zum Tragen kommen, hängt von den täglichen politischen Verhandlungen zwischen den verschiedenen politischen Kräften und dem Kräfteverhältnis zwischen ihnen ab. Aufgrund der schnellen und umfangreichen militärischen Siege der Taliban im Sommer 2021 hat die Gruppierung nun jedoch wenig Grund, die Macht mit anderen Akteuren zu teilen (LIB, S 43).
1.4.5.3 Struktur und Führung der Taliban - Letzte Änderung: 16.09.2021
Die Taliban bezeichneten sich [vor ihrer Machtübernahme] selbst als das Islamische Emirat Afghanistan. Sie positionierten sich als Schattenregierung Afghanistans. Ihre Kommissionen und Führungsgremien entsprachen den Verwaltungsämtern und -pflichten einer typischen Regierung, die in weiten Teilen Afghanistans eine Parallelverwaltung betrieb. Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando der Taliban sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert, welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (LIB, S 44).
Die wichtigsten Entscheidungen werden von einem Führungsrat getroffen, der nach seinem langjährigen Versteck auch als Quetta-Schura bezeichnet wird. Dem Rat gehören neben dem Taliban-Chef und dessen Stellvertretern rund zwei Dutzend weitere Personen an. Die Mitglieder der Quetta-Schura sind vor allem Vertreter des Talibanregimes von 1996-2001. Neben der Quetta-Schura, welche [vor der Machtübernahme der Taliban in Kabul] die Talibanangelegenheiten in elf Provinzen im Süden, Südwesten und Westen Afghanistans regelte, gibt es beispielsweise auch die Peshawar-Schura, welche diese Aufgabe in 19 weiteren Provinzen übernommen hat, sowie auch die Miran Shah-Schura. Das Haqqani-Netzwerk mit seinen Kommandanten in Ostafghanistan und Pakistan hat enge Verbindungen zu den beiden letztgenannten Schuras (LIB, S 44).
Die Quetta-Schura übt eine gewisse Kontrolle über die rund ein Dutzend verschiedenen Kommissionen aus, welche als „Ministerien“ fungierten. Die Taliban unterhielten [vor ihrer Machtübernahme in Kabul] beispielsweise eine Kommission für politische Angelegenheiten mit Sitz in Doha, welche im Februar 2020 die Friedensverhandlungen mit den USA abschloss. Nach Angaben des Talibansprechers Zabihullah Mujahid hat diese Kommission keine direkte Kontrolle über die Talibankämpfer in Afghanistan. Die militärischen Kommandostrukturen bis hinunter zur Provinz- und Distriktebene unterstehen nämlich der Kommission für militärische Angelegenheiten (LIB, S 44).
Die höchste Instanz in religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten ist Mullah Haibatullah Akhundzada. Er ist seit 2016 der „Amir al Muminin“ oder „Emir der Gläubigen“, ein Titel, der ihm von Aiman Al-Zawahiri, dem Anführer von Al-Qaida, verliehen wurde. Er hat drei Stellvertreter: 1.) der Stellvertreter für Politisches ist Mullah Abdul Ghani Baradar, der Leiter der Kommission für politische Angelegenheiten und Vorsitzender des Verhandlungsteams der Taliban in Doha; 2.) der Stellvertreter für die südlichen Provinzen und Leiter der militärischen Operationen bzw. der einflussreichen Kommission für militärische Angelegenheiten ist Mullah Mohammad Yaqoob; 3.) der Stellvertreter für die östlichen Provinzen ist Sirajuddin Haqqani, der auch der Anführer des Haqqani-Netzwerks und der Miran Shah-Schura ist. Im September 2021 wurde angekündigt, dass Baradar in der „Übergangsregierung“ die Position des stellvertretenden Vorsitzenden des Ministerrats einnehmen wird, Yaqoob soll Verteidigungsminister werden, Sirajuddin Haqqani Innenminister. Haibatullah Akhunzada wird sich als „Oberster Führer“ auf religiöse Angelegenheiten und die Regierungsführung im Rahmen des Islam konzentrieren (LIB, S 44).
Die Taliban treten nach außen hin geeint auf, trotz Berichten über interne Spannungen oder Spaltungen. Im Juni 2021 berichtete der UN-Sicherheitsrat, dass die unabhängigen Operationen und die Macht von Taliban-Kommandanten vor Ort für den Führungsrat der Taliban (die Quetta-Schura) zunehmend Anlass zur Sorge sind. Spannungen zwischen der politischen Führung und einigen militärischen Befehlshabern sind Ausdruck anhaltender interner Rivalitäten, Stammesfehden und Meinungsverschiedenheiten über die Verteilung der Einnahmen der Taliban. Zuletzt wurde auch über interne Meinungsverschiedenheiten bei der Regierungsbildung berichtet, was vom offiziellen Sprecher der Taliban jedoch dementiert wurde (LIB, S 45).
Die Taliban sind somit keine monolithische Organisation. Gemäß einem Experten für die Organisationsstruktur der Taliban unterstehen nur rund 40 - 45 Prozent der Truppen der Talibanführung. Rund 35 Prozent werden von Sirajuddin Haqqani, dem Kopf des Haqqani-Netzwerks und Stellvertreter von Mullah Akhundzada angeführt, weitere ca. 25 Prozent von Taliban aus dem Norden des Landes (Tadschiken und Usbeken). Was militärische Operationen betrifft, so handelt es sich um einen vernetzten Aufstand mit einer starken Führung an der Spitze und dezentralisierten lokalen Befehlshabern, die Ressourcen auf Distriktebene mobilisieren können (LIB, S 45).
1.4.5.4 Verfolgungspraxis der Taliban, neue technische Möglichkeiten - Letzte Änderung: 16.09.2021
Nach der Machtübernahme der Taliban wurde berichtet, dass die Taliban auf der Suche nach ehemaligen Mitarbeitern der internationalen Streitkräfte oder der afghanischen Regierung von Tür zu Tür gingen und deren Angehörige bedrohten. Ein Mitglied einer Rechercheorganisation, welche einen (nicht öffentlich zugänglichen) Bericht zu diesem Thema für die Vereinten Nationen verfasste, sprach von einer „schwarzen Liste“ der Taliban und großer Gefahr für jeden, der sich auf dieser Liste befände. Gemäß einem früheren Mitglied der afghanischen Verteidigungskräfte ist bei der Vorgehensweise der Taliban nun neu, dass sie mit einer Namensliste von Haus zu Haus gehen und Personen auf ihrer Liste suchen (LIB, S 37).
Die Taliban sind in den sozialen Medien aktiv, unter anderem zu Propagandazwecken. Gegenwärtig nutzt die Gruppierung soziale Medien und Internettechnik jedoch nicht nur für Propagandazwecke und ihre eigene Kommunikation, sondern auch, um Gegner des Taliban-Regimes aufzuspüren. Einem afghanischen Journalisten zufolge verwenden die Taliban soziale Netzwerke wie Facebook und LinkedIn derzeit intensiv, um jene Afghanen zu identifizieren, die mit westlichen Gruppen und der US-amerikanischen Hilfsagentur USAID zusammengearbeitet haben. Auch wurde berichtet, dass die Taliban bei Kontrollpunkten Telefone durchsuchen, um Personen mit Verbindungen zu westlichen Regierungen oder Organisationen bzw. zu den [ehemaligen] afghanischen Streitkräften (ANDSF) zu finden. Viele afghanische Bürgerinnen und Bürger, die für die internationalen Streitkräfte, internationale Organisationen und für Medien gearbeitet haben, oder sich in den sozialen Medien kritisch gegenüber den Taliban äußerten, haben aus Angst vor einer Verfolgung durch die Taliban ihre Profile in den sozialen Medien daher gelöscht (LIB, S 37f).
Unter anderem werten die Taliban auch aktuell im Internet verfügbare Videos und Fotos aus. Sie verfügen über Spezialkräfte, die in Sachen Informationstechnik und Bildforensik gut ausgebildet und ausgerüstet sind. Ihre Bildforensiker arbeiten gemäß einem Bericht vom August 2021 auf dem neuesten Stand der Technik der Bilderkennung und nutzen beispielsweise Gesichtserkennungssoftware. Im Rahmen der Berichterstattung über auf der Flucht befindliche Ortskräfte wurden von Medien unverpixelte Fotos veröffentlicht, welche für Personen, welche sich nun vor den Taliban verstecken, gefährlich werden können (LIB, S 38).
Im Zuge ihrer Offensive haben die Taliban Geräte zum Auslesen von biometrischen Daten erbeutet, welche ihnen die Identifikation von Hilfskräften der internationalen Truppen erleichtern könnte [Anm.: sog. HIIDE („Handheld Interagency Identity Detection Equipment“)-Geräte]. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist nicht genau bekannt, zu welchen Datenbanken die Taliban Zugriff haben. Laut Experten bieten die von den Taliban erlangten US-Gerätschaften nur begrenzten Zugang zu biometrischen Daten, die noch immer auf sicheren Servern gespeichert sind. Recherchen zeigten jedoch, dass eine größere Bedrohung von den Datenbanken der afghanischen Regierung selbst ausgeht, die sensible persönliche Informationen enthalten und zur Identifizierung von Millionen von Menschen im ganzen Land verwendet werden könnten. Betroffen sein könnte beispielsweise eine Datenbank, welche zum Zweck der Gehaltszahlung Angaben von Angehörigen der [ehemaligen] afghanischen Armee und Polizei enthält (das sog. Afghan Personnel and Pay System, APPS), aber auch andere Datenbanken mit biometrischen Angaben, welche die afghanische Regierung zur Erfassung ihrer Bürger anlegte, beispielsweise bei der Beantragung von Dokumenten, Bewerbungen für Regierungsposten oder Anmeldungen zur Aufnahmeprüfung für das Hochschulstudium. Eine Datenbank des [ehemaligen] afghanischen Innenministeriums, das Afghan Automatic Biometric Identification System (AABIS), sollte gemäß Plänen bis 2012 bereits 80 % der afghanischen Bevölkerung erfassen, also etwa 25 Millionen Menschen. Es gibt zwar keine öffentlich zugänglichen Informationen darüber, wie viele Datensätze diese Datenbank bis zum heutigen Zeitpunkt enthält, aber eine unbestätigte Angabe beziffert die Zahl auf immerhin 8,1 Millionen Datensätze. Trotz der Vielzahl von Systemen waren die unterschiedlichen Datenbanken allerdings nie vollständig miteinander verbunden (LIB, S 38).
Nach der Machtübernahme der Taliban hat Google einem Insider zufolge eine Reihe von E- Mail-Konten der bisherigen Kabuler Regierung vorläufig gesperrt. Etwa zwei Dutzend staatliche Stellen in Afghanistan sollen die Server von Google für E-Mails genutzt haben. Nach Angaben eines Experten wäre dies eine „wahre Fundgrube an Informationen“ für die Taliban, allein eine Mitarbeiterliste auf einem Google Sheet sei mit Blick auf Berichte über Repressalien gegen bisherige Regierungsmitarbeiter ein großes Problem. Mehrere afghanische Regierungsstellen nutzten auch E-Mail-Dienste von Microsoft, etwa das Außenministerium und das Präsidialamt. Unklar ist, ob das Softwareunternehmen Maßnahmen ergreift, um zu verhindern, dass Daten in die Hände der Taliban fallen. Ein Experte sagte, er halte die von den USA aufgebaute IT-Infrastruktur für einen bedeutenden Faktor für die Taliban. Dort gespeicherte Informationen seien „wahrscheinlich viel wertvoller für eine neue Regierung als alte Hubschrauber“ (LIB, S 38f ).
Da die Taliban Kabul so schnell einnahmen, hatten viele Büros zudem keine Zeit, Beweise zu vernichten, die sie in den Augen der Taliban belasten. Berichten zufolge wurden von der britischen Botschaft beispielsweise Dokumente zurückgelassen, welche persönliche Daten von afghanischen Ortskräften und Bewerbern enthielten (LIB, S 39).
Im Rahmen der Evakuierungsbemühungen von Ausländern und afghanischen Ortskräften nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul gaben US-Beamte den Taliban eine Liste mit den Namen US-amerikanischer Staatsbürger, Inhaber von Green Cards [Anm.: US-amer. Aufenthaltsberechtigungskarten] und afghanischer Verbündeter, um ihnen die Einreise in den von den Taliban kontrollierten Außenbereich des Flughafens von Kabul zu gewähren - eine Entscheidung, die kritisiert wurde. Gemäß einem Vertreter der US-amerikanischen Streitkräfte hätte die US-Regierung die betroffenen Afghanen somit auf eine „Todesliste“ gesetzt, wobei US-Präsident Biden in einer Pressekonferenz darauf angesprochen meinte, dass auf der Liste befindliche Afghanen von den Taliban bei den Kontrollen durchgelassen wurden (LIB, S 39).
1.4.5.5. Rekrutierungsstrategien Letzte Änderung: 16.09.2021
[Vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021 stellte sich die Lage folgendermaßen dar:]
Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban [vor ihrer Machtübernahme im August 2021] teilte die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert wurden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet waren (LIB, S 46).
Es besteht relativer Konsens darüber, wie die Rekrutierung für die Streitkräfte der Taliban erfolgte: Sie lief hauptsächlich über bestehende traditionelle Netzwerke und organisierte Aktivitäten im Zusammenhang mit religiösen Institutionen. Layha, der Verhaltenskodex der Taliban enthält einige Bestimmungen über verschiedene Formen der Einladung sowie Bestimmungen, wie sich die Kader verhalten sollen, um Menschen zu gewinnen und Sympathien aufzubauen. Eine der Sonderkomitees der Quetta Schura [Anm.: militante afghanische Organisation der Taliban mit Basis in Quetta/Pakistan] war für die Rekrutierung verantwortlich. UNAMA hat Fälle der Rekrutierung und des Einsatzes von Kindern durch die Taliban dokumentiert, um IEDs (Improvised Explosive Devices) zu platzieren, Sprengstoff zu transportieren, bei der Sammlung nachrichtendienstlicher Erkenntnisse zu helfen und Selbstmordattentate zu verüben, wobei auch positive Schritte von der Taliban-Kommission für die Verhütung ziviler Opfer und Beschwerden unternommen wurden, um Fälle von Rekrutierung und Einsatz von Kindern zu untersuchen und korrigierend einzugreifen (LIB, S 47).
In Gebieten, in denen regierungsfeindliche Gruppen in der Vergangenheit Kontrolle ausübten, gab es eine Vielzahl an Methoden, um Kämpfer zu rekrutieren, darunter auch solche, die auf Zwang basieren, wobei der Begriff Zwangsrekrutierung von Quellen unterschiedlich interpretiert und Informationen zur Rekrutierung unterschiedlich kategorisiert werden. Grundsätzlich hatten die Taliban keinen Mangel an freiwilligen Rekruten und machten nur in Ausnahmefällen von Zwangsrekrutierung Gebrauch. Druck und Zwang, den Taliban beizutreten, waren jedoch nicht immer gewalttätig. Landinfo versteht Zwang im Zusammenhang mit Rekrutierung dahingehend, dass jemand, der sich einer Mobilisierung widersetzt, speziellen Zwangsmaßnahmen und