TE Bvwg Erkenntnis 2021/9/27 W133 2173100-2

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 27.09.2021
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

27.09.2021

Norm

AsylG 2005 §13 Abs2 Z1
B-VG Art133 Abs4

Spruch


W133 2173100-1/35E
W133 2173100-2/15E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht fasst durch die Richterin Mag. Natascha GRUBER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch XXXX , gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl

1.       vom 15.09.2017, Zl. 1110614000/160488283, und

2.       vom 12.07.2019, Zl. 1110614000/160488283,

nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 25.06.2021

den Beschluss:

A)

I. Das Verfahren wird hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides vom 15.09.2017 wegen Zurückziehung der Beschwerde gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG in diesem Umfang eingestellt.

II. Die Beschwerde gegen den Bescheid vom 12.07.2019 wird mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass der Beschwerdeführer das Recht gemäß § 13 Abs. 1 AsylG 2005 zum Aufenthalt im Bundesgebiet ab 28.08.2020 verloren hat.

und erkennt zu Recht:

III. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides vom 15.09.2017 wird stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

IV. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für die Dauer eines Jahres erteilt.

V. Die Spruchpunkte III. und IV. des angefochtenen Bescheides vom 15.09.2017 werden ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

Der zum Zeitpunkt der Einreise minderjährige Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 05.04.2016 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

Anlässlich seiner Erstbefragung am 06.04.2016 vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes brachte der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen befragt vor, dass er von Terroristen mit dem Tod bedroht worden sei, weil er an einer militärischen Schule studiert habe.

Am 13.09.2017 wurde der Beschwerdeführer vor der nunmehr belangten Behörde, dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA), niederschriftlich einvernommen. Darin führte er zu seinen Fluchtgründen im Wesentlichen aus, dass er in Afghanistan eine Militärakademie besucht und Anrufe von den Taliban erhalten habe, in denen er aufgefordert worden sei, für sie zu arbeiten und eine Bombe in der Militärakademie zu verstecken. Im Zuge eines Treibstofftransportes sei sein Bruder schließlich von den Taliban gefangen genommen worden. Der Beschwerdeführer sei daraufhin erneut von den Taliban kontaktiert und bedroht worden, dass sie seinen Bruder hätten und er die Tat nun begehen müsse. Nach zwei oder drei Tagen sei sein Bruder aus der Gefangenschaft entkommen und sie seien daraufhin gemeinsam aus Afghanistan geflohen. Im Rahmen der Einvernahme legte der Beschwerdeführer Fotos der Militärakademie sowie integrationsbezeugende Unterlagen, insbesondere Bestätigungen einer ehrenamtlichen Tätigkeit, eines Werte- und Orientierungskurses, einer Basisbildung und mehrerer Deutschkurse sowie mehrere Empfehlungs- bzw. Unterstützungsschreiben, vor.

Das BFA wies den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz vom 05.04.2016 mit Bescheid vom 15.09.2017 zur Gänze ab (Spruchpunkte I. und II.), erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Entscheidung festgesetzt (Spruchpunkt IV.).

Begründend führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, dass der Beschwerdeführer keine Gefährdungslage glaubhaft gemacht habe, da seine Ausführungen vage, widersprüchlich und unplausibel seien. Er sei arbeitsfähig und im Falle einer Rückkehr könne er in Kabul leben, ohne der Gefahr einer unmenschlichen Behandlung oder einer im gesamten Herkunftsstaat vorliegenden extremen Gefährdungslage ausgesetzt zu sein. Es bestehe in Österreich auch kein schützenswertes Privat- oder Familienleben, das einer Rückkehrentscheidung entgegenstünde.

Mit Verfahrensanordnung vom 15.09.2017 teilte das BFA dem Beschwerdeführer mit, dass ihm die ARGE Rechtsberatung – Diakonie und Volkshilfe als Rechtsberater amtswegig zur Seite gestellt wird.

Mit Schreiben vom 05.10.2017 erhob der Beschwerdeführer im Wege seiner Rechtsvertretung gegen den Bescheid vom 15.09.2017 fristgerecht eine Beschwerde. Darin führt er aus, dass er im Rahmen seiner Erstbefragung darauf hingewiesen worden sei, sich kurz zu halten, weshalb er seine Fluchtgeschichte erst in der Einvernahme konkretisiert habe. Auch seien seine Schilderungen in der Kernaussage mit denen seines Bruders ident. Die geringfügigen Abweichungen seien darauf zurückzuführen, dass sie bei den Einvernahmen sehr nervös gewesen seien. Darüber hinaus sei der Beschwerdeführer aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit der Gefahr einer Zwangsrekrutierung durch die Taliban ausgesetzt. Da keine Rückkehrhilfen zur Verfügung stehen würden und er auch keine Arbeitsstelle bekommen würde, sei ihm aber jedenfalls subsidiärer Schutz zu gewähren.

Die gegenständliche Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt wurde dem Bundesverwaltungsgericht am 11.10.2017 vom BFA vorgelegt. Das Verfahren wurde der hg. Gerichtsabteilung W173 zugeteilt.

Mit Schreiben vom 19.12.2017 erfolgte eine Stellungnahme des damaligen Rechtsvertreters des Beschwerdeführers. Als Beilagen wurden unter anderem die Tazkira des Beschwerdeführers, eine Bestätigung über den Besuch der Militärakademie, Fotos der Militärakademie sowie Bestätigungen einer ehrenamtlichen Mitarbeit und der Teilnahme an dem Kurs „POLEposition Asyl“ beigelegt.

Mit Urkundenvorlage vom 05.01.2018 wurden wiederum Fotos der Militärakademie sowie Fotos zur Integration des Beschwerdeführers in Österreich vorgelegt.

Mit Urkundenvorlage vom 29.05.2019 wurden – neben bereits vorgelegten Unterlagen – weitere integrationsbezeugende Unterlagen (u.a. ein Empfehlungsschreiben, ein Pflichtschulabschlussprüfungszeugnis, Bestätigungen einer ehrenamtlichen Tätigkeit, eines Deutschkurses und des Kurses „POLEposition für AsylwerberInnen“, eine Einstellungszusage, Fotos hinsichtlich der Integration des Beschwerdeführers in Österreich, ÖSD Zertifikate auf dem Niveau A1, A2 und B1) übermittelt.

Die Staatsanwaltschaft Wien erhob am 27.06.2019, zu AZ: 405 St 113/19i, gegen den Beschwerdeführer Anklage wegen einer vorsätzlich begangenen strafbaren Handlung nach § 27 Abs. 2a SMG.

Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl sprach mit Bescheid vom 12.07.2019 aus, dass der Beschwerdeführer gemäß § 13 Abs. 2 Z 2 AsylG das Recht zum Aufenthalt im Bundesgebiet ab dem 27.06.2019 verloren habe. Begründend führte die belangte Behörde aus, dass gegen den Beschwerdeführer am 27.06.2019 Anklage erhoben worden sei.

Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 16.07.2019, zu AZ: 145 Hv 39/19x, wurde der Beschwerdeführer hinsichtlich des am 27.06.2019 wider ihn erhobenen Strafantrages gemäß § 259 Z 3 StPO freigesprochen.

Die Staatsanwaltschaft Wien erhob am 17.07.2019, zu AZ: 413 St 130/19y, erneut gegen den Beschwerdeführer Anklage wegen einer vorsätzlich begangenen strafbaren Handlung nach § 27 Abs. 2a zweiter Fall SMG.

Im Wege seiner Rechtsvertretung brachte der Beschwerdeführer am 10.08.2019 fristgerecht Beschwerde gegen den Bescheid vom 12.07.2019 ein. Darin wird im Wesentlichen ausgeführt, dass er bereits seit der erstinstanzlichen Ablehnung seines Antrages auf internationalen Schutz kein Aufenthaltsrecht in Österreich mehr habe, weshalb es des gegenständlich angefochtenen Bescheides nicht bedürfe. Nach Ansicht der Behörde solle sich dadurch allerdings seine Rechtsposition verschlechtern, weshalb der Entzug des Aufenthaltsrechtes auch sein Recht auf Vermutung der Unschuld nach Art. 6 Abs. 2 MRK verletze.

Die gegenständliche Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht am 12.08.2019 vom BFA vorgelegt.

Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 21.08.2019, zu AZ: 151 Hv 28/19y, wurde der Beschwerdeführer auch hinsichtlich des am 17.07.2019 wider ihn erhobenen Strafantrages gemäß § 259 Z 3 StPO freigesprochen.

Am 05.02.2020 stellte die Staatsanwaltschaft Wien zu AZ: 411 St 257/19k ein Ermittlungsverfahren gegen den Beschwerdeführer wegen §§ 142 Abs. 1 und 143 Abs. 1 StGB ein.

Der Beschwerdeführer wurde schließlich mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 24.08.2020, zu AZ: 82 Hv 38/20p, wegen einer vorsätzlich begangenen strafbaren Handlung nach § 27 Abs. 2a SMG zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von sechs Monaten verurteilt. Bei der Strafbemessung wurde seine bisherige Unbescholtenheit als mildernd, hingegen kein Umstand als erschwerend gewertet. Der Vollzug der verhängten Freiheitsstrafe wurde gemäß § 43 Abs. 1 StGB unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen. Die Rechtskraft trat mit 28.08.2020 ein.

Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses des Bundesverwaltungsgerichtes vom 23.03.2021 wurde das gegenständliche Beschwerdeverfahren der Gerichtsabteilung W173 abgenommen und der Gerichtsabteilung W133 neu zugwiesen.

Das Bundesverwaltungsgericht brachte dem Beschwerdeführer im Rahmen der Ladung zur mündlichen Verhandlung zur Kenntnis, dass es beabsichtigt, das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, die UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, die EASO-Länderleitlinien Afghanistan, den EASO-Bericht Afghanistan Netzwerke, den OCHA Strategic Situation Report: COVID-19 sowie FEWS NET Afghanistan der Entscheidung zu Grund zu legen.

Mit Eingabe vom 17.06.2021 wurde dem erkennenden Gericht ein Konvolut an integrationsbezeugenden Unterlagen vorgelegt und ausgeführt, dass der Beschwerdeführer herausragend gut integriert sei. Er habe bereits ehrenamtlich gearbeitet, aber auch bezahlte Arbeit geleistet. Er habe den Pflichtschulabschluss nachgeholt und verfüge über ein weitreichendes soziales Netzwerk in Österreich. Der Beschwerdeführer besitze auch bereits Deutschkenntnisse auf dem Niveau B1 und verbessere diese weiterhin. Im Falle eines Verbleibs in Österreich sei er selbsterhaltungsfähig. Der Beschwerdeführer bedaure sein Fehlverhalten sehr, er sei nicht erneut straffällig geworden und gewillt, den gelungenen Integrationsprozess fortzusetzen. Zu den vom erkennenden Gericht herangezogenen Länderinformationen wurde ausgeführt, dass diese auf verschiedene jüngste Entwicklungen nicht eingehen würden, nämlich auf den Abzug von internationalen Truppen, auf die wirtschaftlichen Auswirkungen der dritten COVID-19-Welle und auf die neuen Erkenntnisse zur Gefährdungslage für Rückkehrer. Der Beschwerdeführer verwies diesbezüglich auf eine Reihe von Quellen. Aufgrund der sich verschlechternden humanitären Lage und der Sicherheitslage würde er im Falle einer Rückkehr dem realen Risiko einer Verletzung der gemäß Art. 3 EMRK geschützten Rechtsgüter ausgesetzt sein.

Mit Eingabe vom 18.06.2021 legte der Beschwerdeführer ein E-Mail vom 17.06.2021 bezüglich der Anmeldung zu einem Vorbereitungslehrgang für den Besuch einer technischen Schule vor.

Am 25.06.2021 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, an der der Beschwerdeführer, dessen Rechtsvertreter, ein Dolmetscher für die Sprache Dari und ein Vertreter der belangten Behörde teilnahmen. In der mündlichen Verhandlung wurde der Beschwerdeführer eingehend zu seiner Identität, seiner Herkunft, zu seinen persönlichen Lebensumständen im Herkunftsstaat, zur Situation im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat und zu seiner Integration in Österreich befragt. Bezüglich seiner Integration in Österreich wurde auch eine Zeugin (eine Bekannte und ehemalige Vermieterin des Beschwerdeführers) gehört. Im Zuge der mündlichen Verhandlung legte der Beschwerdeführer ein Konvolut an medizinischen Unterlagen vor.

Im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung zog der rechtlich vertretene Beschwerdeführer aus freien Stücken die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides vom 15.09.2017 zurück. Des Weiteren stimmten beide Parteien zu, dass der Bescheid vom 12.07.2019 zu berichtigen und der Verlust des Aufenthaltsrechts ab 28.08.2020 auszusprechen ist.

Mit Urkundenvorlage vom 12.07.2021 wurden dem erkennenden Gericht medizinische Unterlagen des Beschwerdeführers vorgelegt.

Mit Urkundenvorlage vom 01.09.2021 wurde dem erkennenden Gericht ein Nachbehandlungsbericht eines näher genannten Krankenhauses vom 27.08.2021 vorgelegt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Zur Person des Beschwerdeführers

Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX .

Er ist afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken und sunnitisch muslimischen Glaubens. Seine Muttersprache ist Dari. Der Beschwerdeführer ist ledig und hat keine Kinder.

Der Beschwerdeführer reiste im April 2016 unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und stellte am 05.04.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz. Seit diesem Zeitpunkt hält sich der Beschwerdeführer durchgehend in Österreich auf.

Die Staatsanwaltschaft Wien erhob am 27.06.2019 zu AZ: 405 St 113/19i gegen den Beschwerdeführer Anklage wegen einer vorsätzlich begangenen gerichtlich strafbaren Handlung nach § 27 Abs. 2a SMG. Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 16.07.2019 zu AZ: 145 Hv 39/19x wurde der Beschwerdeführer hinsichtlich des am 27.06.2019 wider ihn erhobenen Strafantrages gemäß § 259 Z 3 StPO freigesprochen.

Der Beschwerdeführer ist allerdings strafgerichtlich nicht unbescholten. Er wurde mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 24.08.2020 zu AZ: 82 Hv 38/20p wegen einer vorsätzlich begangenen gerichtlich strafbaren Handlung nach § 27 Abs. 2a SMG zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von sechs Monaten verurteilt. Bei der Strafbemessung wurde seine bisherige Unbescholtenheit als mildernd, hingegen kein Umstand als erschwerend gewertet. Der Vollzug der verhängten Freiheitsstrafe wurde gemäß § 43 Abs. 1 StGB unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen. Die Rechtskraft trat mit 28.08.2020 ein.

Zur Situation des Beschwerdeführers im Falle einer Rückkehr in den Herkunftsstaat

Der Beschwerdeführer stammt aus einem Dorf im Distrikt XXXX der afghanischen Provinz Kabul, in welchem er gemeinsam mit seiner Familie bis zu seiner Ausreise aus Afghanistan lebte. Er besuchte dort insgesamt elf Jahre lang die Schule, wobei er etwa 1,5 Jahre eine Militärakademie besuchte. Er ist folglich mit den afghanischen Gepflogenheiten grundsätzlich vertraut und beherrscht eine der Landessprachen als Muttersprache.

Der Beschwerdeführer hat keine Berufsausbildung absolviert. In Afghanistan wurde er von seinem in Afghanistan lebenden Bruder finanziell unterstützt und erhielt zudem während der Ausbildung an der Militärakademie finanzielle Unterstützung von der afghanischen Regierung. In Österreich war der Beschwerdeführer bisher nicht selbsterhaltungsfähig, er hat allerdings große Bemühungen in seine schulische Weiterbildung gesetzt und war verschiedentlich ehrenamtlich tätig.

Ein Bruder des Beschwerdeführers ist ebenfalls als Asylwerber in Österreich aufhältig, mit diesem lebt er in einer gemeinsamen Wohnung. Die Eltern des Beschwerdeführers sind bereits verstorben. Die übrige Familie des Beschwerdeführers (zwei Brüder sowie mehrere Onkel und Tanten väterlicherseits und mütterlicherseits) lebt noch in seiner Heimatprovinz. Zu seinen in Afghanistan lebenden Brüdern hat der Beschwerdeführer etwa einmal alle drei Monate Kontakt. Der Beschwerdeführer könnte durch seine Familie in Afghanistan zumindest vorübergehend finanzielle Unterstützung erhalten.

Der Beschwerdeführer erlitt nach einem Sturz von einer Leiter am 09.04.2021 Frakturen dreier Wirbelkörper, wodurch seine Belastungsfähigkeit vorübergehend gemindert ist. Die Heilung des Beschwerdeführers schreitet allerdings gut voran. Von einer vollen Belastungs- und Arbeitsfähigkeit ist ab einem Zeitraum von Ende Juli bis Mitte September 2021 auszugehen. Erste Arbeitsversuche sind dem Beschwerdeführer schon wieder zumutbar. Darüber hinaus ist der Beschwerdeführer gesund. Er gehört keiner COVID-19-Risikogruppe an.

Festgestellt wird, dass die aktuell vorherrschende Pandemie aufgrund des Corona-Virus kein Rückkehrhindernis darstellt. Der Beschwerdeführer ist – abgesehen von den vorliegenden Wirbelkörperfrakturen – völlig gesund und gehört mit Blick auf sein Alter und das Fehlen physischer (chronischer) Vorerkrankungen keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 an. Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde.

Zur Lage im Herkunftsstaat

Die Feststellungen zum Herkunftsstaat beruhen maßgeblich auf dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation (LIB) in der aktuellsten Version 5 vom 16.09.2021 sowie dem Bericht Afghanistan “Recent developments in the security situation, impact on civilians and targeted individuals“ der dänischen Immigrationsbehörde vom September 2021 (Danish Immigration Service).

Politische Lage

Afghanistan war [vor der Machtübernahme der Taliban] ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen bis 39 Millionen Menschen (LIB, Politische Lage).

Nachdem der bisherige Präsident Ashraf Ghani am 15.8.2021 aus Afghanistan geflohen war, nahmen die Taliban die Hauptstadt Kabul als die letzte aller großen afghanischen Städte ein. Ghani gab auf seiner Facebook-Seite eine Erklärung ab, in der er den Sieg der Taliban vor Ort anerkannte. Diese Erklärung wurde weithin als Rücktritt interpretiert, obwohl nicht klar ist, ob die Erklärung die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für einen Rücktritt des Präsidenten erfüllt. Amrullah Saleh, der erste Vizepräsident Afghanistans unter Ghani, beanspruchte in der Folgezeit das Amt des Übergangspräsidenten für sich. Er ist Teil des Widerstands gegen die Taliban im Panjshir-Tal. Ein so genannter Koordinationsrat unter Beteiligung des früheren Präsidenten Hamid Karzai, Abdullah Abdullah (dem früheren Außenminister und Leiter der Delegation der vorigen Regierung bei den letztendlich erfolglosen Friedensverhandlungen) und Gulbuddin Hekmatyar führte mit den Taliban informelle Gespräche über eine Regierungsbeteiligung, die schließlich nicht zustande kam. Denn unabhängig davon, wer nach der afghanischen Verfassung das Präsidentenamt innehat, kontrollieren die Taliban den größten Teil des afghanischen Staatsgebiets. Sie haben das Islamische Emirat Afghanistan ausgerufen und am 7.9.2021 eine neue Regierung angekündigt, die sich größtenteils aus bekannten Taliban-Figuren zusammensetzt (LIB, Politische Lage).

Die Taliban lehnen die Demokratie und ihren wichtigsten Bestandteil, die Wahlen, generell ab. Sie tun dies oftmals mit Verweis auf die Mängel des demokratischen Systems und der Wahlen in Afghanistan in den letzten 20 Jahren, wie auch unter dem Aspekt, dass Wahlen und Demokratie in der vormodernen Periode des islamischen Denkens, der Periode, die sie als am authentischsten "islamisch" ansehen, keine Vorläufer haben. Sie halten einige Methoden zur Auswahl von Herrschern in der vormodernen muslimischen Welt für authentisch islamisch - zum Beispiel die Shura Ahl al-Hall wa'l-Aqd, den Rat derjenigen, die qualifiziert sind, einen Kalifen im Namen der muslimischen Gemeinschaft zu wählen oder abzusetzen. Ende August 2021 kündigten die Taliban an, eine Verfassung auszuarbeiten, jedoch haben sie sich zu den Einzelheiten des Staates, den ihre Führung in Afghanistan errichten möchte, bislang bedeckt gehalten (LIB, Politische Lage).

Im September 2021 kündigten sie die Bildung einer "Übergangsregierung" an. Entgegen früherer Aussagen handelt es sich dabei nicht um eine "inklusive" Regierung unter Beteiligung unterschiedlicher Akteure, sondern um eine reine Talibanregierung. Darin vertreten sind Mitglieder der alten Talibanelite, die schon in den 1990er Jahren zentrale Rollen besetzte, ergänzt mit Taliban-Führern, die im ersten Emirat noch zu jung waren, um zu regieren. Die allermeisten sind Paschtunen. Angeführt wird die neue Regierung von Mohammad Hassan Akhund. Er ist Vorsitzender der Minister, eine Art Premierminister. Akhund ist ein wenig bekanntes Mitglied des höchsten Taliban-Führungszirkels, der sogenannten Rahbari-Shura, besser bekannt als Quetta-Shura. Einer seiner Stellvertreter ist Abdul Ghani Baradar, der bisher das politische Büro der Taliban in Doha geleitet hat und so etwas wie das öffentliche Gesicht der Taliban war, ein weiterer Stellvertreter ist Abdul Salam Hanafi, der ebenfalls im politischen Büro in Doha tätig war. Mohammad Yakub, Sohn des Taliban-Gründers Mullah Omar und einer der Stellvertreter des Taliban-Führers Haibatullah Akhundzada, ist neuer Verteidigungsminister. Sirajuddin Haqqani, der Leiter des Haqqani-Netzwerks, wurde zum Innenminister ernannt. Das Haqqani-Netzwerk wird von den USA als Terrororganisation eingestuft. Der neue Innenminister steht auf der Fahndungsliste des FBI und auch der Vorsitzende der Minister, Akhund, befindet sich auf einer Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrates (LIB, Politische Lage).

Ein Frauenministerium findet sich nicht unter den bislang angekündigten Ministerien, auch wurden keine Frauen zu Ministerinnen ernannt [Anm.: Stand 7.9.2021]. Dafür wurde ein Ministerium für "Einladung, Führung, Laster und Tugend" eingeführt, das die Afghanen vom Namen her an das Ministerium "für die Förderung der Tugend und die Verhütung des Lasters" erinnern dürfte. Diese Behörde hatte während der ersten Taliban-Herrschaft von 1996 bis 2001 Menschen zum Gebet gezwungen oder Männer dafür bestraft, wenn sie keinen Bart trugen. Die höchste Instanz der Taliban in religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten, der "Amir al Muminin" oder "Emir der Gläubigen" Mullah Haibatullah Akhundzada wird sich als "Oberster Führer" Afghanistans auf religiöse Angelegenheiten und die Regierungsführung im Rahmen des Islam konzentrieren. Er kündigte an, dass alle Regierungsangelegenheiten und das Leben in Afghanistan den Gesetzen der Scharia unterworfen werden (LIB, Politische Lage).

Bezüglich der Verwaltung haben die Taliban Mitte August 2021 nach und nach die Behörden und Ministerien übernommen. Sie riefen die bisherigen Beamten und Regierungsmitarbeiter dazu auf, wieder in den Dienst zurückzukehren, ein Aufruf, dem manche von ihnen auch folgten. Es gibt Anzeichen dafür, dass einige Anführer der Gruppe die Grenzen ihrer Fähigkeit erkennen, den Regierungsapparat in technisch anspruchsvolleren Bereichen zu bedienen. Zwar haben die Taliban seit ihrem Erstarken in den vergangenen zwei Jahrzehnten in einigen ländlichen Gebieten Afghanistans eine so genannte Schattenregierung ausgeübt, doch war diese rudimentär und von begrenztem Umfang, und in Bereichen wie Gesundheit und Bildung haben sie im Wesentlichen die Dienstleistungen des afghanischen Staates und von Nichtregierungsorganisationen übernommen (LIB, Politische Lage).

Bis zum Sturz der alten Regierung wurden ca. 75% bis 80% des afghanischen Staatsbudgets von Hilfsorganisationen bereitgestellt, Finanzierungsquellen, die zumindest für einen längeren Zeitraum ausgesetzt sein werden, während die Geber die Entwicklung beobachten. So haben die EU und mehrere ihrer Mitgliedsstaaten in der Vergangenheit mit der Einstellung von Hilfszahlungen gedroht, falls die Taliban die Macht übernehmen und ein islamisches Emirat ausrufen sollten, oder Menschen- und Frauenrechte verletzen sollten. Die USA haben rund 9,5 Milliarden US-Dollar an Reserven der afghanischen Zentralbank sofort [nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul] eingefroren, Zahlungen des IWF und der EU wurden ausgesetzt. Die Taliban verfügen weiterhin über die Einnahmequellen, die ihren Aufstand finanzierten, sowie über den Zugang zu den Zolleinnahmen, auf die sich die frühere Regierung für den Teil ihres Haushalts, den sie im Inland aufbrachte, stark verließ. Ob neue Geber einspringen werden, um einen Teil des Defizits auszugleichen, ist noch nicht klar (LIB, Politische Lage).

Die USA zeigten sich angesichts der Regierungsbeteiligung von Personen, die mit Angriffen auf US-Streitkräfte in Verbindung gebracht werden, besorgt und die EU erklärte, die islamistische Gruppe habe ihr Versprechen gebrochen, die Regierung "integrativ und repräsentativ" zu machen. Deutschland und die USA haben eine baldige Anerkennung der von den militant-islamistischen Taliban verkündeten Übergangsregierung Anfang September 2021 ausgeschlossen (LIB, Politische Lage).

Vertreter der National Resistance Front (NRF) haben die internationale Gemeinschaft darum gebeten, die Taliban-Regierung nicht anzuerkennen. Ahmad Massoud, einer der Anführer der NRF, kündigte an, nach Absprachen mit anderen Politikern eine Parallelregierung zu der von ihm als illegitim bezeichneten Talibanregierung bilden zu wollen (LIB, Politische Lage).

Friedensverhandlungen, Abzug der internationalen Truppen und Machtübernahme der Taliban

2020 fanden die ersten ernsthaften Verhandlungen zwischen allen Parteien des Afghanistan-Konflikts zur Beendigung des Krieges statt. Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet - die damalige afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthielt das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nicht-amerikanischen NATO-Truppen sollten abgezogen werden. Dafür hatten die Taliban beispielsweise zugesichert, zu verhindern, dass "irgendeiner ihrer Mitglieder, andere Individuen oder Gruppierungen, einschließlich Al-Qaida, den Boden Afghanistans nutzt, um die Sicherheit der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten zu bedrohen" (LIB, Friedensverhandlungen, Abzug der internationalen Truppen und Machtübernahme der Taliban).

Die Verhandlungen mit den USA lösten bei den Taliban ein Gefühl des Triumphs aus. Indem sie mit den Taliban verhandelten, haben die USA sie offiziell als politische Gruppe und nicht mehr als Terroristen anerkannt [Anm.: das mit den Taliban verbundene Haqqani-Netzwerk wird von den USA mit Stand 7.9.2021 weiterhin als Terrororganisation eingestuft]. Gleichzeitig unterminierten die Verhandlungen aber auch die damalige afghanische Regierung, die von den Gesprächen zwischen den Taliban und den USA ausgeschlossen wurde (LIB, Friedensverhandlungen, Abzug der internationalen Truppen und Machtübernahme der Taliban).

Im September 2020 starteten die Friedensgespräche zwischen der damaligen afghanischen Regierung und den Taliban in Katar. Der Regierungsdelegation gehörten nur wenige Frauen an, aufseiten der Taliban war keine einzige Frau an den Gesprächen beteiligt. Auch Opfer des bewaffneten Konflikts waren nicht vertreten, obwohl Menschenrechtsgruppen dies gefordert hatten (LIB, Friedensverhandlungen, Abzug der internationalen Truppen und Machtübernahme der Taliban).

Die Gewalt ließ jedoch nicht nach, selbst als afghanische Unterhändler zum ersten Mal in direkte Gespräche verwickelt wurden. Insbesondere im Süden, herrscht trotz des Beginns der Friedensverhandlungen weiterhin ein hohes Maß an Gewalt, was weiterhin zu einer hohen Zahl von Opfern unter der Zivilbevölkerung führt (LIB, Friedensverhandlungen, Abzug der internationalen Truppen und Machtübernahme der Taliban).

Mitte Juli 2021 kam es zu einem weiteren Treffen zwischen der ehemaligen afghanischen Regierung und den Vertretern der Taliban in Katar. In einer Erklärung, die nach zweitägigen Gesprächen veröffentlicht wurde, erklärten beide Seiten, dass sie das Leben der Zivilbevölkerung, die Infrastruktur und die Dienstleistungen schützen wollen. Ein Waffenstillstand wurde allerdings nicht beschlossen (LIB, Friedensverhandlungen, Abzug der internationalen Truppen und Machtübernahme der Taliban).

Abzug internationaler Truppen

Im April 2021 kündigte US-Präsident Joe Biden den Abzug der verbleibenden Truppen - etwa 2.500-3.500 US-Soldaten und etwa 7.000 NATO-Truppen - bis zum 11.9.2021 an, nach zwei Jahrzehnten US-Militärpräsenz in Afghanistan. Er erklärte weiter, die USA würden weiterhin "terroristische Bedrohungen" überwachen und bekämpfen sowie "die Regierung Afghanistans" und "die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte weiterhin unterstützen", allerdings ist nicht klar, wie die USA auf wahrgenommene Bedrohungen zu reagieren gedenken, sobald ihre Truppen abziehen. Die Taliban zeigten sich von der Ankündigung eines vollständigen und bedingungslosen Abzugs nicht besänftigt, sondern äußerten sich empört über die Verzögerung, da im Doha-Abkommen der 30.4.2021 als Datum für den Abzug der internationalen Truppen festgelegt worden war. In einer am 15.4.2021 veröffentlichten Erklärung wurden Drohungen angedeutet: Der "Bruch" des Doha-Abkommens "öffnet den Mudschaheddin des Islamischen Emirats den Weg, jede notwendige Gegenmaßnahme zu ergreifen, daher wird die amerikanische Seite für alle zukünftigen Konsequenzen verantwortlich gemacht werden, und nicht das Islamische Emirat". Am 31.8.2021 zog schließlich der letzte US-amerikanische Soldat aus Afghanistan ab. Schon zuvor verließ der bis dahin amtierende afghanische Präsident Ashraf Ghani das Land und die Taliban übernahmen die Hauptstadt Kabul am 15.8.2021 kampflos (LIB, Friedensverhandlungen, Abzug der internationalen Truppen und Machtübernahme der Taliban).

US-amerikanische, britische und deutsche Beamte sowie internationale NGOs wie Human Rights Watch (HRW) äußerten sich besorgt über die Sicherheit von ehemaligen Mitarbeitern der internationalen Streitkräfte, während die Taliban angaben, nicht gegen (ehemalige) Mitarbeiter der internationalen Truppen vorgehen zu wollen. Die Taliban behaupteten in der Erklärung, dass Afghanen, die für die ausländischen "Besatzungstruppen" gearbeitet hätten, "irregeführt" worden seien und "Reue" für ihre vergangenen Handlungen zeigen sollten, da diese einem "Verrat" am Islam und an Afghanistan gleichkämen (LIB, Friedensverhandlungen, Abzug der internationalen Truppen und Machtübernahme der Taliban).

Aktuelle Sicherheitslage

Mit April bzw. Mai 2021 nahmen die Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen stark zu, aber auch schon zuvor galt die Sicherheitslage in Afghanistan als volatil. Laut Berichten war der Juni 2021 der bis dahin tödlichste Monat mit den meisten militärischen und zivilen Opfern seit 20 Jahren in Afghanistan. Gemäß einer Quelle veränderte sich die Lage seit der Einnahme der ersten Provinzhauptstadt durch die Taliban - Zaranj in Nimruz - am 6.8.2021 in "halsbrecherischer Geschwindigkeit", innerhalb von zehn Tagen eroberten sie 33 der 34 afghanischen Provinzhauptstädte. Auch eroberten die Taliban mehrere Grenzübergänge und Kontrollpunkte, was der finanziell eingeschränkten Regierung dringend benötigte Zolleinnahmen entzog. Am 15.8.2021 floh Präsident Ashraf Ghani ins Ausland und die Taliban zogen kampflos in Kabul ein. Zuvor waren schon Jalalabad im Osten an der Grenze zu Pakistan gefallen, ebenso wie die nordafghanische Metropole Mazar-e Scharif. Ein Bericht führt den Vormarsch der Taliban in erster Linie auf die Schwächung der Moral und des Zusammenhalts der Sicherheitskräfte und der politischen Führung der Regierung zurück. Die Kapitulation so vieler Distrikte und städtischer Zentren ist nicht unbedingt ein Zeichen für die Unterstützung der Taliban durch die Bevölkerung, sondern unterstreicht vielmehr die tiefe Entfremdung vieler lokaler Gemeinschaften von einer stark zentralisierten Regierung, die häufig von den Prioritäten ihrer ausländischen Geber beeinflusst wird, auch wurde die weit verbreitete Korruption, beispielsweise unter den Sicherheitskräften, als ein Problem genannt (LIB, Sicherheitslage).

Im Panjshir-Tal, rund 55 km von Kabul entfernt, formierte sich nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul Mitte August 2021 Widerstand in Form der National Resistance Front (NRF), welche von Amrullah Saleh, dem ehemaligen Vizepräsidenten Afghanistans und Chef des National Directorate of Security [Anm.: NDS, afghan. Geheimdienst], sowie Ahmad Massoud, dem Sohn des verstorbenen Anführers der Nordallianz gegen die Taliban in den 1990ern, angeführt wird. Ihr schlossen sich Mitglieder der inzwischen aufgelösten Afghan National Defense and Security Forces (ANDSF) an, um im Panjshir-Tal und umliegenden Distrikten in Parwan und Baghlan Widerstand gegen die Taliban zu leisten. Sowohl die Taliban, als auch die NRF betonten zu Beginn, ihre Differenzen mittels Dialog überwinden zu wollen. Nachdem die US-Streitkräfte ihren Truppenabzug aus Afghanistan am 30.8.2021 abgeschlossen hatten, griffen die Taliban das Pansjhir-Tal jedoch an. Es kam zu schweren Kämpfen und nach sieben Tagen nahmen die Taliban das Tal nach eigenen Angaben ein, während die NRF am 6.9.2021 bestritt, dass dies geschehen sei (LIB, Sicherheitslage).

Weitere Kampfhandlungen gab es im August 2021 beispielsweise im Distrikt Behsud in der Provinz Maidan Wardak und in Khedir in Daikundi, wo es zu Scharmützeln kam, als die Taliban versuchten, lokale oder ehemalige Regierungskräfte zu entwaffnen (LIB, Sicherheitslage).

Seit der Beendigung der Kämpfe zwischen den Taliban und den afghanischen Streitkräften ist die Zahl der zivilen Opfer deutlich zurückgegangen (LIB, Sicherheitslage).

Vorfälle am Flughafen Kabul

Nachdem sich die Nachricht verbreitete, dass Präsident Ashraf Ghani das Land verlassen hatte, machten sich viele Menschen auf den Weg zum Flughafen, um aus dem Land zu fliehen. Im Zuge der Evakuierungsmissionen von Ausländern sowie Ortskräften aus Afghanistan kam es in der Menschenmenge zu Todesopfern, nachdem tausende Menschen aus Angst vor den Taliban zum Flughafen gekommen waren. Unter anderem fand auch eine Schießerei mit einem Todesopfer statt (LIB, Sicherheitslage).

Am 26.8.2021 wurde bei einem der Flughafeneingänge ein Selbstmordanschlag auf eine Menschenmenge verübt, bei dem mindestens 170 afghanische Zivilisten sowie 28 Talibankämpfer und 13 US-Soldaten, die das Gelände sichern sollten, getötet wurden. Der Islamische Staat Khorasan Provinz (ISKP) bekannte sich zu dem Anschlag. Die USA führten als Vergeltungsschläge daraufhin zwei Drohnenangriffe in Jalalabad und Kabul durch, wobei nach US-Angaben ein Drahtzieher des ISKP sowie ein Auto mit zukünftigen Selbstmordattentätern getroffen wurden. Berichten zufolge soll es bei dem Drohnenangriff in Kabul jedoch zu zehn zivilen Todesopfern gekommen sein (LIB, Sicherheitslage).

Verfolgung von Zivilisten und ehemaligen Mitgliedern der Streitkräfte

Bereits vor der Machtübernahme intensivierten die Taliban gezielte Tötungen von wichtigen Regierungsvertretern, Menschenrechtsaktivisten und Journalisten. Die Taliban kündigten nach ihrer Machtübernahme an, dass sie keine Vergeltung an Anhängern der früheren Regierung oder an Verfechtern verfassungsmäßig garantierter Rechte wie der Gleichberechtigung von Frauen, der Redefreiheit und der Achtung der Menschenrechte üben werden. Es gibt jedoch glaubwürdige Berichte über schwerwiegende Übergriffe von Taliban-Kämpfern, die von der Durchsetzung strenger sozialer Einschränkungen bis hin zu Verhaftungen, Hinrichtungen im Schnellverfahren und Entführungen junger, unverheirateter Frauen reichen. Einige dieser Taten scheinen auf lokale Streitigkeiten zurückzuführen oder durch Rache motiviert zu sein; andere scheinen je nach den lokalen Befehlshabern und ihren Beziehungen zu den Führern der Gemeinschaft zu variieren. Es ist nicht klar, ob die Taliban-Führung ihre eigenen Mitglieder für Verbrechen und Übergriffe zur Rechenschaft ziehen wird. Auch wird berichtet, dass es eine neue Strategie der Taliban sei, die Beteiligung an gezielten Tötungen zu leugnen, während sie ihren Kämpfern im Geheimen derartige Tötungen befehlen. Einem Bericht zufolge kann derzeit jeder, der eine Waffe und traditionelle Kleidung trägt, behaupten, ein Talib zu sein, und Durchsuchungen und Beschlagnahmungen durchführen. Die Taliban-Kämpfer auf der Straße kontrollieren die Bevölkerung nach eigenen Regeln und entscheiden selbst, was unangemessenes Verhalten, Frisur oder Kleidung ist. Frühere Angehörige der Sicherheitskräfte berichten, dass sie sich weniger vor der Taliban-Führung als vor den einfachen Kämpfern fürchten würden (LIB, Sicherheitslage).

Es wurde von Hinrichtungen von Zivilisten und Zivilistinnen sowie ehemaligen Angehörigen der afghanischen Sicherheitskräfte und Personen, die vor kurzem Anti-Taliban-Milizen beigetreten waren, berichtet. In der Provinz Ghazni soll es zur gezielten Tötung von neun Hazara-Männern gekommen sein. Während die Nachrichten aus weiten Teilen des Landes aufgrund der Schließung von Medienzweigstellen und der Einschüchterung von Journalisten durch die Taliban spärlich sind, gibt es Berichte über die Verfolgung von Journalisten und die Entführung einer Menschenrechtsanwältin. Die Taliban haben in den Tagen nach ihrer Machtübernahme systematisch in den von ihnen neu eroberten Gebieten Häftlinge aus den Gefängnissen entlassen: Eine Richterin wie auch eine Polizistin gaben an, von ehemaligen Häftlingen verfolgt bzw. von diesen identifiziert und daraufhin von den Taliban verfolgt worden zu sein (LIB, Sicherheitslage).

Erreichbarkeit

Die Infrastruktur bleibt ein kritischer Faktor für Afghanistan, trotz der seit 2002 erreichten Infrastrukturinvestitionen und -optimierungen. Seit dem Fall der ersten Taliban wurde das afghanische Verkehrswesen in städtischen und ländlichen Gebieten grundlegend erneuert. Beachtenswert ist die Vollendung der „Ring Road“, welche Zentrum und Peripherie des Landes sowie die Peripherie mit den Nachbarländern verbindet. Investitionen in ein integriertes Verkehrsnetzwerk werden systematisch geplant und umgesetzt. Dies beinhaltet beispielsweise Entwicklungen im Bereich des Schienenverkehrs und im Straßenbau (z.B. Vervollständigung und Instandhaltung der Kabul Ring Road, des Salang-Tunnels, des Lapis Lazuli Korridors etc.), aber auch Investitionen aus dem Ausland zur Verbesserung und zum Ausbau des Straßennetzes und der Verkehrswege (LIB, Erreichbarkeit).

Internationale Flughäfen in Afghanistan

In Afghanistan gab es [vor der Machtübernahme der Taliban] insgesamt vier internationale Flughäfen; alle vier werden für militärische und zivile Flugdienste genutzt. Trotz jahrelanger Konflikte verzeichnete die afghanische Luftfahrtindustrie einen zahlenmäßigen Anstieg ihrer wettbewerbsfähigen Flugrouten. Daraus folgt ein erleichterter Zugang zu Flügen für die afghanische Bevölkerung. Die heimischen Flugdienste sehen sich mit einer wachsenden Konkurrenz durch verschiedene Flugunternehmen konfrontiert. Flugrouten wie Kabul - Herat und Kabul - Kandahar, die früher ausschließlich von Ariana Afghan Airlines angeboten wurden, wurden nun auch von internationalen Fluggesellschaften abgedeckt (LIB, Erreichbarkeit).

Internationaler Flughafen Hamid Karzai [Internationaler Flughafen Kabul]

Ehemals bekannt als internationaler Flughafen Kabul, wurde er im Jahr 2014 in „Internationaler Flughafen Hamid Karzai“ umbenannt. Er liegt 16 km außerhalb des Stadtzentrums von Kabul. In den letzten Jahren wurde der Flughafen erweitert und modernisiert. Ein neues internationales Terminal wurde hinzugefügt und das alte Terminal wird nun für nationale Flüge benutzt (LIB, Erreichbarkeit).

Die Taliban haben Katar um technische Hilfe bei der Wiederaufnahme des Flughafenbetriebs auf dem Hamid-Karzai-Flughafen gebeten, der bei der überstürzten Evakuierung von mehr als 120.000 Menschen nach dem Abzug der amerikanischen Truppen am 30. August schwer beschädigt worden war. Vertreter aus Katar erklärten Anfang September, der Flughafen von Kabul sei zu 90 % wieder betriebsbereit (LIB, Erreichbarkeit).

Nationale (Kam Air, Ariana Afghan Airlines) und internationale Fluggesellschaften (z.B. Air India, Air Arabia, Fly Dubai…) boten [vor der Machtübernahme der Taliban] internationale Flüge von der Türkei, China, Indien, Aserbaidschan, Usbekistan, Pakistan, Saudi-Arabien, Kuwait und den Vereinigten Arabischen Emiraten nach Kabul an. Innerstaatlich gingen Flüge von und nach Kabul (durch Kam Air bzw. Ariana Afghan Airlines) zu den Flughäfen von Kandahar, Bost (Helmand, nahe Lashkargah), Tarinkot, Faizabad, Zaranj, Kunduz, Farah, Herat und Mazar-e Sharif (LIB, Erreichbarkeit).

Internationaler Flughafen Mazar-e Sharif

Im Jahr 2013 wurde der internationale Maulana Jalaluddin Balkhi Flughafen in Mazar-e Sharif, der Hauptstadt der Provinz Balkh, eröffnet. Nationale Airlines (Kam Air, Ariana Air) boten [vor der Machtübernahme der Taliban] internationale Flüge von Indien und der Türkei nach Mazar-e Sharif an. Innerstaatlich gingen Flüge von und nach Mazar-e Sharif (durch Kam Air bzw. Ariana Afghan Airlines) zum Flughafen von Kabul (LIB, Erreichbarkeit).

Internationaler Flughafen Kandahar

Der internationale Flughafen Kandahar befindet sich 16 km von Kandahar-Stadt entfernt und ist einer der größten Flughäfen des Landes. Ein Teil des Flughafens stand den internationalen Streitkräften zur Verfügung. Eine separate Militärbasis für einen Teil des [nun aufgelösten] afghanischen Heeres war dort ebenso zu finden, wie Gebäude für Firmen. Seit dem Winter 2021, als der Flughafen von den USA an die Afghanen übergeben wurde, ist ein Hauptradar des Flughafens kaputt gegangen und nun außer Betrieb. Afghanische Beamte suchten nach Auftragnehmern für den Betrieb, aber bis dahin sind die Flüge der Fluggesellschaften reduziert worden und konnten nur tagsüber landen (LIB, Erreichbarkeit).

Ariana Afghan Airlines und internationale Fluggesellschaften (z.B. Air India, Air Arabia, Fly Dubai…) boten [vor der Machtübernahme der Taliban] internationale Flüge von Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten nach Kandarhar an. Innerstaatlich gingen Flüge von und nach Kandahar (durch Kam Air bzw. Ariana Afghan Airlines) zum Flughafen nach Kabul(LIB, Erreichbarkeit).

Internationaler Flughafen Herat

Der Flughafen Herat befindet sich etwa 10 km südlich von Herat-Stadt entfernt. Vor der Machtübernahme der Taliban wurden auf dem Flughafen jährlich etwa 350.000 Passagiere abgefertigt und die Verwaltung des Flughafens sowie die Instandhaltung des Flugplatzes wurden [vor ihrem Abzug] von den NATO-Streitkräften unter italienischem Kommando durchgeführt. Nationale Airlines (Kam Air und Ariana Afghan Airlines) flogen Herat international aus Saudi-Arabien an. Innerstaatlich gingen Flüge von und nach Herat (durch Kam Air bzw. Ariana Afghan Airlines) zum Flughafen von Kabul (LIB, Erreichbarkeit).

Nach der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021

Nachdem die Taliban die Kontrolle über Afghanistan übernommen haben, sind Tausende von Menschen über die Grenze von Chaman ins benachbarte Pakistan oder über den Grenzübergang Islam Kala in den Iran geflohen. Der Grenzübergang Torkham - neben Chaman der wichtigste Grenzübergang zwischen Afghanistan und Pakistan - war zeitweilig geschlossen, wurde Mitte September 2021 nach Angaben eines pakistanischen Behördenvertreters für Fußgänger jedoch wieder geöffnet. Ein ehemaliger US-Militärvertreter erklärte Anfang September 2021, Überlandverbindungen seien riskant, aber zurzeit die einzige Möglichkeit zur Flucht. Laut US-Militärkreisen haben die Taliban weitere Kontrollpunkte auf den Hauptstraßen nach Usbekistan und Tadschikistan errichtet. Die Islamisten verbieten zudem Frauen, ohne männliche Begleitung zu reisen (LIB, Erreichbarkeit)

Zentrale Akteure

In Afghanistan sind unterschiedliche Gruppierungen aktiv, welche der [bis August 2021 im Amt befindlichen] Regierung feindlich gegenüber standen - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan war eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP), Al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und Eastern Turkistan Movement (LIB, Zentrale Akteure).

Die Geschichte Afghanistans ist seit langem von der Interaktion lokaler Kräfte mit dem Staat geprägt - von der Kooptation von Stammeskräften durch dynastische Herrscher über die Entstehung von Partisanen- und Mudschaheddin-Kräften nach der sowjetischen Invasion bis hin zu den anarchischen Milizkämpfen, die in den 1990er Jahren an die Stelle der Politik traten. Das Erbe der letzten Jahrzehnte der Mobilisierung und Militarisierung, der wechselnden Loyalitäten und der Umbenennung (sog. „re-hatting“: wenn eine bewaffnete Gruppe einen neuen Schirmherrn oder ein neues Etikett erhält, aber ihre Identität und Kohärenz beibehält) ist auch heute noch einer der stärksten Faktoren, die die afghanischen Kräfte und die damit verbundene politische Dynamik prägen. Die unmittelbar nach 2001 durchgeführten Reformen des Sicherheitssektors und die Demobilisierungswellen haben diese nie wirklich aufgelöst. Stattdessen wurden sie zu neuen Wegen, um die Parteinetzwerke und Klientelpolitik zu rehabilitieren oder zu legitimieren, oder in einigen Fällen neue sicherheitspolitische Akteure und Machthaber zu schaffen. Angesichts des Truppenabzugs der US-Streitkräfte haben verschiedene Machthaber Afghanistans, wie zum Beispiel Mohammad Ismail Khan (von der Partei Jamiat-e Islami), Abdul Rashid Dostum (Jombesh-e Melli Islami), Mohammad Atta Noor (Vorsitzender einer Jamiat-Fraktion), Mohammad Mohaqeq (Hezb-e Wahdat-e Mardom) und Gulbuddin Hekmatyar (Hezb-e Islami), im Sommer 2021 zum ersten Mal seit 20 Jahren wieder öffentlich über die Mobilisierung bewaffneter Männer außerhalb der afghanischen Armee- und Regierungsstrukturen gesprochen. Während die Präsenz von Milizen für viele Afghanen seit Jahren eine lokale Tatsache ist, wurde [in der Ära der afghanischen Regierungen 2001 -15.8.2021] doch noch nie so deutlich öffentlich die Notwendigkeit einer Mobilisierung gesprochen oder der Wunsch, autonome Einflusssphären zu schaffen, geäußert (LIB, Zentrale Akteure).

Im ersten Halbjahr 2021 waren - damals noch als „regierungsfeindliche Elemente“ bezeichnete - Gruppierungen wie die Taliban, ISKP und nicht näher definierte Elemente insgesamt für 64 % der zivilen Opfer verantwortlich. 39 % aller zivilen Opfer entfielen davon auf die Taliban, 9 % auf den ISKP und 16 % auf nicht näher definierte regierungsfeindliche Elemente. Vor der Machtübernahme der Taliban als „regierungsfreundliche bewaffnete Gruppierungen“ bezeichnete Akteure waren im selben Zeitraum für 2 % der von UNAMA erfassten zivilen Opfer verantwortlich. Auf Handlungen der [damals] regulären Streitkräfte der Afghan National Security and Defense Forces (ANDSF) wurden dagegen 23 % der zivilen Opfer zurückgeführt (LIB, Zentrale Akteure)

Verbleibende und neue Akteure in Afghanistan

Obwohl die Taliban die Kontrolle über ganz Afghanistan haben - mit Ausnahme des Panjshir-Tals und anderer kleiner Widerstandsnester - ist anzumerken, dass die Taliban nicht der einzige Akteur im Land sind (Danish Immigration Service).

Im Panjshir -Tal hatten die Überreste der ehemaligen afghanischen Regierung und lokaler Milizen die National Resistance Front (NRF) unter der Führung des ehemaligen Vizepräsidenten der Republik Amrullah Saleh und Ahmad Massoud gebildet. Die NRF soll vor der Eroberung von Panjshir durch die Taliban aus mehreren Tausend Mann mit Ausrüstung der afghanischen Armee bestehen. In den Tagen nach der Eroberung von Panjshir durch die Taliban gelobte Massoud, dass die NRF den Taliban weiterhin Widerstand leisten werde (Danish Immigration Service).

Al-Qaida besteht aus rund 500 Mitgliedern und ist nach Einschätzung des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen (UNSC) in mindestens 15 der 34 Provinzen Afghanistans vor allem in den östlichen, südlichen und südöstlichen Regionen tätig. Der UNSC erklärt weiter, dass die Gruppe weiterhin eng mit den Taliban verbunden ist (Danish Immigration Service).

Es wird geschätzt, dass der Islamische Staat der Provinz Khorasan (ISKP) eine Kerngruppe von etwa 1.500 bis 2.200 Kämpfern hauptsächlich in kleinen Gebieten der östlichen Provinzen Kunar und Nangarhar hält, aber auch in geringerer Zahl in nördlichen Provinzen wie Balkh und Badakhshan präsent ist. Die Gruppe erlitt im Jahr 2020 erhebliche Gebiets- und Personalverluste, führt jedoch weiterhin Angriffe in ganz Afghanistan, einschließlich größerer Städte wie Dschalalabad und Kabul, aus (Danish Immigration Service).

Unter anderen in Afghanistan noch präsenten Akteuren ist die Islamische Bewegung Usbekistans (IMU), die aus etwa 700 Kämpfern besteht, die in den Provinzen Faryab, Sar-e Pul und Jawzjan ansässig sind, wo sie auf lokale Zweige der Taliban zur finanziellen Unterstützung angewiesen sind (Danish Immigration Service).

Taliban

Die Taliban sind seit Jahrzehnten in Afghanistan aktiv. Die Taliban-Führung regierte Afghanistan zwischen 1996 und 2001, als sie von US-amerikanischen/internationalen Streitkräften entmachtet wurde. Nach ihrer Entmachtung hat sie weiterhin einen Aufstand geführt. Seit 2001 hat die Gruppe einige Schlüsselprinzipien beibehalten, darunter eine strenge Auslegung der Scharia in den von ihr kontrollierten Gebieten. Die Taliban sind eine religiös motivierte, religiös konservative Bewegung, die das, was sie als ihre zentralen "Werte" betrachten, nicht aufgeben wird. Wie sich diese Werte in einer künftigen Verfassung widerspiegeln und in der konkreten Politik zum Tragen kommen, hängt von den täglichen politischen Verhandlungen zwischen den verschiedenen politischen Kräften und dem Kräfteverhältnis zwischen ihnen ab. Aufgrund der schnellen und umfangreichen militärischen Siege der Taliban im Sommer 2021 hat die Gruppierung nun jedoch wenig Grund, die Macht mit anderen Akteuren zu teilen (LIB, Taliban).

Die Taliban bezeichneten sich [vor ihrer Machtübernahme] selbst als das Islamische Emirat Afghanistan. Sie positionierten sich als Schattenregierung Afghanistans. Ihre Kommissionen und Führungsgremien entsprachen den Verwaltungsämtern und -pflichten einer typischen Regierung, die in weiten Teilen Afghanistans eine Parallelverwaltung betrieb. Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando der Taliban sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert (LIB, Struktur und Führung).

Die wichtigsten Entscheidungen werden von einem Führungsrat getroffen, der nach seinem langjährigen Versteck auch als Quetta-Schura bezeichnet wird. Dem Rat gehören neben dem Taliban-Chef und dessen Stellvertretern rund zwei Dutzend weitere Personen an. Die Mitglieder der Quetta-Schura sind vor allem Vertreter des Talibanregimes von 1996-2001. Neben der Quetta-Schura, welche [vor der Machtübernahme der Taliban in Kabul] die Talibanangelegenheiten in elf Provinzen im Süden, Südwesten und Westen Afghanistans regelte, gibt es beispielsweise auch die Peshawar-Schura, welche diese Aufgabe in 19 weiteren Provinzen übernommen hat, sowie auch die Miran Shah-Schura. Das Haqqani-Netzwerk mit seinen Kommandanten in Ostafghanistan und Pakistan hat enge Verbindungen zu den beiden letztgenannten Schuras (LIB, Struktur und Führung).

Die Quetta-Schura übt eine gewisse Kontrolle über die rund ein Dutzend verschiedenen Kommissionen aus, welche als "Ministerien" fungierten. Die Taliban unterhielten [vor ihrer Machtübernahme in Kabul] beispielsweise eine Kommission für politische Angelegenheiten mit Sitz in Doha, welche im Februar 2020 die Friedensverhandlungen mit den USA abschloss. Nach Angaben des Talibansprechers Zabihullah Mujahid hat diese Kommission keine direkte Kontrolle über die Talibankämpfer in Afghanistan. Die militärischen Kommandostrukturen bis hinunter zur Provinz- und Distriktebene unterstehen nämlich der Kommission für militärische Angelegenheiten (LIB, Struktur und Führung).

Die höchste Instanz in religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten ist Mullah Haibatullah Akhundzada. Er ist seit 2016 der "Amir al Muminin" oder "Emir der Gläubigen", ein Titel, der ihm von Aiman Al-Zawahiri, dem Anführer von Al-Qaida, verliehen wurde. Er hat drei Stellvertreter. Im September 2021 wurde angekündigt, dass Baradar in der "Übergangsregierung" die Position des stellvertretenden Vorsitzenden des Ministerrats einnehmen wird, Yaqoob soll Verteidigungsminister werden, Sirajuddin Haqqani Innenminister. Haibatullah Akhunzada wird sich als "Oberster Führer" auf religiöse Angelegenheiten und die Regierungsführung im Rahmen des Islam konzentrieren (LIB, Struktur und Führung).

Die Taliban treten nach außen hin geeint auf, trotz Berichten über interne Spannungen oder Spaltungen. Im Juni 2021 berichtete der UN-Sicherheitsrat, dass die unabhängigen Operationen und die Macht von Taliban-Kommandanten vor Ort für den Führungsrat der Taliban (die Quetta-Schura) zunehmend Anlass zur Sorge sind. Spannungen zwischen der politischen Führung und einigen militärischen Befehlshabern sind Ausdruck anhaltender interner Rivalitäten, Stammesfehden und Meinungsverschiedenheiten über die Verteilung der Einnahmen der Taliban. Zuletzt wurde auch über interne Meinungsverschiedenheiten bei der Regierungsbildung berichtet, was vom offiziellen Sprecher der Taliban jedoch dementiert wurde (LIB, Struktur und Führung).

Die Taliban sind somit keine monolithische Organisation. Gemäß einem Experten für die Organisationsstruktur der Taliban unterstehen nur rund 40-45 Prozent der Truppen der Talibanführung. Rund 35 Prozent werden von Sirajuddin Haqqani, dem Kopf des Haqqani-Netzwerks und Stellvertreter von Mullah Akhundzada angeführt, weitere ca. 25 Prozent von Taliban aus dem Norden des Landes (Tadschiken und Usbeken). Was militärische Operationen betrifft, so handelt es sich um einen vernetzten Aufstand mit einer starken Führung an der Spitze und dezentralisierten lokalen Befehlshabern, die Ressourcen auf Distriktebene mobilisieren können (LIB, Struktur und Führung).

Verfolgungspraxis der Taliban, neue technische Möglichkeiten

Es gibt Berichte über grobe Menschenrechtsverletzungen durch die Taliban nach ihrer Machtübernahme im August 2021 (LIB, Allgemeine Menschenrechtsverletzung). Es wurde berichtet, dass die Taliban auf der Suche nach ehemaligen Mitarbeitern der internationalen Streitkräfte oder der afghanischen Regierung von Tür zu Tür gingen und deren Angehörige bedrohten. Ein Mitglied einer Rechercheorganisation, welche einen (nicht öffentlich zugänglichen) Bericht zu diesem Thema für die Vereinten Nationen verfasste, sprach von einer "schwarzen Liste" der Taliban und großer Gefahr für jeden, der sich auf dieser Liste befände. Gemäß einem früheren Mitglied der afghanischen Verteidigungskräfte ist bei der Vorgehensweise der Taliban nun neu, dass sie mit einer Namensliste von Haus zu Haus gehen und Personen auf ihrer Liste suchen (LIB, Verfolgungspraxis der Taliban, neue technische Möglichkeiten).

Die Taliban sind in den sozialen Medien aktiv, unter anderem zu Propagandazwecken. Gegenwärtig nutzt die Gruppierung soziale Medien und Internettechnik jedoch nicht nur für Propagandazwecke und ihre eigene Kommunikation, sondern auch, um Gegner des Taliban-Regimes aufzuspüren. Einem afghanischen Journalisten zufolge verwenden die Taliban soziale Netzwerke wie Facebook und LinkedIn derzeit intensiv, um jene Afghanen zu identifizieren, die mit westlichen Gruppen und der US-amerikanischen Hilfsagentur USAID zusammengearbeitet haben. Auch wurde berichtet, dass die Taliban bei Kontrollpunkten Telefone durchsuchen, um Personen mit Verbindungen zu westlichen Regierungen oder Organisationen bzw. zu den [ehemaligen] afghanischen Streitkräften (ANDSF) zu finden. Viele afghanische Bürgerinnen und Bürger, die für die internationalen Streitkräfte, internationale Organisationen und für Medien gearbeitet haben, oder sich in den sozialen Medien kritisch gegenüber den Taliban äußerten, haben aus Angst vor einer Verfolgung durch die Taliban ihre Profile in den sozialen Medien daher gelöscht (LIB, Verfolgungspraxis der Taliban, neue technische Möglichkeiten).

Unter anderem werten die Taliban auch aktuell im Internet verfügbare Videos und Fotos aus. Sie verfügen über Spezialkräfte, die in Sachen Informationstechnik und Bildforensik gut ausgebildet und ausgerüstet sind. Ihre Bildforensiker arbeiten gemäß einem Bericht vom August 2021 auf dem neuesten Stand der Technik der Bilderkennung und nutzen beispielsweise Gesichtserkennungssoftware. Im Rahmen der Berichterstattung über auf der Flucht befindliche Ortskräfte wurden von Medien unverpixelte Fotos veröffentlicht, welche für Personen, welche sich nun vor den Taliban verstecken, gefährlich werden können (LIB, Verfolgungspraxis der Taliban, neue technische Möglichkeiten).

Im Zuge ihrer Offensive haben die Taliban Geräte zum Auslesen von biometrischen Daten erbeutet, welche ihnen die Identifikation von Hilfskräften der internationalen Truppen erleichtern könnte [Anm.: sog. HIIDE ("Handheld Interagency Identity Detection Equipment")-Geräte]. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist nicht genau bekannt, zu welchen Datenbanken die Taliban Zugriff haben. Laut Experten bieten die von den Taliban erlangten US-Gerätschaften nur begrenzten Zugang zu biometrischen Daten, die noch immer auf sicheren Servern gespeichert sind. Recherchen zeigten jedoch, dass eine größere Bedrohung von den Datenbanken der afghanischen Regierung selbst ausgeht, die sensible persönliche Informationen enthalten und zur Identifizierung von Millionen von Menschen im ganzen Land verwendet werden könnten. Betroffen sein könnte beispielsweise eine Datenbank, welche zum Zweck der Gehaltszahlung Angaben von Angehörigen der [ehemaligen] afghanischen Armee und Polizei enthält (das sog. Afghan Personnel and Pay System, APPS), aber auch andere Datenbanken mit biometrischen Angaben, welche die afghanische Regierung zur Erfassung ihrer Bürger anlegte, beispielsweise bei der Beantragung von Dokumenten, Bewerbungen für Regierungsposten oder Anmeldungen zur Aufnahmeprüfung für das Hochschulstudium. Eine Datenbank des [ehemaligen] afghanischen Innenminsteriums, das Afghan Automatic Biometric Identification System (AABIS), sollte gemäß Plänen bis 2012 bereits 80 % der afghanischen Bevölkerung erfassen, also etwa 25 Millionen Menschen. Es gibt zwar keine öffentlich zugänglichen Informationen darüber, wie viele Datensätze diese Datenbank bis zum heutigen Zeitpunkt enthält, aber eine unbestätigte Angabe beziffert die Zahl auf immerhin 8,1 Millionen Datensätze. Trotz der Vielzahl von Systemen waren die unterschiedlichen Datenbanken allerdings nie vollständig miteinander verbunden (LIB, Verfolgungspraxis der Taliban, neue technische Möglichkeiten).

Nach der Machtübernahme der Taliban hat Google einem Insider zufolge eine Reihe von E-Mail-Konten der bisherigen Kabuler Regierung vorläufig gesperrt. Etwa zwei Dutzend staatliche Stellen in Afghanistan sollen die Server von Google für E-Mails genutzt haben. Nach Angaben eines Experten wäre dies eine "wahre Fundgrube an Informationen" für die Taliban, allein eine Mitarbeiterliste auf einem Google Sheet sei mit Blick auf Berichte über Repressalien gegen bisherige Regierungsmitarbeiter ein großes Problem. Mehrere afghanische Regierungsstellen nutzten auch E-Mail-Dienste von Microsoft, etwa das Außenministerium und das Präsidialamt. Unklar ist, ob das Softwareunternehmen Maßnahmen ergreift, um zu verhindern, dass Daten in die Hände der Taliban fallen. Ein Experte sagte, er halte die von den USA aufgebaute IT-Infrastruktur für einen bedeutenden Faktor für die Taliban. Dort gespeicherte Informationen seien "wahrscheinlich viel wertvoller für eine neue Regierung als alte Hubschrauber" (LIB, Verfolgungspraxis der Taliban, neue technische Möglichkeiten).

Da die Taliban Kabul so schnell einnahmen, hatten viele Büros zudem keine Zeit, Beweise zu vernichten, die sie in den Augen der Taliban belasten. Berichten zufolge wurden von der britischen Botschaft beispielsweise Do

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten