Entscheidungsdatum
28.09.2021Norm
AsylG 2005 §3Spruch
W133 2178072-1/15E
W133 2178171-1/20E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht fasst durch die Richterin Mag. Natascha GRUBER als Einzelrichterin über die Beschwerden von
1.) XXXX , geboren am XXXX und
2.) XXXX , geboren am XXXX ,
beide Staatsangehörige von Afghanistan, beide vertreten durch XXXX , gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl
1.) vom 24.10.2017, Zl. 1097204307-151895637 (betreffend XXXX ), und
2.) vom 24.10.2017, Zl. 1097204503-151895645 (betreffend XXXX ),
nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 02.07.2021 in beiden Verfahren
I. den Beschluss:
A) I. Die Verfahren werden hinsichtlich der jeweiligen Spruchpunkte I. und II. der beiden angefochtenen Bescheide wegen Zurückziehung der beiden Beschwerden in diesem Umfang eingestellt.
II. und erkennt zu Recht:
A) I. Beide Beschwerden werden hinsichtlich der Spruchpunkte III. erster Satz der angefochtenen Bescheide als unbegründet abgewiesen.
II. Beiden Beschwerden wird hinsichtlich der Spruchpunkte III. zweiter und dritter Satz der beiden angefochtenen Bescheide Folge gegeben und gemäß § 9 Abs. 2 und 3 BFA-VG Rückkehrentscheidungen betreffend XXXX , geboren am XXXX , und XXXX , geboren am XXXX , auf Dauer für unzulässig erklärt und beiden Beschwerdeführern jeweils der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung plus" gemäß §§ 55 Abs. 1 iVm 54 Abs. 1 Z 1 und Abs. 2 sowie 58 Abs. 2 AsylG für die Dauer von zwölf Monaten erteilt.
III. Die Spruchpunkte IV. der angefochtenen Bescheide werden ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG in beiden Fällen nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
Der Erstbeschwerdeführer und der Zweitbeschwerdeführer, beide afghanische Staatsangehörige, sind Brüder. Sie stellten am 29.11.2015 die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz.
Anlässlich ihrer Erstbefragungen am 30.11.2015 vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes brachten die Beschwerdeführenden zu ihren Fluchtgründen befragt vor, dass sie gemeinsam mit den Taliban kämpfen hätten sollen. Da sie dies nicht gewollt hätten, seien sie geflohen.
Hinsichtlich der Tatsachenfeststellung bezüglich der Unterscheidung zwischen Minder- und Volljährigkeit wurden die Beschwerdeführenden ärztlich untersucht. Mit gerichtsmedizinischen Gutachten vom 11.03.2016 wurde festgestellt, dass sich im Hinblick auf den Erstbeschwerdeführer ein Mindestalter von 18 Jahren zum Untersuchungszeitpunkt bzw. von 18 Jahren zum Asylantragsdatum sowie im Hinblick auf den Zweitbeschwerdeführer ein Mindestalter von 19 Jahren zum Untersuchungszeitpunkt bzw. von 18 Jahren zum Asylantragsdatum ergibt.
Die nunmehr belangte Behörde, das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA), setzte daher mit Verfahrensanordnungen vom 14.03.2016 das spätestmögliche „fiktive“ Geburtsdatum des Erstbeschwerdeführers mit XXXX und des Zweitbeschwerdeführers mit XXXX fest.
Am 10.10.2017 fanden die Einvernahmen der Beschwerdeführenden vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl statt. Darin brachten sie vor, dass sie eines Abends auf Anweisung eines Mullahs und zwei weiterer Männer die Moschee besuchen hätten müssen, in der auch Taliban anwesend gewesen seien und der Mullah gepredigt habe, dass sie im „Heiligen Krieg“ mitwirken müssten. Anschließend seien sie von den Taliban in Autos gezerrt worden. Im Zuge eines Zwischenstopps seien die Beschwerdeführenden geflohen. Ihr Vater habe daraufhin ihre Flucht organisiert, um sie vor einer Verfolgung durch die Taliban zu schützen. Die Beschwerdeführenden führten weiters aus, dass sie einen Deutschkurs und das Fitnessstudio besuchen sowie Fußball spielen würden. Darüber hinaus brachte der Erstbeschwerdeführer vor, dass er seinen Hauptschulabschluss nachhole. Der Zweitbeschwerdeführer führte zudem aus, dass er gemeinnützige Arbeit leiste. Im Rahmen der Einvernahmen wurden hinsichtlich des Erstbeschwerdeführers ein Empfehlungsschreiben vom 20.09.2017 und Bestätigungen über die Teilnahme an einem Basisbildungskurs vom 04.05.2017 und an einem Kurs zum Thema „Bildung für junge Flüchtlinge“ vom 27.01.2017 sowie hinsichtlich des Zweitbeschwerdeführers eine Deutschkursbestätigung vom 26.06.2017 und ein Stundenzettel für „Integrationstätigkeiten“ für den Monat September 2017 des Amtes der Vorarlberger Landesregierung im Ausmaß von 18 Stunden vorgelegt.
Das BFA wies die Anträge der Beschwerdeführenden auf internationalen Schutz vom 29.11.2015 jeweils mit Bescheiden vom 24.10.2017 zur Gänze ab (Spruchpunkte I. und II.), erteilte keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ Rückkehrentscheidungen und stellte fest, dass die Abschiebung der Beschwerdeführenden nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkte III.). Die Fristen für die freiwillige Ausreise wurden mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Entscheidungen festgesetzt (Spruchpunkte IV.).
Begründend führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, dass die Beschwerdeführenden keine Verfolgung durch den afghanischen Staat zu befürchten hätten und sie auch eine Verfolgung oder Bedrohung durch die Taliban nicht glaubhaft gemacht hätten. Ihre diesbezüglichen Ausführungen seien unplausibel und hätten den Eindruck einer konstruierten Verfolgungsgeschichte erweckt. Die Beschwerdeführenden seien gesund und arbeitsfähig mit mehrjähriger Arbeitserfahrung, weshalb ihnen eine Rückkehr nach Afghanistan zumutbar und möglich sei. Es bestehe in Österreich auch kein schützenswertes Privat- oder Familienleben, das einer Rückkehrentscheidung entgegenstünde.
Mit Verfahrensanordnungen vom 24.10.2017 teilte das BFA den Beschwerdeführenden mit, dass ihnen der „Verein Menschenrechte Österreich“ als Rechtsberater amtswegig zur Seite gestellt wird.
Mit Schreiben vom 21.11.2017 erhoben die Beschwerdeführenden im Wege ihrer Rechtsvertretung gegen die oben genannten Bescheide fristgerecht Beschwerde. Darin wird im Wesentlichen ausgeführt, dass die angefochtenen Bescheide mit Begründungsmängeln behaftet seien. Darüber hinaus bestehe keine innerstaatliche Fluchtalternative, da die Städte Afghanistans mit Binnenflüchtlingen und Rückkehrern überlaufen seien und es auch nicht realistisch sei, in der Großstadt eine Wohnung und Arbeit zu finden. Außerdem hätten die Beschwerdeführenden nicht die Möglichkeit, sich vor den Taliban zu verstecken, und sei eine Existenzsicherung ohne familiäre Verankerung am Wohnort nicht möglich.
Die gegenständliche Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt des Erstbeschwerdeführers wurde dem Bundesverwaltungsgericht am 28.11.2017 vom BFA vorgelegt. Das Verfahren wurde der hg. Gerichtsabteilung W173 zugeteilt.
Die gegenständliche Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt des Zweitbeschwerdeführers wurde dem Bundesverwaltungsgericht am 29.11.2017 vom BFA vorgelegt. Das Verfahren wurde ebenfalls der hg. Gerichtsabteilung W173 zugeteilt.
Mit Abtretungsbericht vom 25.04.2018 wurde gegen den Zweitbeschwerdeführer der Verdacht des Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften gemäß § 27 Abs. 2 SMG erhoben.
Mit Abschluss-Bericht vom 17.03.2019 wurde gegen den Erstbeschwerdeführer der Verdacht einer Körperverletzung erhoben.
Mit Abschluss-Bericht vom 16.02.2020 wurde gegen den Zweitbeschwerdeführer der Verdacht des Vergehens der versuchten Unterdrückung eines Beweismittels gemäß §§ 15, 295 StGB erhoben. Die Staatsanwaltschaft Feldkirch stellte am 21.02.2020 zu AZ: 928 085 BAZ 171/20p das gegenständliche Ermittlungsverfahren wegen §§ 15, 295 StGB gegen den Zweitbeschwerdeführer ein.
Mit Verfügungen des Geschäftsverteilungsausschusses des Bundesverwaltungsgerichtes vom 23.03.2021 wurden die gegenständlichen Beschwerdeverfahren der Gerichtsabteilung W173 abgenommen und der Gerichtsabteilung W133 neu zugwiesen.
Das Bundesverwaltungsgericht brachte den Beschwerdeführenden im Rahmen der Ladungen zu den mündlichen Verhandlungen zur Kenntnis, dass es beabsichtigt, das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, die UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, die EASO-Länderleitlinien Afghanistan, den EASO-Bericht Afghanistan Netzwerke, den OCHA Strategic Situation Report: COVID-19 sowie FEWS NET Afghanistan den Entscheidungen zu Grund zu legen.
Am 02.07.2021 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht bezüglich des Erstbeschwerdeführers eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, an der der Erstbeschwerdeführer, dessen Rechtsvertreter und ein Dolmetscher für die Sprache Dari teilnahmen. Ein Vertreter der belangten Behörde nahm an der Verhandlung entschuldigt nicht teil. In der mündlichen Verhandlung wurde der Erstbeschwerdeführer eingehend zu seiner Identität, seiner Herkunft, zu seinen persönlichen Lebensumständen im Herkunftsstaat, zur Situation im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat und zu seiner Integration in Österreich befragt. Im Zuge der mündlichen Verhandlung legte der Erstbeschwerdeführer – neben bereits vorgelegten Integrationsunterlagen – ein Zeugnis über die bestandene Integrationsprüfung auf dem Niveau A2 vom 14.05.2018, ein Zeugnis über die bestandene Pflichtschulabschluss-Prüfung vom 28.01.2020, eine Bestätigung über den Besuch eines Pflichtschulabschlusskurses vom 12.06.2018, mehrere Empfehlungsschreiben, Bestätigungen über die Teilnahme an den „Chancentagen 2018“ und an den Schulungen „Vorbeugender Brandschutz, Verhalten im Brandfall, Handhabung tragbarer Feuerlöscher“ und „Gut wohnen mit weniger Energie und Wasser“ sowie eine Bescheinigung über die Ablegung eines Erste-Hilfe-Kurses vom 20.09.2018 vor.
Ebenfalls am 02.07.2021 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht bezüglich des Zweitbeschwerdeführers eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, an der der Zweitbeschwerdeführer, dessen Rechtsvertreter und ein Dolmetscher für die Sprache Dari teilnahmen. Ein Vertreter der belangten Behörde nahm an der Verhandlung entschuldigt nicht teil. In der mündlichen Verhandlung wurde der Zweitbeschwerdeführer eingehend zu seiner Identität, seiner Herkunft, zu seinen persönlichen Lebensumständen im Herkunftsstaat, zur Situation im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat und zu seiner Integration in Österreich befragt. Bezüglich seiner Integration in Österreich wurde auch eine Zeugin (die Lebensgefährtin des Zweitbeschwerdeführers) gehört. Im Zuge der mündlichen Verhandlung legte der Zweitbeschwerdeführer – neben bereits vorgelegten Integrationsunterlagen – Unterlagen hinsichtlich seiner Erwerbstätigkeit, insbesondere einen Mietvertrag und einen Auszug aus dem Gewerbeinformationssystem Austria, sowie ein Zeugnis über die bestandene Integrationsprüfung auf dem Niveau A1 vom 06.07.2018 vor.
Im Rahmen der mündlichen Verhandlungen zogen die Beschwerdeführenden die Beschwerden gegen die Spruchpunkte I. und II. der angefochtenen Bescheide zurück.
Mit Eingabe vom 19.07.2021 wurden dem erkennenden Gericht hinsichtlich des Erstbeschwerdeführers ein vom Erstbeschwerdeführer gezeichneter, mit Erteilung einer Aufenthalts- und Arbeitsberechtigung aufschiebend bedingter Dienstvertrag eines näher genannten Restaurants vom 08.07.2021, Fotos des Erstbeschwerdeführers mit seinen Freunden sowie mehrere Empfehlungsschreiben vorgelegt.
Ebenfalls mit Eingabe vom 19.07.2021 wurden dem erkennenden Gericht in Bezug auf den Zweitbeschwerdeführer die Verlustmeldung des ÖIF-Zertifikats auf dem Niveau A2 vom 16.07.2021 sowie mehrere Empfehlungsschreiben vorgelegt.
Mit Eingabe vom 25.08.2021 wurde dem erkennenden Gericht in Bezug auf den Zweitbeschwerdeführer eine Periodensaldenliste vom 25.08.2021 und ein Zeugnis der bestandenen Integrationsprüfung auf dem Niveau A2 vom 13.03.2019 vorgelegt. Darüber hinaus wurde auf die aktuelle Lage in Afghanistan und auf die mittlerweile geänderte Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes hingewiesen, wonach auch jungen, gesunden Männern subsidiärer Schutz zu verleihen sei.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Zu den Personen der Beschwerdeführenden
Der Erstbeschwerdeführer führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Der Zweitbeschwerdeführer führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Die Beschwerdeführenden sind Brüder. Ihre Identität steht nicht zweifelsfrei fest.
Sie sind afghanische Staatsangehörige, Angehörige der Volksgruppe der Tadschiken und sunnitisch muslimischen Glaubens. Ihre Muttersprache ist Dari. Die Beschwerdeführenden sind ledig und haben keine Kinder.
Die Beschwerdeführenden stammen aus dem Dorf XXXX im Distrikt XXXX der afghanischen Provinz XXXX , in welchem sie bis zu ihrer Ausreise aus Afghanistan gelebt haben.
Die Eltern und die Geschwister (drei Schwestern und ein Bruder) der Beschwerdeführenden befinden sich seit mehreren Jahren auf der Flucht und sind derzeit in Serbien aufhältig. Lediglich ein Onkel der Beschwerdeführenden lebt noch in Afghanistan in der Stadt Kabul.
Zum (Privat- und Familien-)Leben der Beschwerdeführenden in Österreich
Die Beschwerdeführenden reisten im Jahr 2015 unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und stellten am 29.11.2015 Anträge auf internationalen Schutz. Seit diesem Zeitpunkt, somit seit etwa fünf Jahren und zehn Monaten, halten sich die Beschwerdeführenden durchgehend in Österreich auf.
Der Zweitbeschwerdeführer lebt in Österreich seit vier Monaten mit seiner österreichischen Lebensgefährtin, die er seit acht Monaten kennt, in einer gemeinsamen Wohnung. Auch der Erstbeschwerdeführer wohnt überwiegend in der Wohnung des Zweitbeschwerdeführers und dessen Lebensgefährtin. Die Beschwerdeführenden haben eine sehr gute Beziehung zueinander. Der Erstbeschwerdeführer erhält auch gelegentlich finanzielle Unterstützung durch den Zweitbeschwerdeführer, es besteht allerdings kein (finanzielles) Abhängigkeitsverhältnis.
Seit seiner Einreise absolvierte der Erstbeschwerdeführer erfolgreich eine Integrationsprüfung auf dem Niveau A2 (am 14.05.2018) und holte seinen Pflichtschulabschluss (am 28.01.2020) nach, im Rahmen dessen er u.a. das Prüfungsgebiet „Deutsch – Kommunikation und Gesellschaft“ iSd § 10 Abs. 2 Z 5 Integrationsgesetz (Modul 2 der Integrationsvereinbarung) gemäß Pflichtschulabschluss-Prüfungs-Gesetz, BGBl. I Nr. 72/2012, mit „Befriedigend grundlegende Allgemeinbildung“ und somit positiv abschloss. Der Erstbeschwerdeführer spricht gut Deutsch.
Auch der Zweitbeschwerdeführer hat seit seiner Einreise in Österreich Deutschkurse besucht und die Integrationsprüfungen auf dem Niveau A1 und A2 (am 13.03.2019) erfolgreich abgelegt. Er kann sich in der deutschen Sprache gut verständigen.
Der Erstbeschwerdeführer bestreitet derzeit seinen Lebensunterhalt im Rahmen der Grundversorgung und ist noch nicht selbsterhaltungsfähig, er hat jedoch in seine schulische Weiterbildung investiert. Er ist sehr an der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit interessiert. Er nahm insbesondere an zwei Tagen im November 2018 an den „Chancentagen 2018“, eine Initiative zur Berufsorientierung um SchülerInnen hochwertige Praxiseinblicke zu ermöglichen, teil. Der Erstbeschwerdeführer hat auch bereits konkrete Arbeitsstellen in Aussicht. Er könnte zum einen gemeinsam mit dem Zweitbeschwerdeführer in dessen Lebensmittelhandel mitarbeiten, er steht zum anderen aber auch in Kontakt mit einer Firma, die türkische Lebensmittel handelt, und hat darüber hinaus auch schon eine Jobzusage eines afghanischen Restaurants. Diesbezüglich hat er bereits einen mit Erteilung einer Aufenthalts- und Arbeitsberechtigung aufschiebend bedingten Dienstvertrag vom 08.07.2021 unterzeichnet, in welchem ein Monatsentgelt von EUR 1.700,00 brutto festgesetzt ist. Es ist daher von einer unmittelbar bevorstehenden Selbsterhaltungsfähigkeit auszugehen.
Der Erstbeschwerdeführer zeigte während seiner Zeit in Österreich eine große Lernbereitschaft, die sich neben der Ablegung der Pflichtschulabschluss-Prüfung und der Integrationsprüfung auf dem Niveau A2 auch in der Teilnahme an einem Basisbildungskurs, in der Absolvierung eines Erste-Hilfe-Kurses und in der Teilnahme an Seminaren und Schulungen zu den Themen „Vorbeugender Brandschutz, Verhalten im Brandfall, Handhabung tragbarer Feuerlöscher“ und „Gut wohnen mit weniger Energie und Wasser“ wiederspiegelte.
Der Zweitbeschwerdeführer ist bereits selbsterhaltungsfähig, er bezieht keine Leistungen aus der Grundversorgung. Er betreibt seit November 2019 ein Lebensmittelgeschäft, in dem er überwiegend afghanische, aber auch türkische Produkte sowie Obst und Gemüse verkauft. Er verfügt seit 04.11.2019 über eine Gewerbeberechtigung „Handelsgewerbe mit Ausnahme der reglementierten Handelsgewerbe, eingeschränkt auf den Handel mit Lebensmittel“. Darüber hinaus hat er im September 2017 viermalig „Integrationstätigkeiten“ für das Amt der Vorarlberger Landesregierung im Ausmaß von insgesamt 18 Stunden geleistet.
Beide Beschwerdeführenden haben bereits viele Freundschaften in Österreich geschlossen.
Die Beschwerdeführenden haben sich sowohl in sprachlicher und kultureller als auch in sozialer Hinsicht vollumfänglich in die sie umgebende Gesellschaft in Österreich eingegliedert. Sie wurden im Verfahren weiters als hilfsbereit, freundlich, liebevoll, motiviert, sozial engagiert, zielstrebig, anständig, respektvoll und höflich – auch Frauen gegenüber – und als Personen, die sich schnell der österreichischen Kultur und dem hiesigen Wertesystem angepasst haben, beschrieben.
Beide Beschwerdeführenden sind strafgerichtlich unbescholten.
Sie sind jedoch bereits in Konflikt mit dem Gesetz bzw. in Kontakt mit der Polizei geraten:
Mit Abschluss-Bericht vom 17.03.2019 wurde gegen den Erstbeschwerdeführer der Verdacht einer Körperverletzung erhoben. An dieser Tat war der Erstbeschwerdeführer allerdings nicht beteiligt.
Mit Abtretungsbericht vom 25.04.2018 wurde gegen den Zweitbeschwerdeführer der Verdacht des Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften gemäß § 27 Abs. 2 SMG erhoben. Mit Abschluss-Bericht vom 16.02.2020 wurde gegen den Zweitbeschwerdeführer der Verdacht des Vergehens der versuchten Unterdrückung eines Beweismittels gemäß §§ 15, 295 StGB erhoben. Die Staatsanwaltschaft Feldkirch stellte am 21.02.2020 zu AZ: 928 085 BAZ 171/20p das Ermittlungsverfahren gegen den Zweitbeschwerdeführer wegen §§ 15, 295 StGB ein. Der Zweitbeschwerdeführer hat sich in der Verhandlung aufrichtig von einem Konsum von Cannabis distanziert. Er widmet sich nun voll und ganz seiner Erwerbstätigkeit und ist um eine weitere Integration in Österreich bemüht.
Die Beschwerdeführenden sind zusammengefasst gut in die österreichische Gesellschaft integriert und außergewöhnlich lern- und arbeitswillig. Unter Berücksichtigung der bisherigen Lebensverläufe der Beschwerdeführenden und ihrer Zukunftsperspektiven ist von einer außergewöhnlich positiven Prognose auszugehen. Bei beiden Beschwerdeführenden liegt ein aufrechtes, äußerst verfestigtes Privatleben in Österreich vor. Eine Rückkehrentscheidung würde einen ungerechtfertigten Eingriff in das Privatleben der Beschwerdeführenden darstellen; vgl. dazu die diesbezüglichen Ausführungen im Rahmen der rechtlichen Beurteilung.
Zur Lage im Herkunftsstaat
Die Feststellungen zum Herkunftsstaat beruhen maßgeblich auf dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation (LIB) in der aktuellsten Version 5 vom 16.09.2021 sowie dem Bericht Afghanistan “Recent developments in the security situation, impact on civilians and targeted individuals“ der dänischen Immigrationsbehörde vom September 2021 (Danish Immigration Service).
Politische Lage
Afghanistan war [vor der Machtübernahme der Taliban] ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen bis 39 Millionen Menschen (LIB, Politische Lage).
Nachdem der bisherige Präsident Ashraf Ghani am 15.8.2021 aus Afghanistan geflohen war, nahmen die Taliban die Hauptstadt Kabul als die letzte aller großen afghanischen Städte ein. Ghani gab auf seiner Facebook-Seite eine Erklärung ab, in der er den Sieg der Taliban vor Ort anerkannte. Diese Erklärung wurde weithin als Rücktritt interpretiert, obwohl nicht klar ist, ob die Erklärung die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für einen Rücktritt des Präsidenten erfüllt. Amrullah Saleh, der erste Vizepräsident Afghanistans unter Ghani, beanspruchte in der Folgezeit das Amt des Übergangspräsidenten für sich. Er ist Teil des Widerstands gegen die Taliban im Panjshir-Tal. Ein so genannter Koordinationsrat unter Beteiligung des früheren Präsidenten Hamid Karzai, Abdullah Abdullah (dem früheren Außenminister und Leiter der Delegation der vorigen Regierung bei den letztendlich erfolglosen Friedensverhandlungen) und Gulbuddin Hekmatyar führte mit den Taliban informelle Gespräche über eine Regierungsbeteiligung, die schließlich nicht zustande kam. Denn unabhängig davon, wer nach der afghanischen Verfassung das Präsidentenamt innehat, kontrollieren die Taliban den größten Teil des afghanischen Staatsgebiets. Sie haben das Islamische Emirat Afghanistan ausgerufen und am 7.9.2021 eine neue Regierung angekündigt, die sich größtenteils aus bekannten Taliban-Figuren zusammensetzt (LIB, Politische Lage).
Die Taliban lehnen die Demokratie und ihren wichtigsten Bestandteil, die Wahlen, generell ab. Sie tun dies oftmals mit Verweis auf die Mängel des demokratischen Systems und der Wahlen in Afghanistan in den letzten 20 Jahren, wie auch unter dem Aspekt, dass Wahlen und Demokratie in der vormodernen Periode des islamischen Denkens, der Periode, die sie als am authentischsten "islamisch" ansehen, keine Vorläufer haben. Sie halten einige Methoden zur Auswahl von Herrschern in der vormodernen muslimischen Welt für authentisch islamisch - zum Beispiel die Shura Ahl al-Hall wa'l-Aqd, den Rat derjenigen, die qualifiziert sind, einen Kalifen im Namen der muslimischen Gemeinschaft zu wählen oder abzusetzen. Ende August 2021 kündigten die Taliban an, eine Verfassung auszuarbeiten, jedoch haben sie sich zu den Einzelheiten des Staates, den ihre Führung in Afghanistan errichten möchte, bislang bedeckt gehalten (LIB, Politische Lage).
Im September 2021 kündigten sie die Bildung einer "Übergangsregierung" an. Entgegen früherer Aussagen handelt es sich dabei nicht um eine "inklusive" Regierung unter Beteiligung unterschiedlicher Akteure, sondern um eine reine Talibanregierung. Darin vertreten sind Mitglieder der alten Talibanelite, die schon in den 1990er Jahren zentrale Rollen besetzte, ergänzt mit Taliban-Führern, die im ersten Emirat noch zu jung waren, um zu regieren. Die allermeisten sind Paschtunen. Angeführt wird die neue Regierung von Mohammad Hassan Akhund. Er ist Vorsitzender der Minister, eine Art Premierminister. Akhund ist ein wenig bekanntes Mitglied des höchsten Taliban-Führungszirkels, der sogenannten Rahbari-Shura, besser bekannt als Quetta-Shura. Einer seiner Stellvertreter ist Abdul Ghani Baradar, der bisher das politische Büro der Taliban in Doha geleitet hat und so etwas wie das öffentliche Gesicht der Taliban war, ein weiterer Stellvertreter ist Abdul Salam Hanafi, der ebenfalls im politischen Büro in Doha tätig war. Mohammad Yakub, Sohn des Taliban-Gründers Mullah Omar und einer der Stellvertreter des Taliban-Führers Haibatullah Akhundzada, ist neuer Verteidigungsminister. Sirajuddin Haqqani, der Leiter des Haqqani-Netzwerks, wurde zum Innenminister ernannt. Das Haqqani-Netzwerk wird von den USA als Terrororganisation eingestuft. Der neue Innenminister steht auf der Fahndungsliste des FBI und auch der Vorsitzende der Minister, Akhund, befindet sich auf einer Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrates (LIB, Politische Lage).
Ein Frauenministerium findet sich nicht unter den bislang angekündigten Ministerien, auch wurden keine Frauen zu Ministerinnen ernannt [Anm.: Stand 7.9.2021]. Dafür wurde ein Ministerium für "Einladung, Führung, Laster und Tugend" eingeführt, das die Afghanen vom Namen her an das Ministerium "für die Förderung der Tugend und die Verhütung des Lasters" erinnern dürfte. Diese Behörde hatte während der ersten Taliban-Herrschaft von 1996 bis 2001 Menschen zum Gebet gezwungen oder Männer dafür bestraft, wenn sie keinen Bart trugen. Die höchste Instanz der Taliban in religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten, der "Amir al Muminin" oder "Emir der Gläubigen" Mullah Haibatullah Akhundzada wird sich als "Oberster Führer" Afghanistans auf religiöse Angelegenheiten und die Regierungsführung im Rahmen des Islam konzentrieren. Er kündigte an, dass alle Regierungsangelegenheiten und das Leben in Afghanistan den Gesetzen der Scharia unterworfen werden (LIB, Politische Lage).
Bezüglich der Verwaltung haben die Taliban Mitte August 2021 nach und nach die Behörden und Ministerien übernommen. Sie riefen die bisherigen Beamten und Regierungsmitarbeiter dazu auf, wieder in den Dienst zurückzukehren, ein Aufruf, dem manche von ihnen auch folgten. Es gibt Anzeichen dafür, dass einige Anführer der Gruppe die Grenzen ihrer Fähigkeit erkennen, den Regierungsapparat in technisch anspruchsvolleren Bereichen zu bedienen. Zwar haben die Taliban seit ihrem Erstarken in den vergangenen zwei Jahrzehnten in einigen ländlichen Gebieten Afghanistans eine so genannte Schattenregierung ausgeübt, doch war diese rudimentär und von begrenztem Umfang, und in Bereichen wie Gesundheit und Bildung haben sie im Wesentlichen die Dienstleistungen des afghanischen Staates und von Nichtregierungsorganisationen übernommen (LIB, Politische Lage).
Bis zum Sturz der alten Regierung wurden ca. 75% bis 80% des afghanischen Staatsbudgets von Hilfsorganisationen bereitgestellt, Finanzierungsquellen, die zumindest für einen längeren Zeitraum ausgesetzt sein werden, während die Geber die Entwicklung beobachten. So haben die EU und mehrere ihrer Mitgliedsstaaten in der Vergangenheit mit der Einstellung von Hilfszahlungen gedroht, falls die Taliban die Macht übernehmen und ein islamisches Emirat ausrufen sollten, oder Menschen- und Frauenrechte verletzen sollten. Die USA haben rund 9,5 Milliarden US-Dollar an Reserven der afghanischen Zentralbank sofort [nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul] eingefroren, Zahlungen des IWF und der EU wurden ausgesetzt. Die Taliban verfügen weiterhin über die Einnahmequellen, die ihren Aufstand finanzierten, sowie über den Zugang zu den Zolleinnahmen, auf die sich die frühere Regierung für den Teil ihres Haushalts, den sie im Inland aufbrachte, stark verließ. Ob neue Geber einspringen werden, um einen Teil des Defizits auszugleichen, ist noch nicht klar (LIB, Politische Lage).
Die USA zeigten sich angesichts der Regierungsbeteiligung von Personen, die mit Angriffen auf US-Streitkräfte in Verbindung gebracht werden, besorgt und die EU erklärte, die islamistische Gruppe habe ihr Versprechen gebrochen, die Regierung "integrativ und repräsentativ" zu machen. Deutschland und die USA haben eine baldige Anerkennung der von den militant-islamistischen Taliban verkündeten Übergangsregierung Anfang September 2021 ausgeschlossen (LIB, Politische Lage).
Vertreter der National Resistance Front (NRF) haben die internationale Gemeinschaft darum gebeten, die Taliban-Regierung nicht anzuerkennen. Ahmad Massoud, einer der Anführer der NRF, kündigte an, nach Absprachen mit anderen Politikern eine Parallelregierung zu der von ihm als illegitim bezeichneten Talibanregierung bilden zu wollen (LIB, Politische Lage).
Friedensverhandlungen, Abzug der internationalen Truppen und Machtübernahme der Taliban
2020 fanden die ersten ernsthaften Verhandlungen zwischen allen Parteien des Afghanistan-Konflikts zur Beendigung des Krieges statt. Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet - die damalige afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthielt das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nicht-amerikanischen NATO-Truppen sollten abgezogen werden. Dafür hatten die Taliban beispielsweise zugesichert, zu verhindern, dass "irgendeiner ihrer Mitglieder, andere Individuen oder Gruppierungen, einschließlich Al-Qaida, den Boden Afghanistans nutzt, um die Sicherheit der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten zu bedrohen" (LIB, Friedensverhandlungen, Abzug der internationalen Truppen und Machtübernahme der Taliban).
Die Verhandlungen mit den USA lösten bei den Taliban ein Gefühl des Triumphs aus. Indem sie mit den Taliban verhandelten, haben die USA sie offiziell als politische Gruppe und nicht mehr als Terroristen anerkannt [Anm.: das mit den Taliban verbundene Haqqani-Netzwerk wird von den USA mit Stand 7.9.2021 weiterhin als Terrororganisation eingestuft]. Gleichzeitig unterminierten die Verhandlungen aber auch die damalige afghanische Regierung, die von den Gesprächen zwischen den Taliban und den USA ausgeschlossen wurde (LIB, Friedensverhandlungen, Abzug der internationalen Truppen und Machtübernahme der Taliban).
Im September 2020 starteten die Friedensgespräche zwischen der damaligen afghanischen Regierung und den Taliban in Katar. Der Regierungsdelegation gehörten nur wenige Frauen an, aufseiten der Taliban war keine einzige Frau an den Gesprächen beteiligt. Auch Opfer des bewaffneten Konflikts waren nicht vertreten, obwohl Menschenrechtsgruppen dies gefordert hatten (LIB, Friedensverhandlungen, Abzug der internationalen Truppen und Machtübernahme der Taliban).
Die Gewalt ließ jedoch nicht nach, selbst als afghanische Unterhändler zum ersten Mal in direkte Gespräche verwickelt wurden. Insbesondere im Süden, herrscht trotz des Beginns der Friedensverhandlungen weiterhin ein hohes Maß an Gewalt, was weiterhin zu einer hohen Zahl von Opfern unter der Zivilbevölkerung führt (LIB, Friedensverhandlungen, Abzug der internationalen Truppen und Machtübernahme der Taliban).
Mitte Juli 2021 kam es zu einem weiteren Treffen zwischen der ehemaligen afghanischen Regierung und den Vertretern der Taliban in Katar. In einer Erklärung, die nach zweitägigen Gesprächen veröffentlicht wurde, erklärten beide Seiten, dass sie das Leben der Zivilbevölkerung, die Infrastruktur und die Dienstleistungen schützen wollen. Ein Waffenstillstand wurde allerdings nicht beschlossen (LIB, Friedensverhandlungen, Abzug der internationalen Truppen und Machtübernahme der Taliban).
Abzug internationaler Truppen
Im April 2021 kündigte US-Präsident Joe Biden den Abzug der verbleibenden Truppen - etwa 2.500-3.500 US-Soldaten und etwa 7.000 NATO-Truppen - bis zum 11.9.2021 an, nach zwei Jahrzehnten US-Militärpräsenz in Afghanistan. Er erklärte weiter, die USA würden weiterhin "terroristische Bedrohungen" überwachen und bekämpfen sowie "die Regierung Afghanistans" und "die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte weiterhin unterstützen", allerdings ist nicht klar, wie die USA auf wahrgenommene Bedrohungen zu reagieren gedenken, sobald ihre Truppen abziehen. Die Taliban zeigten sich von der Ankündigung eines vollständigen und bedingungslosen Abzugs nicht besänftigt, sondern äußerten sich empört über die Verzögerung, da im Doha-Abkommen der 30.4.2021 als Datum für den Abzug der internationalen Truppen festgelegt worden war. In einer am 15.4.2021 veröffentlichten Erklärung wurden Drohungen angedeutet: Der "Bruch" des Doha-Abkommens "öffnet den Mudschaheddin des Islamischen Emirats den Weg, jede notwendige Gegenmaßnahme zu ergreifen, daher wird die amerikanische Seite für alle zukünftigen Konsequenzen verantwortlich gemacht werden, und nicht das Islamische Emirat". Am 31.8.2021 zog schließlich der letzte US-amerikanische Soldat aus Afghanistan ab. Schon zuvor verließ der bis dahin amtierende afghanische Präsident Ashraf Ghani das Land und die Taliban übernahmen die Hauptstadt Kabul am 15.8.2021 kampflos (LIB, Friedensverhandlungen, Abzug der internationalen Truppen und Machtübernahme der Taliban).
US-amerikanische, britische und deutsche Beamte sowie internationale NGOs wie Human Rights Watch (HRW) äußerten sich besorgt über die Sicherheit von ehemaligen Mitarbeitern der internationalen Streitkräfte, während die Taliban angaben, nicht gegen (ehemalige) Mitarbeiter der internationalen Truppen vorgehen zu wollen. Die Taliban behaupteten in der Erklärung, dass Afghanen, die für die ausländischen "Besatzungstruppen" gearbeitet hätten, "irregeführt" worden seien und "Reue" für ihre vergangenen Handlungen zeigen sollten, da diese einem "Verrat" am Islam und an Afghanistan gleichkämen (LIB, Friedensverhandlungen, Abzug der internationalen Truppen und Machtübernahme der Taliban).
Aktuelle Sicherheitslage
Mit April bzw. Mai 2021 nahmen die Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen stark zu, aber auch schon zuvor galt die Sicherheitslage in Afghanistan als volatil. Laut Berichten war der Juni 2021 der bis dahin tödlichste Monat mit den meisten militärischen und zivilen Opfern seit 20 Jahren in Afghanistan. Gemäß einer Quelle veränderte sich die Lage seit der Einnahme der ersten Provinzhauptstadt durch die Taliban - Zaranj in Nimruz - am 6.8.2021 in "halsbrecherischer Geschwindigkeit", innerhalb von zehn Tagen eroberten sie 33 der 34 afghanischen Provinzhauptstädte. Auch eroberten die Taliban mehrere Grenzübergänge und Kontrollpunkte, was der finanziell eingeschränkten Regierung dringend benötigte Zolleinnahmen entzog. Am 15.8.2021 floh Präsident Ashraf Ghani ins Ausland und die Taliban zogen kampflos in Kabul ein. Zuvor waren schon Jalalabad im Osten an der Grenze zu Pakistan gefallen, ebenso wie die nordafghanische Metropole Mazar-e Scharif. Ein Bericht führt den Vormarsch der Taliban in erster Linie auf die Schwächung der Moral und des Zusammenhalts der Sicherheitskräfte und der politischen Führung der Regierung zurück. Die Kapitulation so vieler Distrikte und städtischer Zentren ist nicht unbedingt ein Zeichen für die Unterstützung der Taliban durch die Bevölkerung, sondern unterstreicht vielmehr die tiefe Entfremdung vieler lokaler Gemeinschaften von einer stark zentralisierten Regierung, die häufig von den Prioritäten ihrer ausländischen Geber beeinflusst wird, auch wurde die weit verbreitete Korruption, beispielsweise unter den Sicherheitskräften, als ein Problem genannt (LIB, Sicherheitslage).
Im Panjshir-Tal, rund 55 km von Kabul entfernt, formierte sich nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul Mitte August 2021 Widerstand in Form der National Resistance Front (NRF), welche von Amrullah Saleh, dem ehemaligen Vizepräsidenten Afghanistans und Chef des National Directorate of Security [Anm.: NDS, afghan. Geheimdienst], sowie Ahmad Massoud, dem Sohn des verstorbenen Anführers der Nordallianz gegen die Taliban in den 1990ern, angeführt wird. Ihr schlossen sich Mitglieder der inzwischen aufgelösten Afghan National Defense and Security Forces (ANDSF) an, um im Panjshir-Tal und umliegenden Distrikten in Parwan und Baghlan Widerstand gegen die Taliban zu leisten. Sowohl die Taliban, als auch die NRF betonten zu Beginn, ihre Differenzen mittels Dialog überwinden zu wollen. Nachdem die US-Streitkräfte ihren Truppenabzug aus Afghanistan am 30.8.2021 abgeschlossen hatten, griffen die Taliban das Pansjhir-Tal jedoch an. Es kam zu schweren Kämpfen und nach sieben Tagen nahmen die Taliban das Tal nach eigenen Angaben ein, während die NRF am 6.9.2021 bestritt, dass dies geschehen sei (LIB, Sicherheitslage).
Weitere Kampfhandlungen gab es im August 2021 beispielsweise im Distrikt Behsud in der Provinz Maidan Wardak und in Khedir in Daikundi, wo es zu Scharmützeln kam, als die Taliban versuchten, lokale oder ehemalige Regierungskräfte zu entwaffnen (LIB, Sicherheitslage).
Seit der Beendigung der Kämpfe zwischen den Taliban und den afghanischen Streitkräften ist die Zahl der zivilen Opfer deutlich zurückgegangen (LIB, Sicherheitslage).
Vorfälle am Flughafen Kabul
Nachdem sich die Nachricht verbreitete, dass Präsident Ashraf Ghani das Land verlassen hatte, machten sich viele Menschen auf den Weg zum Flughafen, um aus dem Land zu fliehen. Im Zuge der Evakuierungsmissionen von Ausländern sowie Ortskräften aus Afghanistan kam es in der Menschenmenge zu Todesopfern, nachdem tausende Menschen aus Angst vor den Taliban zum Flughafen gekommen waren. Unter anderem fand auch eine Schießerei mit einem Todesopfer statt (LIB, Sicherheitslage).
Am 26.8.2021 wurde bei einem der Flughafeneingänge ein Selbstmordanschlag auf eine Menschenmenge verübt, bei dem mindestens 170 afghanische Zivilisten sowie 28 Talibankämpfer und 13 US-Soldaten, die das Gelände sichern sollten, getötet wurden. Der Islamische Staat Khorasan Provinz (ISKP) bekannte sich zu dem Anschlag. Die USA führten als Vergeltungsschläge daraufhin zwei Drohnenangriffe in Jalalabad und Kabul durch, wobei nach US-Angaben ein Drahtzieher des ISKP sowie ein Auto mit zukünftigen Selbstmordattentätern getroffen wurden. Berichten zufolge soll es bei dem Drohnenangriff in Kabul jedoch zu zehn zivilen Todesopfern gekommen sein (LIB, Sicherheitslage).
Verfolgung von Zivilisten und ehemaligen Mitgliedern der Streitkräfte
Bereits vor der Machtübernahme intensivierten die Taliban gezielte Tötungen von wichtigen Regierungsvertretern, Menschenrechtsaktivisten und Journalisten. Die Taliban kündigten nach ihrer Machtübernahme an, dass sie keine Vergeltung an Anhängern der früheren Regierung oder an Verfechtern verfassungsmäßig garantierter Rechte wie der Gleichberechtigung von Frauen, der Redefreiheit und der Achtung der Menschenrechte üben werden. Es gibt jedoch glaubwürdige Berichte über schwerwiegende Übergriffe von Taliban-Kämpfern, die von der Durchsetzung strenger sozialer Einschränkungen bis hin zu Verhaftungen, Hinrichtungen im Schnellverfahren und Entführungen junger, unverheirateter Frauen reichen. Einige dieser Taten scheinen auf lokale Streitigkeiten zurückzuführen oder durch Rache motiviert zu sein; andere scheinen je nach den lokalen Befehlshabern und ihren Beziehungen zu den Führern der Gemeinschaft zu variieren. Es ist nicht klar, ob die Taliban-Führung ihre eigenen Mitglieder für Verbrechen und Übergriffe zur Rechenschaft ziehen wird. Auch wird berichtet, dass es eine neue Strategie der Taliban sei, die Beteiligung an gezielten Tötungen zu leugnen, während sie ihren Kämpfern im Geheimen derartige Tötungen befehlen. Einem Bericht zufolge kann derzeit jeder, der eine Waffe und traditionelle Kleidung trägt, behaupten, ein Talib zu sein, und Durchsuchungen und Beschlagnahmungen durchführen. Die Taliban-Kämpfer auf der Straße kontrollieren die Bevölkerung nach eigenen Regeln und entscheiden selbst, was unangemessenes Verhalten, Frisur oder Kleidung ist. Frühere Angehörige der Sicherheitskräfte berichten, dass sie sich weniger vor der Taliban-Führung als vor den einfachen Kämpfern fürchten würden (LIB, Sicherheitslage).
Es wurde von Hinrichtungen von Zivilisten und Zivilistinnen sowie ehemaligen Angehörigen der afghanischen Sicherheitskräfte und Personen, die vor kurzem Anti-Taliban-Milizen beigetreten waren, berichtet. In der Provinz Ghazni soll es zur gezielten Tötung von neun Hazara-Männern gekommen sein. Während die Nachrichten aus weiten Teilen des Landes aufgrund der Schließung von Medienzweigstellen und der Einschüchterung von Journalisten durch die Taliban spärlich sind, gibt es Berichte über die Verfolgung von Journalisten und die Entführung einer Menschenrechtsanwältin. Die Taliban haben in den Tagen nach ihrer Machtübernahme systematisch in den von ihnen neu eroberten Gebieten Häftlinge aus den Gefängnissen entlassen: Eine Richterin wie auch eine Polizistin gaben an, von ehemaligen Häftlingen verfolgt bzw. von diesen identifiziert und daraufhin von den Taliban verfolgt worden zu sein (LIB, Sicherheitslage).
Erreichbarkeit
Die Infrastruktur bleibt ein kritischer Faktor für Afghanistan, trotz der seit 2002 erreichten Infrastrukturinvestitionen und -optimierungen. Seit dem Fall der ersten Taliban wurde das afghanische Verkehrswesen in städtischen und ländlichen Gebieten grundlegend erneuert. Beachtenswert ist die Vollendung der „Ring Road“, welche Zentrum und Peripherie des Landes sowie die Peripherie mit den Nachbarländern verbindet. Investitionen in ein integriertes Verkehrsnetzwerk werden systematisch geplant und umgesetzt. Dies beinhaltet beispielsweise Entwicklungen im Bereich des Schienenverkehrs und im Straßenbau (z.B. Vervollständigung und Instandhaltung der Kabul Ring Road, des Salang-Tunnels, des Lapis Lazuli Korridors etc.), aber auch Investitionen aus dem Ausland zur Verbesserung und zum Ausbau des Straßennetzes und der Verkehrswege (LIB, Erreichbarkeit).
Internationale Flughäfen in Afghanistan
In Afghanistan gab es [vor der Machtübernahme der Taliban] insgesamt vier internationale Flughäfen; alle vier werden für militärische und zivile Flugdienste genutzt. Trotz jahrelanger Konflikte verzeichnete die afghanische Luftfahrtindustrie einen zahlenmäßigen Anstieg ihrer wettbewerbsfähigen Flugrouten. Daraus folgt ein erleichterter Zugang zu Flügen für die afghanische Bevölkerung. Die heimischen Flugdienste sehen sich mit einer wachsenden Konkurrenz durch verschiedene Flugunternehmen konfrontiert. Flugrouten wie Kabul - Herat und Kabul - Kandahar, die früher ausschließlich von Ariana Afghan Airlines angeboten wurden, wurden nun auch von internationalen Fluggesellschaften abgedeckt (LIB, Erreichbarkeit).
Internationaler Flughafen Hamid Karzai [Internationaler Flughafen Kabul]
Ehemals bekannt als internationaler Flughafen Kabul, wurde er im Jahr 2014 in „Internationaler Flughafen Hamid Karzai“ umbenannt. Er liegt 16 km außerhalb des Stadtzentrums von Kabul. In den letzten Jahren wurde der Flughafen erweitert und modernisiert. Ein neues internationales Terminal wurde hinzugefügt und das alte Terminal wird nun für nationale Flüge benutzt (LIB, Erreichbarkeit).
Die Taliban haben Katar um technische Hilfe bei der Wiederaufnahme des Flughafenbetriebs auf dem Hamid-Karzai-Flughafen gebeten, der bei der überstürzten Evakuierung von mehr als 120.000 Menschen nach dem Abzug der amerikanischen Truppen am 30. August schwer beschädigt worden war. Vertreter aus Katar erklärten Anfang September, der Flughafen von Kabul sei zu 90 % wieder betriebsbereit (LIB, Erreichbarkeit).
Nationale (Kam Air, Ariana Afghan Airlines) und internationale Fluggesellschaften (z.B. Air India, Air Arabia, Fly Dubai…) boten [vor der Machtübernahme der Taliban] internationale Flüge von der Türkei, China, Indien, Aserbaidschan, Usbekistan, Pakistan, Saudi-Arabien, Kuwait und den Vereinigten Arabischen Emiraten nach Kabul an. Innerstaatlich gingen Flüge von und nach Kabul (durch Kam Air bzw. Ariana Afghan Airlines) zu den Flughäfen von Kandahar, Bost (Helmand, nahe Lashkargah), Tarinkot, Faizabad, Zaranj, Kunduz, Farah, Herat und Mazar-e Sharif (LIB, Erreichbarkeit).
Internationaler Flughafen Mazar-e Sharif
Im Jahr 2013 wurde der internationale Maulana Jalaluddin Balkhi Flughafen in Mazar-e Sharif, der Hauptstadt der Provinz Balkh, eröffnet. Nationale Airlines (Kam Air, Ariana Air) boten [vor der Machtübernahme der Taliban] internationale Flüge von Indien und der Türkei nach Mazar-e Sharif an. Innerstaatlich gingen Flüge von und nach Mazar-e Sharif (durch Kam Air bzw. Ariana Afghan Airlines) zum Flughafen von Kabul (LIB, Erreichbarkeit).
Internationaler Flughafen Kandahar
Der internationale Flughafen Kandahar befindet sich 16 km von Kandahar-Stadt entfernt und ist einer der größten Flughäfen des Landes. Ein Teil des Flughafens stand den internationalen Streitkräften zur Verfügung. Eine separate Militärbasis für einen Teil des [nun aufgelösten] afghanischen Heeres war dort ebenso zu finden, wie Gebäude für Firmen. Seit dem Winter 2021, als der Flughafen von den USA an die Afghanen übergeben wurde, ist ein Hauptradar des Flughafens kaputt gegangen und nun außer Betrieb. Afghanische Beamte suchten nach Auftragnehmern für den Betrieb, aber bis dahin sind die Flüge der Fluggesellschaften reduziert worden und konnten nur tagsüber landen (LIB, Erreichbarkeit).
Ariana Afghan Airlines und internationale Fluggesellschaften (z.B. Air India, Air Arabia, Fly Dubai…) boten [vor der Machtübernahme der Taliban] internationale Flüge von Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten nach Kandarhar an. Innerstaatlich gingen Flüge von und nach Kandahar (durch Kam Air bzw. Ariana Afghan Airlines) zum Flughafen nach Kabul(LIB, Erreichbarkeit).
Internationaler Flughafen Herat
Der Flughafen Herat befindet sich etwa 10 km südlich von Herat-Stadt entfernt. Vor der Machtübernahme der Taliban wurden auf dem Flughafen jährlich etwa 350.000 Passagiere abgefertigt und die Verwaltung des Flughafens sowie die Instandhaltung des Flugplatzes wurden [vor ihrem Abzug] von den NATO-Streitkräften unter italienischem Kommando durchgeführt. Nationale Airlines (Kam Air und Ariana Afghan Airlines) flogen Herat international aus Saudi-Arabien an. Innerstaatlich gingen Flüge von und nach Herat (durch Kam Air bzw. Ariana Afghan Airlines) zum Flughafen von Kabul (LIB, Erreichbarkeit).
Nach der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021
Nachdem die Taliban die Kontrolle über Afghanistan übernommen haben, sind Tausende von Menschen über die Grenze von Chaman ins benachbarte Pakistan oder über den Grenzübergang Islam Kala in den Iran geflohen. Der Grenzübergang Torkham - neben Chaman der wichtigste Grenzübergang zwischen Afghanistan und Pakistan - war zeitweilig geschlossen, wurde Mitte September 2021 nach Angaben eines pakistanischen Behördenvertreters für Fußgänger jedoch wieder geöffnet. Ein ehemaliger US-Militärvertreter erklärte Anfang September 2021, Überlandverbindungen seien riskant, aber zurzeit die einzige Möglichkeit zur Flucht. Laut US-Militärkreisen haben die Taliban weitere Kontrollpunkte auf den Hauptstraßen nach Usbekistan und Tadschikistan errichtet. Die Islamisten verbieten zudem Frauen, ohne männliche Begleitung zu reisen (LIB, Erreichbarkeit)
Zentrale Akteure
In Afghanistan sind unterschiedliche Gruppierungen aktiv, welche der [bis August 2021 im Amt befindlichen] Regierung feindlich gegenüber standen - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan war eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP), Al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und Eastern Turkistan Movement (LIB, Zentrale Akteure).
Die Geschichte Afghanistans ist seit langem von der Interaktion lokaler Kräfte mit dem Staat geprägt - von der Kooptation von Stammeskräften durch dynastische Herrscher über die Entstehung von Partisanen- und Mudschaheddin-Kräften nach der sowjetischen Invasion bis hin zu den anarchischen Milizkämpfen, die in den 1990er Jahren an die Stelle der Politik traten. Das Erbe der letzten Jahrzehnte der Mobilisierung und Militarisierung, der wechselnden Loyalitäten und der Umbenennung (sog. „re-hatting“: wenn eine bewaffnete Gruppe einen neuen Schirmherrn oder ein neues Etikett erhält, aber ihre Identität und Kohärenz beibehält) ist auch heute noch einer der stärksten Faktoren, die die afghanischen Kräfte und die damit verbundene politische Dynamik prägen. Die unmittelbar nach 2001 durchgeführten Reformen des Sicherheitssektors und die Demobilisierungswellen haben diese nie wirklich aufgelöst. Stattdessen wurden sie zu neuen Wegen, um die Parteinetzwerke und Klientelpolitik zu rehabilitieren oder zu legitimieren, oder in einigen Fällen neue sicherheitspolitische Akteure und Machthaber zu schaffen. Angesichts des Truppenabzugs der US-Streitkräfte haben verschiedene Machthaber Afghanistans, wie zum Beispiel Mohammad Ismail Khan (von der Partei Jamiat-e Islami), Abdul Rashid Dostum (Jombesh-e Melli Islami), Mohammad Atta Noor (Vorsitzender einer Jamiat-Fraktion), Mohammad Mohaqeq (Hezb-e Wahdat-e Mardom) und Gulbuddin Hekmatyar (Hezb-e Islami), im Sommer 2021 zum ersten Mal seit 20 Jahren wieder öffentlich über die Mobilisierung bewaffneter Männer außerhalb der afghanischen Armee- und Regierungsstrukturen gesprochen. Während die Präsenz von Milizen für viele Afghanen seit Jahren eine lokale Tatsache ist, wurde [in der Ära der afghanischen Regierungen 2001 -15.8.2021] doch noch nie so deutlich öffentlich die Notwendigkeit einer Mobilisierung gesprochen oder der Wunsch, autonome Einflusssphären zu schaffen, geäußert (LIB, Zentrale Akteure).
Im ersten Halbjahr 2021 waren - damals noch als „regierungsfeindliche Elemente“ bezeichnete - Gruppierungen wie die Taliban, ISKP und nicht näher definierte Elemente insgesamt für 64 % der zivilen Opfer verantwortlich. 39 % aller zivilen Opfer entfielen davon auf die Taliban, 9 % auf den ISKP und 16 % auf nicht näher definierte regierungsfeindliche Elemente. Vor der Machtübernahme der Taliban als „regierungsfreundliche bewaffnete Gruppierungen“ bezeichnete Akteure waren im selben Zeitraum für 2 % der von UNAMA erfassten zivilen Opfer verantwortlich. Auf Handlungen der [damals] regulären Streitkräfte der Afghan National Security and Defense Forces (ANDSF) wurden dagegen 23 % der zivilen Opfer zurückgeführt (LIB, Zentrale Akteure)
Verbleibende und neue Akteure in Afghanistan
Obwohl die Taliban die Kontrolle über ganz Afghanistan haben - mit Ausnahme des Panjshir-Tals und anderer kleiner Widerstandsnester - ist anzumerken, dass die Taliban nicht der einzige Akteur im Land sind (Danish Immigration Service).
Im Panjshir -Tal hatten die Überreste der ehemaligen afghanischen Regierung und lokaler Milizen die National Resistance Front (NRF) unter der Führung des ehemaligen Vizepräsidenten der Republik Amrullah Saleh und Ahmad Massoud gebildet. Die NRF soll vor der Eroberung von Panjshir durch die Taliban aus mehreren Tausend Mann mit Ausrüstung der afghanischen Armee bestehen. In den Tagen nach der Eroberung von Panjshir durch die Taliban gelobte Massoud, dass die NRF den Taliban weiterhin Widerstand leisten werde (Danish Immigration Service).
Al-Qaida besteht aus rund 500 Mitgliedern und ist nach Einschätzung des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen (UNSC) in mindestens 15 der 34 Provinzen Afghanistans vor allem in den östlichen, südlichen und südöstlichen Regionen tätig. Der UNSC erklärt weiter, dass die Gruppe weiterhin eng mit den Taliban verbunden ist (Danish Immigration Service).
Es wird geschätzt, dass der Islamische Staat der Provinz Khorasan (ISKP) eine Kerngruppe von etwa 1.500 bis 2.200 Kämpfern hauptsächlich in kleinen Gebieten der östlichen Provinzen Kunar und Nangarhar hält, aber auch in geringerer Zahl in nördlichen Provinzen wie Balkh und Badakhshan präsent ist. Die Gruppe erlitt im Jahr 2020 erhebliche Gebiets- und Personalverluste, führt jedoch weiterhin Angriffe in ganz Afghanistan, einschließlich größerer Städte wie Dschalalabad und Kabul, aus (Danish Immigration Service).
Unter anderen in Afghanistan noch präsenten Akteuren ist die Islamische Bewegung Usbekistans (IMU), die aus etwa 700 Kämpfern besteht, die in den Provinzen Faryab, Sar-e Pul und Jawzjan ansässig sind, wo sie auf lokale Zweige der Taliban zur finanziellen Unterstützung angewiesen sind (Danish Immigration Service).
Taliban
Die Taliban sind seit Jahrzehnten in Afghanistan aktiv. Die Taliban-Führung regierte Afghanistan zwischen 1996 und 2001, als sie von US-amerikanischen/internationalen Streitkräften entmachtet wurde. Nach ihrer Entmachtung hat sie weiterhin einen Aufstand geführt. Seit 2001 hat die Gruppe einige Schlüsselprinzipien beibehalten, darunter eine strenge Auslegung der Scharia in den von ihr kontrollierten Gebieten. Die Taliban sind eine religiös motivierte, religiös konservative Bewegung, die das, was sie als ihre zentralen "Werte" betrachten, nicht aufgeben wird. Wie sich diese Werte in einer künftigen Verfassung widerspiegeln und in der konkreten Politik zum Tragen kommen, hängt von den täglichen politischen Verhandlungen zwischen den verschiedenen politischen Kräften und dem Kräfteverhältnis zwischen ihnen ab. Aufgrund der schnellen und umfangreichen militärischen Siege der Taliban im Sommer 2021 hat die Gruppierung nun jedoch wenig Grund, die Macht mit anderen Akteuren zu teilen (LIB, Taliban).
Die Taliban bezeichneten sich [vor ihrer Machtübernahme] selbst als das Islamische Emirat Afghanistan. Sie positionierten sich als Schattenregierung Afghanistans. Ihre Kommissionen und Führungsgremien entsprachen den Verwaltungsämtern und -pflichten einer typischen Regierung, die in weiten Teilen Afghanistans eine Parallelverwaltung betrieb. Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando der Taliban sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert (LIB, Struktur und Führung).
Die wichtigsten Entscheidungen werden von einem Führungsrat getroffen, der nach seinem langjährigen Versteck auch als Quetta-Schura bezeichnet wird. Dem Rat gehören neben dem Taliban-Chef und dessen Stellvertretern rund zwei Dutzend weitere Personen an. Die Mitglieder der Quetta-Schura sind vor allem Vertreter des Talibanregimes von 1996-2001. Neben der Quetta-Schura, welche [vor der Machtübernahme der Taliban in Kabul] die Talibanangelegenheiten in elf Provinzen im Süden, Südwesten und Westen Afghanistans regelte, gibt es beispielsweise auch die Peshawar-Schura, welche diese Aufgabe in 19 weiteren Provinzen übernommen hat, sowie auch die Miran Shah-Schura. Das Haqqani-Netzwerk mit seinen Kommandanten in Ostafghanistan und Pakistan hat enge Verbindungen zu den beiden letztgenannten Schuras (LIB, Struktur und Führung).
Die Quetta-Schura übt eine gewisse Kontrolle über die rund ein Dutzend verschiedenen Kommissionen aus, welche als "Ministerien" fungierten. Die Taliban unterhielten [vor ihrer Machtübernahme in Kabul] beispielsweise eine Kommission für politische Angelegenheiten mit Sitz in Doha, welche im Februar 2020 die Friedensverhandlungen mit den USA abschloss. Nach Angaben des Talibansprechers Zabihullah Mujahid hat diese Kommission keine direkte Kontrolle über die Talibankämpfer in Afghanistan. Die militärischen Kommandostrukturen bis hinunter zur Provinz- und Distriktebene unterstehen nämlich der Kommission für militärische Angelegenheiten (LIB, Struktur und Führung).
Die höchste Instanz in religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten ist Mullah Haibatullah Akhundzada. Er ist seit 2016 der "Amir al Muminin" oder "Emir der Gläubigen", ein Titel, der ihm von Aiman Al-Zawahiri, dem Anführer von Al-Qaida, verliehen wurde. Er hat drei Stellvertreter. Im September 2021 wurde angekündigt, dass Baradar in der "Übergangsregierung" die Position des stellvertretenden Vorsitzenden des Ministerrats einnehmen wird, Yaqoob soll Verteidigungsminister werden, Sirajuddin Haqqani Innenminister. Haibatullah Akhunzada wird sich als "Oberster Führer" auf religiöse Angelegenheiten und die Regierungsführung im Rahmen des Islam konzentrieren (LIB, Struktur und Führung).
Die Taliban treten nach außen hin geeint auf, trotz Berichten über interne Spannungen oder Spaltungen. Im Juni 2021 berichtete der UN-Sicherheitsrat, dass die unabhängigen Operationen und die Macht von Taliban-Kommandanten vor Ort für den Führungsrat der Taliban (die Quetta-Schura) zunehmend Anlass zur Sorge sind. Spannungen zwischen der politischen Führung und einigen militärischen Befehlshabern sind Ausdruck anhaltender interner Rivalitäten, Stammesfehden und Meinungsverschiedenheiten über die Verteilung der Einnahmen der Taliban. Zuletzt wurde auch über interne Meinungsverschiedenheiten bei der Regierungsbildung berichtet, was vom offiziellen Sprecher der Taliban jedoch dementiert wurde (LIB, Struktur und Führung).
Die Taliban sind somit keine monolithische Organisation. Gemäß einem Experten für die Organisationsstruktur der Taliban unterstehen nur rund 40-45 Prozent der Truppen der Talibanführung. Rund 35 Prozent werden von Sirajuddin Haqqani, dem Kopf des Haqqani-Netzwerks und Stellvertreter von Mullah Akhundzada angeführt, weitere ca. 25 Prozent von Taliban aus dem Norden des Landes (Tadschiken und Usbeken). Was militärische Operationen betrifft, so handelt es sich um einen vernetzten Aufstand mit einer starken Führung an der Spitze und dezentralisierten lokalen Befehlshabern, die Ressourcen auf Distriktebene mobilisieren können (LIB, Struktur und Führung).
Verfolgungspraxis der Taliban, neue technische Möglichkeiten
Es gibt Berichte über grobe Menschenrechtsverletzungen durch die Taliban nach ihrer Machtübernahme im August 2021 (LIB, Allgemeine Menschenrechtsverletzung). Es wurde berichtet, dass die Taliban auf der Suche nach ehemaligen Mitarbeitern der internationalen Streitkräfte oder der afghanischen Regierung von Tür zu Tür gingen und deren Angehörige bedrohten. Ein Mitglied einer Rechercheorganisation, welche einen (nicht öffentlich zugänglichen) Bericht zu diesem Thema für die Vereinten Nationen verfasste, sprach von einer "schwarzen Liste" der Taliban und großer Gefahr für jeden, der sich auf dieser Liste befände. Gemäß einem früheren Mitglied der afghanischen Verteidigungskräfte ist bei der Vorgehensweise der Taliban nun neu, dass sie mit einer Namensliste von Haus zu Haus gehen und Personen auf ihrer Liste suchen (LIB, Verfolgungspraxis der Taliban, neue technische Möglichkeiten).
Die Taliban sind in den sozialen Medien aktiv, unter anderem zu Propagandazwecken. Gegenwärtig nutzt die Gruppierung soziale Medien und Internettechnik jedoch nicht nur für Propagandazwecke und ihre eigene Kommunikation, sondern auch, um Gegner des Taliban-Regimes aufzuspüren. Einem afghanischen Journalisten zufolge verwenden die Taliban soziale Netzwerke wie Facebook und LinkedIn derzeit intensiv, um jene Afghanen zu identifizieren, die mit westlichen Gruppen und der US-amerikanischen Hilfsagentur USAID zusammengearbeitet haben. Auch wurde berichtet, dass die Taliban bei Kontrollpunkten Telefone durchsuchen, um Personen mit Verbindungen zu westlichen Regierungen oder Organisationen bzw. zu den [ehemaligen] afghanischen Streitkräften (ANDSF) zu finden. Viele afghanische Bürgerinnen und Bürger, die für die internationalen Streitkräfte, internationale Organisationen und für Medien gearbeitet haben, oder sich in den sozialen Medien kritisch gegenüber den Taliban äußerten, haben aus Angst vor einer Verfolgung durch die Taliban ihre Profile in den sozialen Medien daher gelöscht (LIB, Verfolgungspraxis der Taliban, neue technische Möglichkeiten).
Unter anderem werten die Taliban auch aktuell im Internet verfügbare Videos und Fotos aus. Sie verfügen über Spezialkräfte, die in Sachen Informationstechnik und Bildforensik gut ausgebildet und ausgerüstet sind. Ihre Bildforensiker arbeiten gemäß einem Bericht vom August 2021 auf dem neuesten Stand der Technik der Bilderkennung und nutzen beispielsweise Gesichtserkennungssoftware. Im Rahmen der Berichterstattung über auf der Flucht befindliche Ortskräfte wurden von Medien unverpixelte Fotos veröffentlicht, welche für Personen, welche sich nun vor den Taliban verstecken, gefährlich werden können (LIB, Verfolgungspraxis der Taliban, neue technische Möglichkeiten).
Im Zuge ihrer Offensive haben die Taliban Geräte zum Auslesen von biometrischen Daten erbeutet, welche ihnen die Identifikation von Hilfskräften der internationalen Truppen erleichtern könnte [Anm.: sog. HIIDE ("Handheld Interagency Identity Detection Equipment")-Geräte]. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist nicht genau bekannt, zu welchen Datenbanken die Taliban Zugriff haben. Laut Experten bieten die von den Taliban erlangten US-Gerätschaften nur begrenzten Zugang zu biometrischen Daten, die noch immer auf sicheren Servern gespeichert sind. Recherchen zeigten jedoch, dass eine größere Bedrohung von den Datenbanken der afghanischen Regierung selbst ausgeht, die sensible persönliche Informationen enthalten und zur Identifizierung von Millionen von Menschen im ganzen Land