Entscheidungsdatum
30.09.2021Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W164 2167718-4/20E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. Rotraut LEITNER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch Verein Frida Beratung in Asyl & Fremdenrecht, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 07.07.2017, Zl. 1078565906+15087275, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:
A)
I. Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 stattgegeben und wird XXXX der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.
III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für die Dauer von einem Jahr erteilt.
IV. Die Spruchpunkte III. bis V. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF), ein Staatsangehöriger von Afghanistan, stellte am 16.07.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Die Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes fand am 17.07.2015 statt und am 05.01.2017 wurde der BF durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) niederschriftlich befragt.
Der BF machte zusammengefasst folgende Angaben: Er sei im Jahr 1998 in Pakistan geboren, im Alter von etwa 4 Jahren sei seine Familie mit ihm nach Afghanistan, Provinz Parwan, XXXX l zurückgekehrt. Der BF gehöre der Volksgruppe der Paschtunen an, seine Muttersprache sei Paschtu und er habe in seiner Heimat keine Schule besucht. Sein Vater habe Grundstücke besessen und er habe in der väterlichen Landwirtschaft mitgearbeitet. Der BF habe noch eine jüngere Schwester. Die finanzielle Situation der Familie sei durchschnittlich gewesen. Im Jahr 2014 sei der Vater des BF wegen eines Streits über Grundstücke ermordet worden: Die Onkel des Vaters hätten behauptet, dass die Grundstücke ihnen gehören würden. Es sei eine „Jirga“ mit den Dorfältesten abgehalten worden, wobei die Grundstücke dem Vater des BF zugesprochen worden seien. Die Onkel des Vaters hätten aber weiterhin Probleme gemacht. Nachdem der BF eines Tages während der Arbeit Essen geholt hatte, habe er seinen Vater tot im Feld vorgefunden. Die Leiche habe Schussverletzungen im Brustbereich aufgewiesen. Der BF habe seine Mutter und seine Schwester verständigt. Der Leichnam sei dann von den Nachbarn nach Hause gebracht und anschließend begraben worden.
Ein paar Tage nachdem der Vater begraben war, hätten die Onkel die Familie mit einem Brief bedroht und die Grundstücke herausverlangt. Der BF habe einen Freund des Vaters zu Rate gezogen und ihm den Brief gezeigt. Dieser habe ihm dann geraten, die Nutztiere zu verkaufen und mit der gesamten Familie zu ihm nach Kabul zu ziehen. Ein paar Tage hätte der BF mit seiner Mutter und seiner Schwester bei diesem Freund des Vaters gewohnt. Dann habe ihm dieser gesagt, dass er zwar die Frauen, die ohnehin im Haus bleiben würden, beschützen könne, den BF aber nicht. Die Anschrift des Freundes sei den Onkeln des Vaters, die früher ein besseres Verhältnis zu ihm gehabt hätten, bekannt gewesen. Der Freund des Vaters habe dem BF geholfen, einen Schlepper zu finden, der ihn nach Europa bringen würde.
Mutter und Schwester des BF seien später wieder ins Heimatdorf zurückgekehrt und würden weiterhin dort leben. Der BF habe telefonischen Kontakt zu ihnen. Der BF habe in Afghanistan zwei Onkel mütterlicherseits, die in seinem Heimatdorf des BF leben würden, weiters drei Onkel väterlicherseits und eine Reihe von Cousins und Cousinen.
Der BF legte einen Drohbrief samt Kuvert vor, weiters eine Strafanzeige und eine Beantwortung der Strafanzeige durch den Obmann des Distrikts. Die Dokumente wurden zum Akt genommen und übersetzt.
Mit Bescheid vom 07.07.2017, Zl. 1078565906+15087275, hat das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag des BF auf internationalen Schutz vom 16.07.2015 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 2 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG abgewiesen (Spruchpunkte I. und II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde nicht erteilt und gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG 2005 erlassen. Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Einer Beschwerde gegen diese Entscheidung über seinen Antrag auf internationalen Schutz wurde gemäß § 18 Abs. 1 Z 3 BFA-Verfahrensgesetz idgF die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt IV.). Es wurde festgestellt, dass gemäß § 55 Abs 1a FPG keine Frist zur freiwilligen Ausreise bestehe (Spruchpunkt V.).
Begründend wurde ausgeführt, dass der vom BF behauptete Fluchtgrund nicht glaubhaft wäre. Der BF habe diesbezüglich keine verlässlichen Dokumente vorlegen können, der von ihm vorgelegte Drohbrief sei aller Wahrscheinlichkeit nach gefälscht. Ferner habe eine Anfragebeantwortung der Staatendokumentation (Afghanistan Anfrage (1078565906)/ Elak 0275_2017) ergeben, dass (gefälschte) Dokumente dieser Art in Afghanistan erworben werden können. Der BF habe in der Einvernahme beim BFA angegeben, dass seine Onkel den Brief geschrieben hätten und habe einzig seine Onkel als Täter angeführt. Hingegen würde der nachgereichte Drohbrief eine Beteiligung der Taliban am Mord des Vaters angeben. Selbst bei Wahrheitsunterstellung wäre zu berücksichtigen, dass das Vorbringen des BF nicht asylrelevant sei. Denn es würde eine private Auseinandersetzung vorliegen, deren Ursache auch nicht im Zusammenhang mit einem in der GFK angeführten Verfolgungsgrund stehe. Zudem sei der BF auf seiner Reise nach Österreich auch durch andere als sicher geltende Staaten gereist und es wäre ihm möglich und zumutbar gewesen, schon dort um Schutz anzusuchen. Da er dies unterlassen habe, könne davon ausgegangen werden, dass der BF andere Motive habe als jene der Schutzsuche. Die Familie des BF lebe nach wie vor unbehelligt im Heimatdorf. Dem BF sei eine Rückkehr in seine Heimatprovinz Parwan zumutbar, mit Kabul sei zudem eine innerstaatliche Fluchtalternative gegeben. Als Paschtune könne der BF im Fall seiner Rückkehr mit der Unterstützung durch Mitglieder seiner Volksgruppe rechnen. Auch die islamische Glaubensgemeinschaft sei weltweit bestrebt, Schutz- und Unterkunftssuchende zu beherbergen. Der BF sei eine erwachsene und arbeitsfähige Person, die ihr gesamtes Leben in Afghanistan verbracht und Erfahrungen in der Landwirtschaft und im Handel gesammelt habe. Er würde bei einer Rückkehr nach Afghanistan somit nicht in eine ausweglose Situation geraten. Der BF verfüge in Österreich zudem über kein schützenswertes Privat- und Familienleben, das einer Rückkehrentscheidung entgegenstehe.
Gegen diesen Bescheid erhob der BF durch seine Rechtsvertretung, Verein Frieda, fristgerecht Beschwerde (näheres dazu in den Erk. W164 2167718-1/4Z vom 10.12.2018 und W164 2167718-1/11E vom 21.07.2020, die rechtskräftig wurden) und brachte vor, ihm sei zu Unrecht vorgehalten worden, dass er einen gefälschten Drohbrief vorgelegt habe. Aus der diesbezüglich herangezogenen Anfrage an die Staatendokumentation gehe lediglich hervor, dass es in Afghanistan möglich sei, gefälschte Drohbriefe zu erwerben. Die bloße Möglichkeit des Erwerbs gefälschter Beweismittel reiche jedoch nicht aus, um das vom BF vorgelegte Exemplar als Fälschung zu qualifizieren. Die genannte Anfragebeantwortung bediene sich überdies fraglicher Quellen. Die vom BF behauptete Verfolgung gehe zwar nicht vom Staat aus, jedoch verkenne die belangte Behörde, dass der afghanische Staat weder willens noch in der Lage sei, seine Bürger vor derartigen Übergriffen zu schützen. Der BF befürchte eine Verfolgung aufgrund seiner Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie seines Vaters, womit einer der Gründe der GFK vorliege. Unter der Volksgruppe der Paschtunen könne im Fall von Grundstückstreitigkeiten sehr wohl von Verfolgungsgefahr gesprochen werden. Die Asylrelevanz sei unter den Tatbestand der sozialen Gruppe zu subsummieren. Im Hinblick auf die aktuelle Sicherheitslage in Afghanistan sei festzuhalten, dass auch die Stadt Kabul mittlerweile nicht mehr als sicher angesehen werden könne. Dem BF wäre daher zumindest der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen.
Am 28.11.2018 erhob der BF einen Folgeantrag und brachte vor, er mache die gleichen Asylgründe wie seinerzeit geltend; in Österreich habe er nun eine Freundin und plane, diese zu heiraten. Beide seien nun ohne Religionsbekenntnis.
Mit mündlich verkündetem Bescheid vom 13.12.2018, Zl. 1078565906-181143157-181172149, hat die belangte Behörde den faktischen Abschiebeschutz gemäß § 12 AsylG BGBl.Nr.100/2005 (AsylG) idgF gemäß § 12a Abs. 2 AsylG aufgehoben. Diese Entscheidung stützte sich bezogen auf § 12 Abs. 2 Z 1 AsylG auf das Vorliegen einer rechtskräftigen Rückkehrentscheidung. Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts W164 2167718-3/4E vom 17.12.2018 wurde dieser Bescheid aufgehoben und ausgesprochen, dass die Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes gemäß § 12a Abs. 2 AsylG nicht rechtmäßig ist. Dieses Erkenntnis wurde rechtskräftig.
Am 27.08.2020 wurde beim Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung abgehalten, anlässlich deren der BF im Beisein seiner Rechtsvertretung und eines Dolmetschers für seine Muttersprache Paschtu zu seinen Fluchtgründen und zu seiner Situation in Österreich befragt wurde. Auch die belangte Behörde nahm als Partei des Beschwerdeverfahrens an der Verhandlung durch einen Vertreter teil. Der BF gab an, er sei nun kein gläubiger Moslem mehr; er besuche keine Moschee. Zu seinem Fluchtvorbringen hinsichtlich der Grundstückstreitigkeiten führte der BF aus, dass drei Cousins des Vaters - diese wären Brüder - die bereits genannten Grundstücke für sich beansprucht hätten und gesagt hätten, dass sie Beziehungen zu den Taliban hätten. Diese drei Männer seien im Übrigen selbst Taliban gewesen. Sie seien immer mit den Taliban in den Bergen gewesen und seien mit deren Autos herumgefahren. Den Vater hätten sie mehrmals geschlagen, um ihn einzuschüchtern.
Nach dem Tod des Vaters habe der BF auf Geheiß seiner Mutter beim Nachbarn einen in Kabul wohnhaften Freund des Vaters angerufen. Dieser sei am nächsten Tag gekommen und habe die Meinung vertreten, die Familie solle weiterhin im Dorf bleiben. Er werde sie finanziell unterstützen. Dann sei ein Brief über die Mauer geworfen worden. Der BF habe erneut den Freund des Vaters angerufen. Dieser sei wieder ins Dorf gekommen, habe den Brief gelesen und der Familie gesagt, dass sie nun bedroht werde. Der Freund des Vaters habe die Ziegen der Familie verkauft und die Familie nach Kabul mitgenommen. Der BF sei etwa eine Woche beim Freund des Vaters in Kabul geblieben. Die Mutter sei mit der Schwester wieder in Heimatdorf gezogen. Der Freund des Vaters habe für ihr Auskommen gesorgt. Die Grundstücke würden weiterhin auf den Namen des Vaters lauten. Sie seien einfach ausgelassen. Die Mutter werde weiterhin unter Druck gesetzt. Man wolle erreichen, dass sie die Grundstücke hergebe. Den vorgelegten Drohbrief habe der Freund des Vaters dem BF gesendet. Befragt dazu, dass das ebenfalls vorgelegte Kuvert nicht frankiert sei, gab der BF an, er sei angerufen worden, dass ein Brief für ihn gekommen sei. Der BF sei hinunter gegangen, dort sei ein Auto von der Post gewesen. Der BF habe den Brief vom Fahrer übernommen. Damit konfrontiert, dass die gleichzeitig mit dem Drohbrief vorgelegte Strafanzeige mit 16.07.2015 datiert sei, die Ermordung des Vaters „vor fünf Tagen“ anzeige, was mit den Vorbringen des BF laut seiner Erstbefragung (Tötung des Vaters vor ca. einem Jahr, Dauer des großteils zu Fuß zurückgelegten Reise nach Europa ca. 40 Tage) nicht in Einklang zu bringen sei, verwies der BF auf Verständigungsprobleme mit der Dolmetscherin anlässlich der Erstbefragung und hielt fest, er habe Afghanistan zwei Wochen nach dem Tod des Vater verlassen und habe dann etwa 40 Tage gebraucht um nach Europa zu gelangen.
Mit seiner Mutter und seiner Schwester pflege der BF telefonisch Kontakt. Der Freund des Vaters versorge sie mit Nahrungsmitteln. Der Kontakt des BF zum Freund des Vaters sei abgebrochen.
Vorgelegt wurden ein „Zeugnis zur Integrationsprüfung Sprachniveau A2“ des Österreichischen Integrationsfonds vom 27.07.2020. Weiters wurde eine Schulbesuchsbestätigung XXXX vorgelegt, woraus sich ergibt, dass der BF den erwachsenengerechten Pflichtschulabschluss voraussichtlich Ende Juni 2021 anstrebt. Vorgelegt wurde weiters ein Arbeitsvorvertrag vom 13.08.2020 für eine Tätigkeit als „Helfer“ bei der Firma XXXX Weiters vorgelegt wurde ein Empfehlungsschreiben XXXX vom 17.08.2020 hinsichtlich der Integrationsbemühungen des BF.
Befragt zu seinem Folgeantrag aus dem Jahr 2018 gab der BF an, er glaube nicht an den Islam, er besuche keine Moschee und auch keine anderen Gotteshäuser oder Gebetshäuser. Der BF sei früher Moslem gewesen. Ihm sei gesagt worden, dass man, wenn man in Schwierigkeiten gerät, zu Gott beten solle, dann würden die Probleme gelöst. Im Fall des BF sei das aber nicht so eingetreten. Deshalb glaube er an keinen Gott. Befragt durch seinen Rechtsvertreter, warum er sich vom Islam abgewandt habe, gab der BF an, die Taliban würden sich als Muslime bezeichnen, sie hätten jedoch seinen Vater umgebracht und würden die Grundstücke der Familie beanspruchen. Alle Religionen würden sagen, dass man sich im Fall von Schwierigkeiten an Gott wenden und zu Gott beten solle. Der BF habe viele Schwierigkeiten gehabt und keiner habe ihm geholfen. Er glaube an niemanden und nichts.
Von der belangten Behörde damit konfrontiert, dass er ein halbes Jahr nach seiner Einreise nach Österreich beim BFA noch zu Protokoll gegeben habe, er sei gläubiger Moslem, bete täglich und besuche eine Moschee, gab der BF an, er habe damals erwartet, dass seine täglichen Gebete Früchte tragen würden. Da dies nicht zum gewünschten Ergebnis geführt habe, ihm also nicht geholfen worden sei, habe er bei sich überlegt, dass es nichts bringen würde, weiterhin zur Moschee zu gehen und zu beten. Von seiner Freundin (wie im Folgeantrag ausgeführt) sei der BF mittlerweile getrennt.
Mit schriftlicher Stellungnahme vom 14.09.2020 zu den in der Verhandlung eingebrachten Länderberichten hielt die Rechtsvertretung des BF fest, dass im Wesentlichen zwei Fluchtgründe bzw. Rückkehrbefürchtungen vorliegen würden: Die Pflicht zur Blutrache werde de facto von der Gemeinschaft vorgeschrieben um den Namen und die Ehre der Familie zu schützen; der Grund einer weitere Verfolgung des BF könnte auch darin gelegen sein, dass die dem Verfolger allenfalls drohende Blutrache wegen Ermordung eines Familienangehörigen des BF vorbeugen wolle. Dem BF drohe daher im Fall der Rückkehr nach Afghanistan Verfolgung durch seine Onkel aufgrund der von diesen antizipierten Blutrache.
Weiters bezeichne sich der BF nicht mehr als Moslem und pflege einen atheistischen Lebensstil. Der Afghanische Staat wäre nicht in der Lage, dem BF Schutz vor Verfolgung gewisser Gruppierungen zu gewähren. Der BF habe nun Einstellungen und Verhaltensweisen, die innerhalb der afghanischen Gesellschaft als „westlich“ bzw. unislamisch wahrgenommen würden. Der BF müsste im Fall seiner Rückkehr seine religiösen Ansichten unterdrücken, um nicht Gefahr zu laufen, ernsthafter physischer oder psychischer Gewalt ausgesetzt zu sein. Seine westliche Lebensführung sei zu einem Bestandteil seiner Identität geworden. Sollte die Abweichung des BF vom islamischen Glauben in Zweifel gezogen werden, werde die zeugenschaftliche Einvernahme von Frau XXXX beantragt.
Die Situation in Afghanistan hinsichtlich der COVID-19 Pandemie in Zusammenschau mit den persönlichen Verhältnissen des BF würde zumindest die Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten rechtfertigen. Der BF habe sich zudem in Österreich sehr gut integriert und es würden die Voraussetzung für die Erteilung einer „Aufenthaltsberechtigung plus“ vorliegen.
Mit 08.02.2021 gab RA Dr. Mario Züger seine Bevollmächtigung bekannt und legte ein Schreiben „Religionsaustritt (Abschrift der Niederschrift)“der Stadt Wien, XXXX vom 03.02.2021 vor, mit dem der am 03.02.2021 gemeldete Austritt aus der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich zur Kenntnis genommen wurde.
In einer angeschlossenen Stellungnahme wurde vorgebracht, der BF sei nunmehr ohne religiöses Bekenntnis. Er habe die Erfahrung gemacht, dass seine täglichen Gebete keine Früchte bringen. Der BF habe im Leben viele Schwierigkeiten gehabt; Gott, zu dem er gebetet habe, habe ihm jedoch nicht geholfen. Im Zuge eines längeren Entwicklungsprozesses sei der BF zu der inneren Überzeugung gelangt, dass es keinen Gott gebe. Die Einhaltung religiöser Gebote sehe er nun als sinnlos an. Seit seinem Abfall vom Islam habe der BF Schwierigkeiten mit in Österreich lebenden Afghanen und anderen Moslems bekommen, die ihn als „Ungläubigen“ bezeichnen würden. Diese hätten sich von ihm abgewandt und seien ihm gegenüber feindselig. Der BF befürchte nun im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan als „Apostat“ einer Verfolgungsgefahr zu unterliegen. Der BF sei nicht mehr bereit, sich den Zwängen einer von religiösen Vorschriften durchwirkten Gesellschaft zu unterwerfen. Er habe die Überzeugung, dass es kein „höheres Wesen“ gebe und möchte sich davon auch nicht mehr abbringen lassen. Er würde es nicht schaffen, diese innere Überzeugung zu verleugnen und kritische Äußerungen gegenüber dem Islam zu unterlassen. Dem BF könne nicht zugemutet werden, seine so dargelegte innere Überzeugung zu verleugnen. Die Beschwerdeanträge würden vollinhaltlich aufrecht bleiben.
Der Bescheid vom 07.07.2017, Zl. 1078565906+15087275 wurde dem BF z.H. seines damals ausgewiesenen Vertreters Ra Dr. Züger per 27.04.2021 nachweislich zugestellt.
Auch der Verein Frida legte mit 25.02.2021 das bereits genannte Schreiben der Stadt Wien, XXXX vom 03.02.2017 vor und brachte vor, der BF sei offiziell vom islamischen Glauben zurückgetreten und habe dies auch gegenüber der Glaubensgemeinschaft offen zum Ausdruck gebracht. Für den Fall einer Rückkehr nach Afghanistan wäre er nicht bereit, seinen Abfall vom Glauben zu verstecken. Der BF möchte seine Religionslosigkeit weiterhin offen ausüben. Es wurde beantragt, dem BF aus diesem Grund den Status des Asylberechtigten zuzuerkennen; für den Fall, dass Zweifel am Religionsabfall des BF bestünden, wurde erneut die Vernehmung der genannten Zeugin beantragt.
Mit 31.08.2021 brachte der Verein Frida für den BF eine weitere Stellungnahme ein, verwies darin auf die Machtergreifung der Taliban in Afghanistan per 15.08.2021. Der BF sei nun überzeugter Atheist und weder bereit, von seiner neu gewonnen Weltanschauung abzuweichen, noch diese zu verheimlichen. Er wäre im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan nun besonders gefährdet. Die Apostasie des BF würde innerhalb kürzester Zeit auffallen. Aus Europa abgeschobene Afghanen würden unter dem Generalverdacht des Abfalls vom Islam stehen. Dem BF würde aufgrund seiner langjährigen Aufenthaltes zumindest Misstrauen entgegengebracht werden. Da der BF, wie er bereits in der mündlichen Verhandlung vom 27.08.2020 vorgebracht habe, nicht bereit sei, seine atheistische Weltanschauung aufzugeben und etwa die Moschee zu besuchen oder sich an religiösen Ritualen zu beteiligen, um den Schein zu wahren, würde seine Apostasie binnen kürzester Zeit entdeckt werden.
Mit Schreiben vom 14.09.2021 gab der Verein Frida die Vollmachtsauflösung der Vertretung von RA Dr. Züger bekannt. RA Dr. Züger bestätigte diese auf Nachfrage.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Der BF führt den Namen XXXX , wurde am XXXX in der Stadt XXXX , Pakistan geboren und ist afghanischer Staatsangehöriger. Er gehört der Volksgruppe der Paschtunen an und wuchs als sunnitischer Moslem auf. Seine Muttersprache ist Paschtu, er spricht nach eigenen Angaben auch Farsi. Der BF ist volljährig, ledig und kinderlos. Er ist im Alter von 4 Jahren mit seiner Familie nach Afghanistan, in die Provinz Parwan, XXXX übersiedelt und hat dort bis kurz vor seiner Ausreise nach Europa gelebt. Er hat keine Schule besucht und hat bis kurz vor seiner Ausreise aus Afghanistan zuhause in der Landwirtschaft seiner Familie gearbeitet. Der Vater des BF ist verstorben, die Mutter lebt weiterhin im Herkunftsort. Der BF hat noch eine jüngere Schwester, welche ebenfalls bei der Mutter im Herkunftsort lebt. Der Lebensunterhalt seiner Mutter und seiner Schwester wird vorwiegend durch einen ehemaligen Freund seines Vaters bestritten. Dieser hat den BF zur Ausreise nach Europa veranlasst. Der BF hat zu seiner Mutter und zu seiner Schwester regelmäßig telefonischen Kontakt.
Der BF war für die Dauer seines Asylverfahrens vorläufig aufenthaltsberechtigt. Er hielt sich von 17.08.20218 bis 28.11.2018 in Frankreich auf und wurde am 28.11.2018 im Rahmen der Dublin III-VO wieder nach Österreich überstellt. In Österreich besuchte er Kurse und Lehrgänge. Er absolvierte am 27.07.2020 erfolgreich die Integrationsprüfung des Österreichischen Integrationsfonds mit Sprachkompetenz A2 und Werte- und Orientierungswissen. Seit September 2019 besucht der BF den Basisbildungskurs des Schulprojekts XXXX der in einen Pflichtschulabschlusskurs mündet. Weiters wurde ein Arbeitsvorvertrag als „Helfer“ XXXX vorgelegt. Der BF unterhält freundschaftliche Kontakte in Österreich, mit welchen er seine Freizeit verbringt. Er ist gesund und arbeitsfähig. Er ist strafrechtlich unbescholten. Der BF besucht aktuell nicht die Moschee und betet nicht.
Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat:
UNHCR-Position zur Rückkehr nach Afghanistan, August 2021
Einleitung
Als Folge des Rückzugs der internationalen Truppen aus Afghanistan hat sich die Sicherheits- und Menschenrechtslage in großen Teilen des Landes rapide verschlechtert. Die Taliban haben in einer schnell wachsenden Anzahl an Provinzen die Kontrolle übernommen, wobei sich ihr Vormarsch im August 2021 nochmals beschleunigte, als sie 26 von 34 Provinzhauptstädten innerhalb von zehn Tagen einnahmen und schließlich den Präsidentenpalast in Kabul unter ihre Kontrolle brachten. Die stark zunehmende Gewalt hat schwerwiegende Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung, einschließlich Frauen und Kindern. UNHCR ist besorgt über die Gefahr von Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung, einschließlich Frauen und Kindern, sowie an Afghan*innen, bei denen die Taliban davon ausgehen, dass sie mit der afghanischen Regierung oder den internationalen Streitkräften in Afghanistan oder mit internationalen Organisationen im Land in Verbindung stehen oder standen.
Aufgrund des Konflikts sind seit Anfang 2021 Schätzungen zufolge über 550.000 Afghan*innen innerhalb des Landes neu vertrieben worden, davon 126.000 neue Binnenvertriebene allein zwischen 7. Juli und 9. August 2021. Während es bis dato noch keine genauen Zahlen gibt, wie viele Afghan*innen das Land aufgrund der Kampfhandlungen und Menschenrechtsverletzungen verlassen haben, haben Berichten zufolge zehntausende Afghan*innen in den letzten Wochen die Landesgrenzen überschritten.
Zugang zum Staatsgebiet und zu internationalem Schutz
Da die Situation in Afghanistan instabil und unsicher bleibt, fordert UNHCR alle Länder dazu auf, der aus Afghanistan fliehenden Zivilbevölkerung Zugang zu ihrem Staatsgebiet zu gewähren und die Einhaltung des Non-Refoulement-Grundsatzes durchgehend sicherzustellen. UNHCR weist auf die Notwendigkeit hin zu gewährleisten, dass das Recht, Asyl zu beantragen, nicht eingeschränkt wird, dass Grenzen offengehalten werden und dass Personen, die internationalen Schutzbedarf haben, nicht in Gebiete innerhalb ihres Herkunftslands zurückgedrängt werden, die möglicherweise gefährlich sind. In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu berücksichtigen, dass Staaten auch gemäß Völkergewohnheitsrecht verpflichtet sind, die Grenzen für die vor dem Konflikt fliehende Zivilbevölkerung offen zu halten und Flüchtlinge nicht zwangsweise zurückzuführen. Der Non-Refoulement-Grundsatz beinhaltet auch die Nicht-Zurückweisung an der Grenze.
Alle Anträge auf internationalen Schutz von afghanischen Staatsangehörigen und Personen mit vormaligem gewöhnlichen Aufenthalt in Afghanistan sollten in fairen und effizienten Verfahren im Einklang mit internationalem und regionalem Flüchtlingsrecht behandelt werden. UNHCR ist besorgt, dass die jüngsten Entwicklungen in Afghanistan zu einem Anstieg des internationalen Schutzbedarfs von Personen, die aus Afghanistan fliehen, führen – sei es als Flüchtlinge gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention oder regionalen Flüchtlingsabkommen, sei es als anderweitig international Schutzberechtigte. Das gleiche gilt für diejenigen, die sich bereits vor der jüngsten Eskalation der Gewalt in Afghanistan in Aufnahmeländern befanden. Vor dem Hintergrund der volatilen Situation in Afghanistan begrüßt UNHCR den Schritt einiger Aufnahmeländer, Entscheidungen über den internationalen Schutzbedarf von afghanischen Staatsangehörigen und Personen mit vormaligem gewöhnlichen Aufenthalt in Afghanistan auszusetzen, bis sich die Situation im Land stabilisiert hat und zuverlässige Informationen über die Sicherheits- und Menschenrechtslage verfügbar sind, um den internationalen Schutzbedarf der einzelnen Antragsteller*innen zu prüfen. Aufgrund der Unbeständigkeit der Situation in Afghanistan hält UNHCR es nicht für angemessen, afghanischen Staatsangehörigen und Personen mit vormaligem gewöhnlichen Aufenthalt in Afghanistan internationalen Schutz mit der Begründung einer internen Flucht- oder Neuansiedlungsperspektive zu verwehren.
Bei Personen, deren Asylgesuch vor den jüngsten Geschehnissen abgelehnt wurde, kann die aktuelle Situation in Afghanistan zu einer Änderung der Umstände führen, die im Rahmen eines Folgeantrags zu berücksichtigen sind.
Es kann Personen geben, die mit Taten in Verbindung stehen, aufgrund derer sie unter die Ausschlussklauseln von Artikel 1 F der Genfer Flüchtlingskonvention fallen. In diesen Fällen wird es notwendig sein, Fragen betreffend die persönliche Verantwortung für Verbrechen, die einen Ausschluss vom Flüchtlingsschutz begründen können, sorgfältig zu prüfen. Um den zivilen Charakter von Asyl zu bewahren, sollten Staaten zudem die Situation der Ankommenden sorgfältig prüfen, um bewaffnete Elemente zu identifizieren und diese von der geflüchteten Zivilbevölkerung zu trennen.
Empfehlung eines Abschiebestopps
Aufgrund der volatilen Situation in Afghanistan, die noch für einige Zeit unsicher bleiben kann, sowie der sich abzeichnenden humanitären Notlage fordert UNHCR die Staaten dazu auf, zwangsweise Rückführungen von afghanischen Staatsangehörigen und Personen mit vormaligem gewöhnlichen Aufenthalt in Afghanistan auszusetzen – auch für jene, deren Asylanträge abgelehnt wurden. Ein Moratorium für zwangsweise Rückführungen nach Afghanistan sollte bestehen bleiben, bis sich die Situation im Land stabilisiert hat und geprüft wurde, wann die geänderten Umstände im Land eine Rückkehr in Sicherheit und Würde erlauben würden. Die Hemmung von zwangsweisen Rückführungen stellt eine Mindestanforderung dar, die bestehen bleiben muss, bis sich die Sicherheit, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechtslage in Afghanistan signifikant verbessert haben, sodass eine Rückkehr in Sicherheit und Würde von Personen, bei denen kein internationaler Schutzbedarf festgestellt wurde, gewährleistet werden kann.
In Übereinstimmung mit den Zusagen der Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen im Rahmen des Globalen Flüchtlingsforums, die Verantwortung für den internationalen Flüchtlingsschutz gerecht aufzuteilen, hält UNHCR es nicht für angemessen, afghanische Staatsangehörige und Personen mit vormaligem gewöhnlichen Aufenthalt in Afghanistan zwangsweise in Länder in der Region zurückzuführen, auch in Anbetracht der Tatsache, dass Länder wie der Iran und Pakistan jahrzehntelang großzügig die überwiegende Mehrheit der Gesamtzahl afghanischer Flüchtlinge weltweit aufgenommen haben.
UNHCR wird die Situation in Afghanistan weiterhin beobachten, um den internationalen Schutzbedarf, der sich aus der aktuellen Situation ergibt, zu prüfen.
Im Folgenden werden die wesentlichen Feststellungen aus dem vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen Länderinformationsblatt der Staatendokumentation - Afghanistan (Stand 16.09.2021) wiedergegeben:
COVID-19
Letzte Änderung: 16.09.2021
Über die Auswirkungen der Machtübernahme der Taliban auf medizinische Versorgung, Impfraten und Maßnahmen gegen COVID-19 sind noch keine validen Informationen bekannt.
Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan
Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl UNOCHA 19.12.2020).
Die Zahl der täglich neu bestätigten COVID-19-Fälle in Afghanistan ist in den Wochen nach dem Eid al-Fitr-Fest Mitte Mai 2021 stark angestiegen und übertrifft die Spitzenwerte, die zu Beginn des Ausbruchs in dem Land verzeichnet wurden. Die gestiegene Zahl der Fälle belastet das Gesundheitssystem weiter. Gesundheitseinrichtungen berichten von Engpässen bei medizinischem Material, Sauerstoff und Betten für Patienten mit COVID-19 und anderen Krankheiten (USAID 11.6.2021).
Laut Meldungen von Ende Mai 2021 haben afghanische Ärzte Befürchtungen geäußert, dass sich die erstmals in Indien entdeckte COVID-19-Variante nun auch in Afghanistan verbreiten könnte. Viele der schwerkranken Fälle im zentralen Krankenhaus für COVID-Fälle in Kabul, wo alle 100 Betten belegt seien, seien erst kürzlich aus Indien zurückgekehrte Personen (BAMF 31.5.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021). Seit Ende des Ramadans und einige Wochen nach den Festlichkeiten zu Eid al-Fitr konnte wieder ein Anstieg der COVID-19 Fälle verzeichnet werden. Es wird vom Beginn einer dritten Welle gesprochen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021). Waren die [Anm.: offiziellen] Zahlen zwischen Februar und März relativ niedrig, so stieg die Anzahl zunächst mit April und dann mit Ende Mai deutlich an (WHO 4.6.2021; vgl. TN 3.6.2021, UNOCHA 3.6.2021). Es gibt in Afghanistan keine landeseigenen Einrichtungen, um auf die aus Indien stammende Variante zu testen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).
Die Lücken in der COVID-19-Testung und Überwachung bleiben bestehen, da es an Laborreagenzien für die Tests mangelt und die Dienste aufgrund der jüngsten Unsicherheit möglicherweise nur wenig in Anspruch genommen werden. Der Mangel an Testmaterial in den öffentlichen Labors kann erst behoben werden, wenn die Lieferung von 50.000 Testkits von der WHO im Land eintrifft (WHO 28.8.2021). Mit Stand 4.9.2021 wurden 153.534 COVID-19 Fälle offiziell bestätigt (WHO 6.9.2021). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 13.1.2021; vgl. UNOCHA 18.2.2021, RFE/RL 23.2.2021a).
Maßnahmen der ehemaligen Regierung und der Taliban
Das vormalige afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hatte verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. "Rapid Response Teams" (RRTs) besuchten Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte "Fix-Teams" waren in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.3.2021; vgl. WB 28.6.2020). Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.3.2021; vgl. IDW 17.6.2021).
Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China (BAMF 8.2.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).
Die Taliban erlaubten den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. TG 2.5.2020) und gaben im Januar 2021 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Millionen Dollar unterstützt wird. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion "unterstützen und erleichtern" (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021), wenn der Impfstoff in Abstimmung mit ihrer Gesundheitskommission und in Übereinstimmung mit deren Grundsätzen eingesetzt wird (NH 3.6.2020).
Mit Stand 2.6.2021 wurden insgesamt 626.290 Impfdosen verabreicht (WHO 4.6.2021; vgl UNOCHA 3.6.2021). Etwa 11% der Geimpften haben beide Dosen des COVID-19-Impfstoffs erhalten. Insgesamt gibt es nach wie vor große Bedenken hinsichtlich des gerechten Zugangs zu Impfstoffen für Afghanen, insbesondere für gefährdete Gruppen wie Binnenvertriebene, Rückkehrer und nomadische Bevölkerungsgruppen sowie Menschen, die in schwer zugänglichen Gebieten leben (UNOCHA 3.6.2021).
Gesundheitssystem und medizinische Versorgung
Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, Sauerstoff, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 11.6.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, HRW 13.1.2021). Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (BAMF 8.2.2021). Mit Mai 2021 wird vor allem von einem starken Mangel an Sauerstoff berichtet (TN 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).
In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (IOM 18.3.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, USAID 11.6.2021).
Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).
Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt
Die ohnehin schlechte wirtschaftliche Lage wurde durch die Auswirkungen der Pandemie noch verstärkt (AA 15.7.2021). COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 11.6.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021). Die kürzlich veröffentlichte IPC-Analyse schätzt, dass sich im April 2021 12,2 Millionen Menschen - mehr als ein Drittel der Bevölkerung - in einem Krisen- oder Notfall-Niveau der Ernährungsunsicherheit befinden (UNOCHA 3.6.2021; vgl. IPC 22.4.2021). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020).
Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 18.3.2021).
Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch lang anhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (UNOCHA 19.12.2020).
Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2021 um mehr als 5% geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019 (IOM 18.3.2021).
Frauen, Kinder und Binnenvertriebene
Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die ehemalige Regierung ordnete im März 2020 an, alle Schulen zu schließen (IOM 23.9.2020; vgl. ACCORD 25.5.2021), wobei diese ab August 2020 wieder stufenweise geöffnet wurden (ACCORD 25.5.2021). Angesichts einer zweiten COVID-19-Welle verkündete die Regierung jedoch Ende November die abermalige Schließung der Schulen (SIGAR 30.4.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021) wobei diese im Laufe des ersten Quartals 2021 wieder geöffnet wurden (SIGAR 30.4.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021, UNICEF 4.5.2021). 35 bis 60 Schüler lernen in einem einzigen Raum, weil es an Einrichtungen fehlt und die Richtlinien zur sozialen Distanzierung nicht beachtet werden (IOM 18.3.2021). Ende Mai 2021 wurden die Schulen erneut geschlossen (BAMF 31.5.2021) und und begannen mit Ende Juli langsam wieder zu öffnen (AAN 25.7.2021).
Kinder (vor allem Jungen), die von den Auswirkungen der Schulschließungen im Rahmen von COVID-19 betroffen waren, waren nun auch anfälliger für Rekrutierung durch die Konfliktparteien (IPS 12.11.2020; vgl. UNAMA 10.8.2020, ACCORD 25.5.2021). In den ersten Monaten des Jahres 2021 wurde im Durchschnitt eines von drei Kindern in Afghanistan außer Haus geschickt, um zu arbeiten. Besonders außerhalb der Städte wurde ein hoher Anstieg der Kinderarbeit berichtet (IOM 18.3.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021). Die Krise verschärft auch die bestehende Vulnerabilität von Mädchen betreffend Kinderheirat und Schwangerschaften von Minderjährigen (AA 15.7.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021). Die Pandemie hat auch spezifische Folgen für Frauen, insbesondere während eines Lockdowns, einschließlich eines erhöhten Maßes an häuslicher Gewalt (ACCORD 25.5.2021; vgl. AI 3.2021). Frauen und Mädchen sind durch den generell geringeren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusätzlich betroffen (AI 3.2021; vgl. HRW 13.1.2021, AAN 1.10.2020).
Binnenvertriebene sind besonders gefährdet, sich mit COVID-19 anzustecken, da sie bereits vorher anfällig waren, es keine Gesundheitseinrichtungen gibt, die Siedlungen überfüllt sind und sie nur begrenzten Zugang zu Wasser und sanitären Anlagen haben. Aufgrund ihrer schlechten Lebensbedingungen sind die vertriebenen Gemeinschaften nicht in der Lage, Präventivmaßnahmen wie soziale Distanzierung und Quarantäne zu praktizieren und sind daher anfälliger für die Ansteckung und Verbreitung des Virus (AI 3.2021).
Politische Lage
Letzte Änderung: 16.09.2021
Afghanistan war [vor der Machtübernahme der Taliban] ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 1.3.2021). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen (NSIA 1.6.2020) bis 39 Millionen Menschen (WoM o.D.).
Nachdem der bisherige Präsident Ashraf Ghani am 15.8.2021 aus Afghanistan geflohen war, nahmen die Taliban die Hauptstadt Kabul als die letzte aller großen afghanischen Städte ein (TAG 15.8.2021; vgl. JS 7.9.2021). Ghani gab auf seiner Facebook-Seite eine Erklärung ab, in der er den Sieg der Taliban vor Ort anerkannte (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Diese Erklärung wurde weithin als Rücktritt interpretiert, obwohl nicht klar ist, ob die Erklärung die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für einen Rücktritt des Präsidenten erfüllt. Amrullah Saleh, der erste Vizepräsident Afghanistans unter Ghani, beanspruchte in der Folgezeit das Amt des Übergangspräsidenten für sich (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Er ist Teil des Widerstands gegen die Taliban im Panjshir-Tal (REU 8.9.2021). Ein so genannter Koordinationsrat unter Beteiligung des früheren Präsidenten Hamid Karzai, Abdullah Abdullah (dem früheren Außenminister und Leiter der Delegation der vorigen Regierung bei den letztendlich erfolglosen Friedensverhandlungen) und Gulbuddin Hekmatyar führte mit den Taliban informelle Gespräche über eine Regierungsbeteiligung (FP 23.8.2021), die schließlich nicht zustande kam (TD 10.9.2021). Denn unabhängig davon, wer nach der afghanischen Verfassung das Präsidentenamt innehat, kontrollieren die Taliban den größten Teil des afghanischen Staatsgebiets (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Sie haben das Islamische Emirat Afghanistan ausgerufen und am 7.9.2021 eine neue Regierung angekündigt, die sich größtenteils aus bekannten Taliban-Figuren zusammensetzt (JS 7.9.2021).
Die Taliban lehnen die Demokratie und ihren wichtigsten Bestandteil, die Wahlen, generell ab (AJ 24.8.2021; vgl. AJ 23.8.2021). Sie tun dies oftmals mit Verweis auf die Mängel des demokratischen Systems und der Wahlen in Afghanistan in den letzten 20 Jahren, wie auch unter dem Aspekt, dass Wahlen und Demokratie in der vormodernen Periode des islamischen Denkens, der Periode, die sie als am authentischsten "islamisch" ansehen, keine Vorläufer haben. Sie halten einige Methoden zur Auswahl von Herrschern in der vormodernen muslimischen Welt für authentisch islamisch - zum Beispiel die Shura Ahl al-Hall wa'l-Aqd, den Rat derjenigen, die qualifiziert sind, einen Kalifen im Namen der muslimischen Gemeinschaft zu wählen oder abzusetzen (AJ 24.8.2021). Ende August 2021 kündigten die Taliban an, eine Verfassung auszuarbeiten (FA 23.8.2021), jedoch haben sie sich zu den Einzelheiten des Staates, den ihre Führung in Afghanistan errichten möchte, bislang bedeckt gehalten (AJ 24.8.2021; vgl. ICG 24.8.2021, AJ 23.8.2021).
Im September 2021 kündigten sie die Bildung einer "Übergangsregierung" an. Entgegen früherer Aussagen handelt es sich dabei nicht um eine "inklusive" Regierung unter Beteiligung unterschiedlicher Akteure, sondern um eine reine Talibanregierung. Darin vertreten sind Mitglieder der alten Talibanelite, die schon in den 1990er Jahren zentrale Rollen besetzte, ergänzt mit Taliban-Führern, die im ersten Emirat noch zu jung waren, um zu regieren. Die allermeisten sind Paschtunen. Angeführt wird die neue Regierung von Mohammad Hassan Akhund. Er ist Vorsitzender der Minister, eine Art Premierminister. Akhund ist ein wenig bekanntes Mitglied des höchsten Taliban-Führungszirkels, der sogenannten Rahbari-Shura, besser bekannt als Quetta-Shura (NZZ 7.9.2021; vgl. BBC 8.9.2021a). Einer seiner Stellvertreter ist Abdul Ghani Baradar, der bisher das politische Büro der Taliban in Doha geleitet hat und so etwas wie das öffentliche Gesicht der Taliban war (NZZ 7.9.2021), ein weiterer Stellvertreter ist Abdul Salam Hanafi, der ebenfalls im politischen Büro in Doha tätig war (ORF 7.9.2021). Mohammad Yakub, Sohn des Taliban-Gründers Mullah Omar und einer der Stellvertreter des Taliban-Führers Haibatullah Akhundzada (RFE/RL 6.8.2021), ist neuer Verteidigungsminister. Sirajuddin Haqqani, der Leiter des Haqqani-Netzwerks, wurde zum Innenminister ernannt. Das Haqqani-Netzwerk wird von den USA als Terrororganisation eingestuft. Der neue Innenminister steht auf der Fahndungsliste des FBI und auch der Vorsitzende der Minister, Akhund, befindet sich auf einer Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrates (NZZ 7.9.2021).
Ein Frauenministerium findet sich nicht unter den bislang angekündigten Ministerien, auch wurden keine Frauen zu Ministerinnen ernannt [Anm.: Stand 7.9.2021]. Dafür wurde ein Ministerium für "Einladung, Führung, Laster und Tugend" eingeführt, das die Afghanen vom Namen her an das Ministerium "für die Förderung der Tugend und die Verhütung des Lasters" erinnern dürfte. Diese Behörde hatte während der ersten Taliban-Herrschaft von 1996 bis 2001 Menschen zum Gebet gezwungen oder Männer dafür bestraft, wenn sie keinen Bart trugen (ORF 7.9.2021; vgl. BBC 8.9.2021a). Die höchste Instanz der Taliban in religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten (RFE/RL 6.8.2021), der "Amir al Muminin" oder "Emir der Gläubigen" Mullah Haibatullah Akhundzada (FR 18.8.2021) wird sich als "Oberster Führer" Afghanistans auf religiöse Angelegenheiten und die Regierungsführung im Rahmen des Islam konzentrieren (NZZ 8.9.2021). Er kündigte an, dass alle Regierungsangelegenheiten und das Leben in Afghanistan den Gesetzen der Scharia unterworfen werden (ORF 7.9.2021).
Bezüglich der Verwaltung haben die Taliban Mitte August 2021 nach und nach die Behörden und Ministerien übernommen. Sie riefen die bisherigen Beamten und Regierungsmitarbeiter dazu auf, wieder in den Dienst zurückzukehren, ein Aufruf, dem manche von ihnen auch folgten (AZ 17.8.2021; vgl. ICG 24.8.2021). Es gibt Anzeichen dafür, dass einige Anführer der Gruppe die Grenzen ihrer Fähigkeit erkennen, den Regierungsapparat in technisch anspruchsvolleren Bereichen zu bedienen. Zwar haben die Taliban seit ihrem Erstarken in den vergangenen zwei Jahrzehnten in einigen ländlichen Gebieten Afghanistans eine so genannte Schattenregierung ausgeübt, doch war diese rudimentär und von begrenztem Umfang, und in Bereichen wie Gesundheit und Bildung haben sie im Wesentlichen die Dienstleistungen des afghanischen Staates und von Nichtregierungsorganisationen übernommen (ICG 24.8.2021).
Bis zum Sturz der alten Regierung wurden ca. 75% (ICG 24.8.2021) bis 80% des afghanischen Staatsbudgets von Hilfsorganisationen bereitgestellt (BBC 8.9.2021a), Finanzierungsquellen, die zumindest für einen längeren Zeitraum ausgesetzt sein werden, während die Geber die Entwicklung beobachten (ICG 24.8.2021). So haben die EU und mehrere ihrer Mitgliedsstaaten in der Vergangenheit mit der Einstellung von Hilfszahlungen gedroht, falls die Taliban die Macht übernehmen und ein islamisches Emirat ausrufen sollten, oder Menschen- und Frauenrechte verletzen sollten. Die USA haben rund 9,5 Milliarden US-Dollar an Reserven der afghanischen Zentralbank sofort [nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul] eingefroren, Zahlungen des IWF und der EU wurden ausgesetzt (CH 24.8.2021). Die Taliban verfügen weiterhin über die Einnahmequellen, die ihren Aufstand finanzierten, sowie über den Zugang zu den Zolleinnahmen, auf die sich die frühere Regierung für den Teil ihres Haushalts, den sie im Inland aufbrachte, stark verließ. Ob neue Geber einspringen werden, um einen Teil des Defizits auszugleichen, ist noch nicht klar (ICG 24.8.2021).
Die USA zeigten sich angesichts der Regierungsbeteiligung von Personen, die mit Angriffen auf US-Streitkräfte in Verbindung gebracht werden, besorgt und die EU erklärte, die islamistische Gruppe habe ihr Versprechen gebrochen, die Regierung "integrativ und repräsentativ" zu machen (BBC 8.9.2021b). Deutschland und die USA haben eine baldige Anerkennung der von den militant-islamistischen Taliban verkündeten Übergangsregierung Anfang September 2021 ausgeschlossen (BZ 8.9.2021). China und Russland haben ihre Botschaften auch nach dem Machtwechsel offen gehalten (NYT 1.9.2021).
Vertreter der National Resistance Front (NRF) haben die internationale Gemeinschaft darum gebeten, die Taliban-Regierung nicht anzuerkennen (BBC 8.9.2021b). Ahmad Massoud, einer der Anführer der NRF, kündigte an, nach Absprachen mit anderen Politikern eine Parallelregierung zu der von ihm als illegitim bezeichneten Talibanregierung bilden zu wollen (IT 8.9.2021).
Friedensverhandlungen, Abzug der internationalen Truppen und Machtübernahme der Taliban
Letzte Änderung: 16.09.2021
2020 fanden die ersten ernsthaften Verhandlungen zwischen allen Parteien des Afghanistan-Konflikts zur Beendigung des Krieges statt (HRW 13.1.2021). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 7.5.2020; vgl. NPR 6.5.2020, EASO 8.2020a) - die damalige afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses (EASO 8.2020a). Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthielt das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nicht-amerikanischen NATO-Truppen sollten abgezogen werden (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020; REU 6.10.2020). Dafür hatten die Taliban beispielsweise zugesichert, zu verhindern, dass "irgendeiner ihrer Mitglieder, andere Individuen oder Gruppierungen, einschließlich Al-Qaida, den Boden Afghanistans nutzt, um die Sicherheit der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten zu bedrohen" (USDOS 29.2.2020).
Die Verhandlungen mit den USA lösten bei den Taliban ein Gefühl des Triumphs aus. Indem sie mit den Taliban verhandelten, haben die USA sie offiziell als politische Gruppe und nicht mehr als Terroristen anerkannt [Anm.: das mit den Taliban verbundene Haqqani-Netzwerk wird von den USA mit Stand 7.9.2021 weiterhin als Terrororganisation eingestuft (NZZ 7.9.2021)]. Gleichzeitig unterminierten die Verhandlungen aber auch die damalige afghanische Regierung, die von den Gesprächen zwischen den Taliban und den USA ausgeschlossen wurde (VIDC 26.4.2021).
Im September 2020 starteten die Friedensgespräche zwischen der damaligen afghanischen Regierung und den Taliban in Katar (REU 6.10.2020; vgl. AJ 5.10.2020, BBC 22.9.2020). Der Regierungsdelegation gehörten nur wenige Frauen an, aufseiten der Taliban war keine einzige Frau an den Gesprächen beteiligt. Auch Opfer des bewaffneten Konflikts waren nicht vertreten, obwohl Menschenrechtsgruppen dies gefordert hatten (AI 7.4.2021).
Die Gewalt ließ jedoch nicht nach, selbst als afghanische Unterhändler zum ersten Mal in direkte Gespräche verwickelt wurden (AJ 5.10.2020; vgl. AI 7.4.2021). Insbesondere im Süden, herrscht trotz des Beginns der Friedensverhandlungen weiterhin ein hohes Maß an Gewalt, was weiterhin zu einer hohen Zahl von Opfern unter der Zivilbevölkerung führt (UNGASC 9.12.2020; vgl. AI 7.4.2021).
Mitte Juli 2021 kam es zu einem weiteren Treffen zwischen der ehemaligen afghanischen Regierung und den Vertretern der Taliban in Katar (DW 18.7.2021). In einer Erklärung, die nach zweitägigen Gesprächen veröffentlicht wurde, erklärten beide Seiten, dass sie das Leben der Zivilbevölkerung, die Infrastruktur und die Dienstleistungen schützen wollen (AAN 19.7.2021). Ein Waffenstillstand wurde allerdings nicht beschlossen (DW 18.7.2021; vgl. AAN 19.7.2021).
Abzug der Internationalen Truppen
Im April 2021 kündigte US-Präsident Joe Biden den Abzug der verbleibenden Truppen (WH 14.4.2021; vgl. RFE/RL 19.5.2021) - etwa 2.500-3.500 US-Soldaten und etwa 7.000 NATO-Truppen - bis zum 11.9.2021 an, nach zwei Jahrzehnten US-Militärpräsenz in Afghanistan (RFE/RL 19.5.2021). Er erklärte weiter, die USA würden weiterhin "terroristische Bedrohungen" überwachen und bekämpfen sowie "die Regierung Afghanistans" und "die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte weiterhin unterstützen" (WH 14.4.2021), allerdings ist nicht klar, wie die USA auf wahrgenommene Bedrohungen zu reagieren gedenken, sobald ihre Truppen abziehen (AAN 1.5.2021). Die Taliban zeigten sich von der Ankündigung eines vollständigen und bedingungslosen Abzugs nicht besänftigt, sondern äußerten sich empört über die Verzögerung, da im Doha-Abkommen der 30.4.2021 als Datum für den Abzug der internationalen Truppen festgelegt worden war. In einer am 15.4.2021 veröffentlichten Erklärung wurden Drohungen angedeutet: Der "Bruch" des Doha-Abkommens "öffnet den Mudschaheddin des Islamischen Emirats den Weg, jede notwendige Gegenmaßnahme zu ergreifen, daher wird die amerikanische Seite für alle zukünftigen Konsequenzen verantwortlich gemacht werden, und nicht das Islamische Emirat" (AAN 1.5.2021). Am 31.8.2021 zog schließlich der letzte US-amerikanische Soldat aus Afghanistan ab (DP 31.8.2021). Schon zuvor verließ der bis dahin amtierende afghanische Präsident Ashraf Ghani das Land und die Taliban übernahmen die Hauptstadt Kabul am 15.8.2021 kampflos (AAN 17.8.2021).
US-amerikanische, britische und deutsche Beamte sowie internationale NGOs wie Human Rights Watch (HRW) äußerten sich besorgt über die Sicherheit von ehemaligen Mitarbeitern der internationalen Streitkräfte (RFE/RL 19.5.2021; BAMF 17.5.2021; BBC 27.4.2021; HRW 8.6.2021), während die Taliban angaben, nicht gegen (ehemalige) Mitarbeiter der internationalen Truppen vorgehen zu wollen. Die Taliban behaupteten in der Erklärung, dass Afghanen, die für die ausländischen "Besatzungstruppen" gearbeitet hätten, "irregeführt" worden seien und "Reue" für ihre vergangenen Handlungen zeigen sollten, da diese einem "Verrat" am Islam und an Afghanistan gleichkämen (VOA 7.6.2021; vgl. MENAFN 7.6.2021, DZ 7.6.2021, HRW 8.6.2021).
Sicherheitslage
Letzte Änderung: 16.09.2021
Jüngste Entwicklungen - Machtübernahme der Taliban
Mit April bzw. Mai 2021 nahmen die Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen stark zu (RFE/RL 12.5.2021; vgl. SIGAR 30.4.2021, BAMF 31.5.2021, UNGASC 2.9.2021), aber auch schon zuvor galt die Sicherheitslage in Afghanistan als volatil (UNGASC 17.3.2020; vgl. USDOS 30.3.2021). Laut Berichten war der Juni 2021 der bis dahin tödlichste Monat mit den meisten militärischen und zivilen Opfern seit 20 Jahren in Afghanistan (TN 1.7.2021; vgl. AJ 2.7.2021). Gemäß einer Quelle veränderte sich die Lage seit der Einnahme der ersten Provinzhauptstadt durch die Taliban - Zaranj in Nimruz - am 6.8.2021 in "halsbrecherischer Geschwindigkeit" (AAN 15.8.2021), innerhalb von zehn Tagen eroberten sie 33 der 34 afghanischen Provinzhauptstädte (UNGASC 2.9.2021). Auch eroberten die Taliban mehrere Grenzübergänge und Kontrollpunkte, was der finanziell eingeschränkten Regierung dringend benötigte Zolleinnahmen entzog (BBC 13.8.2021). Am 15.8.2021 floh Präsident Ashraf Ghani ins Ausland und die Taliban zogen kampflos in Kabul ein (ORF 16.8.2021; vgl. TAG 15.8.2021). Zuvor waren schon Jalalabad im Osten an der Grenze zu Pakistan gefallen, ebenso wie die nordafghanische Metropole Mazar-e Scharif (TAG 15.8.2021; vgl. BBC 15.8.2021). Ein Bericht führt den Vormarsch der Taliban in erster Linie auf die Schwächung der Moral und des Zusammenhalts der Sicherheitskräfte und der politischen Führung der Regierung zurück (ICG 14.8.2021; vgl. BBC 13.8.2021, AAN 15.8.2021). Die Kapitulation so vieler Distrikte und städtischer Zentren ist nicht unbedingt ein Zeichen für die Unterstützung der Taliban durch die Bevölkerung, sondern unterstreicht vielmehr die tiefe Entfremdung vieler lokaler Gemeinschaften von einer stark zentralisierten Regierung, die häufig von den Prioritäten ihrer ausländischen Geber beeinflusst wird (ICG 14.8.2021), auch wurde die weit verbreitete Korruption, beispielsweise unter den Sicherheitskräften, als ein Problem genannt (BBC 13.8.2021).
Im Panjshir-Tal, rund 55 km von Kabul entfernt (TD 20.8.2021), formierte sich nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul Mitte August 2021 Widerstand in Form der National Resistance Front (NRF), welche von Amrullah Saleh, dem ehemaligen Vizepräsidenten Afghanistans und Chef des National Directorate of Security [Anm.: NDS, afghan. Geheimdienst], sowie Ahmad Massoud, dem Sohn des verstorbenen Anführers der Nordallianz gegen die Taliban in den 1990ern, angeführt wird. Ihr schlossen sich Mitglieder der inzwischen aufgelösten Afghan National Defense and Security Forces (ANDSF) an, um im Panjshir-Tal und umliegenden Distrikten in Parwan und Baghlan Widerstand gegen die Taliban zu leisten (LWJ 6.9.2021; vgl. ANI 6.9.2021). Sowohl die Taliban, als auch die NRF betonten zu Beginn, ihre Differenzen mittels Dialog überwinden zu wollen (TN 30.8.2021; vgl. WZ 22.8.2021). Nachdem die US-Streitkräfte ihren Truppenabzug aus Afghanistan am 30.8.2021 abgeschlossen hatten, griffen die Taliban das Pansjhir-Tal jedoch an. Es kam zu schweren Kämpfen und nach sieben Tagen nahmen die Taliban das Tal nach eigenen Angaben ein (LWJ 6.9.2021; vgl. ANI 6.9.2021), während die NRF am 6.9.2021 bestritt, dass dies geschehen sei (ANI 6.9.2021). Mit Stand 6.9.2021 war der Aufenthaltsort von Saleh und Massoud unklar, jedoch verkündete Massoud, in Sicherheit zu sein (AJ 6.9.2021) sowie nach Absprachen mit anderen Politikern eine Parallelregierung zu der von ihm als illegitim bezeichneten Talibanregierung bilden zu wollen (IT 8.9.2021).
Weitere Kampfhandlungen gab es im August 2021 beispielsweise im Distrikt Behsud in der Provinz Maidan Wardak (AAN 1.9.2021; vgl. AWM 22.8.2021, ALM 15.8.2021) und in Khedir in Daikundi, wo es zu Scharmützeln kam, als die Taliban versuchten, lokale oder ehemalige Regierungskräfte zu entwaffnen (AAN 1.9.2021). [Anm.: zum Widerstand im Distrikt Behsud s. auch Abschnitt 6.5]
Seit der Beendigung der Kämpfe zwischen den Taliban und den afghanischen Streitkräften ist die Zahl der zivilen Opfer deutlich zurückgegangen (PAJ 15.8.2021; vgl PAJ 21.8.2021).
Vorfälle am Flughafen Kabul
Nachdem sich die Nachricht verbreitete, dass Präsident Ashraf Ghani das Land verlassen hatte, machten sich viele Menschen auf den Weg zum Flughafen, um aus dem Land zu fliehen (NLM 26.8.2021; BBC 8.9.2021c, UNGASC 2.9.2021). Im Zuge der Evakuierungsmissionen von Ausländern sowie Ortskräften aus Afghanistan (ORF 18.8.2021) kam es in der Menschenmenge zu Todesopfern, nachdem tausende Menschen aus Angst vor den Taliban zum Flughafen gekommen waren (TN 16.8.2021). Unter anderem fand auch eine Schießerei mit einem Todesopfer statt (PAJ 23.8.2021).
Am 26.8.2021 wurde bei