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10/07 VerwaltungsgerichtshofNorm
AsylG 2005 §55Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher und den Hofrat Dr. Pfiel, die Hofrätinnen Dr. Julcher und Dr. Wiesinger sowie den Hofrat Dr. Chvosta als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision der K H, vertreten durch Dr. Christian Schmaus, Rechtsanwalt in 1060 Wien, Chwallagasse 4/11, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 29. Mai 2020, W192 2207928-1/23E, betreffend Anordnung zur Außerlandesbringung (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Die Revisionswerberin, eine Staatsangehörige von Syrien, reiste im Jahr 2015 nach Deutschland ein und beantragte dort am 3. März 2016 internationalen Schutz. Ihr wurde in Deutschland am 24. Juli 2017 der Status einer subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt.
2 Im Folgenden reiste die Revisionswerberin nach Österreich, wo sie am 15. Februar 2018 standesamtlich die Ehe mit einem in Österreich asylberechtigten syrischen Staatsangehörigen schloss. Ihrer am 3. Juni 2018 geborenen gemeinsamen Tochter wurde mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 5. Juli 2018 im Familienverfahren nach dem Vater der Status der Asylberechtigten zuerkannt.
3 Den von der Revisionswerberin am 28. Juni 2018 in Österreich gestellten Antrag auf internationalen Schutz wies das BFA mit Bescheid vom 23. August 2018 gemäß § 4a AsylG 2005 als unzulässig zurück, wobei es unter einem feststellte, dass sich die Revisionswerberin nach Deutschland zurück zu begeben habe (Spruchpunkt I.). Weiters wurde der Revisionswerberin kein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 erteilt (Spruchpunkt II.) und es wurde ihre Außerlandesbringung gemäß § 61 Abs. 1 Z 1 FPG angeordnet (Spruchpunkt III.). Im Hinblick auf das Säuglingsalter der Tochter der Revisionswerberin wurde die Durchführung der Anordnung zur Außerlandesbringung bis zum 30. November 2018 aufgeschoben (Spruchpunkt IV.).
4 Die gegen die Spruchpunkte I., III. und IV. dieses Bescheides erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 8. März 2019 als unbegründet ab. Die dagegen eingebrachte außerordentliche Revision wies der Verwaltungsgerichtshof, soweit sie sich auf die Abweisung der Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des BFA-Bescheides bezog, mit der Entscheidung VwGH 26.2.2020, Ra 2019/18/0456, mangels Vorliegens der Voraussetzungen nach Art. 133 Abs. 4 B-VG als unzulässig zurück; im Umfang der Bekämpfung der Beschwerdeabweisung in Bezug auf die Spruchpunkte III. und IV. des BFA-Bescheides erfolgte eine Aufhebung wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes. Maßgeblich für die Aufhebung war, dass das Bundesverwaltungsgericht das Kindeswohl bei der Abwägung nach Art. 8 EMRK bzw. § 9 BFA-VG nicht ausreichend gewichtet habe.
5 Mit dem im zweiten Rechtsgang ohne weitere Ermittlungsschritte erlassenen, vorliegend angefochtenen Erkenntnis vom 29. Mai 2020 wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde im verbliebenen Umfang neuerlich als unbegründet ab. Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das Bundesverwaltungsgericht aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
6 In seiner rechtlichen Beurteilung führte das Bundesverwaltungsgericht aus, dass auf Grund des in Deutschland abgeschlossenen Asylverfahrens der Revisionswerberin kein Raum für die Führung eines weiteren Asylverfahrens in Österreich bestehe. Dementsprechend sei ihr Antrag auf internationalen Schutz rechtskräftig zurückgewiesen worden. Es werde nicht verkannt, dass die Revisionswerberin „die zentrale Funktion bei der Kindererziehung und -betreuung“ habe, sodass ihr Verbleib in Österreich für die Familie, insbesondere die Tochter, als „vorteilhaft“ anzusehen sei. Die Tochter sei aber bereits „knapp zwei Jahre“ alt, sodass nach dem Inhalt der Empfehlungen des Obersten Sanitätsrates und der WHO eine „Ausweisung“ der Revisionswerberin nicht als Verletzung des Kindeswohls anzusehen sei. Im vorliegenden Fall sei auch zu berücksichtigen, dass die Revisionswerberin bereits zum Zeitpunkt ihrer Einreise in Österreich über den Status der subsidiär Schutzberechtigten in Deutschland verfügt habe und somit weder damals noch zum Zeitpunkt der Eheschließung oder der Geburt ihrer Tochter mit der Gewährung von internationalem Schutz in Österreich habe rechnen können. Die rechtswidrige Weiterreise der Revisionswerberin zwecks Einbringung eines weiteren Antrags auf internationalen Schutz stelle gerade jenes Verhalten dar, das durch die Rechtsvorschriften des gemeinsamen europäischen Asylsystems verhindert werden solle. Da die Revisionswerberin bereits in einem Mitgliedstaat internationalen Schutzstatus besitze, stelle sich die fortgesetzte Befassung der Asylbehörden in einem weiteren Mitgliedstaat als „in besonderem Maße rechtsmissbräuchlich“ dar. Auch dadurch, dass die Revisionswerberin bisher keinen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach dem NAG gestellt habe, habe sie zum Ausdruck gebracht, dass sie die österreichischen Rechtsvorschriften betreffend den Aufenthalt von Fremden beharrlich ignoriere. Das allein durch Missachtung der Einreise- und Einwanderungsvorschriften begründete Familienleben trete fallbezogen gegenüber dem öffentlichen Interesse an der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Bestimmungen in den Hintergrund. Die Revisionswerberin sei darauf zu verweisen, den Wunsch nach Einwanderung und Familienzusammenführung im Einklang mit den einschlägigen unionsrechtlichen und österreichischen Rechtsvorschriften zu verwirklichen, wobei eine vorübergehende Trennung von ihrer minderjährigen Tochter wegen deren „mittlerweile eingetretenen fortgeschrittenen Alters von fast zwei Jahren“ und der Möglichkeit einer vorübergehenden Betreuung durch den Kindesvater als vertraute Bezugsperson keine Verletzung des Kindeswohls begründe. Für die Dauer eines ordnungsgemäß geführten Niederlassungsverfahrens könne der Kontakt zwischen der Revisionswerberin und ihrer Familie zwischenzeitlich telefonisch oder über das Internet sowie - in eingeschränkter Form - auch durch persönliche Besuche aufrechterhalten werden. Schließlich verwies das Bundesverwaltungsgericht zur Stützung seiner Rechtsansicht auf die Beschlüsse VwGH 21.11.2018, Ra 2018/01/0015, 0016, VwGH 14.12.2018, Ra 2017/01/0169, und VwGH 5.3.2020, Ra 2019/19/0524.
7 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung eines Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, erwogen hat:
8 Die Revision erweist sich als zulässig und berechtigt, weil das Bundesverwaltungsgericht - wie in der Zulässigkeitsbegründung der Revision aufgezeigt wird - von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen ist, indem es die konkreten Auswirkungen der Anordnung der Außerlandesbringung auf das Kindeswohl abermals nicht ausreichend berücksichtigt hat.
9 Das Bundesverwaltungsgericht geht davon aus, dass eine vorübergehende Trennung der Familie während des Verfahrens zur Erlangung eines Aufenthaltstitels der Revisionswerberin in Österreich wegen des nunmehrigen „fortgeschrittenen Alters“ des Kindes von fast zwei Jahren und der Möglichkeit der zwischenzeitlichen Betreuung durch den Kindesvater keine Verletzung des Kindeswohls darstelle.
10 Diesbezüglich ist zunächst auf die schon im Vorerkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes wiedergegebene Rechtsprechung hinzuweisen, wonach der ständige Kontakt mit der Mutter in den ersten Lebensphasen eines Kindes nicht nur wünschenswert, sondern notwendig sein kann (vgl. VfGH 11.6.2018, E 343/2018; VwGH 12.9.2012, 2012/23/0017, Rn. 20; VwGH 16.1.2019, Ra 2018/18/0272, Rn. 20). Es kann vor diesem Hintergrund nicht gesagt werden, dass bei einem Kindesalter von zwei Jahren eine (wenn auch möglicherweise nur vorübergehende) Trennung von der Mutter generell zumutbar wäre (so bezogen sich die bereits genannten Entscheidungen VfGH 11.6.2018, E 343/2018, und VwGH 16.1.2019, Ra 2018/18/0272, auf fast dreijährige Kinder). Vielmehr kann - im Gegenteil - die Trennung eines Kleinkindes von seiner Mutter nur unter außergewöhnlichen Umständen unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK zulässig sein: sei es etwa, weil das Kind ausnahmsweise ausschließlich andere enge Bezugspersonen hat oder weil auf Seiten der Mutter besonders gravierende öffentliche Interessen eine Aufenthaltsbeendigung erfordern. Solche außergewöhnlichen Umstände hat das Bundesverwaltungsgericht aber nicht festgestellt. Die vom Bundesverwaltungsgericht hervorgehobene, im Übrigen schon länger zurückliegende Verletzung der Einreisebestimmungen durch die Revisionswerberin begründet jedenfalls kein so schwerwiegendes öffentliches Interesse, dass die Trennung von ihrem zweijährigen Kind gerechtfertigt wäre. An der Unverhältnismäßigkeit der Trennung ändert auch die grundsätzlich vorhandene wechselseitige Besuchsmöglichkeit nichts, zumal das Bundesverwaltungsgericht keine Feststellungen zur tatsächlichen Realisierbarkeit regelmäßiger Reisen - die auch abhängig von Distanz, Kosten und beruflichen Bindungen ist - getroffen hat. Ist die Trennung aber, wie das Bundesverwaltungsgericht annimmt, nur vorübergehend, bis die Revisionswerberin ihren „Wunsch nach Einwanderung und Familienzusammenführung im Einklang mit den einschlägigen unionsrechtlichen und österreichischen Rechtsvorschriften“ verwirklicht, so ist umso weniger ein öffentliches Interesse daran zu sehen, dass die Revisionswerberin für die Dauer eines Niederlassungsverfahrens Österreich verlassen muss und so in einer entscheidenden Entwicklungsphase von ihrem Kind getrennt wird. Bei den vom Bundesverwaltungsgericht zur Stützung seines Ergebnisses herangezogenen Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofes handelt es sich im Übrigen durchwegs um Zurückweisungen von Revisionen mangels Darlegung einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG; die Zulässigkeit einer Aufenthaltsbeendigung in einer Situation wie der hier vorliegenden lässt sich daraus nicht ableiten.
11 Soweit das Bundesverwaltungsgericht im Übrigen darauf hinweist, dass auch eine Aufhebung der Anordnung zur Außerlandesbringung nicht zur Legalisierung des Aufenthalts der Revisionswerberin im Bundesgebiet führen würde, ist klarzustellen, dass ihr diesfalls von Amts wegen ein Aufenthaltstitel nach § 55 AsylG 2005 zu erteilen wäre. § 58 Abs. 2 AsylG 2005 ordnet die amtswegige „Prüfung“ der Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG 2005 nach seinem Wortlaut zwar nur für den Fall an, dass eine Rückkehrentscheidung auf Grund des § 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG auf Dauer für unzulässig erklärt wird. Das - von § 55 AsylG 2005 grundsätzlich ermöglichte - amtswegige Vorgehen ist aber auch in einem Fall wie dem vorliegenden geboten, in dem sich eine Anordnung zur Außerlandesbringung auf Grund der gemäß § 9 BFA-VG vorzunehmenden Interessenabwägung auf Dauer als unzulässig erweist. Steht nämlich fest, dass die Anordnung zur Außerlandesbringung aus Gründen des Art. 8 EMRK auf Dauer unzulässig ist, so folgt daraus auch, dass - in Ermangelung eines anderen Aufenthaltsrechts - die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 im Sinn von dessen Abs. 1 Z 1 „gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten“ ist. In einem solchen Fall besteht schon aus gleichheitsrechtlichen Gründen kein Raum dafür, den Fremden - anders als in Fällen der Feststellung der dauerhaften Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung - auf eine Antragstellung zu verweisen. Soweit das Bundesverwaltungsgericht die Revisionswerberin überdies auf einen Antrag zur Erlangung eines Aufenthaltstitels als Familienangehörige nach § 46 Abs. 1 Z 2 lit. c NAG verwies, wurde schon nicht dargetan, dass der Revisionswerberin dieser Aufenthaltstitel ungeachtet des (viel) zu niedrigen Einkommens ihres Ehemannes tatsächlich erteilt werden könnte, was freilich auch die Annahme des Bundesverwaltungsgerichtes einer bloß vorübergehenden Trennung für die Dauer eines solchen Verfahrens in Frage stellt.
12 Das angefochtene Erkenntnis war gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen der (vorrangig wahrzunehmenden) Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
13 Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 7. Oktober 2021
Schlagworte
Besondere RechtsgebieteEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020210299.L00Im RIS seit
08.11.2021Zuletzt aktualisiert am
12.11.2021