Entscheidungsdatum
26.04.2021Norm
AsylG 2005 §8 Abs4Spruch
W192 2138435-2/2E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Ruso als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX StA. Afghanistan, gegen die Spruchpunkte I. und II. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 21.12.2020, Zahl: 1094932208-201246434, zu Recht:
A) Die Beschwerde wird gemäß den §§ 8 Abs. 4, 9 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 i.d.g.F. als unbegründet abgewiesen.
B) Die ordentliche Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1.1. Der Beschwerdeführer, ein damals minderjähriger Staatsangehöriger Afghanistans, stellte infolge illegaler Einreise am 16.11.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Gemeinsam mit dem Beschwerdeführer war sein damals dreizehnjähriger Bruder ins Bundesgebiet eingereist.
Anlässlich seiner Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 16.11.2015 sowie seiner Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 25.07.2016 gab der Beschwerdeführer zum Grund seiner Flucht im Wesentlichen an, den Herkunftsstaat wegen Grundstückstreitigkeiten mit anderen Dorfbewohnern in seinem Heimatort in der Provinz Logar verlassen zu haben. Nachdem sein Bruder getötet worden und sein Vater einen der Gegner umgebracht hätte, sei die gesamte Familie in den Iran geflüchtet, wo sie jedoch von den Feinden gefunden worden wäre. Von den iranischen Behörden seien sie mehrmals nach Afghanistan zurückgeschickt worden, sodass der Beschwerdeführer, nachdem sein Vater ihr Haus und Grundstück im Heimatort verkauft hätte, nach Europa geflüchtet sei. Seine Familie lebe nunmehr im gleichen Dorf in einem Mietshaus.
1.2. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 11.10.2016 wurde der Antrag auf internationalen Schutz des Beschwerdeführers sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch hinsichtlich der Gewährung subsidiären Schutzes in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde ihm nicht erteilt, es wurde eine Rückkehrentscheidung gegen diesen erlassen, festgestellt, dass seine Abschiebung in den Herkunftsstaat zulässig sei und eine zweiwöchige Frist für die freiwillige Ausreise ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung gewährt.
Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der vom Beschwerdeführer geschilderte Fluchtgrund nicht glaubhaft gemacht worden sei. Es liege eine allgemeine Gefährdungslage in Bezug auf seine Herkunftsprovinz, nicht jedoch in Bezug auf das gesamte Staatsgebiet vor, sodass dem Beschwerdeführer die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative in Kabul möglich wäre.
1.3. Nach Erhebung einer Beschwerde führte das Bundesverwaltungsgericht am 11.01.2018 eine mündliche Beschwerdeverhandlung durch.
Anlässlich dieser schilderte der Beschwerdeführer erstmals, ab dem Alter von fünf Jahren im Iran gelebt zu haben, wo er die Schule bis zur elften Schulstufe besucht und nebenbei als Schneider, Tischler, Verkäufer und Metzger sowie auf einer Baustelle gearbeitet hätte. Den Iran habe er aufgrund dort erlebter Diskriminierung verlassen. Die Gründe für den Wegzug seiner Familie aus Afghanistan seien ihm nicht bekannt. Der vor dem Bundesamt geschilderte Fluchtgrund einer Bedrohung in Afghanistan würde nicht der Wahrheit entsprechen. In Afghanistan hätte er keine Lebensgrundlage, dort sei ihm alles fremd und ihre Gegend sei sehr unsicher.
1.4. Mit im Anschluss mündlich verkündeter und in Rechtskraft erwachsener Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 11.01.2018, Zahl W187 2138435-1, wurde die Beschwerde in Bezug auf die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten als unbegründet abgewiesen sowie in Stattgabe der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides dem Beschwerdeführer der Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt und ihm zugleich gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt.
1.5. Mit Schreiben vom 15.11.2018 beantragte der Beschwerdeführer beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Verlängerung der ihm erteilten befristeten Aufenthaltsberechtigung.
Am 11.12.2018 wurde er zu diesem Antrag niederschriftlich vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl einvernommen. Auf Befragen gab er zusammengefasst an, er sei gesund, sunnitischer Moslem und Tadschike, sei in der Provinz Logar geboren und im Kindesalter in den Iran ausgereist, wo er sein gesamtes Leben bis zur Ausreise verbracht hätte. Dort habe er gearbeitet und sich gebildet. Er habe elf oder zwölf Jahre lang die Schule besucht und von klein auf gearbeitet. Er sei von seinem neunten Lebensjahr an als Schneider, Tischler, Hirte, Erntehelfer, Obstverkäufer, Holzarbeiter und auf Baustellen tätig gewesen. Seine Eltern, sein jüngerer Bruder, seine jüngere Schwester sowie zwei ältere bereits verheiratete Schwestern hielten sich unverändert im Iran auf. Sein zweiter Bruder befände sich in Österreich und sei ebenfalls subsidiär schutzberechtigt. Er sehe diesen einmal wöchentlich. Der Beschwerdeführer sei ledig, habe keine Kinder und stehe in Kontakt zu seiner im Iran lebenden Familie. Im Heimatland lebe noch eine Tante väterlicherseits, zu welcher er jedoch keinen Kontakt habe. Zwei Brüder und zwei Schwestern seines Vaters sowie eine Schwester und drei Brüder seiner Mutter würden ebenfalls im Iran leben.
In Österreich habe der Beschwerdeführer Deutsch gelernt und spiele in einem Fußballverein, seit sieben Monaten arbeite er in einem Lebensmittelgeschäft. Der Beschwerdeführer habe eine Freundin, eine Afghanin, welche österreichische Staatsbürgerin sei, und einige österreichische und türkische Freunde. Seinen Lebensunterhalt bestreite er durch seine Arbeit. Er sei auf der Suche nach einer Ausbildung als Tischler und würde nach Möglichkeit gerne eine Abendschule besuchen.
Zu seinen Befürchtungen für den Fall einer Rückkehr nach Afghanistan gab der Beschwerdeführer an, noch sehr klein gewesen zu sein, als er Afghanistan verlassen hätte und sich dort nicht auszukennen. Er sei über das Land nicht informiert und kenne die Gesetze nicht. Er sei im Iran aufgewachsen und habe die dortigen Gepflogenheiten angenommen. In Afghanistan übliche Dinge, wie einen langen Bart und traditionelle Kleidung zu tragen, gefielen ihm nicht. Auch die Gesetze gefielen ihm nicht. Es gefiele ihm, wenn Frauen frei wären. Auch kenne er niemanden in Afghanistan und würde auf der Straße landen. In Bezug auf eine Rückkehr speziell nach Herat oder Mazar-e Sharif gab der Beschwerdeführer an, Afghanistan nie gesehen zu haben und nicht zu wissen, weshalb sein Vater Afghanistan verlassen hätte. Die Lage im gesamten Land sei unsicher.
Vom Beschwerdeführer wurden ein ÖSD-Deutschzertifikat B1, eine Lohn-/Gehaltsabrechnung für November 2018, Bestätigungen über die Teilnahme an einem Berufsorientierungsprojekt und an einem Werte- und Orientierungskurs sowie eine Integrationserklärung vorgelegt.
1.6. Mit Bescheid vom 13.12.2018 erteilte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl dem Beschwerdeführer eine befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 für den Zeitraum bis 11.01.2021.
2.1. Mit Schreiben vom 11.11.2020 beantragte der Beschwerdeführer abermals die Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter. Beiliegend übermittelt wurden ein Dienstzettel vom 10.01.2020 über eine Beschäftigung als Eisenbieger mit einem monatlichen Brutto-Grundlohn von EUR 2.367,69 sowie Lohn-/Gehaltsabrechnungen für den Zeitraum Juli bis September 2020.
Am 11.12.2020 wurde der Beschwerdeführer im Verfahren zur Prüfung der Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung niederschriftlich vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl in deutscher Sprache einvernommen. Der Beschwerdeführer schilderte seine familiäre Situation sowie seine Lebensumstände im Vorfeld der Ausreise im Wesentlichen gleichlautend zu seinen bisher getätigten Angaben. Für den Fall einer Rückkehr nach Afghanistan habe er Befürchtungen wegen der allgemeinen Sicherheitslage; zudem habe er den Großteil seines Lebens im Iran verbracht.
In Österreich habe er Deutschkurse besucht, die B1-Deutschprüfung positiv abgeschlossen und an diversen Integrationskursen teilgenommen. Zudem habe er sich auf dem Arbeitsmarkt integriert. Er habe von November 2018 bis Jänner 2020 als Verkäufer in einem Lebensmittelgeschäft gearbeitet. Danach habe er eine Arbeit als Eisenbieger in einem näher bezeichneten Unternehmen begonnen. Während des ersten Lockdowns aufgrund von Covid-19 sei er dort gekündigt worden. Am 14.04.2020 hätten sie ihre Arbeit im genannten Unternehmen wieder aufnehmen können und der Beschwerdeführer sei bis dato dort beschäftigt. In Österreich habe er viele Freundschaften, auch mit seinen Arbeitskollegen, geschlossen. Zudem habe er hier seine Freundin und seinen Bruder. Durch seine Arbeit sei er selbsterhaltungsfähig. Der Beschwerdeführer sei Mitglied eines Fußballvereins und habe während seines Aufenthalts keine strafbaren Handlungen begangen.
Dem Beschwerdeführer wurde sodann vorgehalten, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten zum Entscheidungszeitpunkt nicht vorliegen würden und dem Beschwerdeführer eine Niederlassung insbesondere in Mazar-e Sharif zumutbar wäre. Der Beschwerdeführer verzichtete auf die Abgabe einer Stellungnahme hierzu.
2.2. Mit dem nunmehr hinsichtlich Spruchpunkt I. und II. angefochtenen Bescheid vom 21.12.2020 hat das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den dem Beschwerdeführer mit Erkenntnis vom 01.02.2018 zuerkannten Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 von Amts wegen aberkannt (Spruchpunkt I.) und seinen Antrag vom 11.11.2020 auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.). Weiters wurde dem Beschwerdeführer ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG wurde gemäß § 9 Abs. 2 und 3 BFA-VG als auf Dauer unzulässig erklärt und es wurde dem Beschwerdeführer gemäß §§ 58 Abs. 2 und 3 iVm 55 AsylG 2005 der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ erteilt (Spruchpunkt IV).
Zur Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten zum Entscheidungszeitpunkt nicht vorliegen würden, zumal dem Beschwerdeführer nunmehr eine Neuansiedelung in Mazar-e Sharif zuzumuten sei. Beim Beschwerdeführer handle es sich um einen gesunden Mann im erwerbsfähigen Alter, welcher über zwölfjährige Schulbildung sowie Arbeitserfahrung als Schneider, Tischler, Hirte, Erntehelfer, Obstverkäufer, Holzbearbeiter sowie als Hilfsarbeiter auf verfügen würde. Darüber hinaus habe er in Österreich massiv an Arbeitserfahrung dazugewonnen. Seine in Österreich bei der nunmehrigen Tätigkeit als Eisenbieger gewonnenen Kompetenzen und Erfahrungen würden ihm bei einer Neuansiedelung in Mazar-e Sharif und Wiedereingliederung in die afghanische Gesellschaft von Nutzen sein. Dem Beschwerdeführer werde es daher möglich sein, seinen Lebensunterhalt in Afghanistan eigenständig zu sichern. Der Beschwerdeführer habe in Österreich gezeigt, dass er sich in einem fremden Land anpassen und zurechtfinden könne. Auf Grundlage des aktuellen Kenntnisstandes der Behörde zur Situation im Heimatland des Beschwerdeführers werde festgestellt, dass dieser derzeit nicht die Voraussetzungen gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 erfülle, weshalb ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 1 Z 1 erster Fall AsylG 2005 abzuerkennen gewesen sei.
Aufgrund der mittlerweile mehr als fünfjährigen Aufenthaltsdauer und der vom Beschwerdeführer gesetzten Integrationsschritte sei eine Aufenthaltsbeendigung nicht mehr als verhältnismäßig anzusehen und dem Beschwerdeführer daher ein Aufenthaltstitel aus Gründen des Art. 8 EMRK zu erteilen gewesen.
2.3. Gegen Spruchpunkt I. und II. dieses, dem Beschwerdeführer am 24.12.2020 zugestellten, Bescheides, wurde durch die nunmehr bevollmächtigte Vertretung des Beschwerdeführers mit Eingabe vom 18.01.2021 die gegenständliche Beschwerde erhoben, zu deren Begründung zusammengefasst ausgeführt wurde, dass § 9 Abs. 1 Z 1 erster Fall AsylG 2005 unionsrechtskonform dahingehend auszulegen sei, dass eine rechtliche Neubeurteilung eines rechtskräftig entschiedenen Sachverhaltes, der zur Zuerkennung des Schutzstatus geführt hätte, nicht zulässig sei, wenn sie lediglich auf einer geänderten Rechtsprechungslinie fuße, sondern es wäre vielmehr eine Tatsachenänderung oder ein Tatsachenirrtum Voraussetzung. Eine Aberkennung, die sich – wie gegenständlich – lediglich auf eine geänderte rechtliche Beurteilung stütze, widerspreche demnach dem Unionsrecht und sei unzulässig. Ebensowenig sei eine grundlegende und dauerhafte Änderung jener Umstände, welche im Fall des Beschwerdeführers zur Zuerkennung subsidiären Schutzes geführt hätten, im Sinne des § 9 Abs. 1 Z 1 zweiter Fall AsylG 2005 dargelegt worden. Konkret entscheidungsrelevant für die Zuerkennung subsidiären Schutzes sei im gegenständlichen Fall die Tatsache gewesen, dass der Beschwerdeführer außerhalb Afghanistans aufgewachsen sei und dementsprechend über kein familiäres oder soziales Netzwerk verfüge, was ihn im Fall einer Rückkehr mit unzumutbaren Härten konfrontieren und eine IFA nicht zulassen würde. Diese Tatsache habe sich nicht geändert. Auch aktuell würden die Voraussetzungen zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten unter Verweis auf näher angeführte Entscheidungen der Höchstgerichte vorliegen, da es sich beim Beschwerdeführer um einen Iran-Rückkehrer handle. Der Beschwerdeführer habe Afghanistan im Alter von fünf Jahren verlassen, habe kein Unterstützungsnetzwerk in Afghanistan, keine Ortskenntnis und seine Bildung und Berufserfahrung sei nicht als außergewöhnlich im Sinne der Judikatur des Verfassungsgerichtshofs zu qualifizieren. Zudem sei auf die aktuell verschärfte Situation aufgrund der Covid-19-Pandemie Rücksicht zu nehmen. Es werde daher beantragt, das Bundesverwaltungsgericht möge eine mündliche Beschwerdeverhandlung anberaumen, den angefochtenen Bescheid hinsichtlich der Spruchpunkte I. und II. beheben und aussprechen, dass die Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten zu Unrecht erfolgt sei; dem Antrag des Beschwerdeführers auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter entsprechen und aussprechen, dass diese für zwei weitere Jahre auszustellen sei; in eventu den angefochtenen Bescheid im angefochtenen Umfang beheben und zur neuerlichen Entscheidung an das BFA zurückverweisen.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers und seiner Situation in Afghanistan:
1.1.1. Der Beschwerdeführer führt die im Spruch ersichtlichen Personalien und ist ein volljähriger Staatsangehöriger Afghanistans.
Der Beschwerdeführer ist ledig und kinderlos. Er bekennt sich zum islamischen Glauben sunnitischer Ausrichtung. Sein Vater gehört der Volksgruppe der Khoaja an, seine Mutter der Volksgruppe der Tadschiken; sich selbst bezeichnet der Beschwerdeführer als Tadschike. Der Beschwerdeführer beherrscht Dari und Farsi in Wort und Schrift. Der Beschwerdeführer stammt aus einem Dorf in der Provinz Logar. Im Alter von fünf Jahren zog der Beschwerdeführer gemeinsam mit seiner Familie in den Iran, wo er die Schule bis zur elften Schulstufe besuchte und nebenbei in unterschiedlichen Berufen – als Schneider, Tischler, Verkäufer, Hirte und Metzger sowie auf Baustellen – gearbeitet hat. Seine Eltern, ein Bruder, drei Schwestern, von denen zwei verheiratet sind, sowie mehrere Onkel und Tanten des Beschwerdeführers leben nach wie vor im Iran. In Afghanistan (Logar) lebt noch eine Tante väterlicherseits des Beschwerdeführers, zu welcher kein Kontakt besteht.
1.1.2. Der Beschwerdeführer verließ den Iran im Jahr 2015 gemeinsam mit einem jüngeren Bruder und stellte infolge illegaler Einreise am 16.11.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich, welcher zunächst mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 11.10.2016 unter gleichzeitigem Ausspruch einer Rückkehrentscheidung abgewiesen wurde.
Mit mündlich verkündeter und in Rechtskraft erwachsener Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 11.01.2018, Zahl W187 2138435-1, wurde die Beschwerde in Bezug auf die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten als unbegründet abgewiesen sowie in Stattgabe der Beschwerde im übrigen Umfang dem Beschwerdeführer der Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt und ihm zugleich gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt.
Das Bundesverwaltungsgericht stellte fest, dass der Beschwerdeführer in der afghanischen Provinz Logar geboren worden sei und im Alter von fünf Jahren in den Iran verzogen wäre, wo er bis zu seiner Ausreise nach Österreich gelebt hätte. In Afghanistan sei er keiner persönlichen Bedrohung ausgesetzt gewesen. Im Iran habe er sich illegal aufgehalten. In Afghanistan habe er keine Anknüpfungspunkte, auf die er sich stützen könnte.
In rechtlicher Hinsicht wurde ausgeführt, der Beschwerdeführer verfüge in seinem Heimatstaat über keinerlei Netzwerke, auf die er sich stützen könnte oder die ihm Schutz gewähren würden. Er habe sich seit seinem fünften Lebensjahr nicht mehr in Afghanistan aufgehalten, weshalb eine Orientierung und Eingliederung in die dortige Gesellschaft schwer zu bewerkstelligen sein dürften. Überdies bestehe aufgrund der gefährlichen Sicherheitslage in seiner Heimatprovinz das Risiko, dass er als im Iran Sozialisierter auffallen und in Grundrechten verletzt werden würde.
Mit Bescheid vom 13.12.2018 erteilte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl dem Beschwerdeführer in Stattgabe eines am 15.11.2018 gestellten Verlängerungsantrags eine befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 für den Zeitraum bis 11.01.2021.
Mit Schreiben vom 11.11.2020 beantragte der Beschwerdeführer abermals die Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter.
1.1.3. Der Beschwerdeführer ist gesund und hat im Bundesgebiet keine ärztliche Behandlung in Anspruch genommen. Er gehört keiner Risikogruppe für einen schwerwiegenden Verlauf einer Covid-19-Infektion an.
Ein im Jahr 2003 geborener Bruder des Beschwerdeführers reiste gemeinsam mit dem Beschwerdeführer nach Österreich und ist als subsidiär Schutzberechtigter zum Aufenthalt berechtigt. Die befristete Aufenthaltsberechtigung wurde dem jüngeren Bruder des Beschwerdeführers zuletzt für den Zeitraum bis 09.03.2023 erteilt.
Der Beschwerdeführer ist unbescholten und bestreitet seinen Lebensunterhalt eigenständig. Der Beschwerdeführer war im Bundesgebiet von 08.06.2018 bis 31.10.2018 sowie von 25.03.2020 bis 15.04.2020 als geringfügig beschäftigter Arbeiter erwerbstätig. Von 01.11.2018 bis 01.06.2019, von 04.06.2019 bis 01.07.2019, von 01.07.2019 bis 01.01.2020, von 13.01.2020 bis 20.03.2020, von 14.04.2020 bis 18.12.2020 sowie seit dem 11.01.2021 war bzw. ist der Beschwerdeführer als Arbeiter sozialversicherungspflichtig erwerbstätig. In den Zeiträumen 05.03.2018 bis 12.03.2018, 14.03.2018 bis 27.04.2018, 21.03.2020 bis 02.04.2020 sowie 19.12.2020 bis 10.01.2021 bezog er Arbeitslosengeld. Dieser hat die deutsche Sprache auf guten Niveau erlernt, hat eine ÖSD-Prüfung auf dem Niveau B1 bestanden und war in der Lage, die Einvernahme vor dem Bundesamt im Dezember 2020 in deutscher Sprache durchzuführen. Der Beschwerdeführer hat sich einen Freundes- und Bekanntenkreis im Bundesgebiet aufgebaut, führt eine Beziehung mit einer österreichischen Staatsbürgerin und ist Mitglied eines Fußballvereins.
Der Beschwerdeführer hat während seiner Aufenthalte im Iran und in Österreich eine überdurchschnittliche Anpassungsfähigkeit gezeigt und seine Selbsterhaltungsfähigkeit außerhalb Afghanistans langjährig unter Beweis gestellt.
Bei einer Rückkehr nach Afghanistan und einer Ansiedelung in Mazar-e Sharif besteht für den Beschwerdeführer als gesunden, leistungsfähigen Mann im berufsfähigen Alter ohne festgestellten besonderen Schutzbedarf keine konkrete Gefahr, einen Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit zu erleiden und liefe der Beschwerdeführer auch nicht Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Es ist nicht zu erkennen, dass sich seine Situation in Bezug auf die Prognose seiner Selbsterhaltungsfähigkeit maßgeblich von jener eines in Afghanistan außerhalb von Mazar-e Sharif aufgewachsenen jungen Mannes unterscheidet.
Eine Rückkehrentscheidung wurde mit dem unangefochten in Rechtskraft erwachsenen Spruchteil IV. des angefochtenen Bescheides für auf Dauer unzulässig erklärt und dem Beschwerdeführer eine „Aufenthaltsberechtigung plus“ gemäß § 55 AsylG 2005 erteilt.
1.2. Zur Lage im Herkunftsstaat:
Aktueller Stand der COVID-19 Krise in Afghanistan
Berichten zufolge, haben sich in Afghanistan mehr als 35.000 Menschen mit COVID-19 angesteckt (WHO 20.7.2020; vgl. JHU 20.7.2020, OCHA 16.7.2020), mehr als 1.280 sind daran gestorben. Aufgrund der begrenzten Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der begrenzten Testkapazitäten sowie des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt zu wenig gemeldet (OCHA 16.7.2020; vgl. DS 19.7.2020). 10 Prozent der insgesamt bestätigten COVID-19-Fälle entfallen auf das Gesundheitspersonal. Kabul ist hinsichtlich der bestätigten Fälle nach wie vor der am stärksten betroffene Teil des Landes, gefolgt von den Provinzen Herat, Balkh, Nangarhar und Kandahar (OCHA 15.7.2020). Beamte in der Provinz Herat sagten, dass der Strom afghanischer Flüchtlinge, die aus dem Iran zurückkehren, und die Nachlässigkeit der Menschen, die Gesundheitsrichtlinien zu befolgen, die Möglichkeit einer neuen Welle des Virus erhöht haben, und dass diese in einigen Gebieten bereits begonnen hätte (TN 14.7.2020). Am 18.7.2020 wurde mit 60 neuen COVID-19 Fällen der niedrigste tägliche Anstieg seit drei Monaten verzeichnet – wobei an diesem Tag landesweit nur 194 Tests durchgeführt wurden (AnA 18.7.2020).
Krankenhäuser und Kliniken berichten weiterhin über Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19. Diese Herausforderungen stehen im Zusammenhang mit der Bereitstellung von persönlicher Schutzausrüstung (PSA), Testkits und medizinischem Material sowie mit der begrenzten Anzahl geschulter Mitarbeiter - noch verschärft durch die Zahl des erkrankten Gesundheitspersonals. Es besteht nach wie vor ein dringender Bedarf an mehr Laborequipment sowie an der Stärkung der personellen Kapazitäten und der operativen Unterstützung (OCHA 16.7.2020, vgl. BBC-News 30.6.2020).
Maßnahmen der afghanischen Regierung und internationale Hilfe
Die landesweiten Sperrmaßnahmen der Regierung Afghanistans bleiben in Kraft. Universitäten und Schulen bleiben weiterhin geschlossen (OCHA 8.7.2020; vgl. RA KBL 16.7.2020). Die Regierung Afghanistans gab am 6.6.2020 bekannt, dass sie die landesweite Abriegelung um drei weitere Monate verlängern und neue Gesundheitsrichtlinien für die Bürger herausgeben werde. Darüber hinaus hat die Regierung die Schließung von Schulen um weitere drei Monate bis Ende August verlängert (OCHA 8.7.2020).
Berichten zufolge werden die Vorgaben der Regierung nicht befolgt, und die Durchsetzung war nachsichtig (OCHA 16.7.2020, vgl. TN 12.7.2020). Die Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Virus unterscheiden sich weiterhin von Provinz zu Provinz, in denen die lokalen Behörden über die Umsetzung der Maßnahmen entscheiden. Zwar behindern die Sperrmaßnahmen der Provinzen weiterhin periodisch die Bewegung der humanitären Helfer, doch hat sich die Situation in den letzten Wochen deutlich verbessert, und es wurden weniger Behinderungen gemeldet (OCHA 15.7.2020).
Einwohner Kabuls und eine Reihe von Ärzten stellten am 18.7.2020 die Art und Weise in Frage, wie das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) mit der Ausbreitung der COVID-19-Pandemie im Land umgegangen ist, und sagten, das Gesundheitsministerium habe es trotz massiver internationaler Gelder versäumt, richtig auf die Pandemie zu reagieren (TN 18.7.2020). Es gibt Berichte wonach die Bürger angeben, dass sie ihr Vertrauen in öffentliche Krankenhäuser verloren haben und niemand mehr in öffentliche Krankenhäuser geht, um Tests oder Behandlungen durchzuführen (TN 12.7.2020).
Beamte des afghanischen Gesundheitsministeriums erklärten, dass die Zahl der aktiven Fälle von COVID-19 in den Städten zurückgegangen ist, die Pandemie in den Dörfern und in den abgelegenen Regionen des Landes jedoch zunimmt. Der Gesundheitsminister gab an, dass 500 Beatmungsgeräte aus Deutschland angekauft wurden und 106 davon in den Provinzen verteilt werden würden (TN 18.7.2020).
Am Samstag den 18.7.2020 kündete die afghanische Regierung den Start des Dastarkhan-e-Milli-Programms als Teil ihrer Bemühungen an, Haushalten inmitten der COVID-19-Pandemie zu helfen, die sich in wirtschaftlicher Not befinden. Auf der Grundlage des Programms will die Regierung in der ersten Phase 86 Millionen Dollar und dann in der zweiten Phase 158 Millionen Dollar bereitstellen, um Menschen im ganzen Land mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Die erste Phase soll über 1,7 Millionen Familien in 13.000 Dörfern in 34 Provinzen des Landes abdecken (TN 18.7.2020; vgl. Mangalorean 19.7.2020).
Die Weltbank genehmigte am 15.7.2020 einen Zuschuss in Höhe von 200 Millionen US-Dollar, um Afghanistan dabei zu unterstützen, die Auswirkungen von COVID-19 zu mildern und gefährdeten Menschen und Unternehmen Hilfe zu leisten (WB 10.7.2020; vgl. AN 10.7.2020).
Auszugsweise Lage in den Provinzen Afghanistans
Dieselben Maßnahmen – nämlich Einschränkungen und Begrenzungen der täglichen Aktivitäten, des Geschäftslebens und des gesellschaftlichen Lebens – werden in allen folgend angeführten Provinzen durchgeführt. Die Regierung hat eine Reihe verbindlicher gesundheitlicher und sozialer Distanzierungsmaßnahmen eingeführt, wie z.B. das obligatorische Tragen von Gesichtsmasken an öffentlichen Orten, das Einhalten eines Sicherheitsabstandes von zwei Metern in der Öffentlichkeit und ein Verbot von Versammlungen mit mehr als zehn Personen. Öffentliche und touristische Plätze, Parks, Sportanlagen, Schulen, Universitäten und Bildungseinrichtungen sind geschlossen; die Dienstzeiten im privaten und öffentlichen Sektor sind auf 6 Stunden pro Tag beschränkt und die Beschäftigten werden in zwei ungerade und gerade Tagesschichten eingeteilt (RA KBL 16.7.2020; vgl. OCHA 8.7.2020).
Die meisten Hotels, Teehäuser und ähnliche Orte sind aufgrund der COVID-19 Maßnahmen geschlossen, es sei denn, sie wurden geheim und unbemerkt von staatlichen Stellen geöffnet (RA KBL 16.7.2020; vgl. OCHA 8.7.2020).
In der Provinz Kabul gibt es zwei öffentliche Krankenhäuser die COVID-19 Patienten behandeln mit 200 bzw. 100 Betten. Aufgrund der hohen Anzahl von COVID-19-Fällen im Land und der unzureichenden Kapazität der öffentlichen Krankenhäuser hat die Regierung kürzlich auch privaten Krankenhäusern die Behandlung von COVID-19-Patienten gestattet. Kabul sieht sich aufgrund von Regen- und Schneemangel, einer boomenden Bevölkerung und verschwenderischem Wasserverbrauch mit Wasserknappheit konfrontiert. Außerdem leben immer noch rund 12 Prozent der Menschen in Kabul unter der Armutsgrenze, was bedeutet, dass oftmals ein erschwerter Zugang zu Wasser besteht (RA KBL 16.7.2020; WHO o.D).
In der Provinz Balkh gibt es ein Krankenhaus, welches COVID-19 Patienten behandelt und über 200 Betten verfügt. Es gibt Berichte, dass die Bewohner einiger Distrikte der Provinz mit Wasserknappheit zu kämpfen hatten. Darüber hinaus hatten die Menschen in einigen Distrikten Schwierigkeiten mit dem Zugang zu ausreichender Nahrung, insbesondere im Zuge der COVID-19-Pandemie (RA KBL 16.7.2020).
[…]
Wirtschaftliche Lage in Afghanistan
Verschiedene COVID-19-Modelle zeigen, dass der Höhepunkt des COVID-19-Ausbruchs in Afghanistan zwischen Ende Juli und Anfang August erwartet wird, was schwerwiegende Auswirkungen auf die Wirtschaft Afghanistans und das Wohlergehen der Bevölkerung haben wird (OCHA 16.7.2020). Es herrscht weiterhin Besorgnis seitens humanitärer Helfer, über die Auswirkungen ausgedehnter Sperrmaßnahmen auf die am stärksten gefährdeten Menschen – insbesondere auf Menschen mit Behinderungen und Familien – die auf Gelegenheitsarbeit angewiesen sind und denen alternative Einkommensquellen fehlen (OCHA 15.7.2020). Der Marktbeobachtung des World Food Programme (WFP) zufolge ist der durchschnittliche Weizenmehlpreis zwischen dem 14. März und dem 15. Juli um 12 Prozent gestiegen, während die Kosten für Hülsenfrüchte, Zucker, Speiseöl und Reis (minderwertige Qualität) im gleichen Zeitraum um 20 – 31 Prozent gestiegen sind (WFP 15.7.2020, OCHA 15.7.2020). Einem Bericht der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der UNO (FAO) und des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht (MAIL) zufolge sind über 20 Prozent der befragten Bauern nicht in der Lage, ihre nächste Ernte anzubauen, wobei der fehlende Zugang zu landwirtschaftlichen Betriebsmitteln und die COVID-19-Beschränkungen als Schlüsselfaktoren genannt werden. Darüber hinaus sind die meisten Weizen-, Obst-, Gemüse- und Milchverarbeitungsbetriebe derzeit nur teilweise oder gar nicht ausgelastet, wobei die COVID-19-Beschränkungen als ein Hauptgrund für die Reduzierung der Betriebe genannt werden. Die große Mehrheit der Händler berichtete von gestiegenen Preisen für Weizen, frische Lebensmittel, Schafe/Ziegen, Rinder und Transport im Vergleich zur gleichen Zeit des Vorjahres. Frischwarenhändler auf Provinz- und nationaler Ebene sahen sich im Vergleich zu Händlern auf Distriktebene mit mehr Einschränkungen konfrontiert, während die große Mehrheit der Händler laut dem Bericht von teilweisen Marktschließungen aufgrund von COVID-19 berichtete (FAO 16.4.2020; vgl. OCHA 16.7.2020; vgl. WB 10.7.2020).
Am 19.7.2020 erfolgte die erste Lieferung afghanischer Waren in zwei Lastwagen nach Indien, nachdem Pakistan die Wiederaufnahme afghanischer Exporte nach Indien angekündigt hatte um den Transithandel zu erleichtern. Am 12.7.2020 öffnete Pakistan auch die Grenzübergänge Angor Ada und Dand-e-Patan in den Provinzen Paktia und Paktika für afghanische Waren, fast zwei Wochen nachdem es die Grenzübergänge Spin Boldak, Torkham und Ghulam Khan geöffnet hatte (TN 20.7.2020).
Einreise und Bewegungsfreiheit
Die Türkei hat, nachdem internationale Flüge ab 11.6.2020 wieder nach und nach aufgenommen wurden, am 19.7.2020 wegen der COVID-19-Pandemie Flüge in den Iran und nach Afghanistan bis auf weiteres ausgesetzt, wie das Ministerium für Verkehr und Infrastruktur mitteilte (TN 20.7.2020; vgl. AnA 19.7.2020, DS 19.7.2020).
Bestimmte öffentliche Verkehrsmittel wie Busse, die mehr als vier Passagiere befördern, dürfen nicht verkehren. Obwohl sich die Regierung nicht dazu geäußert hat, die Reisebeschränkungen für die Bürger aufzuheben, um die Ausbreitung von COVID-19 zu verhindern, hat sich der Verkehr in den Städten wieder normalisiert, und Restaurants und Parks sind wieder geöffnet (TN 12.7.2020).
Sicherheitslage
Letzte Änderung: 22.4.2020
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2019). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren. Nichtsdestotrotz, hat die afghanische Regierung wichtige Transitrouten verloren (USDOD 12.2019).
Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer "strategischen Pattsituation", die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten (BBC 1.4.2020). Ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welcher Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens ist (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020).
Für den Berichtszeitraum 8.11.2019-6.2.2020 verzeichnete die UNAMA 4.907 sicherheitsrelevante Vorfälle – ähnlich dem Vorjahreswert. Die Sicherheitslage blieb nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurden in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die alle samt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen waren in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gingen die Kämpfe in den Wintermonaten – Ende 2019 und Anfang 2020 – zurück (UNGASC 17.3.2020).
Die Sicherheitslage im Jahr 2019
Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant. Im Jahr 2019 fanden auch weiterhin im Süden und Westen Afghanistans weiterhin schwere Kampfhandlungen statt; feindliche Aktivitäten nahmen zu und breiteten sich in größeren Gebieten des Nordens und Ostens aus. Der Resolute Support (RS) Mision (seit 2015 die Unterstützungsmission der NATO in Afghanistan) zufolge, waren für das Jahr 2019 29.083 feindlich-initiierte Angriffe landesweit zu verzeichnen. Im Gegensatz waren es im Jahr 2018 27.417 (SIGAR 30.1.2020). Mit einer hohen Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen – speziell in den südlichen, nördlichen und östlichen Regionen – blieb die Sicherheitslage vorerst volatil, bevor ein Zeitraum der Reduzierung der Gewalt registriert werden konnte. Die UNAMA (Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan) registrierte für das gesamte Jahr 2019 10.392 zivile Opfer, was einem Rückgang von 5% gegenüber 2018 entspricht (UNGASC 17.3.2020).
Seit Ende des Jahres 2019 haben Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente erheblich zugenommen. Im September 2019 fanden die afghanischen Präsidentschaftswahlen statt, in diesem Monat wurde auch die höchste Anzahl feindlicher Angriffe eines einzelnen Monats seit Juni 2012 und die höchste Anzahl effektiver feindlicher Angriffe seit Beginn der Aufzeichnung der RS-Mission im Januar 2010 registriert. Dieses Ausmaß an Gewalt setzte sich auch nach den Präsidentschaftswahlen fort, denn im Oktober 2019 wurde die zweithöchste Anzahl feindlicher Angriffe in einem Monat seit Juli 2013 dokumentiert. Betrachtet man jedoch das Jahr 2019 in dessen Gesamtheit, so waren scheinbar feindliche Angriffe, seit Anfang des Jahres, im Zuge der laufenden Friedensgespräche zurückgegangen. Nichtsdestotrotz führte ein turbulentes letztes Halbjahr zu verstärkten Angriffen feindlicher Elemente von insgesamt 6% und effektiver Angriffe von 4% im Jahr 2019 im Vergleich zu den bereits hohen Werten des Jahres 2018 (SIGAR 30.1.2020).
Zivile Opfer
Für das Jahr 2019 registrierte die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) als Folge des bewaffneten Konflikts 10.392 zivile Opfer (3.403 Tote und 6.989 Verletzte), was einen Rückgang um 5% gegenüber dem Vorjahr, aber auch die niedrigste Anzahl an zivilen Opfern seit dem Jahr 2013 bedeutet. Nachdem die Anzahl der durch ISKP verursachten zivilen Opfer zurückgegangen war, konnte ein Rückgang aller zivilen Opfer registriert werden, wenngleich die Anzahl ziviler Opfer speziell durch Taliban und internationale Streitkräfte zugenommen hatte. Im Laufe des Jahres 2019 war das Gewaltniveau erheblichen Schwankungen unterworfen, was auf Erfolge und Misserfolge im Rahmen der Friedensverhandlungen zwischen Taliban und den US-Amerikanern zurückzuführen war. In der ersten Jahreshälfte 2019 kam es zu intensiven Luftangriffen durch die internationalen Streitkräfte und Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte – insbesondere der Spezialkräfte des afghanischen Geheimdienstes NDS (National Directorate of Security Special Forces) (UNAMA 2.2020).
Aufgrund der Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte, gab es zur Jahresmitte mehr zivile Opfer durch regierungsfreundliche Truppen als durch regierungsfeindliche Truppen. Das dritte Quartal des Jahres 2019 registrierte die höchste Anzahl an zivilen Opfern seit 2009, was hauptsächlich auf verstärkte Anzahl von Angriffen durch Selbstmordattentäter und IEDs (improvisierte Sprengsätze) der regierungsfeindlichen Seite – insbesondere der Taliban – sowie auf Gewalt in Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen zurückzuführen ist. Das vierte Quartal 2019 verzeichnete, im Vergleich zum Jahr 2018, eine geringere Anzahl an zivilen Opfern; wenngleich sich deren Anzahl durch Luftangriffe, Suchoperationen und IEDs seit dem Jahr 2015 auf einem Rekordniveau befand (UNAMA 2.2020).
...
(UNAMA 2.2020)
Die RS-Mission sammelt ebenfalls Informationen zu zivilen Opfern in Afghanistan, die sich gegenüber der Datensammlung der UNAMA unterscheiden, da die RS-Mission Zugang zu einem breiteren Spektrum an forensischen Daten und Quellen hat. Der RS-Mission zufolge, ist im Jahr 2019 die Anzahl ziviler Opfer in den meisten Provinzen (19 von 34) im Vergleich zum Jahr 2018 gestiegen; auch haben sich die Schwerpunkte verschoben. So verzeichneten die Provinzen Kabul und Nangarhar weiterhin die höchste Anzahl ziviler Opfer. Im letzten Quartal schrieb die RS-Mission 91% ziviler Opfer regierungsfeindlichen Kräften zu (29% wurden den Taliban zugeschrieben, 11% ISKP, 4% dem Haqqani-Netzwerk und 47% unbekannten Aufständischen). 4% wurden regierungsnahen/-freundlichen Kräften zugeschrieben (3% der ANDSF und 1% den Koalitionskräften), während 5% anderen oder unbekannten Kräften zugeschrieben wurden. Diese Prozentsätze entsprechen in etwa den RS-Opferzahlen für Anfang 2019. Als Hauptursache für zivile Opfer waren weiterhin improvisierte Sprengsätze (43%), gefolgt von direkten (25%) und indirekten Beschüssen (5%) verantwortlich – dies war auch schon zu Beginn des Jahres 2019 der Fall (SIGAR 30.1.2020).
High-Profile Angriffe (HPAs)
Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 6.2019). Das Haqqani-Netzwerk führte von September bis zum Ende des Berichtszeitraums keine HPA in der Hauptstadtregion durch. Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 1.6.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17) (USDOD 12.2019), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019).
Öffentlichkeitswirksame Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich im Berichtszeitraum (8.11.2019-6.2.2020) fort: 8 Selbstmordanschläge wurden verzeichnet; im Berichtszeitraum davor (9.8.-7.11.2019) wurden 31 und im Vergleichszeitraum des Vorjahres 12 Selbstmordanschläge verzeichnet. Der Großteil der Anschläge richtetet sich gegen die ANDSF (afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte) und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in Provinz Nangarhar zu einem sogenannten „green-on-blue-attack“: der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens 6 Personen getötet und mehr als 10 verwundet (UNGASC 17.3.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.2.2020; vgl. UNGASC 17.3.2020).
Die Taliban setzten außerdem improvisierte Sprengkörper in Selbstmordfahrzeugen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh ein (UNGASC 17.3.2020).
Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten
Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020). Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt (BBC 6.3.2020) und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020).
Am 25.3.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, 8 weitere wurden verletzt (NYT 26.3.2020; vgl. TN 26.3.2020; BBC 25.3.2020). Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien (AJ 27.3.2020; vgl. TTI 26.3.2020). Die Taliban distanzierten sich von dem Angriff (NYT 26.3.2020). Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte, detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt (TTI 26.3.2020; vgl. NYT 26.3.2020).
Regierungsfeindliche Gruppierungen
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 12.2019; vgl. CRS 12.2.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 12.2019):
Taliban
Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.8.2019; vgl. FA 3.1.2018) – Stellvertreter sind Mullah Mohammad Yaqub – Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Omar – und Serajuddin Haqqani (CTC 1.2018; vgl. TN 26.5.2016) Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes (TN 13.1.2017). Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018). Die Taliban sind keine monolithische Organisation (NZZ 20.4.2020); nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (BR 5.3.2020).
Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.6.2017). Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sein Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt (LI 23.8.2017). Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000 (NBC 30.1.2018). Laut dem oben genannten Experten werden die Kämpfe hauptsächlich von den Vollzeitkämpfern der mobilen Einheiten ausgetragen (LI 23.8.2017; vgl. AAN 3.1.2017; AAN 17.3.2017).
Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll12 Ableger, in acht Provinzen betreibt (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.8.2019).
Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt (LI 23.8.2017). In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LI 23.8.2017).
Haqqani-Netzwerk
Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida (CRS 12.2.2019). Benannt nach dessen Begründer, Jalaluddin Haqqani (AAN 1.7.2010; vgl. USDOS 19.9.2018; vgl. CRS 12.2.2019), einem führenden Mitglied des antisowjetischen Jihad (1979-1989) und einer wichtigen Taliban-Figur; sein Tod wurde von den Taliban im September 2018 verlautbart. Der derzeitige Leiter ist dessen Sohn Serajuddin Haqqani, der seit 2015, als stellvertretender Leiter galt (CTC 1.2018).
Als gefährlichster Arm der Taliban, hat das Haqqani-Netzwerk, seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt (NYT 20.8.2019) und wird für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich gemacht (CRS 12.2.2019).
Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)
Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf den Sommer 2014 zurück (AAN 17.11.2014; vgl. LWJ 5.3.2015). Zu den Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban (AAN 1.8.2017; vgl. LWJ 4.12.2017). Schätzungen zur Stärke des ISKP variieren zwischen 1.500 und 3.000 (USDOS 18.9.2018), bzw. 2.500 und 4.000 Kämpfern (UNSC 13.6.2019). Nach US-Angaben vom Frühjahr 2019 ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen. Auch soll der Islamische Staat vom zahlenmäßigen Anstieg der Kämpfer in Pakistan und Usbekistan sowie von aus Syrien geflohenen Kämpfern profitieren (BAMF 3.6.2019; vgl. VOA 21.5.2019).
Der ISKP geriet in dessen Hochburg in Ostafghanistan nachhaltig unter Druck (UNGASC 17.3.2020). Jahrelange konzertierten sich Militäroffensiven der US-amerikanischen und afghanischen Streitkräfte auf diese Hochburgen. Auch die Taliban intensivierten in jüngster Zeit ihre Angriffe gegen den ISKP in diesen Regionen (NYT 2.12.2020; vgl. SIGAR 30.1.2020). So sollen 5.000 Talibankämpfer aus der Provinz Kandahar gekommen sein, um den ISKP in Nangarhar zu bekämpfen (DW 26.2.2020; vgl. MT 27.2.2020). Schlussendlich ist im November 2019 die wichtigste Hochburg des islamischen Staates in Ostafghanistan zusammengebrochen (NYT 2.12.2020; vgl. SIGAR 30.1.2020). Über 1.400 Kämpfer und Anhänger des ISKP, darunter auch Frauen und Kinder, kapitulierten. Zwar wurde der ISKP im November 2019 weitgehend aus der Provinz Nangarhar vertrieben, jedoch soll er weiterhin in den westlichen Gebieten der Provinz Kunar präsent sein (UNGASC 17.3.2020). Die landesweite Mannstärke des ISKP wurde seit Anfang 2019 von 3.000 Kämpfern auf 300 Kämpfer reduziert (NYT 2.12.2020).
49 Angriffe werden dem ISKP im Zeitraum 8.11.2019-6.2.2020 zugeschrieben, im Vergleichszeitraum des Vorjahres wurden 194 Vorfälle registriert. Im Berichtszeitraum davor wurden 68 Angriffe registriert (UNGASC 17.3.2020).
Die Macht des ISKP in Afghanistan ist kleiner, als jene der Taliban; auch hat er viel Territorium verloren. Der ISKP war bzw. ist nicht Teil der Friedensverhandlungen mit den USA und ist weiterhin in der Lage, tödliche Angriffe durchzuführen (BBC 25.3.2020). Aufgrund des Territoriumsverlustes ist die Rekrutierung und Planung des ISKP stark eingeschränkt (NYT 2.12.2020).
Der ISKP verurteilt die Taliban als "Abtrünnige", die nur ethnische und/oder nationale Interessen verfolgen (CRS 12.2.2019). Die Taliban und der Islamische Staat sind verfeindet. In Afghanistan kämpfen die Taliban seit Jahren gegen den IS, dessen Ideologien und Taktiken weitaus extremer sind als jene der Taliban (WP 19.8.2019; vgl. AP 19.8.2019). Während die Taliban ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte beschränken (AP 19.8.2019), zielt der ISKP darauf ab, konfessionelle Gewalt in Afghanistan zu fördern, indem sich Angriffe gegen Schiiten richten (WP 19.8.2019).
Al-Qaida und ihr verbundene Gruppierungen
Al-Qaida sieht Afghanistan auch weiterhin als sichere Zufluchtsstätte für ihre Führung, basierend auf langjährigen und engen Beziehungen zu den Taliban. Beide Gruppierungen haben immer wieder öffentlich die Bedeutung ihres Bündnisses betont (UNSC 15.1.2019). Unter der Schirmherrschaft der Taliban ist al-Qaida in den letzten Jahren stärker geworden; dabei wird die Zahl der Mitglieder auf 240 geschätzt, wobei sich die meisten in den Provinzen Badakhshan, Kunar und Zabul befinden. Mentoren und al-Qaida-Kadettenführer sind oftmals in den Provinzen Helmand und Kandahar aktiv (UNSC 13.6.2019).
Al-Qaida will die Präsenz in der Provinz Badakhshan stärken, insbesondere im Distrikt Shighnan, der an der Grenze zu Tadschikistan liegt, aber auch in der Provinz Paktika, Distrikt Barmal, wird versucht die Präsenz auszubauen. Des Weiteren fungieren al-Qaida-Mitglieder als Ausbilder und Religionslehrer der Taliban und ihrer Familienmitglieder (UNSC 13.6.2019).
Im Rahmen der Friedensgespräche mit US-Vertretern haben die Taliban angeblich im Jänner 2019 zugestimmt, internationale Terrorgruppen wie Al-Qaida aus Afghanistan zu verbannen (TEL 24.1.2019).
Balkh
Letzte Änderung: 22.4.2020
Balkh liegt im Norden Afghanistans und grenzt im Norden an Usbekistan, im Nordosten an Tadschikistan, im Osten an Kunduz und Baghlan, im Südosten an Samangan, im Südwesten an Sar-e Pul, im Westen an Jawzjan und im Nordwesten an Turkmenistan (UNOCHA 13.4.2014; vgl. GADM 2018). Die Provinzhauptstadt ist Mazar-e Sharif. Die Provinz ist in die folgenden Distrikte unterteilt: Balkh, Char Bolak, Char Kent, Chimtal, Dawlat Abad, Dehdadi, Kaldar, Kishindeh, Khulm, Marmul, Mazar-e Sharif, Nahri Shahi, Sholgara, Shortepa und Zari (CSO 2019; vgl. IEC 2018).
Nach Schätzung der zentralen Statistikorganisation Afghanistan (CSO) für den Zeitraum 2019-20 leben 1.475.649 Personen in der Provinz Balkh, davon geschätzte 469.247 in der Provinzhauptstadt Mazar-e Sharif (CSO 2019). Balkh ist eine ethnisch vielfältige Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern und sunnitischen Hazara (Kawshi) bewohnt wird (PAJ o.D.; vgl. NPS o.D.).
Balkh bzw. die Hauptstadt Mazar-e Sharif ist ein Import-/Exportdrehkreuz sowie ein regionales Handelszentrum (SH 16.1.2017). Die Autobahn, welche zum usbekischen Grenzübergang Hairatan-Termiz führt, zweigt ca. 40 km östlich von Mazar-e Sharif von der Ringstraße ab (TD 5.12.2017). In Mazar-e Sharif gibt es einen Flughafen mit Linienverkehr zu nationalen und internationalen Zielen (BFA Staatendokumentation 25.3.2019). Im Januar 2019 wurde ein Luftkorridor für Warentransporte eröffnet, der Mazar-e Sharif und Europa über die Türkei verbindet (PAJ 9.1.2019).
Laut dem Opium Survey von UNODC für das Jahr 2018 belegt Balkh den 7. Platz unter den zehn größten Schlafmohn produzierenden Provinzen Afghanistans. Aufgrund der Dürre sank der Mohnanbau in der Provinz 2018 um 30% gegenüber 2017 (UNODC/MCN 11.2018).
Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure
Balkh zählt zu den relativ stabilen (TN 1.9.2019) und ruhigen Provinzen Nordafghanistans, in welcher die Taliban in der Vergangenheit keinen Fuß fassen konnten (AN 6.5.2019). Die vergleichsweise ruhige Sicherheitslage war vor allem auf das Machtmonopol des ehemaligen Kriegsherrn und späteren Gouverneurs von Balkh, Atta Mohammed Noor, zurückzuführen (RFE/RL o.D.; RFE/RL 23.3.2018). In den letzten Monaten versuchen Aufständische der Taliban die nördliche Provinz Balkh aus benachbarten Regionen zu infiltrieren. Drei Schlüsseldistrikte, Zari, Sholagara und Chahar Kant, zählen zu jenen Distrikten, die in den letzten Monaten von Sicherheitsbedrohungen betroffen waren. Die Taliban überrannten keines dieser Gebiete (TN 22.8.2019). Einem UN-Bericht zufolge, gibt es eine Gruppe von rund 50 Kämpfern in der Provinz Balkh, welche mit dem Islamischen Staat (IS) sympathisiert (UNSC 1.2.2019). Bei einer Militäroperation im Februar 2019 wurden unter anderem in Balkh IS-Kämpfer getötet (BAMF 11.2.2019).
Das Hauptquartier des 209. ANA Shaheen Corps befindet sich im Distrikt Dehdadi (TN 22.4.2018). Es ist für die Sicherheit in den Provinzen Balkh, Jawzjan, Faryab, Sar-e-Pul und Samangan zuständig und untersteht der NATO-Mission Train, Advise, and Assist Command - North (TAAC-N), welche von deutschen Streitkräften geleitet wird (USDOD 6.2019). Deutsche Bundeswehrsoldaten sind in Camp Marmal in Mazar-e Sharif stationiert (TS 22.9.2018).
Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf die zivile Bevölkerung
Der folgenden Tabelle kann die Zahl sicherheitsrelevanter Vorfälle bzw. Todesopfer für die Provinz Balkh gemäß ACLED und Globalincidentmap (GIM) für das Jahr 2019 und das erste Quartal 2020 entnommen werden (Quellenbeschreibung s. Disclaimer, hervorgehoben: Distrikt der Provinzhauptstadt):
2019
• 2020 (bis 31.3.2020)
GIM
Vorfälle
ACLED
Vorfälle (>= 1 Tote)
GIM
Vorfälle
ACLED
Vorfälle (>= 1 Tote)
Balkh
128
51
33
14
Char Bolak
6
54
1
9
Char Kent
1
1
Chimtal
63
18
Dawlat Abad
3
24
4
10
Dehdadi
5