TE Bvwg Erkenntnis 2021/8/5 G315 2154397-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 05.08.2021
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Entscheidungsdatum

05.08.2021

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §54
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9 Abs3
B-VG Art133 Abs4
FPG §52
IntG §10
IntG §9

Spruch


G315 2154403-1/19E
G315 2154397-1/18E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Petra Martina SCHREY, LL.M., als Einzelrichterin über die Beschwerde 1.) der XXXX , geboren am XXXX , und 2.) der minderjährigen XXXX , geboren am XXXX , beide Staatsangehörigkeit: Türkei, die minderjährige Beschwerdeführerin vertreten durch die Mutter XXXX , beide vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Wilfried Ludwig WEH, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl jeweils vom 03.04.2017, Zahlen: zu 1.) XXXX und zu 2.) XXXX , betreffend die Abweisung ihres Antrages auf internationalen Schutz sowie Erlassung einer Rückkehrentscheidung, nach Durchführung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung am 29.03.2021, zu Recht:

A)

I.       Die Beschwerden gegen die jeweiligen Spruchpunkte I., II. sowie III. erster Satz der angefochtenen Bescheide werden als unbegründet abgewiesen.

II.      Den Beschwerden wird hinsichtlich der jeweiligen Spruchpunkte III. zweiter und dritter Satz sowie IV. der angefochtenen Bescheide stattgegeben und werden diese behoben. Es wird festgestellt, dass gemäß § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist.

Gemäß § 55 Abs. 1 AsylG 2005, BGBl I 2005/100 idgF, wird XXXX , geboren am XXXX , und mj. XXXX , geboren am XXXX , beide Staatsangehörigkeit: Türkei, jeweils eine "Aufenthaltsberechtigung plus“ für die Dauer von zwölf Monaten erteilt.

B)       Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Die Erstbeschwerdeführerin ist die leibliche Mutter der minderjährigen Beschwerdeführerin (im Folgenden gemäß der Reihenfolge ihrer Nennung im Spruch „BF1“ und „BF2“ genannt).

Am 04.01.2016 beantragte die BF1 für sich und die BF2 in der Türkei für Österreich ein Schengen-Visum C, welches ihnen nach Verbesserung des Antrages am XXXX auch ausgestellt wurde. Die beiden Beschwerdeführerinnen reisten sodann am XXXX unter Verwendung dieses Visums von XXXX auf dem Luftweg Legal nach Österreich ein und kehrten am XXXX auf dem Luftweg von Österreich nach XXXX /Türkei zurück.

Bereits am 20.04.2016 reisten die Beschwerdeführerinnen wieder legal auf dem Luftweg von XXXX nach Serbien aus. Von dort aus reisten sie schlepperunterstützt und illegal bis nach Ungarn, wo sie am 26.04.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz stellten, den Ausgang des Verfahrens aber nicht abwarteten und illegal weiter nach Österreich reisten, wo sie am 30.04.2016 vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz stellten.

2. Am 01.05.2016 fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Erstbefragung der BF1 zu ihrem Antrag auf internationalem Schutz statt.

Im Rahmen der Erstbefragung brachte die BF1 zu ihren Fluchtgründen befragt vor, sie sei Kurdin und würde deswegen in der Türkei diskriminiert werden. Auch aus Frau sei sie immer diskriminiert worden und sei es für sie unerträglich gewesen, weiter in der Türkei zu leben. Sie sei vom Vater der BF2 geflüchtet, weil dieser der BF1 gegenüber sehr gewalttätig gewesen sei. Im Falle einer Rückkehr fürchte sie um ihr Leben und das der BF2. Staatlicherseits habe sie im Falle einer Rückkehr jedoch mit keinen Sanktionen zu rechnen.

3. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Erstaufnahmestelle Ost, führte in der Folge gemäß der Dublin III – Verordnung ein Konsultationsverfahren mit Ungarn. Mit Schreiben vom 15.06.2016 stimmte Ungarn der Rückübernahme der Beschwerdeführerinnen zu.

Daraufhin wurde die BF1 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Erstaufnahmestelle Ost, am 11.10.2016 niederschriftlich einvernommen und ihr mitgeteilt, dass seitens des Bundesamts die Zurückweisung ihres in Österreich gestellten Antrages auf internationalen Schutz wegen der Zuständigkeit Ungarns beabsichtigt sei.

4. Mit Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Erstaufnahmestelle Ost, vom 13.10.2016 wurden die Anträge der Beschwerdeführerinnen auf internationalen Schutz vom 30.04.2016 jeweils ohne in die Sache einzutreten gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig zurückgewiesen und festgestellt, dass für die Prüfung der Anträge auf internationalen Schutz gemäß Artikel 18.1.b. iVm. 25.2 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates Ungarn zuständig ist (jeweils Spruchpunkt I.). Weiters wurde jeweils gemäß § 61 Abs. 1 FPG die Außerlandesbringung angeordnet und die Abschiebung der Beschwerdeführerinnen gemäß § 61 Abs. 2 FPG nach Ungarn für zulässig erklärt (jeweils Spruchpunkt II.).

5. Den dagegen von den Beschwerdeführerinnen erhobenen Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 28.11.2016, Zahlen: W241 2138991-1/5E und W241 2138989-1/5E, gemäß § 21 Abs. 3 BFA-VG stattgegeben, die bekämpften Bescheide aufgehoben und die Verfahren über die Anträge der Beschwerdeführerinnen auf internationalen Schutz zugelassen.

6. Nach Zulassung des Verfahrens wurde die BF1 am 13.03.2017 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich, der nunmehr belangten Behörde (in weiterer Folge auch kurz „bB“ genannt), im Beisein eines geeigneten Dolmetschers für die Sprache Türkisch niederschriftlich einvernommen.

Zu ihren Fluchtgründen befragt, gab die BF1 zusammengefasst an, sie habe in der Türkei im Jahr 2005 geheiratet und sei die Ehe im Jahr 2010 geschieden worden. Die BF2 sei drei Monate nach der Scheidung der BF1 geboren worden. Ihr Ex-Ehemann sei Türke, die BF1 hingegen Kurdin. Während der gesamten Ehe sei der Ex-Ehemann der BF1 gegenüber gewalttätig gewesen. Er habe sie als Kurdin diskriminiert. Als die BF1 zur BF2 im vierten oder fünften Monat schwanger gewesen sei, habe er ihr in den Bauch getreten, sodass sie beschlossen habe, sich scheiden zu lassen. Weiters habe der Ex-Ehemann viele Schulden angehäuft und sich mit Wucherern eingelassen. Das Geld, das die BF1 mit ihrer Arbeit verdient habe, habe er ihr immer weggenommen. Schon vor der Eheschließung habe er die BF1 angelogen, indem er ihr verschwiegen habe, bereits einmal verheiratet gewesen zu sein. Zwei Jahre nach der Scheidung habe er zum dritten Mal geheiratet. Dennoch habe er die BF1 etwa seit 2012 verfolgt und sie zu einer Versöhnung überreden wollen. Gewalttätig sei er nach der Scheidung nicht mehr geworden, aber er habe ihr an ihren Arbeitsplätzen aufgelauert und sie beharrlich verfolgt. Deswegen habe sie im November 2015 ihre Arbeitsstelle in einem Restaurant kündigen müssen. Danach habe sie an zwei Arbeitsstellen unangemeldet gearbeitet und sei drei Mal mit der BF2 umgezogen. Zum Schluss habe sie sich nicht mehr getraut, die Wohnung zu verlassen. Die BF2 habe dann das schulpflichtige Alter erreicht, sodass der Ex-Ehemann durch die Registrierung der Tochter in einer Schule die BF1 über die Tochter überall finden hätte können. Die BF1 sei durch die Situation psychisch stark belastet gewesen und habe unter diesen Umständen nicht mehr in der Türkei leben wollen. Die BF2 kenne ihren Vater gar nicht. Trotz der Festlegung von Unterhalt und Alimenten bei der Scheidung habe sie nie eine Zahlung erhalten und auch noch Schulden des Ex-Ehemannes mit Hilfe ihrer Brüder beglichen. Der Ex-Ehemann habe der Ausreise der BF2 (und damit der Ausstellung eines Reisepasses für diese) nur unter dem Vorwand der BF1 des Besuches bei einem in Österreich lebenden Bruder zugestimmt. Angezeigt habe sie den Ex-Ehemann wegen des „Stalkings“ nie. Sie habe auch keine Klage wegen ausbleibender Unterhaltszahlungen eingebracht. Sie wolle jeden Kontakt vermeiden. Darüber hinaus würden Kurden in der Türkei allgemein diskriminiert und kurdische Politiker verhaftet werden. Die BF1 sei etwa wegen ihrer Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Kurden bei einer Beförderung im Restaurant, in welchem sie gearbeitet habe, übergangen worden.

Vor der bB brachte die BF1 einen türkischen Führerschein (ausgestellt am 31.08.2012), ein türkisches Scheidungsurteil aus dem Jahr 2010 sowie die auf Türkisch verfasste Zustimmung des Ex-Ehemannes/Kindesvaters der Beschwerdeführerinnen auf Ausreise der BF2 aus der Türkei, sowie eine Schulnachricht und eine Schulbesuchsbestätigung der BF2 einer Volksschule für das Schuljahr 2016/2017 und ein Konvolut an Unterstützungsschreiben zur Vorlage. Alle Unterlagen wurden in Kopie zum Akt der bB genommen.

7. In weiterer Folge holte die bB mit Schreiben vom 31.03.2017 bei der Österreichischen Botschaft in der Türkei die Antragsunterlagen der Beschwerdeführerinnen zur Erteilung ihres Schengen-Visums ein und veranlasste weiters die Übersetzung des türkischen Scheidungsurteils und der Ausreisezustimmung des Vaters der BF2.

8. Mit den gegenständlich angefochtenen Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl jeweils vom 03.04.2017 wurden die Anträge der Beschwerdeführerinnen auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß
§ 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (jeweils Spruchpunkte I.), sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 jeweils als unbegründet abgewiesen (jeweils Spruchpunkte II.), ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt, gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass ihre Abschiebung gemäß § 46 FPG in die Türkei zulässig ist (jeweils Spruchpunkte III.). Weiters wurde ihnen gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG eine Frist zur freiwilligen Ausreise binnen zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung eingeräumt (jeweils Spruchpunkte IV.).

Begründend führte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl – soweit für das Beschwerdeverfahren von Relevanz – nach der Wiedergabe der Einvernahme der BF1 und den Feststellungen zu deren Person und zu deren Privat- und Familienleben insbesondere aus, die Ausführungen der BF1 bezogen auf die Probleme mit dem Ehemann seien glaubhaft. Hingegen habe ihren anderen, nicht substanziierten Ausführungen bezüglich einer Benachteiligung als Angehörige der Volksgruppe der Kurden sowie als Frau kein Glauben geschenkt werden können. Es habe daher nicht festgestellt werden können, dass die BF1 die Türkei aufgrund einer aktuellen, konkret gegen sie gerichteten asylrelevanten Verfolgung maßgeblicher Intensität verlassen hätte. Weiters könne nicht festgestellt werden, dass der BF1 im Fall einer Rückkehr in die Türkei von staatlicher oder privater Seite eine Gefährdung drohe. Eine Rückkehr in die Türkei sei möglich und zumutbar.

Die bB legte der Entscheidung zum damaligen Zeitpunkt aktuelle Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat der Beschwerdeführerinnen zugrunde.

Beweiswürdigend erwog die bB im Wesentlichen, dass dem Vorbringen der BF1 zur Bedrängung durch den geschiedenen Ehemann Glauben geschenkt werde, die BF1 jedoch nie den Versuch unternommen habe, gegen ihren geschiedenen Ehemann in dieser Angelegenheit gerichtlich vorzugehen oder auch nur eine Anzeige einzubringen. Die geschilderten Vorkommnisse wären dem privatrechtlichen Bereich zuzuordnen und sei aus den Länderberichten nicht ersichtlich, dass der türkische Staat hinsichtlich der von der BF1 geschilderten Probleme nicht schutzfähig oder schutzwillig wäre. Ins Gewicht falle diesbezüglich auch, dass die Beschwerdeführerinnen nur rund einen Monat vor der Asylantragstellung in Österreich bereits mit einem Visum legal in Österreich aufhältig gewesen wären, jedoch wieder in die Türkei zurückgereist seien. Wäre die BF1 tatsächlich in einer wie von ihr geschilderten Intensität verfolgt oder bedrängt worden, so hätte sie sich höchstwahrscheinlich bereits während dieses ersten Aufenthalts um weiteren Schutz in Österreich bemüht. Die Beschwerdeführerinnen seien jedoch freiwillig in die Türkei zurückgekehrt. In den Unterlagen zum Visumantrag habe die BF1 weiter deutlich gemacht, lediglich für einen Kurzbesuch nach Österreich reisen und dann wieder in die Türkei zurückreisen zu wollen. Hinsichtlich des Vorbringens der BF1 wegen ihrer Zugehörigkeit zur kurdischen Volksgruppe habe sie kein konkretes, sie persönlich treffendes Ereignis schildern können. Auch habe sie nicht substantiiert schildern können, wie sich die von ihr vorgebrachte Diskriminierung geäußert habe und habe die BF1 auch selbst eingeräumt, dass Kurden und Türken vom Typ her schwer zu unterscheiden seien und sie nicht wisse, wie Kurden als solche in Istanbul erkannt würden. Zu den nicht gewährten Aufstiegsmöglichkeiten als Kurdin an ihrem Arbeitsplatz habe sie ebenfalls nichts Näheres ausführen können.

In der rechtlichen Beurteilung wurde begründend dargelegt, warum der seitens der BF1 vorgebrachte Sachverhalt keine Grundlage für eine Subsumierung unter den Tatbestand des § 3 AsylG 2005 biete und warum auch nicht vom Vorliegen einer Gefahr im Sinne des § 8 Abs. 1 AsylG 2005 ausgegangen werden könne. Zudem wurde ausgeführt, warum ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt wurde, weshalb gegen die BF1 eine Rückkehrentscheidung erlassen, weshalb festgestellt worden sei, dass die Abschiebung in die Türkei zulässig sei und weshalb die Frist für eine freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage.

In dem die minderjährige BF2 betreffenden Bescheid der bB wurde inhaltlich im Wesentlichen auf den Bescheid der BF1 verwiesen und ausgeführt, dass für die BF2 keine eigenen Fluchtgründe geltend gemacht wurden und eine maßgebliche Integration im Bundesgebiet nicht vorliege.

9. Mit Verfahrensanordnung vom 03.04.2017 wurde den Beschwerdeführerinnen gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG amtswegig ein Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht beigegeben.

10. Gegen die rechtswirksam zugestellten Bescheide wurde mit dem am 20.04.2017 beim Bundesamt fristgerecht eingebrachten Schriftsatz der bevollmächtigten Rechtsvertretung der Beschwerdeführerinnen vom 19.04.2017 das Rechtsmittel der Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht erhoben. Es wurde beantragt, das Bundesverwaltungsgericht möge eine mündliche Beschwerdeverhandlung durchführen, den Beschwerden stattgegeben und den Beschwerdeführerinnen den Status von Asylberechtigten oder allenfalls subsidiär Schutzberechtigten zuerkennen; in eventu feststellen, dass eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist und den Beschwerdeführerinnen Aufenthaltstitel aus Gründen des Art. 8 EMRK erteilen.

Die gegenständlichen Bescheide wurden im vollen Umfang wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit sowohl in formeller als auch in materieller Hinsicht, insbesondere wegen Vorliegens von Verfahrensfehlern, mangelhafter Ermittlung der materiellen Wahrheitsfindung und unrichtiger rechtlicher Beurteilung, Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht erhoben.

Zunächst wird das ausreisekausale Vorbringen wiederholt und moniert, dass sich die belangte Behörde inhaltlich nicht mit dem vorgebrachten Fluchtgrund auseinandergesetzt habe und die Ausführungen den eigenen Feststellungen, insbesondere den im Bescheid festgestellten Länderberichten zur Türkei, widersprächen.

Die bB würde die in den Länderberichten dargelegte allgemeine Lage in der Türkei insbesondere auch hinsichtlich der Diskriminierung von Angehörigen der Volksgruppe der Kurden sowie der Gewalt gegen Kurden und Kurdinnen und der prekären sozioökonomischen Situation kurdischer Frauen ohne soziales Netzwerk realitätsfremd verharmlosen.

Darüber hinaus wenden sich die Beschwerdeführerinnen in mehreren Punkten gegen die Beweiswürdigung des belangten Bundesamtes. Im Übrigen wurde auf die nachhaltige Integration der Beschwerdeführerinnen verwiesen und wurde die Durchführung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung beantragt. Ferner wurde darauf hingewiesen, dass dem Kindeswohl der minderjährigen BF2 jedenfalls der Vorrang einzuräumen sei.

Kritisiert wurde darüber hinaus die „allgemeine Bescheidkultur“ des Bundesamtes, wonach der Bescheidaufbau generell gesetzwidrig sei und unsachgemäße Sachverhaltsfeststellungen und Beweiswürdigung aufgrund zentraler Vorgaben regelmäßig der Fall wären. Es wurde angeregt, die [zum damaligen Zeitpunkt, Anm.] in § 16 BFA-VG normierte verkürzte Beschwerdefrist von zwei Wochen ein weiteres Mal beim Verfassungsgerichtshof als verfassungswidrig anzufechten.

Der Beschwerde war ein Konvolut an Beilagen beigefügt, und zwar:

-        Arbeitsvertrag vom 19.04.2017 zwischen der Wohnortgemeinde und der BF1 für 30 Wochenstunden als Hilfskraft;

-        Arbeitsvertrag vom 14.04.2017 für die BF1 als Reinigungskraft mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 14 Stunden;

-        Konvolut an Unterstützungserklärungen samt Unterschriftenaktionen und Fotografien

-        verbale Beurteilungen der BF2 aus Kindergarten und erstem Schulhalbjahr

11. Die gegenständliche Beschwerde und die Bezug habenden Verwaltungsakten wurden vom Bundesamt vorgelegt und sind am 26.04.2017 beim Bundesverwaltungsgericht eingelangt. Sie wurden ursprünglich der Gerichtsabteilung L519 zugewiesen.

Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 09.08.2017 wurden die gegenständlichen Verfahren der Gerichtsabteilung L519 abgenommen und der Gerichtsabteilung L526 zugewiesen, wo die Verwaltungs- und Gerichtsakten am 01.09.2017 einlangten.

Mit einer weiteren Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 14.01.2021 wurde die gegenständliche Rechtssache der Gerichtsabteilung L526 abgenommen und am 01.02.2021 der nunmehr zur Entscheidung berufenen Abteilung des Bundesverwaltungsgerichtes zugewiesen.

12. Mit Ladung vom 15.02.2021 zu einer gemeinsam durchzuführenden mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht wurden den Beschwerdeführerinnen über ihre Rechtsvertretung Länderberichte zur aktuellen Lage in der Türkei zur Vorbereitung der für den 29.03.2021 anberaumten mündlichen Verhandlung, insbesondere das aktuelle Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl sowie verschieden Berichte des British Home Office übermittelt und ihnen die Möglichkeit eingeräumt, dazu bis eine Woche vor der mündlichen Verhandlung schriftlich Stellung zu nehmen.

13. Am 25.03.2021 langte eine mit 22.03.2021 datierte Beschwerdeergänzung ein. Ein per Post nachgereichtes Beilagenkonvolut langte am 26.03.2021 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

Inhaltlich wurden im Wesentlichen bereits aktenkundige Beweismittel wörtlich wiedergeben sowie zu den mit der Ladung übermittelten Länderberichten, insbesondere des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation, Stellung genommen. Diesbezüglich wurde insbesondere hervorgehoben, dass die Türkei am 19.03.2021 aus der Istanbul-Konvention gegen Gewalt an Frauen ausgetreten sei und sich damit die ohnehin bereits frauenfeindliche Situation in der Türkei weiter verschlechtern werde. Die BF1 sei als Kurdin und Frau doppelter Willkür und fehlendem staatlichen Schutz ausgesetzt, sodass ihre Rückkehr bei der sich im Vergleich zum Ausreisezeitpunkt verschlechterten allgemeinen Situation in die Türkei jedenfalls unzumutbar sei. Darüber hinaus wurde auf die fortgeschrittene Integration der Beschwerdeführerinnen im Bundesgebiet verwiesen und im Rahmen der mündlichen Verhandlung näher aufgeführte Zeugen zur Integration der Beschwerdeführerinnen zu vernehmen.

Das am 26.03.2021 beim Bundesverwaltungsgericht einlangende Konvolut an Beilagen zur Stellungnahme und Urkundenvorlage vom 22.03.2021 umfasst im Wesentlichen:

-        Deutschkursbestätigungen der BF1 (Beilage ./A);

-        Prüfungsanmeldung der BF1 zur Integrationsprüfung auf Niveau B1 (Beilage ./B);

-        mehrere Einstellungszusagen sowie Bestätigungen über gemeinnützige Hilfstätigkeiten der BF1 in ihrer Wohnortgemeinde (Beilage ./C);

-        Schulnachrichten, Jahreszeugnisse, Schulbesuchsbestätigungen, verbale Beurteilungen und Urkunden über die Teilnahme an Wettbewerben und Kursen für die BF2 (Beilage ./D);

-        Kopien der Asylkarten der beiden Beschwerdeführerinnen (Beilage ./E);

-        Schreiben der BF1 zu ihren Fluchtgründen (Beilage ./F);

-        türkisches Scheidungsurteil (unübersetzt) (Beilage ./G);

-        Mietvertrag samt Monatsvorschreibung ab Jänner 2021 (Beilage ./H)

-        Anmeldung der BF2 bei der örtlichen Musikschule/dem Musikverein (Beilage ./I)

-        Konvolut an Unterstützungserklärungen der Klassenkameraden der BF2 (Beilage ./J)

-        Konvolut an Unterstützungserklärungen und Unterschriftenlisten für die Beschwerdeführerinnen (Beilage ./K) und (Beilage ./L)

-        Fotos (Beilage ./M)

-        diverse Zeitungsberichte (Beilage ./N)

-        Spendenaktion der Wohnortgemeinde für die Beschwerdeführerinnen (Beilage ./O)

14. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 29.03.2021 eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung durch, an welcher die BF1 und auch die minderjährige BF2, ihre bevollmächtigte Rechtsvertretung, eine Dolmetscherin für die Sprache Türkisch und zwei Begleitpersonen teilnahmen. Das Bundesamt verzichtete auf eine Teilnahme an der mündlichen Verhandlung. Darüber hinaus wurden insgesamt vier Zeugen, welche von den Beschwerdeführerinnen stellig gemacht wurden, vernommen.

In der Verhandlung wurde eine weitere Unterstützungserklärung für die Beschwerdeführerinnen samt Einstellungszusage sowie ein Bericht des ÖIF über eine nicht bestandene Integrationsprüfung der BF1 auf Niveau B1 vorgelegt.

Im Verlauf der Verhandlung wurde nach der Befragung zu den Gründen für die Ausreise und der Integration im Bundesgebiet auch die aktuelle Lageentwicklung in der Türkei anhand der den Beschwerdeführerinnen im Vorfeld übermittelten Länderdokumentationsunterlagen erörtert und darüber hinaus auf die aktuellen Statistiken zur Lage in der Türkei aufgrund der Corona-Pandemie (Karte mit Fallzahlen der letzten 14 Tage über „Google Suche“) sowie auf Berichte des deutschen Auswärtigen Amtes und der Wirtschaftskammer Österreich über in der Türkei im Zusammenhang mit der Pandemie gesetzten Maßnahmen verwiesen. Den Beschwerdeführerinnen wurde Gelegenheit geboten, eine weitere schriftliche Stellungnahme binnen einer Frist von 14 Tagen abzugeben und ergänzende Integrationsunterlagen, insbesondere zur Selbsterhaltungsfähigkeit der BF vorzulegen.

Die Verkündung der Entscheidung entfiel gemäß § 29 Abs. 3 VwGVG.

15. Am 13.04.2021 langte eine mit 12.04.2021 datierte Stellungnahme samt Urkundenvorlage der Beschwerdeführerinnen beim Bundesverwaltungsgericht ein. Es wurde weiteres Vorbringen zur Integration der Beschwerdeführerinnen erstattet und insbesondere darauf hingewiesen, dass die BF1 nunmehr eine Integrationsprüfung auf Sprachniveau A2 absolvieren wolle, diese aber aufgrund des Lockdowns im Rahmen der Corona-Pandemie habe verschoben werden müssen.

Unter einem wurde auch ein aktueller Arbeitsvertrag der Wohnortgemeinde der BF vom 01.04.2021 über eine Teilzeitbeschäftigung der BF1 im Gemeindekindergarten mit einem monatlichen Bruttolohn von EUR 1.300,65 sowie ein Arbeitsvertrag eines Unternehmens ebenfalls vom 01.04.2021 als Reinigungskraft im Ausmaß von 20 Wochenstunden und einem monatlichen Bruttolohn von EUR 1.200,00 vorgelegt.

16. Am 04.05.2021 langte hinsichtlich der von der B1 abzulegenden Integrationsprüfung bzw. der Vorlage eines entsprechenden Prüfungszeugnisses ein Fristerstreckungsantrag der Beschwerdeführerinnen um weitere zwei Wochen ein.

17. Mit der am 11.05.2021 einlangenden Urkundenvorlage wurde ein ÖSD-Integrationsprüfungszeugnis auf Niveau A2 der BF1 sowie einige weitere Fotos von der Spendenaktion der Wohnortgemeinde für die Beschwerdeführerinnen vorgelegt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Die Beschwerdeführerinnen führen die im Spruch angeführte Identität (Namen und Geburtsdatum), sind türkische Staatsangehörige und bekennen sich zum moslemischen Glauben sunnitischer Ausrichtung (Schafi). Die BF1 ist die leibliche Mutter der minderjährigen BF2. Die Muttersprache beider Beschwerdeführerinnen ist Türkisch. Die BF1 hat nur rudimentäre Grundkenntnisse in Kurdisch-Kurmanji. Die BF1 gehört der kurdischen Volksgruppe an, während die BF2 aufgrund ihres türkischen Vaters der türkischen Volksgruppe zugerechnet wird. Die Identität der Beschwerdeführerinnen steht fest (vgl. Erstbefragung vom 01.05.2016, AS 1 ff BF1; Niederschrift Bundesamt vom 13.03.2017, AS 362 ff BF1; aktenkundige Kopie des türkischen Führerscheines der BF1, AS 373; darüber hinaus eingeholte Visumanträge samt Beilagen, darunter Kopien der türkischen Reisepässe der türkischen Botschaft und Abfrage im Visuminformationssystem durch die bB, AS 397 ff; Verhandlungsprotokoll vom 29.03.2021, S 4 ff & 16).

Die BF1 ist in XXXX /Türkei geboren und hat dort acht Jahre eine Grundschule besucht. In weiterer Folge besuchte sie drei Jahre ein Gymnasium in XXXX . Die BF1 übte mehrere Erwerbstätigkeiten in XXXX etwa in einem Textilunternehmen, dann bei einem Sprachinstitut in der Buchhaltung und schließlich zwei Jahre lang bis zu einem nicht näher feststellbaren Zeitpunkt etwa im November 2015 in einem Frühstückslokal und Café aus. Zusätzlich hat sie in der Türkei eine einjährige Ausbildung im Zeitraum von 2012 bis 2013 im Bereich „Kinderentwicklung“ abgeschlossen und von Oktober 2013 bis Dezember 2015 zudem Geschichte an der Universität XXXX studiert. Zwei Jahre vor der Ausreise der Beschwerdeführerinnen Anfang 2016 lebten diese gemeinsam mit der Mutter der BF1, einem Bruder sowie dessen Ehefrau und Tochter in deren Wohnung in XXXX . Dort leben derzeit nach wie vor die Mutter und der Bruder mit seiner Familie und seinen Kindern. Der Vater der BF1 ist bereits verstorben, die Mutter bezieht eine Witwenpension. Die zwei lebenden Schwestern der BF1 leben mit deren Familien samt Kindern ebenfalls nach wie vor in der Türkei, eine davon in XXXX und die andere in XXXX . Zu ihren Angehörigen in der Türkei hat die BF1 regelmäßig Kontakt. Ein weiterer Bruder der BF1 lebt mit dessen Familie mit einem Aufenthaltstitel (Rot-Weiß-Rot-Karte plus seit 08.04.2014 durchgehend bis aktuell 11.04.2022) seit April/Mai 2014 in XXXX , Österreich, zu diesem besteht regelmäßig telefonischer Kontakt und finden zeitweise Besuche statt. Ein besonderes Abhängigkeitsverhältnis der Beschwerdeführerinnen zum in Österreich lebenden Bruder der BF1 liegt nicht vor (vgl. Erstbefragung vom 01.05.2016, AS 1 ff BF1; Niederschrift Bundesamt vom 13.03.2017, AS 363 ff BF1; aktenkundige Bestätigung der Universität XXXX vom 29.12.2015, AS 408; aktenkundige Kopie türkischen Pensions- und Meldebestätigung der Mutter der BF1, AS 427 ff; Verhandlungsprotokoll vom 29.03.2021, S 6 ff, 13 und 20f; Auszüge aus dem Fremdenregister und Zentralen Melderegisters des Bruders der BF1 jeweils vom 17.06.2021).

Die BF1 heiratete am 21.08.2005 in der Türkei XXXX , geboren am XXXX , türkischer Staatsangehöriger. Aus dieser Ehe stammt die minderjährige BF2. Die Ehe wurde aufgrund einer Klage der BF1 vom 14.06.2010 vor einem türkischen Familiengericht rechtskräftig am XXXX wegen Zerrüttung der Ehe geschieden. Die Obsorge über die minderjährige BF2 wurde mit Zustimmung des Kindesvaters auf die BF1 übertragen. Er erklärte sich mit Unterhaltszahlungen in Höhe von monatlich insgesamt TL 200,00 einverstanden. Dem Kindesvater wurde zudem ein genau geregeltes Besuchsrecht hinsichtlich der BF2 eingeräumt. Seiner Unterhaltsverpflichtung kam der Ex-Ehemann/Kindesvater nicht nach (vgl. aktenkundiges türkisches Scheidungsurteil samt beglaubigter Übersetzung ins Deutsche, AS 383 ff; Verhandlungsprotokoll vom 29.03.2021, S 11).

Der Kindesvater der BF2 bzw. Ex-Ehemann der BF1 erklärte am 04.01.2016 sein Einverständnis und seine Zustimmung, dass die BF2 alleine mit der BF1 ins Ausland reisen darf, ihr dafür ein Reisepass ausgestellt bzw. ein bereits ausgestellter Reisepass verlängert wird, sie beliebig verreisen, ein Visum beantragen, dieses oder die Gültigkeit eines Reisepasses verlängern und aus dem Ausland auch wieder zurückreisen kann. Seither besteht zum Ex-Ehemann/Kindesvater kein Kontakt der Beschwerdeführerinnen (vgl. aktenkundige türkische und notariell beglaubigte Zustimmungserklärung samt beglaubigter Übersetzung ins Deutsche, AS 391 ff; Verhandlungsprotokoll vom 29.03.2021, S 20).

Die BF1 hat nicht wieder geheiratet. Sie lebt auch in keiner eingetragenen Partnerschaft, einer dauernden Lebensbeziehung und hat auch keine Absicht, in nächster Zeit zu heiraten. Abgesehen von der BF2 hat sie keine weiteren Kinder (vgl. Verhandlungsprotokoll vom 29.03.2021, S 7).

Die unmündig minderjährige BF2 wurde in XXXX /Türkei geboren. Sie hat in der Türkei vor ihrer Ausreise Anfang des Jahres 2016 noch keine Schule besucht (vgl. Niederschrift Bundesamt vom 13.03.2017, AS 363 ff).

Die BF1 leidet an allergischem Asthma, welches in der Türkei bereits diagnostiziert und medikamentös behandelt wurde und auch in Österreich nach wie vor wird. Darüber hinaus ist die BF1 gesund und arbeitsfähig. Die BF2 ist gesund. Die Beschwerdeführerinnen leiden an keinen lebensbedrohlichen Erkrankungen im Endstadium die in der Türkei nicht behandelbar wären (vgl. insbesondere Verhandlungsprotokoll vom 29.03.2021, S 7 f).

1.2. Am XXXX beantragte die BF1 für sich und die BF2 in der Türkei für Österreich ein Schengen-Visum C, welches ihnen nach Verbesserung des Antrages am XXXX auch schließlich am XXXX für eine Gültigkeitsdauer von 90 Tagen ausgestellt wurde. Die beiden Beschwerdeführerinnen reisten sodann am XXXX unter Verwendung dieses Visums von XXXX auf dem Luftweg legal nach Österreich ein und kehrten am XXXX auf dem Luftweg von Österreich nach XXXX /Türkei zurück (vgl. von der bB eingeholte Visumanträge samt Beilagen, darunter Kopien der türkischen Reisepässe der türkischen Botschaft und Abfrage im Visuminformationssystem durch die bB, AS 397 ff und insbesondere AS 436 f; Auszüge aus dem Fremdenregister vom 17.06.2021).

Bereits am 20.04.2016 reisten die Beschwerdeführerinnen wieder legal auf dem Luftweg von XXXX nach Serbien aus. Von dort aus reisten sie schlepperunterstützt und illegal bis nach Ungarn, wo sie am 26.04.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz stellten, den Ausgang des Verfahrens aber nicht abwarteten und illegal weiter nach Österreich reisten, wo sie am 30.04.2016 vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz stellten (vgl. Erstbefragung vom 01.05.2016, AS 3 ff BF1; Niederschrift Bundesamt vom 13.03.2017, AS 363 ff BF1; Verhandlungsprotokoll vom 29.03.2021, S 6 ff & 13).

1.3. Die minderjährige BF2 hat keine eigenen Fluchtgründe und bezieht sich bei ihrem Antrag auf internationalen Schutz ausschließlich auf das Vorbringen ihrer Mutter, der BF1.

Die BF1 war in der Vergangenheit zu einem nicht näher feststellbaren Zeitraum Mitglied der AKP-Partei. Ob diese Parteimitgliedschaft noch aufrecht ist, konnte nicht festgestellt werden. Sie hat sich jedoch nie aktiv politisch betätig und gehörte auch sonst keiner aktiven politischen Gruppierung an (vgl. Niederschrift Bundesamt vom 13.03.2017, AS 369).

Sie hatte vor ihrer Ausreise auch keine Schwierigkeiten mit Behörden, Gerichten oder Sicherheitskräften im Herkunftsstaat zu gewärtigen und brachte auch keine zivilgesellschaftlichen Aktivitäten (etwa die Teilnahme an Demonstrationen) vor, die auf eine exponierte Stellung vor der Ausreise hinweisen. Ein (exil-)politisches Engagement in Österreich seitens der BF1 liegt nicht vor.

Die BF1 unterliegt bei einer Rückkehr in die Türkei auch nicht der Gefahr einer von staatlichen Organen oder von Privatpersonen ausgehenden individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt im Hinblick auf ihre Zugehörigkeit zur kurdischen Ethnie

Die BF1 gehört nicht der Gülen-Bewegung an und war nicht in den versuchten Militärputsch in der Nacht vom 15.07.2016 auf den 16.07.2016 verstrickt.

Sie hatte im Herkunftsstaat auch keine Schwierigkeiten aufgrund ihres Religionsbekenntnisses (sunnitischer Islam) zu gewärtigen.

Ob BF1 während ihrer Ehe tatsächlich häusliche Gewalt erlebt hat, kann nicht festgestellt werden. Es kann jedenfalls nicht festgestellt werden, dass sie nach ihrer Scheidung Gewalt in einem für dieses Verfahren relevanten Ausmaß erlebte. Die BF1 unterlag vor ihrer Ausreise aus dem Herkunftsstaat keiner individuellen Gefährdung und war keiner psychischen und/oder physischen Gewalt durch staatliche Organe oder durch Dritte ausgesetzt und wird im Falle einer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat einer solchen individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt auch nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt sein.

1.4. Den Beschwerdeführerinnen droht im Falle einer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat nicht die Todesstrafe. Ebenso kann keine anderweitige individuelle Gefährdung der Beschwerdeführerinnen festgestellt werden, insbesondere im Hinblick auf eine drohende unmenschliche Behandlung, Folter oder Strafe sowie kriegerische Ereignisse oder terroristische Anschläge in der Türkei.

Die BF1 ist eine arbeitsfähige Frau mit bestehenden Anknüpfungspunkten im Herkunftsstaat und einer – wenn auch auf niedrigerem Niveau als in Österreich – gesicherten Existenzgrundlage. Sie verfügt über Berufserfahrung in der Textilbranche, in der Buchhaltung und in der Gastronomie und hat darüber hinaus die türkische Ausbildung „Kinderentwicklung“ abgeschlossen. Der BF1 ist die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zur Sicherstellung des Auskommens der beiden Beschwerdeführerinnen möglich und zumutbar.

Die Beschwerdeführerinnen leiden weder an einer schweren körperlichen oder schweren psychischen Erkrankung. Bis auf die vorgebrachte Asthma-Erkrankung der BF1, wegen welcher sie bereits in der Türkei behandelt wurde welche von der BF1 auch nicht als Rückkehrhindernis angesehen wird, bedürfen beide Beschwerdeführerinnen keiner medikamentösen oder ärztlichen Behandlung.

Die BF1 verfügt zumindest über einen originalen türkischen Führerschein als türkisches Identitätsdokument. Auch verfügten beide Beschwerdeführerinnen bereits über türkische Reisepässe mit erteilten Visa für Österreich, sodass davon auszugehen ist, dass sie die Ausstellung neuer Reisepässe für eine Rückkehr in die Türkei problemlos beantragen können. Sie verfügen weiters über eine Wohnmöglichkeit bei der Familie der BF1 in XXXX , wie bereits zuletzt zwei Jahre vor der Ausreise.

1.5. Die BF1 ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten, die BF2 ist noch strafunmündig (vgl. Strafregisterauszug der BF1 vom 17.06.2021).

Ihr Aufenthalt war nie nach § 46a Abs. 1 Z. 1 oder Z. 3 FPG 2005 geduldet. Der Aufenthalt der Beschwerdeführerinnen im Bundesgebiet ist nicht zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig. Die Beschwerdeführerinnen wurde nicht Opfer von Gewalt im Sinne der §§ 382b oder 382e EO.

1.6. Zumindest ihrer Asylantragstellung am 30.04.2016 halten sich die Beschwerdeführerinnen ununterbrochen im Bundesgebiet auf und verfügen hier seit 06.05.2016 Hauptwohnsitzmeldungen ohne wesentliche Unterbrechungen (vgl. jeweils Auszüge aus dem Zentralen Melderegister vom 17.06.2021).

Die Beschwerdeführerinnen reisten unrechtmäßig in Österreich ein, sind seither Asylwerber und verfügen über keinen anderen Aufenthaltstitel oder ein anderes Aufenthaltsrecht (vgl. Auszüge aus dem Fremdenregister jeweils vom 17.06.2021).

Die BF1 ging bis dato keiner sozialversicherten Erwerbstätigkeit nach und leben beide Beschwerdeführerinnen nach wie vor von Leistungen der Grundversorgung. Sie wohnen in einer Mietwohnung zu einem monatlichen Brutto-Mietzins samt Betriebskosten zum Stand Jänner 2021 von EUR 511,70 (vgl. Sozialversicherungsdatenauszug der BF1 sowie Auszüge aus den Grundversorgungsdaten jeweils vom 17.06.2021; Monatsvorschreibung vom Jänner 2021, Beilage ./H des Konvoluts vom 26.03.2021).

Seit 11.12.2019 leistet die BF1 täglich von Montag bis Freitag jeweils von 08:30 Uhr bis 11:00 Uhr gemeinnützige Hilfstätigkeiten im Kindergarten ihrer Wohnortgemeinde und erhält dafür einen monatlichen Anerkennungsbetrag in Höhe von EUR 190,00 (vgl. Bestätigungsschreiben vom 10.12.2019, Beilage ./C des Konvoluts vom 26.03.2021) Sie hilft zudem in der Corona-Teststraße der Gemeine aus (vgl. Zeugin Z1, Verhandlungsprotokoll vom 29.03.2021, S 27).

Die BF1 konnte zwei aktuelle Arbeitsverträge bzw. Einstellungszusagen jeweils vom 01.04.2021 vorlegen. Demnach würde sie im Falle einer Aufenthaltsberechtigung mit Arbeitsmarktzugang jeweils unmittelbar einerseits in der Wohnortgemeinde als Kindergartenhilfe in einem Wochenstundenausmaß von 30 Stunden und einem monatlichen Brutto-Gehalt von EUR 1.300,65, sowie von einem Unternehmen in Schwechat als Reinigungskraft mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 20 Stunden unter Berücksichtigung der Arbeitszeiten als Kindergartenhilfe und einem monatlichen Brutto-Lohn von EUR 1.200,00 angestellt werden (vgl. mit Urkundenvorlage vom 13.04.2021 vorlegte Arbeitsverträge jeweils vom 01.04.2021, Beilagen ./A und ./C; Angaben der Zeugin Z1 sowie der Zeugin Z4 im Rahmen der mündlichen Verhandlung, Verhandlungsprotokoll vom 29.03.2021, S 25 ff).

Es wird daher festgestellt, dass die BF1 künftig ein Gesamtbrutto-Einkommen in der Höhe von rund EUR 2.500,00, daher netto rund EUR 1.900,00 monatlich (vgl. Brutto-Netto-Rechner des Bundesministeriums für Finanzen, https://bruttonetto.azurewebsites.net/, Zugriff am 17.06.2021), erwirtschaften wird können. Sie ist damit auf keine öffentlichen Leistungen angewiesen und ist davon auszugehen, dass die Selbsterhaltungsfähigkeit der Beschwerdeführerinnen künftig gegeben ist.

Die BF1 hat in Österreich zwischen 25.09.2018 und 29.01.2019 sowie 12.02.2019 bis 04.06.2019 an zwei Deutschkursen einer Volkshochschule auf dem Niveau B1 teilgenommen (vgl. Beilage ./A des Konvoluts vom 26.03.2021). Eine am 04.03.2021 absolvierte ÖIF-Integrationsprüfung auf Niveau B1 hat sie knapp nicht bestanden (vgl. Beilage ./A des Konvoluts vom 26.03.2021 und in der mündlichen Verhandlung am 29.03.2021 vorgelegte Bestätigung des ÖIF). Am 27.04.2021 hat die BF1 erfolgreich eine ÖIF-Integrationsprüfung auf Sprachniveau A2 bestanden (vgl. mit Urkundenvorlage vom 11.05.2021 vorgelegtes Zeugnis – Beilage./G). Die an die BF1 im Rahmen der mündlichen Verhandlung auf Deutsch gerichteten und nicht übersetzten Fragen konnte sie verstehen und auch auf Deutsch beantworten. Auf die Rückübersetzung der Einvernahmen der Zeugen konnte wegen der guten Deutschkenntnisse der Beschwerdeführerinnen verzichtet werden (vgl. ua. Verhandlungsprotokoll vom 29.03.2021, S 21 ff).

Die BF2 besuchte in Österreich erst den Kindergarten und seit dem Schuljahr 2016/2017 für vier Jahre die Volksschule, wobei sie die ersten beiden Volksschuljahre als außerordentliche Schülerin absolvierte, seit der dritten Klasse Volksschule jedoch als ordentliche Schülerin die Volksschule besuchte und diese im Schuljahr 2019/2020 positiv abschloss. Die BF2 nimmt laufend auch an Lese- und Mathematikwettbewerben und außerschulischen Aktivitäten wie Selbstverteidigungskursen, Sportveranstaltungen, Radworkshops, Bobby-Car-Rennen, Aktivitäten bei der Feuerwehrjugend und dergleichen teil. Die BF2 besucht aktuell auch eine Musikschule (sie spielt Querflöte), die erste Klasse einer Neuen Mittelschule und spricht ausgezeichnet Deutsch (vgl. Schreiben des Kindergartens, AS 227 ff BF2; Konvolut an Schulzeugnissen, Schulnachrichten, verbalen Beurteilungen und Schulbesuchsbestätigungen sowie Teilnahmebestätigungen und Urkunden, Beilage ./D und ./I des Konvoluts vom 26.03.2021; Verhandlungsprotokoll vom 29.03.2021, S 19).

Beide Beschwerdeführerinnen haben sich besonders in die Wohnortgemeinde und Schule integriert. Sie könne auf unzählige Unterstützungsschreiben, darunter auch des örtlichen Bürgermeisters und von Gemeinderäten und den Rückhalt in ihrer Wohnortgemeinde verweisen (vgl. Fotos sowie Unterstützungsschreiben und Unterschriftenlisten Beilagen ./J bis ./O des Konvoluts vom 26.03.2021; Verhandlungsprotokoll vom 29.03.2021, S 19).

Insgesamt liegt eine maßgebliche und zu berücksichtigende Integration der Beschwerdeführerinnen in Österreich in sprachlicher, beruflicher und gesellschaftlicher Hinsicht vor.

1.7. Zur gegenwärtigen Lage in der Türkei werden folgende Feststellungen unter Heranziehung der abgekürzt zitierten und den Beschwerdeführerinnen offengelegten Quellen getroffen:

1.7.1. Zur aktuellen Lage in Bezug auf die weltweit herrschende Corona-Pandemie und die Türkei werden folgende Feststellungen getroffen:

Mit Stand 04.08.2021 gab es in der Türkei 5,8 Mio bestätigte COVID-19 Erkrankungen, 51645 Todesfälle und 5,47 Mio Genesene. Es wurden 66,806,525 Impfdosen verabreicht (vgl. https://covid19.who.int/region/euro/country/tr, Zugriff am 04.08.2021).

Aus der Zusammenfassung der WKO (https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/ coronavirus-infos-tuerkei.html) ergibt sich, dass in der Türkei beginnend mit 01. Juni Schritte zur Normalisierung des täglichen Lebens gesetzt werden:

-        Unter der Woche gibt es von Montag bis einschließlich Samstag nächtliche Ausgangssperren, welche im Zeitraum von 22.00 Uhr abends bis 05.00 Uhr morgens gültig sind. An den Sonntagen sind die Ausgangssperren auch tagsüber durchgehend gültig.

-        Touristen und ausländische Personen sowie türkische Staatsangehörige, die sich vorübergehend in der Türkei aufhalten und keinen permanenten Wohnsitz in der Türkei haben, sind von den Ausgangsbeschränkungen ausgenommen.

-        Generell muss ein Mindestabstand zur nächsten Person eingehalten werden. An allen Orten, wo sich mehrere Menschen befinden, insbesondere auf Märkten und in Geschäften, gilt Maskenpflicht. Auf öffentlichen Plätzen wurde ein Rauchverbot auch im Freien eingeführt.

-        Gastronomische Stätten haben von 7.00 Uhr bis 21.00 Uhr geöffnet. An Sonntagen gibt es nur Lieferservice.

-        Einzelhandel und körpernahe Berufe sind geöffnet.

-        Sportstätten und Vergnügungsparks sind geöffnet.

-        Versammlungen und Hochzeiten sind unter Einhaltung der allgemeinen Regeln erlaubt.

-        An den Schulen findet an 2 Tagen in der Woche Präsenzunterricht statt, Kindergärten sind geöffnet.

-        Für das Buchen und den Check-in bei Inlandsflügen sowie bei Überlandbussen, Schiffen und Bahn in der Türkei benötigt man einen sogenannten HES-Code (Hayat Eve Sigar). Der HES-Code wird auch beim Betreten von Amtsgebäuden und in Einkaufszentren verlangt. Ausländer erhalten den HES-Code durch das Ausfüllen des Einreiseformulars (siehe „Einreise und Reisebestimmungen“).

Seit 15.03.2021 müssen Reisende mit Endziel Türkei frühestens 72 Stunden vor der Einreise ein Formular ausfüllen. Bei Einreise in die Türkei kann kontrolliert werden, ob dieses Formular ausgefüllt wurde, bzw. kann im Falle des Nichtausfüllens die Einreise für ausländische Staatsangehörige verweigert werden. Für Transitreisende ist diese Verpflichtung zum Ausfüllen des Formulars nicht gültig. Bei der Einreise zu Land, Wasser oder Luft ist die Vorlage eines der genannten Zertifikate notwendig: Impfzertifikat, Genesungsbestätigung oder negatives Testergebnis. In Österreich gilt für die Türkei in Bezug auf Corona weiterhin eine Reisewarnung der Sicherheitsstufe 6. Bei einer Einreise in die Türkei gelten Erleichterungen für Geimpfte und Genesene, nicht jedoch getestete. Bei Vorlage eines offiziellen Impfnachweises über eine vollständige Immunisierung (in der Regel je nach Impfstoff also 2 Impfdurchgänge) entfällt der PCR-Test. Die zweite Impfung muss mindestens 14 Tage vor Einreise in die Türkei erfolgt sein. Mündlichen Informationen nach werden alle in der EU zugelassenen Impfstoffe anerkannt. Bei Vorlage eines offiziellen Genesungsattests (Genesung liegt max. 6 Monate zurück) entfällt der PCR-Test. Bei Fehlen eines Nachweises für eine Impfung oder Genesung ist bei der Einreise ein negativer PCR Test (max. 72 Stunden alt) oder Antigen Test (max. 48 Stunden alt) vorzulegen.

Der Güterverkehr am Seeweg und per Bahn funktioniert gut. Die Grenzübergänge zu Bulgarien, Georgien, Griechenland, Iran und Irak sind im Frachtverkehr geöffnet. Fahrer im Güterverkehr werden an der Grenze einer medizinischen Kontrolle unterzogen und dürfen, wenn keine Krankheitssymptome vorliegen, ein- und wieder ausreisen. Im Falle einer Einreise in die Türkei dürfen die Fahrer nur an bestimmten Raststätten halten. Die Einreichung des COVID-19-Tests für ausländische Fahrer bei der Einreise nach Nordzypern ist obligatorisch.

Wegen der Coronavirus-Krise benötigt der türkische Exporteur/Produzent für den Export von Schutzmasken, medizinischen Handschuhen und sonstigen Arbeitsschutzbekleidungen eine Export-Erlaubnis. Für Schutzmasken aus Stoff ist seit 14.5. keine Exporterlaubnis mehr nötig. Seit 29.6.2020 hebt die Türkei aktuell für über 5.000 Waren Zusatzzölle zwischen 5 % bis 30 % ein. Diese Regelung ist mit 1.1.2021 dauerhaft in Kraft getreten.

Um die Auswirkungen der Lockdowns aufgrund von COVID-19 auf die türkische Wirtschaft zu begrenzen, wurden von der türkischen Regierung bereits mehrere Wirtschaftspakete ins Leben gerufen. Diese Wirtschaftspakete, welche im März und September des Jahres 2020 sowie zuletzt im März 2021 bekannt gegeben wurden, beinhalten Maßnahmen wie Steuersenkungen und -stundungen, Unterstützungen für Kurzarbeit, Einsetzung von Komitees zur Koordination der Maßnahmen sowie Einführung von Weiterbildungsangeboten im berufsbildenden Bereich.

1.7.2. Zur sonstigen asyl- und abschiebungsrelevanten allgemeinen Lage in der Türkei werden folgende Feststellungen (Staatendokumentation des BFA, Gesamtaktualisierung vom 26.01.2021) getroffen:

„Länderspezifische Anmerkungen

Letzte Änderung: 26.01.2021

In der vorliegenden Länderinformation erfolgt lediglich ein Überblick und keine erschöpfende Berücksichtigung der aktuellen COVID-19-PANDEMIE, weil die zur Bekämpfung der Krankheit eingeleiteten oder noch einzuleitenden Maßnahmen ständigen Änderungen unterworfen sind. Somit ist, insbesondere was die COVID-19-Maßnahmen anlangt, das Datum der jeweiligen Quelle zu beachten, und nicht nur das Aktualisierungsdatum des Kapitels.

Insbesondere können zum gegenwärtigen Zeitpunkt seriöse Informationen zu den Auswirkungen der Pandemie auf das Gesundheitswesen, auf die Versorgungslage sowie auf die Bewegungs- und Reisefreiheit der Bürgerinnen und Bürger sowie generell zu den politischen, wirtschaftlichen, sozialen und anderen Folgen nur eingeschränkt zur Verfügung gestellt werden.

Nebst dem separaten Kapitel zur COVID-19-Situation, das eine aktuelle Momentaufnahme bzw. Überblick bietet, finden sich darüber hinaus spezifische Informationen zur COVID-Lage in eigenen Abschnitten folgender Kapitel bzw. Unter-Kapitel der vorliegenden Länderinformation:

?        Meinungs- und Pressefreiheit / Internet

?        Haftbedingungen

?        Roma

?        Flüchtlinge

?        Arbeitslosenunterstützung

COVID-19

Letzte Änderung: 26.01.2021

Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO: https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports oder der Johns Hopkins-Universität: https://gisanddata.maps.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.html#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.

Am 11.3.2020 verkündete der türkische Gesundheitsminister, Fahrettin Koca, die Nachricht vom tags zuvor ersten bestätigten Corona-Fall (FNS 16.3.2020; vgl. DS 11.3.2020). Mit Jahresende 2020 wurden 2,18 Mio. Corona-Fälle und rund 21.000 Tote in der Türkei verzeichnet (JHU 30.12.2020).

Am 25.11.2020 erklärte Gesundheitsminister Fahrettin Koca, dass nunmehr alle positiv auf COVID-19 getesteten Personen in die Statistik aufgenommen werden. Ende Juli 2020 hatte das Gesundheitsministerium nämlich damit begonnen, die Corona-Infektionszahlen anzupassen, indem nur noch diejenigen, die tatsächlich Symptome entwickelten und einer Behandlung bedurften, statistisch gemeldet wurden. Dadurch blieben die offiziellen Zahlen in der Türkei im internationalen Vergleich niedrig. Auf diese Weise seien nach Medienberichten bis Ende Oktober 2020 bis zu 350.000 Corona-Infektionen verschwiegen worden (BAMF 30.11.2020). Das kam für den türkischen Ärzteverband nicht überraschend, der seit Monaten davor warnt, dass die bisherigen Zahlen der Regierung das Ausmaß der Ausbreitung verschleiern und dass der Mangel an Transparenz zu dem Anstieg beiträgt. Der Ärzteverband behauptet, dass die Zahlen des Ministeriums immer noch zu niedrig seien, verglichen mit ihrer eigenen Schätzung von mindestens 50.000 neuen Infektionen pro Tag. Die Krankenhäuser des Landes sind laut der Vorsitzenden des Ärzteverbandes, Sebnem Korur Fincanci, überlastet, das medizinische Personal ist ausgebrannt und die Contract-Tracer, die einst dafür bekannt waren, den Ausbruch unter Kontrolle zu halten, haben Schwierigkeiten, die Übertragungen zu verfolgen (AP 29.11.2020).

Beginnend mit 1.12.2020 ist ein Lockdown in Kraft getreten, welcher Ausgangssperren unter der Woche von 21.00 Uhr bis 5.00 Uhr umfasst. An den Wochenenden herrschte eine totale Ausgangssperre von Freitag 21.00 Uhr bis Montag 5.00 Uhr. An allen Orten, wo sich mehrere Menschen befinden, insbesondere auf Märkten und in Geschäften, gilt Maskenpflicht. Auf öffentlichen Plätzen wurde ein Rauchverbot auch im Freien eingeführt. Das Verbot zur Durchführung von öffentlichen Veranstaltungen durch staatliche und staatsnahe Organisationen sowie von Verbänden bleibt aufrecht. Sportveranstaltungen werden ohne Zuschauer durchgeführt. An Beerdigungen und Hochzeiten dürfen maximal 30 Personen teilnehmen. Feiern und Zusammenkünfte in häuslicher Umgebung sind untersagt. Gastronomische Einrichtungen bleiben tagsüber nur für Lieferservice geöffnet. Einkaufszentren und Lebensmittelgeschäfte dürfen nur zwischen 10.00 Uhr und 20.00 Uhr geöffnet haben. Beim Betreten von Einkaufszentren wird der sogenannten HES (Hayat Eve Sigar) - Code verlangt, ein behördlich verliehener elektronischer Schlüssel, mittels welchem der momentane Status der jeweiligen Person in Hinblick auf Corona verfolgt und überprüft werden kann. Er dient z.B. als Zutrittsvoraussetzung zu Ämtern oder eben Einkaufszentren. Beginnend mit 5.11.2020 müssen kulturelle Einrichtungen, wie Theater, ab 22.00 Uhr geschlossen sein. Kinos bleiben bis auf weiteres geschlossen. Alle Schulen inklusive Vorschulen sind geschlossen und werden bis auf weiteres nur mehr im Fernunterricht fortgeführt. Jugendliche unter 20 Jahren dürfen nur zwischen 13.00 Uhr und 16.00 Uhr die Wohnung verlassen. Die Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln ist Ihnen untersagt. Ältere Menschen über 65 Jahre dürfen tagsüber nur während bestimmter Uhrzeiten (10.00 Uhr – 13.00 Uhr) die Wohnungen verlassen. Auch für diese Personengruppe ist die Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln verboten (WKO 21.1.2021).

Ab 28.12.2020 müssen alle Personen, die mit dem Flugzeug in die Türkei reisen, einen Nachweis erbringen, dass sie innerhalb von 72 Stunden vor der Einreise mit einem PCR-Test negativ auf COVID-19 getestet wurden. Einreisende ohne einen negativen Test müssen entweder an ihrer gemeldeten Adresse in der Türkei oder in einer von der Regierung bezeichneten Einrichtung in Quarantäne gehen. Alle Personen, die über die Land- oder Seegrenzen in die Türkei einreisen, unterliegen ab dem 30.12.2020 den gleichen Anforderungen. Die Richtlinie wird mindestens bis zum 1.3.2021 in Kraft bleiben (Garda World 25.12.2020).

Am 30.12.2020 wurde das bis 17.1.2021 gültige Entlassungsverbot per Präsidialdekret um weitere zwei Monate verlängert (Hürriyet 30.12.2020).

In der zweiten Jänner-Woche 2021 ist mit den Impfungen begonnen worden. Zum Einsatz kommt das chinesische Vakzin der Firma Sinovac, dem am 13.1.2021 nach einem Eilverfahren eine Notzulassung erteilt wurde. Die Prüfung sei noch nicht abgeschlossen, sie werde parallel zur Impfkampagne fortgesetzt, teilten die Behörden mit. Prioritär werden die 1,1 Mio. Mitarbeiter des Gesundheitswesens sowie Menschen über 65 Jahren geimpft. Laut dem Generalsekretär der Ärztevereinigung werde die landesweite Impfkampagne voraussichtlich im Juli 2021 angeschlossen werden. Bei Lieferverzögerungen könne sie auch bis Dezember dauern. Türkische Mediziner haben infolge der Ergebnisse in Brasilien und Indonesien ihre Zweifel an der Wirksamkeit des Impfstoffs geäußert. Die türkische Rechtsmedizinerin und Vorsitzende der Ärztevereinigung Sebnem Korur Fincanci sagte, die Sicherheit des Impfstoffs stehe jedoch außer Frage und appellierte, sich impfen zu lassen. Als Folge der intransparenten Politik will sich allerdings nur jeder zweite impfen lassen (FAZ 14.1.2021).

Quellen:

?        AP - Associated Press (29.11.2020): Turkey’s new virus figures confirm experts' worst fears, https://apnews.com/article/turkey-europe-coronavirus-pandemic-recep-tayyip-erdogan-07b8e18fa2268b847e84cd9702e9a895, Zugriff 11.1.2021

?        BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (30.11.2020): Briefing Notes, https://www.ecoi.net/en/file/local/2041720/briefingnotes-kw49-2020.pdf, Zugriff 11.1.2021

?        DS - Daily Sabah (11.3.2020): Turkey remains firm, calm as first coronavirus case confirmed, https://www.dailysabah.com/turkey/turkey-remains-firm-calm-as-first-coronavirus-case-confirmed/news, Zugriff 30.12.2020

?        Hürriyet (30.12.2020): Entlassungsverbot der Türkei erneut verlängert, https://www.hurriyet.de/news_entlassungsverbot-der-tuerkei-erneut-verlaengert_143543902.html, Zugriff 30.12.2020

?        FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung (14.1.2021): Türkei beginnt mit Impfkampagne, https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/tuerkei-impfung-gegen-corona-beginnt-mit-china-impfstoff-sinovac-17146041.html, Zugriff 15.1.2021

?        FNS - Friedrich-Naumann-Stiftung (16.3.2020): Türkei Bulletin 5-2020, http://shop.freiheit.org/download/P2@876/248113/05-2020-T%C3%Bcrkei-Bulletin.pdf, Zugriff 30.12.2020

?        Garda World (25.12.2020): Turkey: Government to tighten COVID-related international entry restrictions effective Dec. 28; flights with Netherlands resume /update 30, https://www.garda.com/crisis24/news-alerts/421926/turkey-government-to-tighten-covid-related-international-entry-restrictions-effective-dec-28-flights-with-netherlands-resume-update-30, Zugriff 11.1.2020

?        Hürriyet (30.12.2020): Entlassungsverbot der Türkei erneut verlängert, https://www.hurriyet.de/news_entlassungsverbot-der-tuerkei-erneut-verlaengert_143543902.html, Zugriff 30.12.2020

?        JHU - Johns Hopkins University & Medicine (30.12.2020): COVID-19 Dashboard by the Center for Systems Science and Engineering (CSSE) at Johns Hopkins University (JHU), https://coronavirus.jhu.edu/map.html, Zugriff 30.12.2020

?        WKO - Wirtschaftskammer Österreich (21.1.2020): Coronavirus: Situation in der Türkei, https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/coronavirus-infos-tuerkei.html#heading_Schutzmassnahmen_und_Geschaeftsleben, Zugriff 25.1.2021

Politische Lage

Letzte Änderung: 26.01.2021

Die Türkei ist eine Präsidialrepublik und laut Art. 2 ihrer Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat auf der Grundlage öffentlichen Friedens, nationaler Solidarität, Gerechtigkeit und der Menschenrechte. Staats- und zugleich Regierungschef ist seit Einführung des präsidialen Regierungssystems am 9.7.2018 der Staatspräsident, der die politischen Geschäfte führt (AA 24.8.2020; vgl. DFAT 10.9.2020), wobei das Amt des Ministerpräsidenten abgeschafft wurde (DFAT 10.9.2020; vgl. bpb 9.7.2018).

Die Verfassungsarchitektur ist weiterhin von einer fortschreitenden Zentralisierung der Befugnisse im Bereich des Präsidentenamtes geprägt, ohne eine solide und wirksame Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative zu gewährleisten. Da es keinen wirksamen Kontroll- und Ausgleichsmechanismus gibt, bleibt die demokratische Rechenschaftspflicht der Exekutive auf Wahlen beschränkt. Unter diesen Bedingungen setzten sich die gravierenden Rückschritte bei der Achtung demokratischer Normen, der Rechtsstaatlichkeit und der bürgerlichen Freiheiten fort. Die politische Polarisierung verhindert einen konstruktiven parlamentarischen Dialog. Die parlamentarische Kontrolle über die Exekutive bleibt schwach. Unter dem Präsidialsystem sind viele Regulierungsbehörden und die Zentralbank direkt mit dem Präsidentenamt verbunden, wodurch deren Unabhängigkeit untergraben wird. Mehrere Schlüsselinstitutionen, wie der Generalstab, der Nationale Nachrichtendienst, der Nationale Sicherheitsrat und der Souveräne Wohlfahrtsfonds, sind dem Büro des Präsidenten angegliedert worden (EC 29.5.2019). Der öffentliche Dienst wurde politisiert, insbesondere durch weitere Ernennungen von politischen Beauftragten auf der Ebene hoher Beamter und die Senkung der beruflichen Anforderungen an die Amtsinhaber (EC 6.10.2020).

Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt und kann bis zu zwei Amtszeiten innehaben, mit der Möglichkeit einer dritten Amtszeit, wenn während der zweiten Amtszeit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Erhält kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, findet eine Stichwahl zwischen den beiden stimmenstärksten Kandidaten statt. Die 600 Mitglieder des Einkammerparlaments werden durch ein proportionales System mit geschlossenen Parteienlisten bzw. unabhängigen Kandidaten in 87 Wahlkreisen für eine Amtszeit von fünf (vor der Verfassungsänderung vier) Ja

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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