Entscheidungsdatum
12.08.2021Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z5Spruch
W226 1422455-3/13E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Andreas WINDHAGER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen Gesellschaft mit beschränkter Haftung, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 19.07.2019, Zl. 810953108-190708668, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. - III. des angefochtenen Bescheides wird als unbegründet abgewiesen.
II. In Erledigung der Beschwerde gegen den Spruchpunkt IV. des angefochtenen Bescheides wird ausgesprochen, dass eine Rückkehrentscheidung gegen XXXX gemäß § 10 Absatz 1 Ziffer 5 AsylG 2005 iVm § 52 FPG 2005 iVm § 9 Abs. 3 BFA-VG auf Dauer unzulässig ist.
XXXX wird eine „Aufenthaltsberechtigung " für die Dauer von zwölf Monaten gemäß § 54 Absatz 1 Ziffer 2 AsylG 2005 und § 58 Absatz 2 iVm § 55 Absatz 2 AsylG 2005 erteilt.
III. In Erledigung der Beschwerde werden die Spruchpunkte V. und VI. des angefochtenen Bescheides ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang und Sachverhalt:
I.1.1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF) reiste am 25.08.2011 mit seiner Mutter unter Umgehung der Grenzkontrolle in das Bundesgebiet ein und stellte am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz. Der BF brachte zu seinem Fluchtgrund im Zuge der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am selben Tag sowie anlässlich der niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 12.10.2011 zu seinem Fluchtgrund im Wesentlichen vor, sein Vater habe für KADYROW im Sicherheitsdienst gearbeitet. Im Jahr 2009 hätten zwei Arbeitskollegen seines Vaters von seinem Vater Hilfsleistungen für Rebellen verlangt. Dieser Bitte sei sein Vater nachgekommen und habe den Rebellen Waffen geliefert. Diese beiden Kollegen seines Vaters seien getötet worden, woraufhin sein Vater immer Angst gehabt habe, auch ermordet zu werden. Eines Tages sei sein Vater nicht vom Dienst nach Hause gekommen. Seine Mutter sei telefonisch von der Ermordung seines Vaters unterrichtet worden. Der BF glaube nicht, dass sein Vater von Rebellen getötet worden sei. Der Leichnam seines Vaters habe blaue Flecken aufgewiesen, weshalb der BF davon ausgehe, dass sein Vater gefoltert worden sei. Nach dem Tod seines Vaters sei seine Mutter von KADYROWs Leuten bedroht worden.
I.1.2. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 24.10.2011 wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz in Spruchpunkt I. gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (AsylG), bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten und in Spruchpunkt II. bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 leg. cit. abgewiesen und der BF in Spruchpunkt III. des Bescheides gemäß § 10 Abs. 1 Z 2 leg. cit. aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation ausgewiesen.
Begründend wurde kurz zusammengefasst ausgeführt, dass der BF keine asylrelevante Verfolgung glaubhaft gemacht habe. Weiters lägen keine Anhaltspunkte vor, dass dem BF im Falle der Rückkehr in seinen Herkunftsstaat die reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention drohe oder mit dieser für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes einhergehe. Im Hinblick auf die Ausweisungsentscheidung führte die belangte Behörde aus, dass die mitgereiste Mutter des BF ebenso von einer Ausweisung betroffen sei und der BF zu seiner in Österreich wohnhaften erwachsenen Schwester keine besonders enge Bindung habe.
I.1.3. Die gegen diesen Bescheid gerichtete Beschwerde des BF wurde vom Asylgerichtshof am 20.03.2012 gemäß § 66 Abs. 4 Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz 1991, BGBl. Nr. 51/1991 (AVG), in Verbindung mit § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (AsylG 2005), § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 und § 10 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005, in der Fassung BGBl. I Nr. 122/2009, als unbegründet abgewiesen. Dies wurde damit begründet, dass der BF weder eine zum Entscheidungszeitpunkt vorliegende maßgebliche Gefahr asylrelevanter Verfolgung in seinem Herkunftsstaat glaubhaft habe machen können noch seien von Amts wegen Anhaltspunkte für eine solche ableitbar gewesen. Die in den Angaben des BF und seiner Mutter zum Fluchtgrund enthaltenen Widersprüche und Unstimmigkeiten in ihrer Qualität und ihrem Ausmaß hätten nicht mit Missverständnissen oder Irrtümern erklärt werden können, weshalb der belangten Behörde nicht entgegengetreten werden könne, wenn sie von der Unglaubwürdigkeit der behaupteten Fluchtgründe ausgehe.
Irgendein besonderes „real risk“, dass es durch die Rückführung des BF in seinen Herkunftsstaat zu einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe kommen würde, habe nicht erkannt werden können. Außergewöhnliche Umstände im Sinne der Judikatur des EGMR, die gegen eine Abschiebung in die Russische Föderation sprächen, seien nicht erkennbar gewesen.
Die Ausweisungsentscheidung begründete der Asylgerichtshof damit, dass der Aufenthalt des BF von unter einem Jahr kein Zeitraum sei, der für sich genommen schon eine maßgebliche Integration mit sich bringe. Dieser Aufenthalt im Inland sei dem BF zudem lediglich auf Grund seines Antrages erlaubt, der sich auf Grund seiner unwahren Behauptungen als unberechtigt erwiesen habe. Der BF gehe auch keiner regelmäßigen legalen Beschäftigung nach und lebe von der Grundversorgung. Zu seiner aufenthaltsberechtigten Schwester bestehe keine besonders enge Bindung und auch kein Abhängigkeits- oder Pflegeverhältnis, genauso wenig wie eine Haushaltsgemeinschaft. Der BF habe sich keine nennenswerten Deutschkenntnisse angeeignet und sei nicht Mitglied eines Vereins.
I.1.4. Mit Beschluss des Verfassungsgerichtshofes vom 03.10.2012 wurde die Behandlung der Beschwerde des BF abgelehnt.
I.2.1. Zu seinem am 29.01.2014 gestellten Folgeantrag auf internationalen Schutz wurde der BF am 30.01.2014 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt, wobei er angab, polizeiliche Ladungen erhalten zu haben, die letzte vor ca 2 oder 3 Monaten, welche seine bisher vorgebrachten Fluchtgründe beweisen könnten. Er habe mit seinem Onkel in der Heimat telefoniert, welcher ihn vor einer Rückkehr gewarnt habe, da es für den BF sehr gefährlich sei.
Im Zuge der niederschriftlichen Einvernahme des BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) am 10.02.2014 brachte der BF vor, ein Onkel bzw eine Tante habe die Ladungen von den Nachbarn, welchen diesen zugestellt worden seien, erhalten und dem BF geschickt. Außerdem warte ein FSB-Mitarbeiter auf die Rückkehr des BF, weil dieser wisse, dass der BF Widerstandskämpfer unterstützt habe.
Im Rahmen einer weiteren Einvernahme des BF vor dem BFA am 24.06.2014 gab der BF an, in ärztlicher Behandlung zu sein und Medikamente zu benötigen. Er könne sich diese Behandlung nicht leisten, er habe in seiner Heimat kein Geld. Er sei bereits in der Russischen Föderation operiert worden, was aber nicht geholfen habe. Die Behandlung sei dort sehr teuer und selbst zu bezahlen. Dies sei der Grund, warum er hier ist. Es gebe in der Russischen Föderation keine ausreichende Versorgung und er habe niemanden, der ihn versorgen könne. Seine Mutter sei nur mit ihm mitgereist, sie habe niemanden mehr in Tschetschenien, persönlich sei ihr nichts passiert. Auf die Frage, ob er oder ein Familienmitglied die tschetschenischen Widerstandskämpfer unterstützt habe, antwortete der BF mit „Nein“. Der BF legte zum Beweis seiner medizinischen Behandlungen Schreiben des Landeskrankenhauses XXXX , einen Arztbefund sowie einen Neurologischen Befundbericht, woraus sich ergibt, dass der BF an einem „Hydrocephalus internus“ leide, einen Ambulanten Arztbrief des Landeskrankenhauses XXXX , wonach die Hüfte des BF einem Zustand nach „Morbus Perthes“ entspräche, sowie einen Psychiatrischen Befund, laut welchem der BF an Kopfschmerzen aufgrund des „Hydrozephalus internus“, an einer Kiefermissbildung und an einer Posttraumatischen Belastungsstörung leide, vor.
I.2.2. Mit Bescheid des BFA vom 28.06.2014 wurde der Folgeantrag des BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Absatz 1 iVm 2 Absatz 1 Ziffer 13 AsylG 2005 abgewiesen, diesem hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Absatz 1 AsylG stattgegeben und dem BF eine befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Absatz 4 AsylG bis zum 26.06.2015 erteilt. Dies wurde vom BFA damit begründet, dass der BF eine asylrelevante Verfolgung nicht glaubhaft gemacht habe, sondern er vielmehr aufgrund der benötigten medizinischen Hilfe nach Österreich gereist sei. Ihm sei aber aufgrund seiner Erkrankungen (Hydrozephalus internus, Hüftoperation, Coxarthrose bei Morbus Perthes, psychiatrischer Befund) im Hinblick auf die schlechte Versorgungslage und der wegen seiner erkrankungsbedingten mangelnden Erwerbsfähigkeit schlechten finanziellen Situation des BF, ohne verwandtschaftliche Unterstützung, womit eine ausreichende Versorgung auch nicht leistbar sei, der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen.
I.2.3. Mit Bescheid des BFA vom 01.06.2015 wurde dem Antrag des BF auf Verlängerung seines befristeten Aufenthaltstitels stattgegeben und ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 26.06.2017 erteilt.
I.2.4. Mit Bescheid des BFA vom 14.07.2017 wurde dem Antrag des BF auf Verlängerung seines befristeten Aufenthaltstitels stattgegeben und ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 26.06.2019 erteilt.
I.3.1. Im Rahmen der Prüfung des Verlängerungsantrages des BF bzw der Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten wurde der BF vom BFA am 02.07.2019 niederschriftlich einvernommen, wobei er zu Protokoll gab, mit seiner Mutter in einer Wohnung in XXXX zu leben, seit 2017 bei der Firma XXXX zu arbeiten und keine Angehörigen in seinem Heimatland mehr zu haben. Zu seinem gesundheitlichen Zustand brachte der BF vor, gesund zu sein, wegen seiner Nase in ärztlicher Behandlung zu sein und noch in diesem Monat operiert zu werden. Sein Kopf sei operiert worden, er müsse aber regelmäßig kontrolliert werden. Befragt nach seinen Rückkehrbefürchtungen, gab der BF an, dass er wieder mitgenommen werden würde, da er Verbindungen zu Menschen gehabt habe, nämlich Kämpfer, zu welchen er keinen Kontakt hätte haben sollen. Es handle sich dabei um seine ursprünglichen Asylgründe.
I.3.2. Mit Bescheid des BFA vom 19.07.2019 wurde der, dem BF mit Bescheid vom 28.06.2014 zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Absatz 1 Asylgesetz 2005, BGBl I Nr. 100/2005 (AsylG), von Amts wegen aberkannt (Spruchpunkt I.), dem BF die mit Bescheid vom 14.07.2017 erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter gemäß § 9 Absatz 4 AsylG entzogen (Spruchpunkt II.), ihm ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.), gemäß § 10 Absatz 1 Ziffer 5 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 87/2012 (BFA-VG) gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Absatz 2 Ziffer 4 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (FPG) erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Absatz 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig ist (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Absatz 1 bis 3 FPG beträgt die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.).
Begründend wurde zu den Spruchpunkten I. und II. im Wesentlichen ausgeführt, dass dem BF subsidiärer Schutz insbesondere aufgrund seiner Erkrankung, seiner prekären finanziellen Situation bedingt durch die mangelnde Erwerbsfähigkeit des BF und der erforderlichen ärztlichen Behandlung, gewährt worden sei, wobei der BF mittlerweile in Österreich Arbeitserfahrung gesammelt habe und daher davon auszugehen sei, dass der BF nun auch in Tschetschenien einer Arbeit nachgehen könne. Außerdem habe sich die medizinische Versorgungslage in Tschetschenien verbessert. Dazu wurde auf entsprechende Passagen in den Länderfeststellungen hingewiesen. Vor allem aufgrund seiner im Herkunftsstaat abgeschlossenen Ausbildung zum Buchhalter und seiner in Österreich gesammelten Arbeitserfahrung, könne der BF eine berufliche Tätigkeit aufnehmen und für den eigenen Lebensunterhalt sorgen. Außerdem habe er ein familiäres Netzwerk in Tschetschenien, bestehend aus seiner Mutter und zwei Tanten, sodass nicht von einer ausweglosen Situation gesprochen werden könne und könne er sich auch in anderen Gegenden, in denen Tschetschenen leben, niederlassen, um eventuell eine medizinische Behandlung besser wahrnehmen zu können. Zur Rückkehrentscheidung wurde ausgeführt, dass eine nennenswerte Integration des BF in die österreichische Gesellschaft nicht ersichtlich sei, weshalb trotz seines achtjährigen Aufenthaltes im Bundesgebiet eine Rückkehrentscheidung zulässig sei.
I.3.3. Dagegen erhob der BF am 01.08.2019 vollumfänglich Beschwerde, worin zum einen die Mangelhaftigkeit des Verfahrens kritisiert und die Feststellung der belangten Behörde, wonach sich die Lage in der Russischen Föderation verbessert habe und es dem BF nun zumutbar wäre, eine Beschäftigung zu finden und sich dort weiter medizinisch behandeln zu lassen bemängelt wurde. Dazu wurde auf Passagen aus der Anfragebeantwortung zur Russischen Föderation: „Zugang zu Versicherung für Personen, die in der Russischen Föderation nicht gearbeitet haben“ aus dem Jahr 2016 verwiesen, wonach in Russland eine Zweiklassenmedizin bestehe und Geld und Beziehungen zu einer Priorisierung im Gesundheitssystem führen würden. Außerdem könnten die zwei Tanten des BF den BF nicht unterstützen, da sie alleinstehend seien und selbst kaum das Auslangen fänden. Letztlich wurde die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidungen bestritten und darauf hingewiesen, dass sich der BF seit knapp 8 Jahren in Österreich aufhalte, einer Beschäftigung nachgehe, sich bemühe, die deutsche Sprache zu erlernen und sich einen engen Freundeskreis aufgebaut habe.
I.3.4. Am 04.11.2020 legte der BF ergänzend medizinische Befunde vor, wonach er ausgeprägte Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung nach psychischen und physischen Traumata und ein organisches Psychosyndrom nach Schädelhirntraumata und infolge Hydrozephalus zeige.
I.3.5. Am 07.06.2021 wurde nunmehr der BF durch das erkennende Gericht in einer öffentlichen mündlichen Verhandlung zu seinen ursprünglichen Fluchtgründen, zu subsidiären Schutz begründenden und zu integrativen Aspekten einvernommen.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
II.1.1. Der BF ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation, der tschetschenischen Volksgruppe und dem muslimischen Glauben zugehörig. Er ist in Tschetschenien, geboren und aufgewachsen und hat dort zehn Jahre lang die Schule besucht.
II.1.2. Der BF gelangte als 24-jähriger gemeinsam mit seiner Mutter am 25.08.2011 auf österreichisches Bundesgebiet und stellte am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz. Dieser Antrag wurde am 20.03.2012 in zweiter Instanz vom Asylgerichtshof abgewiesen und der BF aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation ausgewiesen. Dem vom BF am 29.01.2014 gestellten Folgeantrag auf internationalen Schutz wurde mit Bescheid des BFA vom 28.06.2014 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten aufgrund seiner Erkrankungen, der schlechten Versorgungslage in seinem Heimatland und der schwierigen wirtschaftlichen Situation des BF aufgrund mangelnder Arbeitsfähigkeit stattgegeben und dem BF eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt, welche zuletzt am 14.07.2017 – mit einem nicht näher begründeten Bescheid - bis zum 26.06.2019 verlängert wurde.
II.1.3. Die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten wurde im Falle des BF vom BFA damit begründet, dass der BF an einigen, teilweise behandlungsintensiven Krankheiten, nämlich an einem „Hydrozephalus“, auch als „Wasserkopf“ bekannt, einer „Coxarthrose bei Morbus Perthes“, eine Erkrankung des Hüftgelenkes, die sich beim BF zu einer Hüftarthrose ausgebildet hat, einer Kiefermissbildung und einer Posttraumatischen Belastungsstörung leide und eine ausreichende Versorgung im Herkunftsstaat nicht gewährleistet sei und der BF sich aufgrund seiner wegen den Erkrankungen mangelnden Erwerbsfähigkeit und somit einer schlechten finanziellen Situation des BF, ohne verwandtschaftliche Unterstützung, eine solche Versorgung in seinem Herkunftsstaat auch nicht leisten könne.
2013 wurde der BF am Kopf zur Behandlung des „Hydrozephalus“ operiert. Der BF weist nun reguläre Flussartefakte und keine Liquordiapedese Zeichen auf und muss nur mehr regelmäßig am Kopf kontrolliert werden. Im Zusammenhang mit der Hüftarthrose wurde der BF zudem im November 2014 operiert und ist seither beschwerdefrei. Der BF leidet nach wie vor an einer Posttraumatischen Belastungsstörung sowie an einem organischen Psychosyndrom. Diesbezüglich ist er seit Oktober 2019– in nicht näher bekannten zeitlichen Abständen - in ärztlicher Behandlung.
II.1.4. Der BF ist ledig und hat keine Kinder. Es kann nicht feststellt werden, dass der BF in einer Beziehung ist. Er lebt mit seiner Mutter in einer Wohnung in XXXX . Er spricht Russisch und Tschetschenisch. Er spricht kaum Deutsch und besuchte zuletzt einen A1 Deutschkurs. Er ist strafgerichtlich unbescholten und hat zumindest einen Freund in XXXX . Er besuchte die Schule in Tschetschenien für zehn Jahre und ging dort zur Universität, wo er zum Buchhalter ausgebildet werden sollte. In Österreich arbeitete der BF seit August 2017 als (geringfügig beschäftigter) Arbeiter bei unterschiedlichen Arbeitgebern und war insgesamt ca neun Monate erwerbstätig. Derzeit verdient der BF ein Gehalt unter der Geringfügigkeitsgrenze.
II.1.5. In Österreich leben seine Mutter und seine Schwester, welche asylberechtigt in Österreich ist. In der Russischen Föderation leben einige Verwandte des BF, vor allem in XXXX und XXXX , zu welchen er Kontakt – allenfalls über seine Mutter - aufnehmen kann.
II.1.6. Unter Zugrundelegung der im Folgenden dargestellten Länderberichte liegen keine stichhaltigen Gründe vor, dass der BF bei einer Rückkehr ins Herkunftsland mit hinreichender Wahrscheinlichkeit konkret Gefahr liefe, dort aktuell der Folter, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe bzw. der Todesstrafe unterworfen zu werden oder aufgrund der allgemeinen Versorgungslage in eine aussichtslose Lage (Nahrung, Unterkunft) zu geraten.
Es ist dem BF jedenfalls möglich und zumutbar, sich in der Russischen Föderation, entweder in Tschetschenien selbst oder auch in anderen Landesteilen niederzulassen und anzumelden sowie durch eigene Erwerbstätigkeit seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Viele russische Städte verfügen über eine große tschetschenische Diaspora und bieten die stärkeren Metropolen und Regionen Russlands bei vorhandener Arbeitswilligkeit auch Chancen für russische Staatsangehörige aus den Kaukasusrepubliken. Der BF hat auch Zugang zu Sozialbeihilfen, Krankenversicherung und medizinischer Versorgung.
Die aktuell vorherrschende COVID-19 Pandemie bildet kein Rückkehrhindernis. Der BF gehört mit Blick auf sein Alter und das Fehlen physischer (chronischer) Vorerkrankungen keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 an. Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der BF bei einer Rückkehr in die Russische Föderation eine COVID-19 Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde.
Die persönliche Situation des BF hat sich verglichen mit dem Zeitpunkt der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten mit Erkenntnis vom 28.06.2014 bzw. der letzten Verlängerung mit Bescheid vom 14.07.2017 insofern maßgeblich geändert, als dieser wegen seines gebesserten gesundheitlichen bzw. psychischen Zustandes nunmehr dazu in der Lage ist, einer beruflichen Tätigkeit nachzugehen und er den Lebensunterhalt für sich, allenfalls mit (anteilsmäßiger) finanzieller Unterstützung und bei der Wiedereingliederung durch seine Angehörigen im Heimatland, bestreiten können wird. Der BF besuchte eine (um ein Jahr nicht abgeschlossene) Ausbildung zum Buchhalter in der Russischen Föderation und sammelte außerdem Berufserfahrung in Österreich. Der BF wird somit auch in der Lage sein, in der Russischen Föderation einer Erwerbstätigkeit – insbesondere, wie er dies in Österreich tut, einer manuellen Tätigkeit – nachzugehen.
Der BF leidet an keinen schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen Erkrankungen. Die Posttraumatische Belastungsstörung sowie das organische Psychosyndrom des BF kann in der Russischen Föderation in Form von Psychotherapie und Medikamenten sowie medizinischer Rehabilitation behandelt werden. Die regelmäßige Kontrolle seines operierten „Hydrozephalus“ sowie seines infolge der Operation eingesetzte Implantats in der Hüfte kann in der Russischen Föderation vorgenommen werden.
II.1.7. Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt in seinem Herkunftsstaat verfolgt wird.
II.1.8. Zur Situation in der Russischen Föderation/Tschetschenien:
Länderspezifische Anmerkungen
Letzte Änderung: 18.05.2021
Hinweis:
Die Länderinformationen gehen nur eingeschränkt auf die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie sowie auf eventuelle Maßnahmen gegen diese ein - wie etwa Einstellungen des Reiseverkehrs in oder aus einem Land oder Bewegungseinschränkungen im Land. Dies betrifft insbesondere auch Auswirkungen auf die Gesundheitsversorgung, die Möglichkeiten zur Selbst-Quarantäne, die Versorgungslage, wirtschaftliche, politische und andere Folgen, die derzeit immer noch schwer einschätzbar sind. Diesbezüglich darf jedoch auf das COVID-Kapitel der Staatendokumentation zur aktuellen COVID-19-Lage hingewiesen werden.
Zur aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf folgende Websites der WHO: https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports
oder der Johns-Hopkins-Universität:
https://gisanddata.maps.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.html#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6
mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.
Da es sich bei den Nordkaukasus-Republiken (z.B. Tschetschenien, Dagestan) um Subjekte der Russischen Föderation handelt, werden diese nicht mehr in eigenständigen Länderinformationen abgehandelt, sondern in diese Länderinformation zur Russischen Föderation (RUSS COI-CMS) integriert. Wo es Unterschiede gibt, wurden Unterkapitel zu den einzelnen Subjekten bzw. in zusammenfassender Form zum Nordkaukasus geschaffen.
Zu Inguschetien werden – auch nach Absprache mit dem BVwG – keine Informationen mehr ins RUSS COI-CMS übernommen, da die Anzahl an Asylwerbern zu gering ist. Sollten Sie Informationen zu Inguschetien benötigen, ist eine konkrete Anfrage an die Staatendokumentation zu stellen.
In Bezug auf das Kaukasus-Emirat ist zu sagen, dass es momentan nicht ganz klar ist, ob es in der Praxis überhaupt noch existiert und falls ja, ob es einen neuen Anführer hat oder nicht. Dies scheint aber auch nicht das Wichtigste zu sein, da Kadyrows Kräfte und die russischen Sicherheitsbehörden jegliche dschihadistische Anhänger ins Visier nehmen und sie keinen Unterschied machen, unter welcher Flagge ein Islamist kämpft.
Covid-19-Situation
Letzte Änderung: 18.05.2021
Russland ist von Covid-19 landesweit stark betroffen. Regionale Schwerpunkte sind Moskau und St. Petersburg (AA 15.2.2021). Aktuelle und detaillierte Zahlen bietet unter anderem die Weltgesundheitsorganisation WHO (https://covid19.who.int/region/euro/country/ru). Die Regionalbehörden in der Russischen Föderation sind für Maßnahmen zur Eindämmung von Covid-19 zuständig, beispielsweise betreffend Mobilitätseinschränkungen, medizinische Versorgung und soziale Maßnahmen (RAD 15.2.2021; vgl. CHRR 12.3.2021). Die Maßnahmen der Regionen sind unterschiedlich, richten sich nach der epidemiologischen Situation in der jeweiligen Region und ändern sich laufend (WKO 9.3.2021; vgl. AA 15.2.2021). Es herrscht eine soziale Distanzierungspflicht für öffentliche Plätze und öffentliche Verkehrsmittel. Der verpflichtende Mindestabstand zwischen Personen beträgt 1,5 Meter (WKO 9.3.2021).
Die regierungseigene Covid-19-Homepage gibt Auskunft über die vom russischen Gesundheitsministerium empfohlenen Covid-19-Medikamente, nämlich Favipiravir, Hydroxychloroquin, Mefloquin, Azithromycin, Lopinavir/Ritonavir, rekombinantes Interferon-beta-1b und Interferon-alpha, Umifenovir, Tocilizumab, Sarilumab, Olokizumab, Canakinumab, Baricitinib und Tofacitinib. Der in Moskau entwickelte Covid-19-Krankenhausbehandlungsstandard umfasst folgende vier Komponenten: Antivirale Therapie, Antithrombose-Medikation, Sauerstoffmangelbehebung und Prävention/Behandlung von Komplikationen. Auf Anordnung des Arztes wird Patienten ein Pulsoxymeter ausgehändigt (Gerät zur Messung des Blutsauerstoffsättigungsgrades). Die medizinische Covid-Versorgung erfolgt für die Bevölkerung kostenlos (CHRR o.D.a).
Folgende Impfstoffe wurden in der Russischen Föderation entwickelt: Gam-COVID-Vac ('Sputnik V'), EpiVacCorona, CoviVac und Ad5-nCoV (CHRR o.D.b). Mittlerweile sind in der Russischen Föderation drei heimische Impfstoffe zugelassen (Sputnik V, EpiVacCorona und CoviVac). Groß angelegte klinische Studien gibt es bisher nicht (DS 20.2.2021; vgl. RFE/RL 21.2.2021). Impfungen erfolgen kostenlos (Mos.ru o.D.). In Moskau wurden bisher mehr als 700.000 Personen geimpft (Mos.ru 8.3.2021). Obwohl Russland als weltweit erstes Land seinen Covid-Impfstoff Sputnik V registrierte, haben die Impfungen effizient gerade erst begonnen (DS 12.2.2021). Bisher wurden in der Russischen Föderation in etwa 2,2 Millionen Personen (ca. 1,5% der Bevölkerung) geimpft bzw. erhielten zumindest eine der zwei Teilimpfungen (RFE/RL 21.2.2021).
Für die Einreise nach Russland wird grundsätzlich ein COVID-19-Testergebnis (PCR) benötigt. Russische Staatsbürger müssen bei der Grenzkontrolle keinen COVID-Test vorlegen, dieser muss jedoch spätestens drei Tage nach der Einreise nachgeholt werden. Russische Staatsbürger, die nach der Einreise ein positives Testergebnis erhalten, müssen sich in Quarantäne begeben. Die Ausreise aus Russland ist bis auf unbestimmte Zeit eingeschränkt und nur in bestimmten Ausnahmefällen möglich. Die internationalen Flugverbindungen wurden teilweise wieder aufgenommen. Direktflüge zwischen Österreich und Russland werden derzeit ein- bis zweimal wöchentlich von Austrian Airlines und Aeroflot angeboten. Russische Inlandsflüge wurden während der ganzen Pandemiezeit aufrecht erhalten (WKO 9.3.2021). Der internationale Zugverkehr – mit Ausnahme der Strecke zwischen Russland und Belarus - und der Fährverkehr sind eingestellt (AA 15.2.2021).
Staatliche Unterstützungsmaßnahmen für die russische Wirtschaft sind unterschiedlich und an viele Bedingungen gebunden. Zu den ersten staatlichen Hilfsmaßnahmen zählten Kredit-, Miet- und Steuerstundungen (ausgenommen Mehrwertsteuer), Sozialabgabenreduktion sowie Kreditgarantien und zinslose Kredite. Später kamen Steuererleichterungen sowie direkte Zuschüsse dazu. Viele der Maßnahmen sind nur für kleine und mittlere Unternehmen oder bestimmte Branchen zugänglich und haben einen zweckgebundenen Charakter (beispielsweise gebunden an Gehaltszahlungen oder Arbeitsplatzerhalt) (WKO 9.3.2021). Die Regierung bietet Exporteuren Hilfe an, die Möglichkeit eines Konkursmoratoriums, zinslose Kredite für Gehaltsauszahlungen usw. (CHRR o.D.c). Jänner bis Oktober 2020 ist die Industrieproduktion pandemiebedingt um 3,1% zurückgegangen. Besonders die Rohstoffproduktion ist um 6,6% gefallen, während die verarbeitende Industrie mit 0,3% praktisch stagnierte. Die im Jahr 2020 sehr stark fallenden Ölpreise waren unter anderem eine Auswirkung der Covid-19-Pandemie und mit einem globalen Nachfragerückgang verbunden und führten zu einer Rubelabwertung von 25%. Nach leichter Erholung verlor der Rubel unter anderem wegen der anhaltenden geringen Rohstoffnachfrage Mitte 2020 erneut an Wert und lag Anfang Dezember bei ca. 90 Rubel je Euro (WKO 12.2020). Das Realwachstum des Bruttoinlandsprodukts betrug im Jahr 2020 -3,1%. Im Vergleich dazu betrug der entsprechende Wert im Jahr 2019 2%. Die öffentliche Verschuldung betrug im Jahr 2020 17,8% des Bruttoinlandsprodukts (2019: 12,4%) (WIIW o.D.).
Moskau:
In Moskau herrscht an öffentlichen Orten eine Masken- und Handschuhpflicht. Das Tragen von Masken auf Straßen wird empfohlen. Kultur- und Bildungsveranstaltungen dürfen stattfinden, wenn maximal 50% der Zuschauerplätze belegt sind. Bürgern über 65 Jahren und chronisch Kranken wird Selbstisolierung empfohlen (CHRR 12.3.2021; vgl. WKO 9.3.2021, AA 15.2.2021). Empfohlen wird Fernarbeit für mindestens 30% der Mitarbeiter. Am Arbeitsplatz sind vorgeschriebene Hygienevorschriften (unter anderem Temperaturmessungen, Mund- und Handschutz, Desinfektionsmittel, Mindestabstand etc.) einzuhalten (WKO 9.3.2021). Gemäß dem Moskauer Bürgermeister verbessert sich die Pandemielage in Moskau. Ein Großteil der Einschränkungen wurde aufgehoben. Gastronomiebetriebe sind wieder geöffnet. Für Schüler höherer Klassen und Studierende findet nun wieder Präsenzunterricht statt (Mos.ru 7.3.2021; vgl. Mos.ru 8.3.2021, LM 8.2.2021, Russland Analysen 19.2.2021). In der Oblast [Gebiet] Moskau wurde die Mehrzahl der wegen Covid geltenden Einschränkungen zurückgenommen. Einzig Massenveranstaltungen bleiben fast ausnahmslos verboten (Russland Analysen 19.2.2021).
St. Petersburg:
Auch in St. Petersburg herrscht an öffentlichen Orten eine Masken- und Handschuhpflicht. Die für gastronomische Betriebe geltenden Beschränkungen der Öffnungszeiten wurden aufgehoben. Kulturveranstaltungen dürfen stattfinden, wenn maximal 75% der Zuschauerplätze belegt sind. Empfohlen wird Fernarbeit für mindestens 30% der Mitarbeiter. Für über 65-Jährige und chronisch Kranke sind Selbstisolierung und Fernarbeit verpflichtend (CHRR 12.3.2021; vgl. Gov.spb 5.3.2021, WKO 9.3.2021, Russland Analysen 8.2.2021).
Tschetschenien:
An öffentlichen Orten wird das Tragen von Masken empfohlen. Für über 65-Jährige und chronisch Kranke ist Selbstisolierung vorgesehen (CHRR 12.3.2021; vgl. Chechnya.gov 10.2.2021, Ria.ru 10.2.2021, KMS 10.2.2021). Bisher wurden mehr als 19.000 Personen geimpft (Chechnya.gov 26.2.2021). Mitarbeitern staatlich finanzierter Organisationen in Tschetschenien wurde mit Entlassung gedroht, sollten sie die Covid-Impfung verweigern. Bewohner in Tschetschenien berichten, ihnen seien Sanktionen angedroht worden, sollten sie sich nicht impfen lassen (CK 23.1.2021). Reisebeschränkungen wurden aufgehoben (Ria.ru 10.2.2021; vgl. Chechnya.gov 10.2.2021, KMS 10.2.2021).
Dagestan:
An öffentlichen Orten herrscht Maskenpflicht. Einstweilen dürfen keine Massenveranstaltungen stattfinden. Für über 65-Jährige und chronisch Kranke wird Selbstisolierung empfohlen (CHRR 12.3.2021). Es finden Massenimpfungen statt, und verwendet wird der Impfstoff Sputnik V (E-dag.ru 23.2.2021). Bisher wurden mehr als 18.000 Personen (2,4%) geimpft (E-dag.ru 12.3.2021).
Quellen:
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Politische Lage
Letzte Änderung: 26.05.2021
Die Russische Föderation hat ca. 143 Millionen Einwohner (GIZ 1.2021c; vgl. CIA 5.2.2021). Russland ist eine Präsidialdemokratie mit föderativem Staatsaufbau (GIZ 1.2021a; vgl. EASO 3.2017). Der Präsident verfügt über weitreichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik (GIZ 1.2021a; vgl. EASO 3.2017, AA 21.10.2020c). Er ernennt auf Vorschlag der Staatsduma den Vorsitzenden der Regierung, die stellvertretenden Vorsitzenden und die Minister, und entlässt sie (GIZ 1.2021a). Wladimir Putin ist im März 2018 bei der Präsidentschaftswahl mit 76,7% im Amt bestätigt worden (Standard.at 19.3.2018; vgl. FH 4.3.2020). Die Wahlbeteiligung lag der russischen Nachrichtenagentur TASS zufolge bei knapp 67% und erfüllte damit nicht ganz die Erwartungen der Präsidialadministration (Standard.at 19.3.2018). Putins wohl stärkster Widersacher Alexej Nawalny durfte nicht bei der Wahl kandidieren. Er war zuvor in einem von vielen als politisch motiviert eingestuften Prozess verurteilt worden und rief daraufhin zum Boykott der Abstimmung auf, um die Wahlbeteiligung zu drücken (Presse.at 19.3.2018; vgl. FH 3.3.2021). Oppositionelle Politiker und die Wahlbeobachtergruppe Golos hatten mehr als 2.400 Verstöße gezählt, darunter mehrfach abgegebene Stimmen und die Behinderung von Wahlbeobachtern. Wähler waren demnach auch massiv unter Druck gesetzt worden, an der Wahl teilzunehmen. Auch die Wahlkommission wies auf mutmaßliche Manipulationen hin (Tagesschau.de 19.3.2018). Wahlbetrug ist weit verbreitet, was insbesondere im Nordkaukasus deutlich wird (BTI 2020). Präsident Putin kann dem Ergebnis zufolge nach vielen Jahren an der Staatsspitze weitere sechs Jahre das Land führen (Tagesschau.de 19.3.2018; vgl. OSCE/ODIHR 18.3.2018).
Die Verfassung wurde per Referendum am 12.12.1993 mit 58% der Stimmen angenommen. Sie garantiert die Menschen- und Bürgerrechte. Das Prinzip der Gewaltenteilung ist zwar in der Verfassung verankert, jedoch verfügt der Präsident über eine Machtfülle, die ihn weitgehend unabhängig regieren lässt. Er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, trägt die Verantwortung für die Innen- und Außenpolitik und kann die Gesetzesentwürfe des Parlaments blockieren. Die Regierung ist dem Präsidenten untergeordnet, der den Premierminister mit Zustimmung der Staatsduma ernennt. Das Zweikammerparlament, bestehend aus Staatsduma und Föderationsrat, ist in seinem Einfluss stark beschränkt. Am 15. Januar 2020 hat Putin in seiner jährlichen Rede zur Lage der Nation eine Neuordnung des politischen Systems vorgeschlagen und eine Reihe von Verfassungsänderungen angekündigt. Dmitri Medwedjew hat den Rücktritt seiner Regierung erklärt. Sein Nachfolger ist der Leiter der russischen Steuerbehörde Michail Mischustin. In dem neuen Kabinett sind 15 von 31 Regierungsmitgliedern ausgewechselt worden (GIZ 1.2021a). Die Verfassungsänderungen ermöglichen Wladimir Putin, für zwei weitere Amtszeiten als Präsident zu kandidieren (GIZ 1.2021a; vgl. FH 3.3.2021), dies gilt aber nicht für weitere Präsidenten (FH 3.3.2021). Die Volksabstimmung über eine umfassend geänderte Verfassung fand am 1. Juli 2020 statt, nachdem sie aufgrund der Corona-Pandemie verschoben worden war. Bei einer Wahlbeteiligung von ca. 65% der Stimmberechtigten stimmten laut russischer Wahlkommission knapp 78% für und mehr als 21% gegen die Verfassungsänderungen. Neben der sogenannten Nullsetzung der bisherigen Amtszeiten des Präsidenten, durch die der amtierende Präsident 2024 und theoretisch auch 2030 zwei weitere Male kandidieren darf, wird das staatliche Selbstverständnis der Russischen Föderation in vielen Bereichen neu definiert. Der neue Verfassungstext beinhaltet deutlich sozialere und konservativere Inhalte als die Ursprungsverfassung aus dem Jahre 1993 (GIZ 1.2021a). Nach dem Referendum kam es zu Protesten von einigen hundert Personen in Moskau. Bei dieser nicht genehmigten Demonstration wurden 140 Personen festgenommen. Auch in St. Petersburg gab es Proteste (MDR 16.7.2020).
Der Föderationsrat ist als 'obere Parlamentskammer' das Verfassungsorgan, das die Föderationssubjekte auf föderaler Ebene vertritt. Er besteht aus 178 Abgeordneten (GIZ 1.2021a): Jedes Föderationssubjekt entsendet je einen Vertreter aus Exekutive und Legislative in den Föderationsrat. Die Staatsduma mit 450 Sitzen wird für fünf Jahre gewählt (GIZ 1.2021a; vgl. AA 21.10.2021c). Es gibt eine Fünfprozentklausel (GIZ 1.2021a).
Zu den wichtigen Parteien der Russischen Föderation gehören: die Regierungspartei Einiges Russland (Jedinaja Rossija) mit 1,9 Millionen Mitgliedern; Gerechtes Russland (Sprawedliwaja Rossija) mit 400.000 Mitgliedern; die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) mit 150.000 Mitgliedern, welche die Nachfolgepartei der früheren KP ist; die Liberaldemokratische Partei (LDPR) mit 185.000 Mitgliedern, die populistisch und nationalistisch ausgerichtet ist; die Wachstumspartei (Partija Rosta), die sich zum Neoliberalismus bekennt; Jabloko, eine demokratisch-liberale Partei mit 55.000 Mitgliedern; die Patrioten Russlands (Patrioty Rossii), links-zentristisch mit 85.000 Mitgliedern und die Partei der Volksfreiheit (PARNAS), eine demokratisch-liberale Partei mit 58.000 Mitgliedern (GIZ 1.2021a). Die Zusammensetzung der Staatsduma nach Parteimitgliedschaft gliedert sich wie folgt: Einiges Russland (343 Sitze), Kommunistische Partei Russlands (42 Sitze), Liberaldemokratische Partei Russlands (39 Sitze), Gerechtes Russland (23 Sitze), Vaterland-Partei (1 Sitz), Bürgerplattform (1 Sitz) (RIA Nowosti 23.9.2016; vgl. Global Security 21.9.2016, FH 3.3.2021). Die sogenannte Systemopposition stellt die etablierten Machtverhältnisse nicht in Frage und übt nur moderate Kritik am Kreml (SWP 11.2018). Die nächste Duma-Wahl steht im Herbst 2021 an (Standard.at 1.1.2021).
Russland ist eine Föderation, die aus 85 Föderationssubjekten (einschließlich der international nicht anerkannten Annexion der Republik Krim und der Stadt föderalen Ranges Sewastopol) mit unterschiedlichem Autonomiegrad besteht. Die Föderationssubjekte (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Gebiete, Regionen und Föderale Städte) verfügen über jeweils eine eigene Legislative und Exekutive (GIZ 1.2021a; vgl. AA 21.10.2020c). Die Gouverneure der Föderationssubjekte werden auf Vorschlag der jeweils stärksten Fraktion der regionalen Parlamente vom Staatspräsidenten ernannt. Dabei wählt der Präsident aus einer Liste dreier vorgeschlagener Kandidaten den Gouverneur aus (GIZ 1.2021a).
Es gibt acht Föderationskreise (Nordwestrussland, Zentralrussland, Südrussland, Nordkaukasus, Wolga, Ural, Sibirien, Ferner Osten), denen jeweils ein Bevollmächtigter des Präsidenten vorsteht. Der Staatsrat der Gouverneure tagt unter Leitung des Präsidenten und gibt der Exekutive Empfehlungen zu aktuellen politischen Fragen und zu Gesetzesprojekten. Nach der Eingliederung der Republik Krim und der Stadt Sewastopol in die Russische Föderation wurde am 21.3.2014 der neunte Föderationskreis Krim gegründet. Die konsequente Rezentralisierung der Staatsverwaltung führt seit 2000 zu politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit der Regionen vom Zentrum. Diese Tendenzen wurden bei der Abschaffung der Direktwahl der Gouverneure in den Regionen und der erneuten Unterordnung der regionalen und kommunalen Machtorgane unter das föderale Zentrum („exekutive Machtvertikale“) deutlich (GIZ 1.2021a).
Bei den in einigen Regionen stattgefundenen Regionalwahlen am 8.9.2019 hat die Regierungspartei Einiges Russland laut Angaben der Wahlleitung in den meisten Regionen ihre Mehrheit verteidigt. Im umkämpften Moskauer Stadtrat verlor sie allerdings viele Mandate (Zeit Online 9.9.2019). Hier stellt die Partei nur noch 25 von 45 Vertretern, zuvor waren es 38. Die Kommunisten, die bisher fünf Stadträte stellten, bekommen 13 Sitze. Die liberale Jabloko-Partei bekommt vier und die linksgerichtete Partei Gerechtes Russland drei Sitze (ORF 18.9.2019). Die beiden letzten Parteien waren bisher nicht im Moskauer Stadtrat vertreten. Zuvor sind zahlreiche Oppositionskandidaten von der Wahl ausgeschlossen worden, was zu den größten Protesten seit Jahren geführt hat (Zeit Online 9.9.2019), bei denen mehr als 1.000 Demonstranten festgenommen wurden (Kleine Zeitung 28.7.2019). Viele von den Oppositionskandidaten haben zu einer 'smarten Abstimmung' aufgerufen. Die Bürgersollten Jeden wählen – nur nicht die Kandidaten der Regierungspartei. Bei den für die russische Regierung besonders wichtigen Gouverneurswahlen gewannen die Kandidaten der Regierungspartei überall (Zeit Online 9.9.2019).
Neben den bis Juli 2021 verlängerten wirtschaftlichen Sanktionen wegen des andauernden Ukraine-Konfliktes (Presse.com 10.12.2020) haben sich die EU-Außenminister wegen der Inhaftierung des Kremlkritikers Alexej Nawalny auf neue Russland-Sanktionen geeinigt. Die Strafmaßnahmen umfassen Vermögenssperren und EU-Einreiseverbote gegen Verantwortliche für die Inhaftierung Nawalnys (Cicero 22.2.2021).
Quellen:
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Tschetschenien
Letzte Änderung: 26.05.2021
Die Einwohnerzahl Tschetscheniens liegt bei ca. 1,5 Millionen. Laut Aussagen des Republikoberhauptes Ramsan Kadyrow sollen rund 600.000 Tschetschenen außerhalb der Region leben – die Hälfte davon in der Russischen Föderation, die andere Hälfte im Ausland. Experten zufolge hat ein Teil von ihnenTschetschenien während der Kriege nach dem Zerfall der Sowjetunion verlassen, beim anderen Teil handelt es sich um Siedlungsgebiete außerhalb Tschetscheniens. Diese entstanden bereits vor über einem Jahrhundert, teilweise durch Migration aus dem Russischen in das Osmanische Reich, und zwar über Anatolien bis in den arabischen Raum. Was die Anzahl von Tschetschenen in anderen russischen Landesteilen anbelangt, so ist es aufgrund der öffentlichen Datenlage schwierig, verlässliche Aussagen zu treffen (ÖB Moskau 6.2020).
In Tschetschenien gilt Ramsan Kadyrow als Garant Moskaus für Stabilität. Mit Duldung der russischen Staatsführung hat er in der Republik ein autoritäres Herrschaftssystem geschaffen, das vollkommen auf seine eigene Person ausgerichtet ist und weitgehend außerhalb des föderalen Rechtsrahmens funktioniert (ÖB Moskau 6.2020; vgl. AA 2.2.2021, FH 3.3.2021). Fraglich bleibt auch die föderale Kontrolle über die tschetschenischen Sicherheitskräfte, deren faktische Loyalität vorrangig dem Oberhaupt der Republik gilt. Ramsan Kadyrow wurde bei den Wahlen vom 18. September 2016 laut offiziellen Angaben bei hoher Wahlbeteiligung mit überwältigender Mehrheit für eine weitere Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Unabhängige Medien berichteten über Unregelmäßigkeiten bei den Wahlen, in deren Vorfeld Human Rights Watch über massive Druckausübung auf Kritiker des derzeitigen Machthabers berichtet hatte. Das tschetschenische Oberhaupt bekundet immer wieder seine absolute Loyalität gegenüber dem Kreml (ÖB Moskau 6.2020). In Tschetschenien regiert Kadyrow unangefochten autoritär. Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen politische Gegner, wird rigoros vorgegangen (ÖB Moskau 6.2020; vgl. AA 2.2.2021). Um die Kontrolle über die Republik zu behalten, wendet Kadyrow unterschiedliche Formen von Gewalt an, wie z.B. Entführungen, Folter und außergerichtliche Tötungen (FH 3.3.2021; vgl. AA 2.2.2021). Dies kann manchmal auch außerhalb Russlands stattfinden. Kadyrow wird verdächtigt, die Ermordung von unliebsamen Personen, die ins Ausland geflohen sind, angeordnet zu haben (FH 3.3.2021).
Während der mittlerweile über zehn Jahre andauernden Herrschaft des amtierenden Republikführers Ramsan Kadyrow gestaltete sich Tschetscheniens Verhältnis zur Russischen Föderation ambivalent. Einerseits ist Kadyrow bemüht, die Zugehörigkeit der Republik zu Russland mit Nachdruck zu bekunden, tschetschenischen Nationalismus mit russischem Patriotismus zu verbinden, Russlands Präsidenten in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny als Staatsikone auszustellen und sich als „Fußsoldat Putins“ zu präsentieren. Andererseits hat er das Föderationssubjekt Tschetschenien so weit in einen Privatstaat verwandelt, dass in der Umgebung des russischen Präsidenten die Frage gestellt wird, inwieweit sich die von Wladimir Putin ausgebaute 'föderale Machtvertikale' dorthin erstreckt. Zu Kadyrows Eigenmächtigkeit gehört auch eine Außenpolitik, die sich vor allem an den Mittleren Osten und die gesamte islamische Welt richtet. Kein anderer regionaler Führer beansprucht eine vergleichbare, über sein eigenes Verwaltungsgebiet und die Grenzen Russlands hinausreichende Rolle. Kadyrow inszeniert Tschetschenien als Anwalt eines russischen Vielvölker-Zusammenhalts, ist aber längst zum 'inneren Ausland' Russlands geworden. Deutlichster Ausdruck dieser Entwicklung ist ein eigener Rechtszustand, in dem islamische und gewohnheitsrechtliche Regelungssysteme sowie die Willkür des Republikführers in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands geraten (SWP 3.2018).
Ein Abkommen von September 2018 über die Abtretung von umstrittenem Territorium von Inguschetien an Tschetschenien hatte politische Unruhen in Inguschetien zur Folge (ÖB Moskau 12.2019). Der Konflikt um die Grenzziehung flammt immer wieder auf. Im März 2019 wurden Proteste in Inguschetien gewaltsam aufgelöst, wobei manche Teilnehmer körperlich gegen die Polizei Widerstand leisteten. 33 Personen wurden festgenommen (HRW 14.1.2020). Die Proteste hatten außerdem den Rücktrit