Entscheidungsdatum
16.08.2021Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W268 2242854-1/14E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin MMag. Iris Gachowetz als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 22.04.2021, Zl. XXXX , zu Recht:
A)
I. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt VIII. des angefochtenen Bescheides wird mit der Maßgabe stattgegeben, dass die Dauer des Einreiseverbots auf zehn Jahre herabgesetzt wird.
II. Im Übrigen wird die Beschwerde als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger der Russischen Föderation, reiste erstmals im Jahr 2004 mit seiner Familie in das Bundesgebiet ein und stellte diese einen Antrag auf internationalen Schutz. Mit Bescheid des Bundesasylamts vom 26.04.2004, Zl. 04 02.617-BAG, wurde ihm der Status des Asylberechtigten zuerkannt.
2. Ende 2015 wurde dem Vater des Beschwerdeführers der Asylstatus aberkannt, ein Einreiseverbot über ihn verhängt und seine Abschiebung veranlasst, woraufhin die Mutter des Beschwerdeführers einen Antrag auf freiwillige Rückkehrhilfe stellte. Mit Schreiben des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 05.02.2016 wurde die Familie darüber informiert, dass eine Rückkehr die Aberkennung ihres Asylstatus zur Folge hat.
3. Der Beschwerdeführer reiste mit seiner Familie am 08.03.2016 freiwillig in die Russische Föderation zurück.
4. Mit Bescheid des Bundesamtes vom 11.03.2016, Zl. 740261708/160180335, wurde dem Beschwerdeführer der Asylstatus aberkannt, der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt, ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt, eine Rückkehrentscheidung erlassen und die Zulässigkeit der Abschiebung in die Russische Föderation festgestellt. Der Bescheid erwuchs am 26.03.2016 in Rechtskraft.
5. Am 03.12.2020 reiste der Beschwerdeführer erneut in das Bundesgebiet ein und stellte am 04.12.2020 gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Am selben Tag wurde der Beschwerdeführer polizeilich zu seinen Fluchtgründen erstbefragt. Hierbei verwies er im Wesentlichen auf sein Heimatgefühl zu Österreich aufgrund der hier verbrachten Kindheit sowie die allgemeine Sicherheitslage in der Russischen Föderation betreffend Korruption und willkürlichen Festnahmen.
6. Am 22.03.2021 wurde der Beschwerdeführer durch das Bundesamt niederschriftlich zu seinen Fluchtgründen einvernommen.
Hierbei führte dieser zusammengefasst an, dreimal von unbekannten Männern mitgenommen worden zu sein. Erstmals im Frühling 2018, im Alter von 17 Jahren, wobei ihm Stromschläge versetzt worden seien, um ihn zu einem Geständnis bezüglich Drogen oder Extremismus zu bringen. Er sei für drei Wochen angehalten worden, bis ihn sein Vater freigekauft habe. Das zweite Mal im März 2019, im Alter von 18 Jahren, wobei er sofort wieder entlassen worden sei, da ein guter Freund von ihm dort gearbeitet und sich für ihn eingesetzt habe. Das dritte und letzte Mal sei im Sommer 2020 gewesen, als er nach seinem Vater gefragt worden sei und man ihm gesagt hätte, wenn der Vater nicht zu Hause sei, müsse er – der Beschwerdeführer – mitkommen. Als sie ankamen, habe man ihn mit einem Plastikstock geschlagen und anschließend habe man ihm Stromschläge verpasst. Als er nach einem Monat entlassen worden sei, habe er seine Ausreise geplant.
Im Falle seiner Rückkehr befürchte er, dass er keine Perspektive und Zukunft habe und er wieder versuchen müsse, Freunde zu finden.
7. Mit Schreiben des LVT vom 29.03.2021 wurde dem Bundesamt zur Kenntnis gebracht, dass der Beschwerdeführer in sozialen Medien bedenkliche Texte verbreite.
8. Am 21.04.2021 fand eine weitere niederschriftliche Einvernahme des Beschwerdeführers vor dem Bundesamt statt, in der er zur Verbreitung radikaler Texte bzw. Videos in den sozialen Medien befragt wurde. Im Anschluss an die Einvernahme wurde das Handy des Beschwerdeführers in dessen Gegenwart und mit seinem Einverständnis gesichtet. Dabei wurden drei bedenkliche Dateien (Nasheeds) sowie ein homosexuellenfeindliches Video wahrgenommen.
9. Am 22.04.2021 übermittelte der Beschwerdeführer ein E-Mail, in dem er seine in der Einvernahme getätigten Aussagen bekräftigt.
10. Mit im Spruch genannten Bescheid des Bundesamts vom 22.04.2021 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Russische Föderation gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ferner wurde dem Beschwerdeführer ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.), gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung in die Russische Föderation gemäß § 46 zulässig ist (Spruchpunkt V.). Einer Beschwerde gegen diese Entscheidung wurde gemäß § 18 Abs. 1 Z 2 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt VI.) und festgestellt, dass gemäß § 55 Abs. 1a FPG keine Frist für die freiwillige Ausreise besteht (Spruchpunkt VII.). Zudem wurde gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 2 Z 6 und Abs. 3 Z 9 FPG gegen den Beschwerdeführer ein unbefristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VIII.).
Begründet wurde die Entscheidung im Wesentlichen mit der gänzlichen Unglaubwürdigkeit des Fluchtvorbringens aufgrund des erheblich gesteigerten und vollkommen abweichenden Fluchtvorbringens zwischen der Erstbefragung und der Einvernahme durch das Bundesamt sowie dem Umstand, dass seine Geschwister sich unverfolgt im Heimatort aufhalten. Die Umstände seiner Freilassungen nach den angeblichen Entführungen sowie die Gründe, weshalb die Familie bei einem weiteren Aufenthalt des Beschwerdeführers gefährdet sein solle, seien nicht nachvollziehbar. Hinsichtlich des behaupteten Übergriffs durch Leibwächter des Präsidentensohnes unterstrich das Bundesamt, dass sich der Beschwerdeführer danach rund zweieinhalb Jahre ohne weitere Konsequenzen im Heimatland aufgehalten habe; hinsichtlich des behaupteten Mobbings aufgrund seines Auftretens, dass dieses mangels Eingriffsintensivität keine Schutzrelevanz begründen würde und aus diesem Grund auch nicht geprüft werden müsse, ob das Vorbringen der Faktenlage entspricht.
Darüber hinaus drohe dem Beschwerdeführer bei einer Rückkehr laut Länderberichten keinerlei Gefährdung seiner Person und wäre er unter Hinweis auf sein Alter, seine Bildung und Erwerbsfähigkeit sowie familiärer und sozialer Vernetzung in der Lage, sich erneut eine Existenz aufzubauen.
Die Erlassung eines unbefristeten Einreiseverbotes wurde auf die von ihm ausgehende schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit aufgrund des Besitzes jihadistischer Videos und der Verbreitung eines „sittenwächterischen“ Textes, in dem bi-ethnische Beziehungen bei Gewaltandrohung aufs Schärfste verurteilt werden und des sich daraus ergebenden Persönlichkeitsbildes des Beschwerdeführers gestützt.
11. Gegen diesen Bescheid richtet sich die vom Beschwerdeführer fristgerecht erhobene Beschwerde vom 25.05.2021, in der im Wesentlichen auf ein mangelhaftes Ermittlungsverfahren verwiesen wurde, insbesondere aufgrund nicht hinreichender Prüfung, ob der Beschwerdeführer eine westliche Gesinnung habe bzw. einen westlichen Lebensstil pflege. Der Beschwerdeführer gehöre zwar formal dem Islam an, folge jedoch nicht den islamischen Geboten. Auch seien weder Ermittlungen zu den Haftbedingungen in der Russischen Föderation bzw. in Tschetschenien noch zu den Familienverhältnissen bzw. der Selbsterhaltung des Beschwerdeführers unternommen worden und sei das Bundesamt in der angefochtenen Entscheidung nicht auf die psychischen Belastungen des Beschwerdeführers eingegangen. Zudem sei fälschlicherweise und entgegen der Aussagen des Beschwerdeführers festgestellt worden, dass (auch) sein Vater in Tschetschenien lebe und seien hinsichtlich der Situation des Bruders keine näheren Fragen gestellt worden. Hinsichtlich des Einreiseverbotes fehle es an einer nachvollziehbaren Gefährdungsprognose. Weiters seien die Länderfeststellungen unvollständig und teilweise unrichtig. Die relevanten eingebrachten Informationen seien vom Bundesamt nicht beweiswürdigend beachtet worden (Verweis auf Bericht vom 11.03.2019 „Europarat prangert Folter in Tschetschenien an“). Weiters wird eine mangelhafte Beweiswürdigung behauptet, die sich insbesondere auf Widersprüche bzw. einer Steigerung zwischen der Erstbefragung und der niederschriftlichen Einvernahme beziehe, wobei die gesetzlichen Vorgaben bzw. die ständige Rechtsprechung hierzu sowie die psychische Belastung des Beschwerdeführers außer Acht gelassen worden sei. Der BF werde im Heimatland wegen seiner (unterstellten) politischen Einstellung und seines Aufwachsens im westlichen Ausland verfolgt und stehe ihm keine innerstaatliche Fluchtalternative offen, da sich die Verfolgung auf das gesamte Staatsgebiet beziehe und eine Niederlassung in einem anderen Landesteil aufgrund der Sicherheitslage und der individuellen Situation des Beschwerdeführers nicht zumutbar sei. Aufgrund der ihm im Herkunftsland drohenden Folter, sei ihm zumindest subsidiärer Schutz zu gewähren gewesen und verletze eine Rückkehrentscheidung aufgrund seines insgesamt mehr als 13-jährigen Aufenthalts und seiner Integration und Lebensmittelpunkt in Österreich seine Rechte nach Art 8 EMRK. Hinsichtlich des Einreiseverbotes habe die Behörde eine Beurteilung des Persönlichkeitsbildes des Beschwerdeführers unterlassen, eine von ihm ausgehende Gefährdung nicht ausreichend geprüft sowie die persönlichen Umstände des Beschwerdeführers nicht berücksichtigt und sei ein unbefristetes Einreiseverbot unverhältnismäßig.
Es wurde beantragt, eine mündliche Verhandlung durchzuführen, den angefochtenen Bescheid zu beheben und dem Beschwerdeführer den Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, in eventu dem Beschwerdeführer den Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, in eventu die ausgesprochene Rückkehrentscheidung für auf Dauer unzulässig zu erklären und dem Beschwerdeführer einen Aufenthaltstitel aus Gründen des Art 8 EMRK zu erteilen, in eventu eine Abschiebung für unzulässig erklären und der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen bzw. Spruchpunkt VI. ersatzlos zu beheben, in eventu das Einreiseverbot auf eine angemessene Dauer zu reduzieren, in eventu den angefochtenen Bescheid zu beheben und zur Verfahrensergänzung und Erlassung einer neuen Entscheidung an die erste Instanz zurückzuverweisen.
Der Beschwerde beigelegt wurden eine Vollmacht, eine Stellungnahme der Kinder- & Jugendanwaltschaft Salzburg (kija), eine Korrespondenz zu gemeinnütziger Arbeit für AsylwerberInnen, eine Anmeldung zur Psychotherapie sowie elf Unterstützungsschreiben.
12. Mit Schriftsatz vom 26.05.2021 (eingelangt am 31. Mai 2021) übermittelte das Bundesamt dem Bundesverwaltungsgericht die Beschwerdevorlage und äußerte sich zum Beschwerdeschriftsatz im Wesentlichen wie folgt:
Die belangte Behörde gehe davon aus, dass der jüngere Bruder bei Wahrheitsunterstellung des Fluchtvorbringens ebenfalls gefährdet wäre, er sich jedoch offensichtlich unverfolgt in der Russischen Föderation aufhalte. Das angeblich junge Aussehen desselben sei für eine drohende Verfolgung gleichgültig, da davon auszugehen sei, dass den Behörden das wahre Alter bekannt sei. Eine nähere Auseinandersetzung mit den Haftbedingungen habe aufgrund der umfassend begründeten Unglaubwürdigkeit des Vorbringens entfallen können. Der Bescheid enthalte eine nachvollziehbare Würdigung zum Einreiseverbot und sei eine strafgerichtliche Verurteilung aufgrund des erfüllten Tatbestandes des § 53 Abs. 3 Z 9 FPG keine Voraussetzung für die Erlassung eines solchen. Den herangezogenen Beweisen sei nicht substantiell entgegengetreten worden und habe der Beschwerdeführer - entgegen dem Beschwerdevorbringen - keine inhaltliche Stellungnahme zu den landeskundlichen Feststellungen erstattet oder Beweise in Vorlage gebracht. Die in der Beschwerde vorgelegten Beweismittel bzw. Schreiben seien nach Erlassung des Bescheides datiert und hätte der Beschwerdeführer bereits im erstinstanzlichen Verfahren die Möglichkeit gehabt, solche vorzulegen bzw. sich um die Aufnahme einer ehrenamtlichen Tätigkeit zu bemühen. Letztlich verweist das Bundesamt auf aktuelle Ermittlungen gegen den Beschwerdeführer aufgrund zweier Körperverletzungsdelikte, welche in der 20. Kalenderwoche in Klagenfurt stattfanden, und die sich daraus ergebende Gewaltbereitschaft. Seine neuerlichen Bewegungen in Klagenfurt seien schließlich auch ein Indiz für einen erneuten Anschluss an sein altes Umfeld, das ihn nach eigenen Angaben radikalisiert habe.
13. Mit „Information im Beschwerdeverfahren“ vom 28.05.2021 übermittelte das Bundesamt einen Amtsvermerk der Landespolizeidirektion Kärnten betreffend einen Körperverletzungsvorfall vom 23.05.2021 in Klagenfurt, in welchem der Beschwerdeführer als Verdächtiger geführt wird. Am 31.05.2021 legte das Bundesamt zwei Beschuldigteneinvernahmen des Beschwerdeführers vom 29.05.2021 durch die Landespolizeidirektion Salzburg betreffend des Verdachtes der Begehung zweier Körperverletzungen am 22. und 23.05.2021 vor.
14. Mit Urteil des Landesgerichts Klagenfurt vom 25.05.2021, rechtskräftig am 29.05.2021, wurde der Beschwerdeführer gemäß §§ 107 Abs. 1, 15 iVm 105 Abs. 1, 105 Abs. 1 sowie 83 Abs. 1 StGB zu einer dreimonatigen Freiheitsstrafe bedingt verurteilt.
15. Mit Schriftsatz vom 02.06.2021 übermittelte das Bundesamt einen Einschätzungsbericht des LVT Salzburg vom 31.05.2021 den Beschwerdeführer betreffend.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers
Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation und trägt die im Spruch ersichtlichen Personalien. Er gehört der tschetschenischen Volksgruppe an und bekennt sich zum muslimischen Glauben. Seine Identität steht fest.
Der Beschwerdeführer ist ledig und hat keine Kinder.
Der Beschwerdeführer hielt sich bereits von 2004 bis 2016 als Asylberechtigter in Österreich auf und ist in Kärnten acht Jahre zur Schule gegangen. Nach seiner freiwilligen Ausreise im März 2016 wurde ihm der Asylstatus aberkannt.
Anschließend hielt sich der Beschwerdeführer vier Jahre in seinem Heimatland auf, ehe er im Dezember 2020 erneut ausreiste. Zunächst legal über die Ukraine und von dort schlepperunterstützt nach Österreich, wo er am 04.12.2020 einen Antrag auf internationalen Schutz stellte.
In der Russischen Föderation hat der Beschwerdeführer für einige Monate die Schule besucht und mit seiner Familie in einer Mietwohnung in Grosny gelebt. Er weist keine formelle Berufsausbildung, jedoch Berufserfahrung im Einzelhandel und als Sporttrainer auf.
Der Beschwerdeführer verfügt über sehr gute Kenntnisse der deutschen Sprache und Kenntnisse der tschetschenischen und russischen Sprache.
In seinem Heimatland leben die Mutter, die drei Geschwister sowie zahlreiche Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen des Beschwerdeführers. Der Aufenthalt des Vaters steht nicht fest. Mit seiner Mutter und seinen Geschwistern steht der Beschwerdeführer regelmäßig, mit seinem Vater unregelmäßig, in Kontakt.
In Österreich lebt ein Cousin des Beschwerdeführers väterlicherseits, mit dem er jedoch nicht in Kontakt steht. Der Beschwerdeführer verfügt über keine substantiellen sozialen Kontakte in Österreich.
Der Beschwerdeführer ging in Österreich keiner beruflichen oder ehrenamtlichen Tätigkeit nach und ist kein Mitglied in einem Verein. Der Beschwerdeführer wohnt in Salzburg, ist nicht selbsterhaltungsfähig und bezieht Leistungen aus der Grundversorgung. Eine berücksichtigungswürdigende Integration in die österreichische Gesellschaft liegt nicht vor.
Der Beschwerdeführer hat auf der Social-Media-Plattform TikTok einen verfassungsrechtlich bedenklichen, „sittenwächterischen“ Beitrag unter dem Usernamen „ XXXX “ öffentlich zugänglich verbreitet, in welchem bi-ethnische Beziehungen aufs Schärfste verurteilt und mit Gewalt bedroht werden. Auf dem Mobiltelefon des Beschwerdeführers wurden zudem bedenkliche Videos, insbesondere drei Nasheeds mit radikalem, kriegsverherrlichendem Inhalt, wovon er zumindest eines über WhatsApp weitergeleitet hat, und ein LGBTQ-feindliches Video gesichtet.
Der Beschwerdeführer leidet an keinen schwerwiegenden Krankheiten und ist arbeitsfähig.
Der Beschwerdeführer wurde im Bundesgebiet bis dato einmal strafgerichtlich verurteilt.
Er wurde für schuldig erkannt,
I.) Nachgenannte gefährlich bedroht zu haben, um sie in Furcht und Unruhe zu versetzen, und zwar
1.) XXXX mit zumindest einer Verletzung am Körper
a.) am 07.02.2016 nach der durch Punkt II.) begangenen Körperverletzung durch die Äußerung: „Halt dich warm, ich werde jetzt meine Leute holen!“,
b.) am 10.02.2016 mittels Sprachnachricht durch die Äußerungen: „Du Missgeburt? Ich habe dir gesagt, dass das noch nicht alles war! Ich werde dich verfolgen bis du stirbst!... Ich habe dir gesagt, dass ich dich nicht in Ruhe lassen werde, jetzt habe ich deine Nummer ganz schön auf meinem Handy und die haben 18 Tschetschenen! Ich habe dir gesagt, dass das nicht alles war und glaube mir, ich werde dich töten…. Ich werde dir dein Leben zur Hölle machen! Ich werde noch heute deine Nummer an weitere Tschetschenen leiten und du wirst dann sehen, wer vor dir steht! Da werden keine Menschen stehen, es werden Tiere vor dir stehen, die dich auffressen werden!... “
2.) XXXX durch nachgenannte Äußerungen zu Handlungen genötigt bzw. zu nötigen versucht, und zwar
a.) am 21.02.2016: „Wenn du die Aussage mit dem Knutschfleck nicht zurücknimmst, dann mache ich dir das Leben zur Hölle und werde dich verfolgen, du wirst schon sehen!“, sohin mit zumindest einer Verletzung am Körper, zur Unterlassung der Aussage, er habe XXXX gegen ihren Willen zwei Knutschflecke am Hals verpasst, wobei es beim Versuch blieb;
b.) am 10.02.2016 durch die Äußerung: „Wenn du jetzt versuchst, dem XXXX das Handy wegzunehmen, werfe ich es auf den Boden und mache es kaputt!“, sohin zumindest mit einer Verletzung am Vermögen, zur Abstandnahme der Wiedererlangung ihres Handys genötigt;
II.) am 07.02.2016 XXXX durch Versetzen zweier Faustschläge ins Gesicht vorsätzlich am Körper verletzt, wodurch der Genannte eine blutende Wunde im Mundbereich sowie eine Schwellung im Bereich der rechten Gesichtshälfte erlitt;
Als erschwerend wurde das Zusammentreffen von fünf Vergehen befunden, als mildernd das tadellose Vorleben, der Umstand, dass es teilweise beim Versuch blieb, die großteils geständige Verantwortung und das sehr lange Zurückliegen der Taten.
Mit Urteil des Landesgerichts Klagenfurt vom 25.05.2021 wurde der Beschwerdeführer aufgrund dieser Straftaten gemäß §§ 107 Abs. 1, 15 iVm 105 Abs. 1, 105 Abs. 1 sowie 83 Abs. 1 StGB zu einer dreimonatigen Freiheitsstrafe bedingt verurteilt.
Zudem wird der Beschwerdeführer aktuell in zwei Körperverletzungsverfahren, hinsichtlich sich am 22. und 23. Mai 2021 in Kärnten zugetragenen Vorfällen, als Beschuldigter geführt. Hinsichtlich des Vorfalls vom 22. Mai wird der Beschwerdeführer beschuldigt, einer männlichen Person mehrere Schläge versetzt zu haben, wodurch diese ein Schädelhirntrauma sowie mehrere Prellungen erlitt; hinsichtlich des Vorfalles vom 23. Mai wird der Beschwerdeführer beschuldigt, einer männlichen Person ins Gesicht geschlagen zu haben, wodurch diese zu Sturz kam und durch den Aufschlag mit dem Kopf an einem Geländer eine Rissquetschwunde erlitt und bewusstlos wurde, wobei der Beschwerdeführer von zwei Augenzeuginnen belastet wird. Der Beschwerdeführer streitet beide Vorfälle ab.
1.2. Zu den Fluchtgründen / Zur Situation im Falle einer Rückkehr:
Der Beschwerdeführer konnte nicht glaubhaft vorbringen, dass er in seinem Herkunftsstaat unmittelbaren Bedrohungen oder konkreten Gefahren seiner körperlichen Unversehrtheit betreffend ausgesetzt war. In seinem Herkunftsstaat drohen ihm mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit keine physischen oder psychischen Gewalthandlungen durch staatliche Behörden oder nichtstaatliche Personen.
Nicht festgestellt wird, dass der Beschwerdeführer eine westliche Lebenseinstellung verinnerlicht hat.
Nicht festgestellt wird, dass eine Zurückweisung, Zurück- oder Abschiebung des Beschwerdeführers in die Russische Föderation eine reale Gefahr einer Verletzung von Art 2 EMRK, Art 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für den Beschwerdeführer als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts mit sich bringen würde.
1.3. Zur allgemeinen Situation betreffend COVID-19:
COVID-19 ist eine durch das Corona-Virus SARS-CoV-2 verursachte Viruserkrankung, die erstmals im Jahr 2019 in Wuhan/China festgestellt wurde und sich seither weltweit verbreitet.
Nach dem aktuellen Stand verläuft die Viruserkrankung bei ca. 80% der Betroffenen leicht und bei ca. 15% der Betroffenen schwerer, wenn auch nicht lebensbedrohlich. Bei ca. 5% der Betroffenen verläuft die Viruserkrankung derart schwer, dass Lebensgefahr gegeben ist und intensivmedizinische Behandlungsmaßnahmen notwendig sind. Diese sehr schweren Krankheitsverläufe treten am häufigsten in den Risikogruppen der älteren Personen und der Personen mit Vorerkrankungen (wie z.B. Diabetes, Herzkrankheiten und Bluthochdruck) auf.
Mit Stichtag vom 22.06.2021 werden von der World Health Organization (WHO) in der Russischen Föderation 5.334.204 bestätigte Fälle von mit dem Corona-Virus infizierten Personen nachgewiesen, wobei 129.801 diesbezüglicher Todesfälle bestätigt wurden. Eine von der „Johns Hopkins University“ veröffentliche Statistik verzeichnet in der Russischen Föderation 5.272.328 bestätigte Fälle sowie 127.641 damit in Zusammenhang stehender Todesfälle.
1.4. Zur relevanten Situation im Herkunftsland:
Auszug aus der Länderinformation der Staatendokumentation zur Russischen Föderation, Version 3 (letzte Änderung vom 26.05.2021):
„Covid-19-Situation
Letzte Änderung: 18.05.2021
Russland ist von Covid-19 landesweit stark betroffen. Regionale Schwerpunkte sind Moskau und St. Petersburg (AA 15.2.2021). Aktuelle und detaillierte Zahlen bietet unter anderem die Weltgesundheitsorganisation WHO (https://covid19.who.int/region/euro/country/ru). Die Regionalbehörden in der Russischen Föderation sind für Maßnahmen zur Eindämmung von Covid-19 zuständig, beispielsweise betreffend Mobilitätseinschränkungen, medizinische Versorgung und soziale Maßnahmen (RAD 15.2.2021; vgl. CHRR 12.3.2021). Die Maßnahmen der Regionen sind unterschiedlich, richten sich nach der epidemiologischen Situation in der jeweiligen Region und ändern sich laufend (WKO 9.3.2021; vgl. AA 15.2.2021). Es herrscht eine soziale Distanzierungspflicht für öffentliche Plätze und öffentliche Verkehrsmittel. Der verpflichtende Mindestabstand zwischen Personen beträgt 1,5 Meter (WKO 9.3.2021).
Die regierungseigene Covid-19-Homepage gibt Auskunft über die vom russischen Gesundheitsministerium empfohlenen Covid-19-Medikamente, nämlich Favipiravir, Hydroxychloroquin, Mefloquin, Azithromycin, Lopinavir/Ritonavir, rekombinantes Interferon-beta-1b und Interferon-alpha, Umifenovir, Tocilizumab, Sarilumab, Olokizumab, Canakinumab, Baricitinib und Tofacitinib. Der in Moskau entwickelte Covid-19-Krankenhausbehandlungsstandard umfasst folgende vier Komponenten: Antivirale Therapie, Antithrombose-Medikation, Sauerstoffmangelbehebung und Prävention/Behandlung von Komplikationen. Auf Anordnung des Arztes wird Patienten ein Pulsoxymeter ausgehändigt (Gerät zur Messung des Blutsauerstoffsättigungsgrades). Die medizinische Covid-Versorgung erfolgt für die Bevölkerung kostenlos (CHRR o.D.a).
Folgende Impfstoffe wurden in der Russischen Föderation entwickelt: Gam-COVID-Vac ('Sputnik V'), EpiVacCorona, CoviVac und Ad5-nCoV (CHRR o.D.b). Mittlerweile sind in der Russischen Föderation drei heimische Impfstoffe zugelassen (Sputnik V, EpiVacCorona und CoviVac). Groß angelegte klinische Studien gibt es bisher nicht (DS 20.2.2021; vgl. RFE/RL 21.2.2021). Impfungen erfolgen kostenlos (Mos.ru o.D.). In Moskau wurden bisher mehr als 700.000 Personen geimpft (Mos.ru 8.3.2021). Obwohl Russland als weltweit erstes Land seinen Covid-Impfstoff Sputnik V registrierte, haben die Impfungen effizient gerade erst begonnen (DS 12.2.2021). Bisher wurden in der Russischen Föderation in etwa 2,2 Millionen Personen (ca. 1,5% der Bevölkerung) geimpft bzw. erhielten zumindest eine der zwei Teilimpfungen (RFE/RL 21.2.2021).
Für die Einreise nach Russland wird grundsätzlich ein COVID-19-Testergebnis (PCR) benötigt. Russische Staatsbürger müssen bei der Grenzkontrolle keinen COVID-Test vorlegen, dieser muss jedoch spätestens drei Tage nach der Einreise nachgeholt werden. Russische Staatsbürger, die nach der Einreise ein positives Testergebnis erhalten, müssen sich in Quarantäne begeben. Die Ausreise aus Russland ist bis auf unbestimmte Zeit eingeschränkt und nur in bestimmten Ausnahmefällen möglich. Die internationalen Flugverbindungen wurden teilweise wieder aufgenommen. Direktflüge zwischen Österreich und Russland werden derzeit ein- bis zweimal wöchentlich von Austrian Airlines und Aeroflot angeboten. Russische Inlandsflüge wurden während der ganzen Pandemiezeit aufrecht erhalten (WKO 9.3.2021). Der internationale Zugverkehr – mit Ausnahme der Strecke zwischen Russland und Belarus - und der Fährverkehr sind eingestellt (AA 15.2.2021).
Staatliche Unterstützungsmaßnahmen für die russische Wirtschaft sind unterschiedlich und an viele Bedingungen gebunden. Zu den ersten staatlichen Hilfsmaßnahmen zählten Kredit-, Miet- und Steuerstundungen (ausgenommen Mehrwertsteuer), Sozialabgabenreduktion sowie Kreditgarantien und zinslose Kredite. Später kamen Steuererleichterungen sowie direkte Zuschüsse dazu. Viele der Maßnahmen sind nur für kleine und mittlere Unternehmen oder bestimmte Branchen zugänglich und haben einen zweckgebundenen Charakter (beispielsweise gebunden an Gehaltszahlungen oder Arbeitsplatzerhalt) (WKO 9.3.2021). Die Regierung bietet Exporteuren Hilfe an, die Möglichkeit eines Konkursmoratoriums, zinslose Kredite für Gehaltsauszahlungen usw. (CHRR o.D.c). Jänner bis Oktober 2020 ist die Industrieproduktion pandemiebedingt um 3,1% zurückgegangen. Besonders die Rohstoffproduktion ist um 6,6% gefallen, während die verarbeitende Industrie mit 0,3% praktisch stagnierte. Die im Jahr 2020 sehr stark fallenden Ölpreise waren unter anderem eine Auswirkung der Covid-19-Pandemie und mit einem globalen Nachfragerückgang verbunden und führten zu einer Rubelabwertung von 25%. Nach leichter Erholung verlor der Rubel unter anderem wegen der anhaltenden geringen Rohstoffnachfrage Mitte 2020 erneut an Wert und lag Anfang Dezember bei ca. 90 Rubel je Euro (WKO 12.2020). Das Realwachstum des Bruttoinlandsprodukts betrug im Jahr 2020 -3,1%. Im Vergleich dazu betrug der entsprechende Wert im Jahr 2019 2%. Die öffentliche Verschuldung betrug im Jahr 2020 17,8% des Bruttoinlandsprodukts (2019: 12,4%) (WIIW o.D.).
Moskau:
In Moskau herrscht an öffentlichen Orten eine Masken- und Handschuhpflicht. Das Tragen von Masken auf Straßen wird empfohlen. Kultur- und Bildungsveranstaltungen dürfen stattfinden, wenn maximal 50% der Zuschauerplätze belegt sind. Bürgern über 65 Jahren und chronisch Kranken wird Selbstisolierung empfohlen (CHRR 12.3.2021; vgl. WKO 9.3.2021, AA 15.2.2021). Empfohlen wird Fernarbeit für mindestens 30% der Mitarbeiter. Am Arbeitsplatz sind vorgeschriebene Hygienevorschriften (unter anderem Temperaturmessungen, Mund- und Handschutz, Desinfektionsmittel, Mindestabstand etc.) einzuhalten (WKO 9.3.2021). Gemäß dem Moskauer Bürgermeister verbessert sich die Pandemielage in Moskau. Ein Großteil der Einschränkungen wurde aufgehoben. Gastronomiebetriebe sind wieder geöffnet. Für Schüler höherer Klassen und Studierende findet nun wieder Präsenzunterricht statt (Mos.ru 7.3.2021; vgl. Mos.ru 8.3.2021, LM 8.2.2021, Russland Analysen 19.2.2021). In der Oblast [Gebiet] Moskau wurde die Mehrzahl der wegen Covid geltenden Einschränkungen zurückgenommen. Einzig Massenveranstaltungen bleiben fast ausnahmslos verboten (Russland Analysen 19.2.2021).
St. Petersburg:
Auch in St. Petersburg herrscht an öffentlichen Orten eine Masken- und Handschuhpflicht. Die für gastronomische Betriebe geltenden Beschränkungen der Öffnungszeiten wurden aufgehoben. Kulturveranstaltungen dürfen stattfinden, wenn maximal 75% der Zuschauerplätze belegt sind. Empfohlen wird Fernarbeit für mindestens 30% der Mitarbeiter. Für über 65-Jährige und chronisch Kranke sind Selbstisolierung und Fernarbeit verpflichtend (CHRR 12.3.2021; vgl. Gov.spb 5.3.2021, WKO 9.3.2021, Russland Analysen 8.2.2021).
Tschetschenien:
An öffentlichen Orten wird das Tragen von Masken empfohlen. Für über 65-Jährige und chronisch Kranke ist Selbstisolierung vorgesehen (CHRR 12.3.2021; vgl. Chechnya.gov 10.2.2021, Ria.ru 10.2.2021, KMS 10.2.2021). Bisher wurden mehr als 19.000 Personen geimpft (Chechnya.gov 26.2.2021). Mitarbeitern staatlich finanzierter Organisationen in Tschetschenien wurde mit Entlassung gedroht, sollten sie die Covid-Impfung verweigern. Bewohner in Tschetschenien berichten, ihnen seien Sanktionen angedroht worden, sollten sie sich nicht impfen lassen (CK 23.1.2021). Reisebeschränkungen wurden aufgehoben (Ria.ru 10.2.2021; vgl. Chechnya.gov 10.2.2021, KMS 10.2.2021).
Dagestan:
[…]
Politische Lage
Letzte Änderung: 26.05.2021
Die Russische Föderation hat ca. 143 Millionen Einwohner (GIZ 1.2021c; vgl. CIA 5.2.2021). Russland ist eine Präsidialdemokratie mit föderativem Staatsaufbau (GIZ 1.2021a; vgl. EASO 3.2017). Der Präsident verfügt über weitreichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik (GIZ 1.2021a; vgl. EASO 3.2017, AA 21.10.2020c). Er ernennt auf Vorschlag der Staatsduma den Vorsitzenden der Regierung, die stellvertretenden Vorsitzenden und die Minister, und entlässt sie (GIZ 1.2021a). Wladimir Putin ist im März 2018 bei der Präsidentschaftswahl mit 76,7% im Amt bestätigt worden (Standard.at 19.3.2018; vgl. FH 4.3.2020). Die Wahlbeteiligung lag der russischen Nachrichtenagentur TASS zufolge bei knapp 67% und erfüllte damit nicht ganz die Erwartungen der Präsidialadministration (Standard.at 19.3.2018). Putins wohl stärkster Widersacher Alexej Nawalny durfte nicht bei der Wahl kandidieren. Er war zuvor in einem von vielen als politisch motiviert eingestuften Prozess verurteilt worden und rief daraufhin zum Boykott der Abstimmung auf, um die Wahlbeteiligung zu drücken (Presse.at 19.3.2018; vgl. FH 3.3.2021). Oppositionelle Politiker und die Wahlbeobachtergruppe Golos hatten mehr als 2.400 Verstöße gezählt, darunter mehrfach abgegebene Stimmen und die Behinderung von Wahlbeobachtern. Wähler waren demnach auch massiv unter Druck gesetzt worden, an der Wahl teilzunehmen. Auch die Wahlkommission wies auf mutmaßliche Manipulationen hin (Tagesschau.de 19.3.2018). Wahlbetrug ist weit verbreitet, was insbesondere im Nordkaukasus deutlich wird (BTI 2020). Präsident Putin kann dem Ergebnis zufolge nach vielen Jahren an der Staatsspitze weitere sechs Jahre das Land führen (Tagesschau.de 19.3.2018; vgl. OSCE/ODIHR 18.3.2018).
Die Verfassung wurde per Referendum am 12.12.1993 mit 58% der Stimmen angenommen. Sie garantiert die Menschen- und Bürgerrechte. Das Prinzip der Gewaltenteilung ist zwar in der Verfassung verankert, jedoch verfügt der Präsident über eine Machtfülle, die ihn weitgehend unabhängig regieren lässt. Er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, trägt die Verantwortung für die Innen- und Außenpolitik und kann die Gesetzesentwürfe des Parlaments blockieren. Die Regierung ist dem Präsidenten untergeordnet, der den Premierminister mit Zustimmung der Staatsduma ernennt. Das Zweikammerparlament, bestehend aus Staatsduma und Föderationsrat, ist in seinem Einfluss stark beschränkt. Am 15. Januar 2020 hat Putin in seiner jährlichen Rede zur Lage der Nation eine Neuordnung des politischen Systems vorgeschlagen und eine Reihe von Verfassungsänderungen angekündigt. Dmitri Medwedjew hat den Rücktritt seiner Regierung erklärt. Sein Nachfolger ist der Leiter der russischen Steuerbehörde Michail Mischustin. In dem neuen Kabinett sind 15 von 31 Regierungsmitgliedern ausgewechselt worden (GIZ 1.2021a). Die Verfassungsänderungen ermöglichen Wladimir Putin, für zwei weitere Amtszeiten als Präsident zu kandidieren (GIZ 1.2021a; vgl. FH 3.3.2021), dies gilt aber nicht für weitere Präsidenten (FH 3.3.2021). Die Volksabstimmung über eine umfassend geänderte Verfassung fand am 1. Juli 2020 statt, nachdem sie aufgrund der Corona-Pandemie verschoben worden war. Bei einer Wahlbeteiligung von ca. 65% der Stimmberechtigten stimmten laut russischer Wahlkommission knapp 78% für und mehr als 21% gegen die Verfassungsänderungen. Neben der sogenannten Nullsetzung der bisherigen Amtszeiten des Präsidenten, durch die der amtierende Präsident 2024 und theoretisch auch 2030 zwei weitere Male kandidieren darf, wird das staatliche Selbstverständnis der Russischen Föderation in vielen Bereichen neu definiert. Der neue Verfassungstext beinhaltet deutlich sozialere und konservativere Inhalte als die Ursprungsverfassung aus dem Jahre 1993 (GIZ 1.2021a). Nach dem Referendum kam es zu Protesten von einigen hundert Personen in Moskau. Bei dieser nicht genehmigten Demonstration wurden 140 Personen festgenommen. Auch in St. Petersburg gab es Proteste (MDR 16.7.2020).
Der Föderationsrat ist als 'obere Parlamentskammer' das Verfassungsorgan, das die Föderationssubjekte auf föderaler Ebene vertritt. Er besteht aus 178 Abgeordneten (GIZ 1.2021a): Jedes Föderationssubjekt entsendet je einen Vertreter aus Exekutive und Legislative in den Föderationsrat. Die Staatsduma mit 450 Sitzen wird für fünf Jahre gewählt (GIZ 1.2021a; vgl. AA 21.10.2021c). Es gibt eine Fünfprozentklausel (GIZ 1.2021a).
Zu den wichtigen Parteien der Russischen Föderation gehören: die Regierungspartei Einiges Russland (Jedinaja Rossija) mit 1,9 Millionen Mitgliedern; Gerechtes Russland (Sprawedliwaja Rossija) mit 400.000 Mitgliedern; die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) mit 150.000 Mitgliedern, welche die Nachfolgepartei der früheren KP ist; die Liberaldemokratische Partei (LDPR) mit 185.000 Mitgliedern, die populistisch und nationalistisch ausgerichtet ist; die Wachstumspartei (Partija Rosta), die sich zum Neoliberalismus bekennt; Jabloko, eine demokratisch-liberale Partei mit 55.000 Mitgliedern; die Patrioten Russlands (Patrioty Rossii), links-zentristisch mit 85.000 Mitgliedern und die Partei der Volksfreiheit (PARNAS), eine demokratisch-liberale Partei mit 58.000 Mitgliedern (GIZ 1.2021a). Die Zusammensetzung der Staatsduma nach Parteimitgliedschaft gliedert sich wie folgt: Einiges Russland (343 Sitze), Kommunistische Partei Russlands (42 Sitze), Liberaldemokratische Partei Russlands (39 Sitze), Gerechtes Russland (23 Sitze), Vaterland-Partei (1 Sitz), Bürgerplattform (1 Sitz) (RIA Nowosti 23.9.2016; vgl. Global Security 21.9.2016, FH 3.3.2021). Die sogenannte Systemopposition stellt die etablierten Machtverhältnisse nicht in Frage und übt nur moderate Kritik am Kreml (SWP 11.2018). Die nächste Duma-Wahl steht im Herbst 2021 an (Standard.at 1.1.2021).
Russland ist eine Föderation, die aus 85 Föderationssubjekten (einschließlich der international nicht anerkannten Annexion der Republik Krim und der Stadt föderalen Ranges Sewastopol) mit unterschiedlichem Autonomiegrad besteht. Die Föderationssubjekte (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Gebiete, Regionen und Föderale Städte) verfügen über jeweils eine eigene Legislative und Exekutive (GIZ 1.2021a; vgl. AA 21.10.2020c). Die Gouverneure der Föderationssubjekte werden auf Vorschlag der jeweils stärksten Fraktion der regionalen Parlamente vom Staatspräsidenten ernannt. Dabei wählt der Präsident aus einer Liste dreier vorgeschlagener Kandidaten den Gouverneur aus (GIZ 1.2021a).
Es gibt acht Föderationskreise (Nordwestrussland, Zentralrussland, Südrussland, Nordkaukasus, Wolga, Ural, Sibirien, Ferner Osten), denen jeweils ein Bevollmächtigter des Präsidenten vorsteht. Der Staatsrat der Gouverneure tagt unter Leitung des Präsidenten und gibt der Exekutive Empfehlungen zu aktuellen politischen Fragen und zu Gesetzesprojekten. Nach der Eingliederung der Republik Krim und der Stadt Sewastopol in die Russische Föderation wurde am 21.3.2014 der neunte Föderationskreis Krim gegründet. Die konsequente Rezentralisierung der Staatsverwaltung führt seit 2000 zu politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit der Regionen vom Zentrum. Diese Tendenzen wurden bei der Abschaffung der Direktwahl der Gouverneure in den Regionen und der erneuten Unterordnung der regionalen und kommunalen Machtorgane unter das föderale Zentrum („exekutive Machtvertikale“) deutlich (GIZ 1.2021a).
Bei den in einigen Regionen stattgefundenen Regionalwahlen am 8.9.2019 hat die Regierungspartei Einiges Russland laut Angaben der Wahlleitung in den meisten Regionen ihre Mehrheit verteidigt. Im umkämpften Moskauer Stadtrat verlor sie allerdings viele Mandate (Zeit Online 9.9.2019). Hier stellt die Partei nur noch 25 von 45 Vertretern, zuvor waren es 38. Die Kommunisten, die bisher fünf Stadträte stellten, bekommen 13 Sitze. Die liberale Jabloko-Partei bekommt vier und die linksgerichtete Partei Gerechtes Russland drei Sitze (ORF 18.9.2019). Die beiden letzten Parteien waren bisher nicht im Moskauer Stadtrat vertreten. Zuvor sind zahlreiche Oppositionskandidaten von der Wahl ausgeschlossen worden, was zu den größten Protesten seit Jahren geführt hat (Zeit Online 9.9.2019), bei denen mehr als 1.000 Demonstranten festgenommen wurden (Kleine Zeitung 28.7.2019). Viele von den Oppositionskandidaten haben zu einer 'smarten Abstimmung' aufgerufen. Die Bürger sollten Jeden wählen – nur nicht die Kandidaten der Regierungspartei. Bei den für die russische Regierung besonders wichtigen Gouverneurswahlen gewannen die Kandidaten der Regierungspartei überall (Zeit Online 9.9.2019).
Neben den bis Juli 2021 verlängerten wirtschaftlichen Sanktionen wegen des andauernden Ukraine-Konfliktes (Presse.com 10.12.2020) haben sich die EU-Außenminister wegen der Inhaftierung des Kremlkritikers Alexej Nawalny auf neue Russland-Sanktionen geeinigt. Die Strafmaßnahmen umfassen Vermögenssperren und EU-Einreiseverbote gegen Verantwortliche für die Inhaftierung Nawalnys (Cicero 22.2.2021).
TSCHETSCHENIEN
Letzte Änderung: 26.05.2021
Die Einwohnerzahl Tschetscheniens liegt bei ca. 1,5 Millionen. Laut Aussagen des Republikoberhauptes Ramsan Kadyrow sollen rund 600.000 Tschetschenen außerhalb der Region leben – die Hälfte davon in der Russischen Föderation, die andere Hälfte im Ausland. Experten zufolge hat ein Teil von ihnen Tschetschenien während der Kriege nach dem Zerfall der Sowjetunion verlassen, beim anderen Teil handelt es sich um Siedlungsgebiete außerhalb Tschetscheniens. Diese entstanden bereits vor über einem Jahrhundert, teilweise durch Migration aus dem Russischen in das Osmanische Reich, und zwar über Anatolien bis in den arabischen Raum. Was die Anzahl von Tschetschenen in anderen russischen Landesteilen anbelangt, so ist es aufgrund der öffentlichen Datenlage schwierig, verlässliche Aussagen zu treffen (ÖB Moskau 6.2020).
In Tschetschenien gilt Ramsan Kadyrow als Garant Moskaus für Stabilität. Mit Duldung der russischen Staatsführung hat er in der Republik ein autoritäres Herrschaftssystem geschaffen, das vollkommen auf seine eigene Person ausgerichtet ist und weitgehend außerhalb des föderalen Rechtsrahmens funktioniert (ÖB Moskau 6.2020; vgl. AA 2.2.2021, FH 3.3.2021). Fraglich bleibt auch die föderale Kontrolle über die tschetschenischen Sicherheitskräfte, deren faktische Loyalität vorrangig dem Oberhaupt der Republik gilt. Ramsan Kadyrow wurde bei den Wahlen vom 18. September 2016 laut offiziellen Angaben bei hoher Wahlbeteiligung mit überwältigender Mehrheit für eine weitere Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Unabhängige Medien berichteten über Unregelmäßigkeiten bei den Wahlen, in deren Vorfeld Human Rights Watch über massive Druckausübung auf Kritiker des derzeitigen Machthabers berichtet hatte. Das tschetschenische Oberhaupt bekundet immer wieder seine absolute Loyalität gegenüber dem Kreml (ÖB Moskau 6.2020). In Tschetschenien regiert Kadyrow unangefochten autoritär. Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen politische Gegner, wird rigoros vorgegangen (ÖB Moskau 6.2020; vgl. AA 2.2.2021). Um die Kontrolle über die Republik zu behalten, wendet Kadyrow unterschiedliche Formen von Gewalt an, wie z.B. Entführungen, Folter und außergerichtliche Tötungen (FH 3.3.2021; vgl. AA 2.2.2021). Dies kann manchmal auch außerhalb Russlands stattfinden. Kadyrow wird verdächtigt, die Ermordung von unliebsamen Personen, die ins Ausland geflohen sind, angeordnet zu haben (FH 3.3.2021).
Während der mittlerweile über zehn Jahre andauernden Herrschaft des amtierenden Republikführers Ramsan Kadyrow gestaltete sich Tschetscheniens Verhältnis zur Russischen Föderation ambivalent. Einerseits ist Kadyrow bemüht, die Zugehörigkeit der Republik zu Russland mit Nachdruck zu bekunden, tschetschenischen Nationalismus mit russischem Patriotismus zu verbinden, Russlands Präsidenten in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny als Staatsikone auszustellen und sich als „Fußsoldat Putins“ zu präsentieren. Andererseits hat er das Föderationssubjekt Tschetschenien so weit in einen Privatstaat verwandelt, dass in der Umgebung des russischen Präsidenten die Frage gestellt wird, inwieweit sich die von Wladimir Putin ausgebaute 'föderale Machtvertikale' dorthin erstreckt. Zu Kadyrows Eigenmächtigkeit gehört auch eine Außenpolitik, die sich vor allem an den Mittleren Osten und die gesamte islamische Welt richtet. Kein anderer regionaler Führer beansprucht eine vergleichbare, über sein eigenes Verwaltungsgebiet und die Grenzen Russlands hinausreichende Rolle. Kadyrow inszeniert Tschetschenien als Anwalt eines russischen Vielvölker-Zusammenhalts, ist aber längst zum 'inneren Ausland' Russlands geworden. Deutlichster Ausdruck dieser Entwicklung ist ein eigener Rechtszustand, in dem islamische und gewohnheitsrechtliche Regelungssysteme sowie die Willkür des Republikführers in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands geraten (SWP 3.2018).
Ein Abkommen von September 2018 über die Abtretung von umstrittenem Territorium von Inguschetien an Tschetschenien hatte politische Unruhen in Inguschetien zur Folge (ÖB Moskau 12.2019). Der Konflikt um die Grenzziehung flammt immer wieder auf. Im März 2019 wurden Proteste in Inguschetien gewaltsam aufgelöst, wobei manche Teilnehmer körperlich gegen die Polizei Widerstand leisteten. 33 Personen wurden festgenommen (HRW 14.1.2020). Die Proteste hatten außerdem den Rücktritt des inguschetischen Präsidenten Junus-bek Jewkurow im Juni 2019 zur Folge (ÖB Moskau 12.2019). Jewkurows Nachfolger ist Machmud-Ali Kalimatow (NZZ 29.6.2019).
Sicherheitslage
Letzte Änderung: 26.05.2021
Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen (AA 7.4.2021a; vgl. GIZ 1.2021d, EDA 7.4.2021). Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 7.4.2021a; vgl. EDA 7.4.2021). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 7.4.2021).
Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderte Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Die gewaltsamen Zwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem ägyptischen Sinai mit 224 Todesopfern (SWP 4.2017). Seitdem war der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken sollte (SWP 4.2017; vgl. Deutschlandfunk 29.9.2020). Der Einsatz in Syrien ist der größte und längste Auslandseinsatz des russischen Militärs seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Zunächst sollten nur die Luftstreitkräfte die syrische Armee unterstützen. Bodentruppen wurden erst später und in geringerem Maße mobilisiert - in Form von Spezialeinheiten und schließlich am Ende des Feldzugs als Militärpolizei. Es gab auch Berichte über den Einsatz privater paramilitärischer Strukturen (DW 29.9.2020). Hier ist vor allem die 'Gruppe Wagner' zu nennen. Es handelt sich hierbei um einen privaten russischen Sicherheitsdienstleister, der nicht nur in Syrien, sondern auch in der Ukraine und in Afrika im Einsatz ist. Mithilfe solcher privaten Sicherheitsdienstleister lässt sich die Zahl von Verlusten des regulären russischen Militärs gering halten (BPB 8.2.2021), und der teure Einsatz sorgt dadurch in der russischen Bevölkerung kaum für Unmut (DW 29.9.2020).
In den letzten Jahren rückte eine weitere Tätergruppe in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sog. IS kämpften, wurde auf einige Tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017). Erst im Oktober 2020 wurden bei Spezialoperationen zentralasiatische Dschihadisten in Südrussland getötet und weitere in Moskau und St. Petersburg festgenommen (SN 15.10.2020).
NORDKAUKASUS
Letzte Änderung: 26.05.2021
Die Sicherheitslage im Nordkaukasus hat sich verbessert, wenngleich das nicht mit einer nachhaltigen Stabilisierung gleichzusetzen ist (ÖB Moskau 6.2020; vgl. AA 2.2.2021). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff 'low level insurgency' umschrieben (SWP 4.2017).
Ein Risikomoment für die Stabilität in der Region ist die Verbreitung des radikalen Islamismus. Innerhalb der extremistischen Gruppierungen verschoben sich etwa ab 2014 die Sympathien zur regionalen Zweigstelle des sogenannten Islamischen Staates (IS), der mittlerweile das Kaukasus-Emirat praktisch vollständig verdrängt hat. Dabei sorgen nicht nur Propaganda und Rekrutierung des sogenannten IS im Nordkaukasus für Besorgnis der Sicherheitskräfte. So wurden Mitte Dezember 2017 im Nordkaukasus mehrere Kämpfer getötet, die laut Angaben des Anti-Terrorismuskomitees dem sogenannten IS zuzurechnen waren. Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak, haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist. 2018 wurde laut dem Inlandsgeheimdienst FSB die Anzahl terroristisch motivierter Verbrechen mehr als halbiert. Auch 2019 nahm die Anzahl bewaffneter Vorfälle im Vergleich zum Vorjahr weiter ab. Jedoch stellt ein Sicherheitsrisiko für Russland die Rückkehr terroristischer Kämpfer nordkaukasischer Provenienz aus Syrien und dem Irak dar. Laut diversen staatlichen und nicht-staatlichen Quellen ist davon auszugehen, dass die Präsenz militanter Kämpfer aus Russland in den Krisengebieten Syrien und Irak mehrere Tausend Personen umfasste. Gegen IS-Kämpfer, die aus den Krisengebieten im Nahen Osten nach Russland zurückkehren, wird gerichtlich vorgegangen (ÖB Moskau 6.2020).
Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpften Tschetschenen in zunehmender Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat – etwa in der Ostukraine sowohl aufseiten pro-russischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite sowie in Syrien und im Irak (SWP 4.2015). In Tschetschenien konnte der Kriegszustand überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet werden. In einem Prozess der 'Tschetschenisierung' wurde die Aufstandsbekämpfung im zweiten Tschetschenienkrieg an lokale Sicherheitskräfte delegiert, die sogenannten Kadyrowzy. Diese auf den ersten Blick erfolgreiche Strategie steht aber kaum für eine nachhaltige Befriedung (SWP 4.2017).
Die russische Teilrepublik Dagestan im Nordkaukasus gilt seit einigen Jahren als Brutstätte von Terrorismus. Mehr als 1.000 Kämpfer aus dem Land sollen sich dem sog. Islamischen Staat in Syrien und im Irak angeschlossen haben. Terroristen aus Dagestan sind auch in anderen Teilen Russlands und im Ausland aktiv. Viele Radikale aus Dagestan sind außerdem in den Nahen Osten ausgereist. In den Jahren 2013 und 2014 brachen ganze salafistische Familien dorthin auf. Die russischen Behörden halfen den Radikalen damals sogar bei der Ausreise. Vor den Olympischen Spielen in Sotschi wollte Russland möglichst viele Gefährder loswerden (Deutschlandfunk 28.6.2017). Den russischen Sicherheitskräften werden schwere Menschenrechtsverletzungen bei der Durchführung der Anti-Terror-Operationen in Dagestan vorgeworfen. Das teils brutale Vorgehen der Sicherheitsdienste, gekoppelt mit der noch immer instabilen sozialwirtschaftlichen Lage in Dagestan, schafft wiederum weiteren Nährboden für die Radikalisierung innerhalb der dortigen Bevölkerung (ÖB Moskau 6.2020). Laut dem Leiter des dagestanischen Innenministeriums gab es bei der Bekämpfung des Aufstands in Dagestan einen Durchbruch. Die Aktivitäten der Gruppen, die in der Republik aktiv waren, sind seinen Angaben zufolge praktisch komplett unterbunden worden. Nach acht Mitgliedern des Untergrunds, die sich Berichten zufolge im Ausland verstecken, wird gefahndet. Trotzdem besteht laut Analysten und Journalisten weiterhin die Möglichkeit von Anschlägen durch einzelne Täter (ACCORD 13.1.2020).
Im Jahr 2020 liegt die Gesamtopferzahl des Konfliktes im gesamten Nordkaukasus [Anm.: durch Addieren aller verfügbaren Quartals- und Monatsberichte von Caucasian Knot] bei 56 Personen, davon wurden 45 getötet und 11 verwundet. 42 der Getöteten gehören bewaffneten Gruppierungen an, alle anderen Getöteten und Verwundeten sind den Exekutivkräften zuzurechnen. In Tschetschenien sind im Jahr 2020 insgesamt 18 Personen getötet und zwei verwundet worden. 15 der Getöteten gehören bewaffneten Gruppierungen an, alle anderen Getöteten und Verwundeten sind den Exekutivkräften zuzurechnen. In Dagestan sind im Jahr 2020 insgesamt neun Personen getötet und eine verwundet worden. Alle Getöteten gehören bewaffneten Gruppierungen an, die verwundete Person ist den Exekutivkräften zuzurechnen. Drei Getötete gab es in Kabardino-Balkarien und einen Getöteten in Inguschetien (Caucasian Knot 2.7.2020a, Caucasian Knot 2.7.2020b, Caucasian Knot 27.10.2020, Caucasian Knot 24.12.2020, Caucasian Knot 20.2.2021).
Rechtsschutz / Justizwesen
Letzte Änderung: 26.05.2021
Es gibt in der Russischen Föderation Gerichte für Verfassungs-, Zivil-, Verwaltungs- und Strafrecht. Es gibt den Verfassungsgerichtshof, den Obersten Gerichtshof, föderale Gerichtshöfe und die Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft ist verantwortlich für Strafverfolgung und hat die Aufsicht über die Rechtmäßigkeit der Handlungen von Regierungsbeamten. Strafrechtliche Ermittlungen werden vom Ermittlungskomitee geleitet (EASO 3.2017). Die russischen Gerichte sind laut Verfassung unabhängig, allerdings kritisieren sowohl internationale Gremien (EGMR – Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, EuR – Europäischer Rat) als auch nationale Organisationen (Ombudsperson, Menschenrechtsrat) regelmäßig Missstände im russischen Justizwesen. Einerseits kommt es immer wieder zu politischen Einflussnahmen auf Prozesse, andererseits beklagen viele Bürger die schleppende Umsetzung von Urteilen bei zivilrechtlichen Prozessen (ÖB Moskau 6.2020). Der Judikative mangelt es auch an Unabhängigkeit von der Exekutive, und berufliches Weiterkommen in diesem Bereich ist an die Einhaltung der Präferenzen des Kremls gebunden (FH 3.3.2021). Auch Korruption ist im Justizsystem ein Problem (EASO 3.2017, BTI 2020)
Das russische Justizsystem ist institutionell abhängig von den Untersuchungsbeamten, die häufig die Urteile bestimmen. Politisch wichtige Fälle werden vom Kreml überwacht, und Richter haben nicht genug Autonomie, um den Ausgang zu bestimmen (ÖB Moskau 6.2020). Die Personalkommission des Präsidenten und die Vorsitzenden des Gerichts kontrollieren die Ernennung und Wiederernennung der Richter des Landes, die eher aus dem Justizsystem befördert werden, als unabhängige Erfahrungen als Anwälte zu sammeln. Änderungen der Verfassung, die im Jahr 2020 verabschiedet wurden, geben dem Präsidenten die Befugnis, mit Unterstützung des Föderationsrates, Richter am Verfassungsgericht und am Obersten Gerichtshof zu entfernen, was die ohnehin mangelnde Unabhängigkeit der Justiz weiter schädigt (FH 3.3.2021).
In Strafprozessen kommt es nur sehr selten zu Freisprüchen der Angeklagten. Am 1. Oktober 2019 trat eine Reform des russischen Gerichtswesens in Kraft, mit der eigene Gerichte für Berufungs-und Kassationsverfahren geschaffen wurden sowie die Möglichkeit von Sammelklagen eingeführt wurde. Wenngleich diese Reformen ein Schritt in die richtige Richtung sind, bleiben grundlegende Mängel des russischen Gerichtswesens bestehen (z.B. de facto „Schuldvermutung“ im Strafverfahren, informelle Einflussnahme auf die Richter etc.). Laut einer Umfrage des Lewada-Zentrums über das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen von Ende 2018, rangieren die Gerichte, die Staatsanwaltschaft und die Polizei eher im unteren Bereich. 33% der Befragten zweifeln daran, dass man den Gerichten vertrauen kann, 25% sind überzeugt, dass die Gerichte das Vertrauen der Bevölkerung nicht verdienen, und nur 28% geben an, ihnen zu vertrauen. Der Kampf der Justiz gegen Korruption steht mitunter im Verdacht einer Instrumentalisierung aus wirtschaftlichen bzw. politischen Gründen (ÖB Moskau 6.2020).
2010 ratifizierte Russland das 14. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), das Änderungen im Individualbeschwerdeverfahren vorsieht. Das 6. Zusatzprotokoll über die Abschaffung der Todesstrafe ist zwar unterschrieben, wurde jedoch nicht ratifiziert. Der russische Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat jedoch das Moratorium über die Todesstrafe im Jahr 2009 bis zur Ratifikation des Protokolls verlängert, sodass die Todesstrafe de facto abgeschafft ist. Auch das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs wurde von Russland nicht ratifiziert. Spannungsgeladen ist das Verhältnis der russischen Justiz zu den Urteilen des EGMR. Moskau sieht im EGMR ein politisiertes Organ, das zur Untergrabung der Souveränität Russlands missbraucht werde (ÖB Moskau 6.2020). Im Juli 2015 stellte der russische Verfassungsgerichtshof klar, dass bei einer der russischen Verfassung widersprechenden Konventionsauslegung seitens des EGMR das russische Rechtssystem aufgrund der Vorrangstellung des Grundgesetzes gezwungen sein wird, auf die buchstäbliche Befolgung der Entscheidung des Straßburger Gerichtes zu verzichten. Diese Position des Verfassungsgerichtshofs wurde im Dezember 2015 durch ein Föderales Gesetz unterstützt (ÖB Moskau 6.2020; vgl. AA 2.2.2021, USDOS 11.3.2020). Im Juli 2020 wurde diese Rechtsposition auch in der Verfassung verankert und dem russischen Verfassungsgerichtshof das Recht eingeräumt, Urteile zwischenstaatlicher Organe nicht umzusetzen, wenn diese in ihrer Auslegung der Bestimmungen zwischenstaatlicher Verträge nicht mit der russischen Verfassung im Einklang stehen (ÖB Moskau 6.2020; vgl. AA 2.2.2021). Die Venedig-Kommission des Europarates gab eine Stellungnahme zu den damaligen Entwürfen für Verfassungsänderungen ab. Die Kommission bekräftigte ihre Ansicht, dass die Befugnis des Verfassungsgerichts, ein Urteil des EGMR für nicht vollstreckbar zu erklären, den Verpflichtungen Russlands aus der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) widerspricht (HRW 13.1.2021). Mit Ende 2019 waren beim EGMR 15.050 Anträge aus Russland anhängig. Im Jahr 2019 wurde die Russische Föderation in 186 Fällen wegen Verletzungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verurteilt. Besonders zahlreich sind Konventionsverstöße gegen das Recht auf Freiheit und Sicherheit, das Recht auf ein faires Verfahren und wegen unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung (ÖB Moskau 6.2020).
Am 10.2.2017 fällte das Verfassungsgericht eine Entscheidung zu Artikel 212.1 des Strafgesetzbuchs, der wiederholte Verstöße gegen das Versammlungsrecht als Straftat definiert. Die Richter entschieden, die Abhaltung einer nicht genehmigten friedlichen Versammlung allein stelle noch keine Straftat dar. Am 22.2.2017 überprüfte das Oberste Gericht das Urteil gegen den Aktivisten Ildar Dadin, der wegen seiner friedlichen Proteste eine Freiheitsstrafe auf Grundlage von Artikel 212.1. erhalten hatte, und ordnete seine Freilassung an. Im Juli 2017 trat eine neue Bestimmung in Kraft, wonach die Behörden Personen die russische Staatsbürgerschaft aberkennen können, wenn sie diese mit der „Absicht“ angenommen haben, die 'Grundlagen der verfassungsmäßigen Ordnung des Landes anzugreifen'. NGOs kritisierten den Wortlaut des Gesetzes, der nach ihrer Ansicht Spielraum für willkürliche Auslegungen bietet (AI 22.2.2018). Bei den Protesten im Zuge der Kommunal- und Regionalwahlen in Moskau im Juli und August 2019, bei denen mehr als 2.600 Menschen festgenommen wurden, wurde teils auf diesen Artikel (212.1) zurückgegriffen (AI 16.4.2020).
Die Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis unterscheidet nicht nach Merkmalen wie ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Nationalität. Es gibt jedoch Hinweise auf selektive Strafverfolgung, die auch sachfremd, etwa aus politischen Gründen oder wirtschaftlichen Interessen, motiviert sein kann (AA 2.2.2021).
Repressionen Dritter, die sich gezielt gegen bestimmte Personen oder Personengruppen wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe richten, äußern sich hauptsächlich in homophoben, fremdenfeindlichen oder antisemitischen Straftaten, die vonseiten des Staates nur in einer Minderheit der Fälle zufriedenstellend verfolgt und aufgeklärt werden (AA 2.2.2021).
TSCHETSCHENIEN UND DAGESTAN
Letzte Änderung: 26.05.2021
Das russische föderale Recht gilt für die gesamte Russische Föderation, einschließlich Tschetscheniens und Dagestans. Neben dem russischen föderalen Recht spielen sowohl Adat als auch Scharia eine wichtige Rolle in Tschetschenien. Republiksoberhaupt Ramsan Kadyrow unterstreicht die Bedeutung, die der Einhaltung des russischen Rechts zukommt, verweist zugleich aber auch auf den Stellenwert des Islams und der tschetschenischen Tradition (EASO 9.2014).
Das Adat ist eine Art Gewohnheitsrecht, das soziale Normen und Regeln festschreibt. Dem Adat-Recht kommt in Zusammenhang mit der tschets