TE Bvwg Erkenntnis 2021/8/17 W182 2226716-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 17.08.2021
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Entscheidungsdatum

17.08.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z4
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §7 Abs1 Z2
AsylG 2005 §7 Abs4
AsylG 2005 §8 Abs1 Z2
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z3
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs3 Z1
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W182 2226716-1/29E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. PFEILER über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, vertreten durch XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 11.11.2019, Zl. 750905607-181151249, gemäß § 28 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz, BGBI. I. Nr 33/2013 (VwGVG) idgF, zu Recht erkannt:

A) I. Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. bis IV. und VI. – VII. des angefochtenen Bescheides wird gemäß §§ 7 Abs. 1 und Abs. 4, 8 Abs. 1, 10 Abs. 1, 57 Asylgesetz 2005, BGBl. I. Nr. 100/2005 (AsylG 2005) idgF, § 9 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl I. Nr. 87/2012 (BFA-VG) idgF, §§ 52 Abs. 2, 53 Abs. 1 iVm Abs. 3, 55 Abs. 1 - 3 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I. Nr. 100/2005 (FPG) idgF, mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass dass die Dauer des Einreiseverbotes auf vier Jahre herabgesetzt wird.

II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt V. des angefochtenen Bescheides wird insoweit stattgegeben, als festgestellt wird, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers in die Russische Föderation gem. §§ 52 Abs. 9, 46 FPG idgF vorübergehend bis spätestens XXXX

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz, BGBl. I Nr. 1/1930 (B-VG) idgF, nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1.1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF) ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation, gehört der tschetschenischen Volksgruppe an, ist Muslim, stammte aus Tschetschenien, reiste im Juni 2005 mit seinen Eltern und seiner Schwester illegal in das Bundesgebiet ein und wurde für ihn am 21.06.2005 ein Asylantrag gestellt.

Für den BF wurden keine eigenen Fluchtgründe dargetan, sondern die Antragstellung ausschließlich mit den Fluchtgründen der Eltern begründet. Der Vater des BF machte im Wesentlichen geltend, von 1996/97 bis ca. 1998/1999 bei XXXX als Ausbilder und Sicherheitsmann tätig gewesen zu sein, dabei auch XXXX bewacht zu haben, weshalb er von russischen Militärangehörigen als Widerstandskämpfer eingestuft und 1999 gefangengenommen und misshandelt worden sei. Nach dem Vorfall im Jahr 1999 habe er sich bis zum Jahr 2003 in Bergdörfern und Wäldern versteckt und dort tschetschenische Widerstandskämpfer mit Lebens- und Arzneimitteln unterstützt. Die Mutter des BF habe Tschetschenien wegen der Fluchtgründe des Gatten verlassen.

Dem Vater des BF wurde mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 10.02.2009, Zl. D7 313369-1/2008/12E, gemäß § 7 Asylgesetz 1997, BGBl I Nr. 1997/76 (AsylG) idF BGBl. BGBl. I Nr. 101/2003, Asyl gewährt und gemäß § 12 AsylG festgestellt, dass ihm kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme. Begründend wurde dazu im Wesentlichen ausgeführt, dass das oben zusammengefasst wiedergegebene Vorbringen des Vaters des BF nach einer Verhandlung am 09.12.2008 für glaubhaft erachtet worden sei. Dazu wurde weiters festgestellt, dass aufgrund der aktuellen Lage in der Russischen Föderation derzeit nicht mit der erforderlichen Sicherheit ausgeschlossen werden könne, dass der BF wegen XXXX und seiner Unterstützung tschetschenischer Widerstandskämpfer im Fall seiner Rückkehr in seinen Herkunftsstaat, zumindest weiteren schwersten körperlichen Misshandlungen von russischen Soldaten und Mitarbeitern Kadyrows, ausgesetzt wäre oder sogar um sein Leben fürchten müsse. Eine inländische Fluchtalternative wurde für den BF verneint.

Ebenso wurde der Mutter des BF, die keine eigenen Fluchtgründe geltend gemacht hat, mit Entscheidung des Asylgerichtshofes vom 10.02.2009, Zl. D7 313370-1/2008/8E, der Status einer Asylberechtigten zuerkannt und dies im Wesentlichen damit begründet, dass aufgrund der aktuellen Lage in der Russischen Föderation derzeit nicht mit der erforderlichen Sicherheit auszuschließen sei, dass sie im Fall der Suche nach ihrem Ehegatten im Falle einer Rückkehr in ihrem Herkunftsstaat zumindest schwersten körperlichen Misshandlungen von russischen Soldaten und Mitarbeitern Kadyrows ausgesetzt wäre, um den Aufenthaltsort ihres Ehegatten doch in Erfahrung zu bringen.

In weiterer Folge wurde mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 10.02.2009, Zl. D7 313368-1/2008/8E, dem BF gemäß § 7 AsylG iVm § 10 Abs. 2 AsylG idF BGBl. I Nr. 101/2003, Asyl gewährt und gemäß §12 leg.cit. festgestellt, dass ihm damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt. Die Entscheidung wurde ausschließlich mit seiner Eigenschaft als Familienangehöriger in Bezug auf seine Eltern im Rahmen eines Familienverfahrens nach § 10 Abs. 2 AsylG begründet.

1.2. Mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom XXXX 2019, Zl. XXXX , wurde der BF wegen des Verbrechens der schweren Körperverletzung nach § 84 Abs. 4 StGB, des Verbrechens der versuchten schweren Körperverletzung nach §§ 15 Abs. 1, 84 Abs. 4 StGB, des Verbrechens der versuchten absichtlichen schweren Körperverletzung nach §§ 15 Abs. 1, 87 Abs. 1 StGB, des Vergehens des versuchten Widerstandes gegen die Staatsgewalt nach §§ 15 Abs. 1, 269 Abs. 1 dritter Fall StGB, des Vergehens der schweren Körperverletzung nach §§ 83 Abs. 3, 84 Abs. 2 StGB, des Vergehens der schweren Körperverletzung nach § 84 Abs. 3 StGB, des Vergehens der versuchten Nötigung nach §§ 15 Abs. 1, 105 Abs. 1, und des Vergehens der versuchten Bestimmung zur falschen Beweisaussage nach den §§ 15 Abs. 1, 12 zweiter Fall, 288 Abs. 4 StGB unter Anwendung von § 5 Z 4 JGG zu einer Freiheitsstrafe von fünfzehn Monaten, wobei zehn Monate unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurden, rechtskräftig verurteilt.

Der Verurteilung lag zu Grunde, dass der BF am XXXX 2018 im bewussten und gewollten Zusammenwirken mit einem Mittäter eine Person – wenn auch nur fahrlässig – am Körper verletzt und dadurch eine an sich schwere Körperverletzung sowie eine länger als 24 Tage dauernde Gesundheitsschädigung der Person herbeigeführt hat, indem der Mittäter dieser einen Kick gegen die Beine versetzt hat, sodass diese beinahe zu Boden gefallen ist und der BF sodann - abwechselnd mit dem Mittäter - dem Opfer, dass seine Hände schützend vor das Gesicht gehalten hat, Faustschläge ins Gesicht versetzt hat, wodurch dieses eine Kopfprellungen sowie einen Fingerbruch samt Hautabschürfungen erlitten hat. Weiters hat der BF am XXXX 2019 im bewussten und gewollten Zusammenwirken mit einem Mittäter eine Person am Körper verletzt oder an der Gesundheit geschädigt und dadurch eine schwere Körperverletzung oder Gesundheitsschädigung der Person herbeizuführen versucht, indem er dieser grundlos einen wuchtigen Faustschlag ins Gesicht versetzt hat, sie zu Boden gebracht hat und anschließend - abwechselnd mit dem Mittäter - weiter auf die am Boden liegende Person eingeschlagen und ihr mehrfach heftige Fußtritte gegen deren Körper versetzt hat, wodurch die Person eine Kopfprellung samt Hautabschürfungen im Bereich des Gesicht sowie diverse Prellungen an sonstigen Körperstellen erlitten hat. Daraufhin hat der BF am XXXX 2019 einer Person eine schwere Körperverletzung absichtlich zuzufügen versucht, indem er dieser grundlos eine Kopfnuss gegeben hat, sie gegen eine Wand gedrückt hat, ihr Faustschläge ins Gesicht und gegen den Kopf versetzt hat, ihren Kopf erfasst hat und ihn gegen sein erhobenes Knie gestoßen hat, sie ausgehoben und zu Boden geworfen hat, er auf ihr kniete, ihre Arme zur Seite gedrückt hat, nochmals mit dem Knie auf ihre Nase geschlagen hat und zudem mit den Füßen gegen Körper und Kopf getreten hat. Als die Person bereits auf der Flucht war, hat er sie neuerlich von hinten gepackt und mit dem Rücken auf den Boden geworfen, wodurch die Person geringfügige Rissquetschwunden im Gesicht, eine Prellung der Nase sowie eine Prellung im Bereich des Gesichts erlitten hat. Sodann hat der BF am XXXX 2019 zwei Polizeibeamte mit Gewalt an eine Amtshandlung, nämlich am Fixieren und Anlegen der Handfesseln zur Hintanhaltung der von ihm ausgehenden Gefährlichkeit aufgrund seines Wutausbruches zu hindern versucht, indem es ihm gelungen ist, sich aus der Fixierung zu lösen, wobei er einem Polizeibeamten am Arm gepackt und aggressiv um sich geschlagen hat, während er vom anderen Polizeibeamten mittels Halsklammer fixiert wurde, wobei es infolge Zubodenbringens mittels Körperkraft und anschließendem Anlegen der Handfesseln beim Versuch geblieben ist. Bei diesem Vorfall hat einer der Beamten eine Schwellung samt Rötung am linken Oberarm sowie eine weitere Beamtin eine Zerrung am linken Unterarm erlitten. Letztlich hat der BF am XXXX 2019 versucht, eine Person zur Zurückziehung ihrer belastenden Angaben in einem Strafverfahren gegen eine andere Person zu nötigen bzw. dazu zu bestimmen, als Zeuge in einem kriminalpolizeilichen Ermittlungsverfahren falsch auszusagen, indem er ihr via WhatsApp ausgerichtet hat, ihr alle Knochen zu brechen, wenn sie noch ein falsches Wort bei der Polizei sage.

Als mildernd wurde das Geständnis, die Unbescholtenheit sowie der teilweise Versuch gewertet; als erschwerend wurden das Zusammentreffen von Verbrechen und Vergehen sowie die Tatbegehung während eines anhängigen Verfahrens gewürdigt.

Danach wurde der BF mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom XXXX 2020, Zl. XXXX wegen des Verbrechens der absichtlich schweren Körperverletzung nach §§ 15 Abs. 1, 87 Abs. 1 StGB unter Anwendung von § 5 Z 4 JGG zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von achtzehn Monaten rechtskräftig verurteilt.

Der Verurteilung lag zu Grunde, dass der BF am XXXX 2020 eine Person im bewussten und gewollten Zusammenwirken mit einem Mittäter dadurch eine schwere Körperverletzung absichtlich zuzufügen versucht hat, dass er ihr zunächst einen heftigen Stoß versetzt hat, ihr der Mittäter zwei Faustschläge und sodann der BF einen Faustschlag gegen das Gesicht versetzt haben, beide die Person zu Boden gerissen und jeweils versucht haben, mit dem Fuß gegen ihr Gesicht/ihren Kopf zu treten, was nur durch das Einschreiten eines Security verhindert werden habe können, wodurch die Person in Form einer Schwellung und eines Hämatoms in der linken Jochbeinregion, einer Abschürfung am rechten Knie, einer Verstauchung des linken Außenknöchels und Schmerzen im rechten Kieferbereich am Körper verletzt wurde. Als mildernd wurden das Geständnis und der Versuch, als erschwerend einschlägige Vorverurteilungen gewertet.

Der BF wurde in weiterer Folge mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom XXXX 2020, Zl. XXXX , wegen des Vergehens des versuchten Widerstandes gegen die Staatsgewalt nach §§ 15, 269 Abs. 1 erster Fall StGB sowie des zweifachen Vergehens der schweren Körperverletzung nach §§ 83 Abs. 1, 84 Abs. 2 StGB unter Anwendung von § 5 Z 4 JGG zu einer unbedingten Freiheitsstrafe im Ausmaß von neun Monaten rechtskräftig verurteilt.

Der Verurteilung lag zu Grunde, dass der BF am XXXX 2020 in Strafhaft im Anschluss an eine tätliche Auseinandersetzung mit einem Insassen zwei Justizwachebeamte mit Gewalt an einer Amtshandlung, nämlich seiner Fixierung und Unterbringung in seinen Haftraum zur Aufrechterhaltung der Ordnung und Sicherheit in der Justizanstalt, zu hindern versucht hat, in dem er sich zunächst aus dem Festhaltegriff der Beamten durch gewaltsames und ruckartiges Losreißen befreit hat, sodann sich gegen die ihm durch Nacheile neuerlich am Boden fixierenden Beamten mit heftigen Armbewegungen gewehrt hat, um sich wieder aus der Fixierung zu lösen und den Insassen zu attackieren. Dabei wurden die Beamten während der Vollziehung ihrer Aufgaben durch eine Verstauchung am linken Daumen sowie eine leicht blutende Schürfwunde am rechten Knie vorsätzlich am Körper verletzt. Als mildernd wurde der Umstand, dass es teilweise beim Versuch geblieben ist, sowie das Geständnis des BF gewertet, als erschwerend wurden die zwei einschlägigen Vorstrafen, das Zusammentreffen von mehreren Vergehen, der rasche Rückfall sowie die Begehung innerhalb offener Probezeit gewürdigt. Einer dagegen erhobenen Berufung wurde mit Urteil des Oberlandesgerichts XXXX vom XXXX 2021, Zl. XXXX , nicht Folge gegeben.

Der BF hat sich vom 21.03.2019 bis zum 30.08.2019 in Justizhaft befunden, wobei er seit 28.05.2020 erneut in Justizhaft einsitzt, wo er aktuell seine Haftstrafe verbüßt.

Laut einer Stellungnahme des psychologischen Dienstes der Haftanstalt vom 05.10.2020 bestehe beim BF, der Gespräche beim psychologischen Dienst bisher aus Eigeninitiative nicht wahrgenommen habe, ein Mangel an Therapiemotivation. Gerate der BF in Konfliktsituationen, so versuche er eigene Interessen auch mit körperlicher Gewalt durchzusetzen und könne sich in diesen Momenten nicht regulieren. In den geführten Konfliktgesprächen zeige er keine Schuldeinsicht oder Bereitschaft, die eigenen Verhaltensweisen zu reflektieren. Seine fehlende Bereitschaft an der Aggressionsproblematik zu arbeiten, stelle einen großen Risikofaktor für weiteres kriminelles Handeln dar. Sowohl der soziale Dienst als auch die Anstaltsleitung hat sich am 05.10.2020 gegen eine bedingte Entlassung des BF zur Halbzeit der Haft ausgesprochen.

Aufgrund der Meldung eines Vorfalls in der Justizanstalt am 23.05.2021 wurde am selben Tag ein entsprechender Abschlussbericht einer Polizeiinspektion wegen des Verdachts auf Körperverletzung (zum Nachteil eines Mitinsassen) gegen den BF verfasst und der Staatsanwaltschaft übermittelt.

2.1. Nach einer Einvernahme am 04.09.2019 beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden : Bundesamt) wurde mit dem im Spruch genannten, angefochtenen Bescheid der Behörde vom 11.11.2019 der dem BF mit Erkenntnis des Asylgerichtshof vom 10.02.2009 zuerkannte Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 aberkannt und gemäß § 7 Abs. 4 AsylG 2005 festgestellt, dass ihm die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukomme (Spruchpunkt I.). Weiters erkannte das Bundesamt dem BF gemäß § 8 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 den Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zu (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde ihm gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.) und gemäß § 10 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 3 FPG erlassen (Spruchpunkt IV). Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung des BF gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 53 Abs. 3 Z 1 FPG wurde gegen den BF ein auf zehn Jahre befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VI.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde festgestellt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VII.). Begründend wurde dazu im Wesentlichen ausgeführt, dass der BF in Österreich u.a. wegen des Verbrechens der absichtlich schweren Körperverletzung, wobei er u.a. drei Körperverletzungen ohne begreiflichen Anlass und unter Anwendung erheblicher Gewalt selbständig begangen habe, zu einer Freiheitsstrafe von fünfzehn Monaten, davon fünf Monate unbedingt und 10 Monate bedingt, rechtskräftig verurteilt worden sei. Der BF habe dadurch ein besonders schweres Verbrechen begangen, wobei von ihm nach wie vor eine erhebliche Gefahr ausgehe und auch eine Interessensabwägung, zu Ungunsten gegen ihn ausgehe. Da sämtliche Voraussetzungen des §§ 7 Abs. 1 Z 1 iVm 6 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005 vorliegen, sei ihm der Status eines Asylberechtigten abzuerkennen gewesen. Er habe bei der Einvernahme am 04.09.2019 angegeben, dass er nun auch keine eigenen Fluchtgründe habe. Für Abschiebungshindernisse würden keine Anhaltspunkte vorliegen. Er sei ein gesunder Jugendlicher, der seinen Lebensunterhalt bei einer Rückkehr durchaus anfangs mit Gelegenheitsarbeiten bestreiten könne. Da er nach wie vor über familiäre Anschlussmöglichkeiten verfüge, werde es ihm in der Russischen Föderation möglich sein, nach möglichen anfänglichen Schwierigkeiten rasch Fuß zu fassen. Es sei davon auszugehen, dass Verwandte ihn bei einer Rückkehr, zumindest anfänglich, unterstützen werden. Eine finanzielle Unterstützung durch seine Eltern sei auch von Österreich aus möglich. Es habe somit nicht festgestellt werden können, dass er in der Russischen Föderation in eine, die Existenz bedrohende, Notlage geraten würde. Der BF lebe seit seinem ersten Lebensjahr im Bundesgebiet und habe in Österreich die Pflichtschule besucht. Er sei noch nicht selbsterhaltungsfähig und lebe bei seinem Vater. In Österreich würden sich zudem seine Mutter und seine Geschwister aufhalten. Der BF sei jedoch massiv gewalttätig und habe fünf Personen, drei Opfer und zwei Polizisten, verletzt, weshalb er deswegen auch zu einer Freiheitsstrafe von 15 Monaten, davon 10 Monate bedingt, verurteilt worden sei. Dies vermindere bei der Interessenabwägung seine persönlichen Interessen maßgeblich. Der durch eine Rückkehrentscheidung allenfalls verursachte Eingriff in sein Recht auf Privat- oder Familienleben sei jedenfalls insofern iSd Art. 8 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt, als das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung aufgrund der Schwere seiner Verbrechen das Interesse an einem weiteren Verbleib in Österreich überwiege. So haben der BF und seine Angehörigen angesichts seiner gravierenden Straffälligkeit und seiner sich daraus ergebenden besonderen Gefährlichkeit, die das öffentliche Interesse der gegenständlichen aufenthaltsbeendenden Maßnahme rechtfertige, eine allfällige Trennung in Kauf zu nehmen. Ein Kontakt mit den Familienangehörigen könne auch nach einer Rückkehr vom BF in den Herkunftsstaat telefonisch oder über das Internet mittels Skype, WhatsApp, Facebook etc. aufrechterhalten werden. Mit der besonderen Gefährlichkeit des BF wurde auch das Einreisverbot begründet.

Mit Verfahrensanordnung vom 11.11.2019 wurde dem BF gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG ein Rechtsberater amtswegig zur Seite gestellt.

2.3. Gegen den Bescheid wurde binnen offener Frist im vollen Umfang Beschwerde erhoben. Darin wurde im Wesentlichen bestritten, dass der Tatbestand des § 6 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005 durch den vorliegenden Sachverhalt erfüllt sei bzw. eine Gemeingefährlichkeit des BF verneint. Weiters wurde darauf hingewiesen, dass der BF in Österreich aufgewachsen und nie in seinem Heimatland gewesen sei. Er sei minderjährig und gebe es keine Obsorgezusage aus seinem Heimatland. Er würde im Fall einer Abschiebung keine Unterstützung bekommen, seine Familie befinde sich in Österreich. Er wäre völlig auf sich allein gestellt, weshalb er jedenfalls im Falle einer Abschiebung in eine existenzbedrohende Lage geraten würde. Auch hinsichtlich der Rückkehrentscheidung wurde betont, dass die Bindung des BF zu Österreich jedenfalls jene zu seinem Heimatland übersteige, zumal sich auch seine gesamte Familie in Österreich befinde. Eine Rückkehrentscheidung würde einen unzulässigen Eingriff in sein Recht auf Achtung seines Privat- und Familienlebens darstellen. Hinsichtlich der Unzulässigkeit der Abschiebung wurde auf das jugendliche Alter des BF und die Tatsache, dass keine Obsorgezusage aus seinem Heimatstaat vorliege, verwiesen. Bestritten wurde zudem die Rechtmäßigkeit der Verhängung des Einreiseverbotes dem Grunde und der Höhe nach. Es wurde u.a. die Durchführung einer Beschwerdeverhandlung beantragt. Der Beschwerdeschrift beigelegt waren eine Betreuungsbestätigung der Firma XXXX vom 27.11.2019 sowie Fotografien von XXXX sowie XXXX die der BF XXXX .

2.4. Anlässlich der öffentlichen mündlichen Verhandlung am 11.12.2020 wurde Beweis aufgenommen durch Einvernahme des BF und seiner Mutter als gesetzliche Vertreterin im Beisein einer Rechtsvertretung des BF sowie weiters durch Einsichtnahme in die Verwaltungsakten des Bundesamtes sowie in den Akt des Bundesverwaltungsgerichtes. Der Vater des BF ist trotz ausgewiesener Zeugenladung unentschuldigt nicht erschienen.

Der BF brachte zu Befürchtungen hinsichtlich einer Rückkehr ins Herkunftsland befragt im Wesentlichen vor, dass er die Sprache nicht gut könne und dort auch keinen kenne. Die Eltern seiner Mutter kenne er schon, doch habe er keinen Kontakt zu diesen. Seine Mutter und seine Geschwister seien alle in Österreich. Auch sei das Leben dort schwieriger, so gebe es nicht so viele Arbeitsmöglichkeiten wie in Österreich und seien auch die Ärzte nicht so gut wie hier. Er habe eigentlich keine Angst vor irgendwelchen Personen dort, er wisse allerdings nicht, wie die reagieren, wenn jemand dorthin abgeschoben werde.

Die Mutter des BF gab als Zeugin dazu befragt im Wesentlichen an, dass ihr Sohn dort im Leben nicht zurechtkommen würde. Er könne dort nicht arbeiten und nicht studieren. Außerdem spreche ihr Sohn nicht besonders gut Tschetschenisch. Sie glaube nicht, dass dem BF eine Gefahr drohen würde. Es wäre ihm aber unmöglich, dort eine Arbeit zu bekommen oder einen Beruf zu ergreifen. In Österreich könne man notfalls ohne besondere Ausbildungen Arbeit bekommen, aber in Russland wäre dies für den BF unmöglich. In Tschetschenien würden sich die Eltern, eine Schwester und ein Bruder der Mutter des BF aufhalten. Sie habe täglich Kontakt zu ihren Familienangehörigen in Tschetschenien. Sie sei das letzte Mal vor einem Jahr in der Russischen Föderation bei ihrer Familie gewesen. In ihrem ursprünglichen Asylverfahren habe sie keine eigenen Fluchtgründe geltend gemacht, sondern auf jene ihres Ex-Mannes verwiesen. Weil sie inzwischen wieder nach Russland gefahren sei, bekomme sie statt Asyl jetzt eine Aufenthaltsberechtigung.

Dem BF und seiner Vertretung wurde der rechtskräftige Bescheid des Bundesamtes (vom 10.10.2019, Zl. 750905400 -190318584/BMI-BFA_OOE_RD) zu Kenntnis gebracht, mit welchem seinem Vater gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 der zuerkannte Status eines Asylberechtigten aberkannt und der Status eines subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt wurde. Dies wurde im Wesentlichen mit einer nachhaltigen Lageänderung im Herkunftsstaat sowie subjektiven Änderungen begründet. So sei der Vater des BF nach seiner Asylgewährung ohne Probleme in der Russischen Föderation aufhältig gewesen und habe sich zuletzt einen vom 10.04.2019 bis 10.04.2029 gültigen russischen Auslandsreisepass ausstellen lassen.

In der Beschwerdeverhandlung wurden den Parteien weiters aktuelle Feststellungen zur Situation in der Russischen Föderation zu Kenntnis gebracht und dem BF dazu eine Frist von zwei Wochen für eine Stellungnahme eingeräumt, wovon kein Gebrauch gemacht wurde.

2.5. Mit rechtskräftigen Bescheid des Bundesamtes vom 08.02.2021, Zl. 750905302 – 200848465, wurde auch der Mutter des BF der ihr mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 10.02.2009 zuerkannte Status einer Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 aberkannt, gemäß § 7 Abs. 4 AsylG 2005 festgestellt, dass ihr die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukomme und ihr gemäß § 8 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 der Status der subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt. Der Entscheidung ist zu entnehmen, dass die Mutter des BF laut eigenen Angaben inzwischen etwa fünf Mal – jeweils im Sommer – bei ihrer Familie in Tschetschenien zu Besuch war. Auch die älteste Schwester des BF sei in der Zwischenzeit etwa vier Mal in Tschetschenien gewesen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Der BF ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation, reiste im Juni 2005 im Alter von XXXX mit seinen Eltern und seiner Schwester illegal in das Bundesgebiet ein und wurde für ihn am 21.06.2005 ein Asylantrag gestellt.

Mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 10.02.2009, Zl. D7 313368-1/2008/8E, wurde ihm im Rahmen eines Familienverfahrens gemäß § 10 Abs. 2 AsylG aufgrund seiner Eigenschaft als Familienangehöriger seiner Eltern der Status des Asylberechtigten zuerkannt.

Beiden Elternteilen wurde zwischenzeitig mit rechtskräftigen Bescheiden des Bundesamtes vom 10.10.2019 sowie 08.02.2021 gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 der zuerkannte Status von Asylberechtigten aberkannt und der Status von subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt.

Die Umstände, auf Grund deren der Vater des BF als Flüchtling anerkannt worden ist, bestehen nicht mehr. Die Mutter des BF hat im ursprünglichen Verfahren keine eigenen Fluchtgründe geltend gemacht und war zuletzt 2019 im Herkunftsland zu Besuch. Beide Elternteile sowie die Geschwister des BF verfügen über gültige russische Reisedokumente. Der Vater des BF ist mit einer russischen Staatsangehörigen verheiratet, die sich zum Zeitpunkt der Beschwerdeverhandlung in Tschetschenien aufgehalten hat.

Beiden (inzwischen geschiedenen) Elternteilen sowie den drei Geschwistern des BF im Alter von XXXX , fast XXXX und XXXX Jahren kommt inzwischen der Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt-EU“ zu.

Der BF spricht Tschetschenisch und Deutsch. Er ist ledig, kinderlos, gesund und arbeitsfähig.

In Österreich halten sich die geschiedenen Eltern, drei Geschwister, die Großeltern väterlicherseits sowie eine Tante auf. Im Herkunftsland leben in Tschetschenien die Großeltern sowie ein Bruder und eine Schwester mütterlicherseits. Die Familienangehörigen im Herkunftsland sind alle erwerbstätig oder beziehen eine Pension. Weiters halten sich drei Tanten und sieben Onkel des Vaters des BF in Tschetschenien auf.

Der BF wurde bisher in Österreich zwischen 2019 und 2021 insgesamt drei Mal wegen Vergehen und schwerer Verbrechen (schwere Körperverletzung nach § 84 Abs. 3 und 4 StGB, absichtlich schwere Körperverletzung nach § 87 Abs. 1 StGB) durch Gerichte zu Freiheitsstrafen von insgesamt 42 Monaten (davon 32 Monate unbedingt) rechtskräftig verurteilt. Zuletzt wurde er mit Urteil eines Landesgerichtes vom XXXX 2020 wegen des Vergehens des versuchten Widerstandes gegen die Staatsgewalt sowie des zweifachen Vergehens der schweren Körperverletzung zu einer unbedingten Freiheitsstrafe im Ausmaß von neun Monaten rechtskräftig verurteilt.

Der BF ist zuletzt seit XXXX 2020 in Justizhaft.

Es liegen stichhaltige Gründe für die Annahme vor, dass vom BF eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit ausgeht.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF im Falle seiner Rückkehr in die Russische Föderation mit hinreichender Wahrscheinlichkeit einer asylrelevanten Verfolgung oder einer sonstigen unmenschlichen Behandlung ausgesetzt ist.

Es konnte ferner nicht festgestellt werden, dass der BF im Falle seiner Rückkehr in die Russische Föderation in eine existenzgefährdende Notlage geraten würde und ihm die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen wäre. Die Familienangehörigen des BF können ihn dort versorgen. Der BF hat im Herkunftsstaat Zugang zu Sozialbeihilfen, Krankenversicherung und medizinischer Versorgung.

Im Übrigen werden die Ausführungen im Verfahrensgang der Entscheidung zugrunde gelegt.

1.3. Zur Situation im Herkunftsland wird von den vom Bundesverwaltungsgericht ins Verfahren eingeführten Länderinformationen zur Russischen Föderation bzw. Tschetschenien ausgegangen:

Politische Lage

Die Russische Föderation hat ca. 143 Millionen Einwohner (GIZ 2.2020c, vgl. CIA 28.2.2020). Russland ist eine Präsidialdemokratie mit föderativem Staatsaufbau. Der Präsident verfügt über weitreichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik (GIZ 2.2020a, vgl. EASO 3.2017). Er ernennt auf Vorschlag der Staatsduma den Vorsitzenden der Regierung, die stellvertretenden Vorsitzenden und die Minister, und entlässt sie (GIZ 2.2020a). Wladimir Putin ist im März 2018 bei der Präsidentschaftswahl mit 76,7% im Amt bestätigt worden (Standard.at 19.3.2018, vgl. FH 4.2.2019). Die Wahlbeteiligung lag der Nachrichtenagentur TASS zufolge bei knapp 67% und erfüllte damit nicht ganz die Erwartungen der Präsidialadministration (Standard.at 19.3.2018). Putins wohl stärkster Widersacher Alexej Nawalny durfte nicht bei der Wahl kandidieren. Er war zuvor in einem von vielen als politisch motiviert eingestuften Prozess verurteilt worden und rief daraufhin zum Boykott der Abstimmung auf, um die Wahlbeteiligung zu drücken (Presse.at 19.3.2018, vgl. FH 4.2.2019). Oppositionelle Politiker und die Wahlbeobachtergruppe Golos hatten mehr als 2.400 Verstöße gezählt, darunter mehrfach abgegebene Stimmen und die Behinderung von Wahlbeobachtern. Wähler waren demnach auch massiv unter Druck gesetzt worden, an der Wahl teilzunehmen. Auch die Wahlkommission wies auf mutmaßliche Manipulationen hin (Tagesschau.de 19.3.2018, vgl. FH 1.2018). Putin kann dem Ergebnis zufolge nach vielen Jahren an der Staatsspitze weitere sechs Jahre das Land führen. Gemäß der [derzeitigen] Verfassung darf er nach dem Ende seiner sechsjährigen Amtszeit nicht erneut antreten, da es eine Beschränkung auf zwei aufeinander folgende Amtszeiten gibt (Tagesschau.de 19.3.2018, vgl. OSCE/ODIHR 18.3.2018).

Die Verfassung wurde per Referendum am 12.12.1993 mit 58,4% der Stimmen angenommen. Sie garantiert die Menschen- und Bürgerrechte. Das Prinzip der Gewaltenteilung ist zwar in der Verfassung verankert, jedoch verfügt der Präsident über eine Machtfülle, die ihn weitgehend unabhängig regieren lässt. Er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, trägt die Verantwortung für die Innen- und Außenpolitik und kann die Gesetzesentwürfe des Parlaments blockieren. Die Regierung ist dem Präsidenten untergeordnet, der den Premierminister mit Zustimmung der Staatsduma ernennt. Das Zweikammerparlament, bestehend aus Staatsduma und Föderationsrat, ist in seinem Einfluss stark beschränkt (GIZ 2.2020a). Der Föderationsrat ist als „obere Parlamentskammer“ das Verfassungsorgan, das die Föderationssubjekte auf föderaler Ebene vertritt. Er besteht aus 178 Abgeordneten: Jedes Föderationssubjekt entsendet je einen Vertreter aus Exekutive und Legislative in den Föderationsrat. Die Staatsduma mit 450 Sitzen wird für fünf Jahre gewählt. Es gibt eine Fünfprozentklausel (GIZ 2.2020a, vgl. AA 2.3.2020c).

Im Jänner 2020 kündigte Präsident Putin bei seiner Neujahrsrede Verfassungsänderungen an. Daraufhin trat die Regierung unter Ministerpräsident Medwedew zurück (Spiegel Online 15.1.2020). Kurz darauf wurde Putins Kandidat Michail Mischustin, der zehn Jahre lang Leiter der russischen Steuerbehörde war, von der Duma zum neuen Ministerpräsident gewählt (Spiegel Online 16.1.2020). Dmitrij Medwedew wird Vizevorsitzender im Sicherheitsrat. Die angestrebte Verfassungsänderung ist ein umfangreicher Maßnahmenkatalog, bei dem es sich laut Putin um von der Gesellschaft geforderte Veränderungen handelt (Spiegel Online 15.1.2020). Das Volk wird über die Verfassungsänderungen abstimmen, um diese zu legitimieren (NZZ 19.3.2020), jedoch wird die Abstimmung aufgrund der Corona-Pandemie vom geplanten Termin im April nach hinten verschoben (ORF.at 25.3.2020). Vorgesehen ist nicht nur eine Ausweitung der Machtbefugnisse des Präsidenten. Putin soll nach einem Votum der Abgeordneten auch die Möglichkeit haben, sich noch einmal für maximal zwei Amtszeiten zu bewerben – er könnte also bei Wiederwahl bis 2036 im Amt bleiben. Nach bisheriger Verfassung könnte er 2024 nicht mehr antreten. Kritiker und Oppositionelle werfen Putin einen Staatsstreich vor. Das Verfassungsgericht hat den Änderungen bereits zugestimmt (NZZ 19.3.2020).

Zu den wichtigen Parteien der Russischen Föderation gehören: die Regierungspartei Einiges Russland (Jedinaja Rossija) mit 1,9 Millionen Mitgliedern; Gerechtes Russland (Sprawedliwaja Rossija) mit 400.000 Mitgliedern; die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) mit 150.000 Mitgliedern, die die Nachfolgepartei der früheren KP ist; die Liberaldemokratische Partei (LDPR) mit 185.000 Mitgliedern, die populistisch und nationalistisch ausgerichtet ist; die Wachstumspartei (Partija Rosta), die sich zum Neoliberalismus bekennt; Jabloko, eine demokratisch-liberale Partei mit 55.000 Mitgliedern; die Patrioten Russlands (Patrioty Rossii), links-zentristisch mit 85.000 Mitgliedern; die Partei der Volksfreiheit (PARNAS) und die demokratisch-liberale Partei mit 58.000 Mitgliedern (GIZ 2.2020a). Die Zusammensetzung der Staatsduma nach Parteimitgliedschaft gliedert sich wie folgt: Einiges Russland (343 Sitze), Kommunistische Partei Russlands (42 Sitze), Liberaldemokratische Partei Russlands (39 Sitze), Gerechtes Russland (23 Sitze), Vaterland-Partei (1 Sitz), Bürgerplattform (1 Sitz) (RIA Nowosti 23.9.2016, vgl. Global Security 21.9.2016). Die sogenannte Systemopposition stellt die etablierten Machtverhältnisse nicht infrage und übt nur moderate Kritik am Kreml (SWP 11.2018).

Russland ist eine Föderation, die (einschließlich der international nicht anerkannten Annexion der Republik Krim und der Stadt föderalen Ranges Sewastopol) aus 85 Föderationssubjekten mit unterschiedlichem Autonomiegrad besteht. Die Föderationssubjekte (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Gebiete, Regionen und Föderale Städte) verfügen über jeweils eine eigene Legislative und Exekutive (GIZ 2.2020a, vgl. AA 2.3.2020c). Die Gouverneure der Föderationssubjekte werden auf Vorschlag der jeweils stärksten Fraktion der regionalen Parlamente vom Staatspräsidenten ernannt. Dabei wählt der Präsident aus einer Liste dreier vorgeschlagener Kandidaten den Gouverneur aus (GIZ 2.2020a).

Es gibt acht Föderationskreise (Nordwestrussland, Zentralrussland, Südrussland, Nordkaukasus, Wolga, Ural, Sibirien, Ferner Osten), denen jeweils ein Bevollmächtigter des Präsidenten vorsteht. Der Staatsrat der Gouverneure tagt unter Leitung des Präsidenten und gibt der Exekutive Empfehlungen zu aktuellen politischen Fragen und zu Gesetzesprojekten. Nach der Eingliederung der Republik Krim und der Stadt Sewastopol in die Russische Föderation wurde am 21.3.2014 der neunte Föderationskreis Krim gegründet. Die konsequente Rezentralisierung der Staatsverwaltung führt seit 2000 zu politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit der Regionen vom Zentrum. Diese Tendenzen wurden bei der Abschaffung der Direktwahl der Gouverneure in den Regionen und der erneuten Unterordnung der regionalen und kommunalen Machtorgane unter das föderale Zentrum („exekutive Machtvertikale“) deutlich (GIZ 2.2020a).

Bei den in einigen Regionen stattgefundenen Regionalwahlen am 8.9.2019 hat die Regierungspartei Einiges Russland laut Angaben der Wahlleitung in den meisten Regionen ihre Mehrheit verteidigt. Im umkämpften Moskauer Stadtrat verlor sie allerdings viele Mandate (Zeit Online 9.9.2019). Hier stellt die Partei künftig nur noch 25 von 45 Vertretern, zuvor waren es 38. Die Kommunisten, die bisher fünf Stadträte stellten, bekommen 13 Sitze. Die liberale Jabloko-Partei bekommt vier und die linksgerichtete Partei Gerechtes Russland drei Sitze (ORF 18.9.2019). Die beiden letzten waren bisher nicht im Moskauer Stadtrat vertreten. Zuvor sind zahlreiche Oppositionskandidaten von der Wahl ausgeschlossen worden, was zu den größten Protesten seit Jahren geführt hat (Zeit Online 9.9.2019), bei denen mehr als 1.000 Demonstranten festgenommen wurden (Kleine Zeitung 28.7.2019). Viele von den Oppositionskandidaten haben zu einer "smarten Abstimmung" aufgerufen. Die Bürgerinnen sollten jeden wählen – nur nicht die Kandidaten der Regierungspartei. Bei den für die russische Regierung besonders wichtigen Gouverneurswahlen gewannen die Kandidaten der Regierungspartei überall (Zeit Online 9.9.2019).

Quellen:

?        AA – Auswärtiges Amt (2.3.2020c): Russische Föderation – Politisches Portrait, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/russischefoederation-node/politisches-portrait/201710,

?        CIA – Central Intelligence Agency (28.2.2020): The World Factbook, Central Asia: Russia, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/rs.html,

?        EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf,

?        FH – Freedom House (4.2.2019): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2018 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002603.html,

?        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (2.2020a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c17836,

?        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (2.2020c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/,

?        Global Security (21.9.2016): Duma Election - 18 September 2016, https://www.globalsecurity.org/military/world/russia/politics-2016.htm,

?        Kleine Zeitung (28.7.2019): Mehr als 1.300 Festnahmen bei Kundgebung in Moskau, https://www.kleinezeitung.at/politik/5666169/Russland_Mehr-als-1300-Festnahmen-bei-Kundgebung-in-Moskau,

?        NZZ – Neue Zürcher Zeitung (19.3.2020): Putin hält trotz Coronavirus-Krise an der Verfassungsabstimmung fest, https://www.nzz.ch/international/coronavirus-in-russland-krise-ueberschattet-verfassungsabstimmung-ld.1547213,

?        ORF.at (25.3.2020): Putin verschiebt Abstimmung über Verfassungsänderung, https://orf.at/stories/3159340/,

?        ORF – Observer Research Foundation (18.9.2019): Managing democracy in Russia: Elections 2019, https://www.orfonline.org/expert-speak/managing-democracy-in-russia-elections-2019-55603/,

?        OSCE/ODIHR - Organization for Security and Co-operation in Europe/Office for Democratic Institutions and Human Rights (18.3.2018): Russian Federation Presidential Election Observation Mission Final Report, https://www.osce.org/odihr/elections/383577?download=true,

?        Presse.at (19.3.2018): Putin: "Das russische Volk schließt sich um Machtzentrum zusammen", https://diepresse.com/home/ausland/aussenpolitik/5391213/Putin_Das-russische-Volk-schliesst-sich-um-Machtzentrum-zusammen,

?        RIA Nowosti (23.9.2016): ??? ???????? ?????????? ??????? ? ???????, https://ria.ru/20160923/1477668197.html,

?        Spiegel Online (15.1.2020): Putins Operation Machterhalt, https://www.spiegel.de/politik/ausland/russland-putins-operation-machterhalt-a-aafe31f8-54b2-4d38-9bf4-6e613e586b96,

?        Spiegel Online (16.1.2020): Michail Mischustin ist neuer Premierminister Russlands, https://www.spiegel.de/politik/ausland/russland-michail-mischustin-ist-neuer-premierminister-a-1b3bd2eb-bc42-43cf-9033-25c8221cc7ed,

?        Standard.at (19.3.2018): Putin sichert sich vierte Amtszeit als Russlands Präsident, https://derstandard.at/2000076383332/Putin-sichert-sich-vierte-Amtszeit-als-Praesident,

?        Tagesschau.de (19.3.2018): Klarer Sieg für Putin, https://www.tagesschau.de/ausland/russland-wahl-putin-101.html,

?        Zeit Online (9.9.2019): Russische Regierungspartei gewinnt Regionalwahlen, https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-09/russland-kreml-partei-sieg-regionalwahlen-moskau

Tschetschenien

Die Einwohnerzahl Tschetscheniens liegt bei ca. 1,5 Millionen. Laut Aussagen des Republikoberhauptes Ramzan Kadyrow sollen rund 600.000 Tschetschenen außerhalb der Region leben – eine Hälfte davon in der Russischen Föderation, die andere Hälfte im Ausland. Experten zufolge hat die Hälfte von ihnen Tschetschenien während der Kriege nach dem Zerfall der Sowjetunion verlassen, bei der anderen Hälfte handelt es sich um Siedlungsgebiete außerhalb Tschetscheniens. Diese entstanden bereits vor über einem Jahrhundert, teilweise durch Migration aus dem Russischen in das Osmanische Reich, und zwar über Anatolien bis in den arabischen Raum. Was die Anzahl von Tschetschenen in anderen russischen Landesteilen anbelangt, so ist es aufgrund der öffentlichen Datenlage schwierig, verlässliche Aussagen zu treffen (ÖB Moskau 12.2019).

In Tschetschenien gilt Ramzan Kadyrow als Garant Moskaus für Stabilität. Mit Duldung der russischen Staatsführung hat er in der Republik ein autoritäres Herrschaftssystem geschaffen, das vollkommen auf seine eigene Person ausgerichtet ist und weitgehend außerhalb des föderalen Rechtsrahmens funktioniert (ÖB Moskau 12.2019, vgl. AA 13.2.2019, FH 4.3.2020). Fraglich bleibt auch die föderale Kontrolle über die tschetschenischen Sicherheitskräfte, deren faktische Loyalität vorrangig dem Oberhaupt der Republik gilt. Im Juni 2016 beschloss das tschetschenische Parlament die vorzeitige Selbstauflösung, um vorgezogene Neuwahlen parallel zu den Wahlen zum Oberhaupt der Republik durchzuführen. Bei den russlandweiten Wahlen vom 18.9.2016 lag die Wahlbeteiligung in Tschetschenien weit über dem landesweiten Durchschnitt. Kadyrow wurde laut offiziellen Angaben bei hoher Wahlbeteiligung mit überwältigender Mehrheit für eine weitere Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Unabhängige Medien berichteten über Unregelmäßigen bei den Wahlen. Auch im Vorfeld der Wahlen hatte Human Rights Watch über massive Druckausübung auf Kritiker des derzeitigen Machthabers berichtet. Das tschetschenische Oberhaupt bekundet immer wieder seine absolute Loyalität gegenüber dem Kreml. Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen politische Gegner, wird rigoros vorgegangen (ÖB Moskau 12.2019, vgl. AA 13.2.2019). Um die Kontrolle über die Republik zu behalten, wendet Kadyrow unterschiedliche Formen der Gewalt an, wie z.B. Entführungen, Folter und außergerichtliche Tötungen (FH 4.3.2020, vgl. AA 13.2.2019). Dies kann manchmal auch außerhalb Russlands stattfinden. Kadyrow wird verdächtigt, die Ermordung von unliebsamen Personen, die ins Ausland geflohen sind, angeordnet zu haben (FH 4.3.2020).

Während der mittlerweile über zehn Jahre dauernden Herrschaft des amtierenden Republikführers Ramzan Kadyrow gestaltete sich Tschetscheniens Verhältnis zur Russischen Föderation ambivalent. Einerseits ist Kadyrow bemüht, die Zugehörigkeit der Republik zu Russland mit Nachdruck zu bekunden, tschetschenischen Nationalismus mit russischem Patriotismus zu verbinden, Russlands Präsidenten in der tschetschenischen Hauptstadt Grozny als Staatsikone auszustellen und sich als „Fußsoldat Putins“ zu präsentieren. Andererseits hat er das Föderationssubjekt Tschetschenien so weit in einen Privatstaat verwandelt, dass in der Umgebung des russischen Präsidenten die Frage gestellt wird, inwieweit sich die von Wladimir Putin ausgebaute „föderale Machtvertikale“ dorthin erstreckt. Zu Kadyrows Eigenmächtigkeit gehört auch eine Außenpolitik, die sich vor allem an den Mittleren Osten und die gesamte islamische Welt richtet. Kein anderer regionaler Führer beansprucht eine vergleichbare, über sein eigenes Verwaltungsgebiet und die Grenzen Russlands hinausreichende Rolle. Kadyrow inszeniert Tschetschenien als Anwalt eines russländischen Vielvölker-Zusammenhalts, ist aber längst zum „inneren Ausland“ Russlands geworden. Deutlichster Ausdruck dieser Entwicklung ist ein eigener Rechtszustand, in dem islamische und gewohnheitsrechtliche Regelungssysteme sowie die Willkür

des Republikführers in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands geraten (SWP 3.2018).

Ein Abkommen von September 2018 über die Abtretung von umstrittenem Territorium von Inguschetien an Tschetschenien hatte politische Unruhen in Inguschetien zur Folge (ÖB Moskau 12.2019). Der Konflikt um die Grenzziehung flammt immer wieder auf. Im März 2019 wurden Proteste in Inguschetien gewaltsam aufgelöst, wobei manche Teilnehmer körperlich gegen die Polizei Widerstand leisteten. 33 Personen wurden festgenommen (HRW 14.1.2020). Die Proteste hatten außerdem den Rücktritt des inguschetischen Präsidenten Junus-bek Jewkurow im Juni 2019 zur Folge (ÖB Moskau 12.2019). Jewkurows Nachfolger ist Machmud-Ali Kalimatow (NZZ 29.6.2019).

Quellen:

?        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf,

?        FH – Freedom House (4.3.2020): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2019 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025879.html,

?        HRW – Human Rights Watch (14.1.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2022681.html,

?        NZZ – Neue Zürcher Zeitung (29.6.2019): Die Nordkaukasus-Republik Inguschetien ist innerlich zerrissen, https://www.nzz.ch/international/nordkaukasus-inguschetien-nach-protesten-innerlich-zerrissen-ld.1492435,

?        ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025975/RUSS_%C3%96B_Bericht_2019_12.pdf,

?        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (3.2018): Tschetscheniens Stellung in der Russischen Föderation. Ramsan Kadyrows Privatstaat und Wladimir Putins föderale Machtvertikale, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2018S01_hlb.pdf

Sicherheitslage

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen (AA 19.3.2020a, vgl. BMeiA 19.3.2020, GIZ 2.2020d, EDA 19.3.2020). Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 19.3.2020a, vgl. BMeiA 19.3.2020, EDA 19.3.2020). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 19.3.2020).

Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Die gewaltsamen Zwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem ägyptischen Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).

Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sog. IS (Islamischer Staat) kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).

Quellen:

?        AA – Auswärtiges Amt (19.3.2020a): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/russischefoederationsicherheit/201536#content_0,

?        BMeiA (19.3.2020): Reiseinformation Russische Föderation, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/russische-foederation/,

?        Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden, https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russische-methoden.724.de.html?dram:article_id=389824,

?        EDA – Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (19.3.2020): Reisehinweise für Russland, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/russland/reisehinweise-fuerrussland.html,

?        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (2.2020d): Russland, Alltag, https://www.liportal.de/russland/alltag/#c18170,

?        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf

Nordkaukasus

Die Menschenrechtsorganisation Memorial beschreibt in ihrem Bericht über den Nordkaukasus vom Sommer 2016 eindrücklich, dass die Sicherheitslage für gewöhnliche Bürger zwar stabil ist, Aufständische einerseits und Kritiker der bestehenden Systeme sowie Meinungs- und Menschenrechtsaktivisten andererseits, weiterhin repressiven Maßnahmen und Gewalt bis hin zum Tod ausgesetzt sind (AA 13.2.2019). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff „low level insurgency“ umschrieben (SWP 4.2017).

Das Kaukasus-Emirat, das seit 2007 den islamistischen Untergrundkampf im Nordkaukasus koordiniert, ist seit Ende 2014 durch das Überlaufen einiger Feldkommandeure zum sog. IS von Spaltungstendenzen erschüttert und geschwächt (SWP 10.2015, vgl. ÖB Moskau 12.2019). Der IS verstärkte 2015 seine russischsprachige Propaganda in Internet-Foren wie Furat Media, ohne dass die Behörden laut Nowaja Gazeta diesem Treiben große Aufmerksamkeit widmeten. Am 23. Juni 2015 rief der IS-Sprecher Muhammad al-Adnani ein „Wilajat Kavkaz“, eine „Provinz Kaukasus“, als Teil des IS-Kalifats aus. Es war ein propagandistischer Akt, der nicht bedeutet, dass der IS in dieser Region militärisch präsent ist oder sie gar kontrolliert, der aber den zunehmenden Einfluss dieser Terrormiliz auf die islamistische Szene im Nordkaukasus symbolisiert. Zuvor hatten mehr und mehr ideologische und militärische Führer des Kaukasus-Emirats dem „Kalifen“ Abu Bakr al-Baghdadi die Treue geschworen und sich von al-Qaida abgewandt. Damit bestätigte sich im islamistischen Untergrund im Nordkaukasus ein Trend, dem zuvor schon Dschihad-Netzwerke in Nordafrika, Jemen, Pakistan und Afghanistan gefolgt waren (SWP 10.2015).

Ein Risikomoment für die Stabilität in der Region ist die Verbreitung des radikalen Islamismus. Innerhalb der extremistischen Gruppierungen verschoben sich etwa ab 2014 die Sympathien zur regionalen Zweigstelle des sog. IS, die mittlerweile das Kaukasus-Emirat praktisch vollständig verdrängt haben soll. Dabei sorgt nicht nur Propaganda und Rekrutierung des IS im Nordkaukasus für Besorgnis der Sicherheitskräfte. So wurden Mitte Dezember 2017 im Nordkaukasus mehrere Kämpfer getötet, die laut Angaben des Anti-Terrorismuskomitees dem IS zuzurechnen waren. Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak, haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist (ÖB Moskau 12.2019). 2018 erzielten die Strafverfolgungsbehörden maßgebliche Erfolge, die Anzahl terroristisch motivierter Verbrechen wurde mehr als halbiert. Sechs Terroranschläge wurden verhindert und insgesamt 50 Terroristen getötet. In der ersten Hälfte des Jahres 2019 nahm die Anzahl bewaffneter Vorfälle im Vergleich zum Vorjahr weiter ab. Der größte Anteil an Gewalt im Nordkaukasus entfällt weiterhin auf Dagestan und Tschetschenien (ÖB Moskau 12.2019).

Im Jahr 2018 sank die Gesamtzahl der Opfer des bewaffneten Konflikts im Nordkaukasus gegenüber 2017 um 38,3%, und zwar von 175 auf 108 Personen. Von allen Regionen des Föderationskreis Nordkaukasus hatte Dagestan die größte Zahl der Toten und Verwundeten zu verzeichnen; Tschetschenien belegte den zweiten Platz (Caucasian Knot 30.8.2019).

Im Jahr 2019 liegt die Gesamtopferzahl des Konfliktes im Nordkaukasus [Anm.: durch Addieren aller Quartalsberichte von Caucasian Knot] bei 44 Personen, davon wurden 31 getötet (Caucasian Knot 9.9.2019, Caucasian Knot 14.9.2019, Caucasian Knot 18.12.2019, Caucasian Knot 11.3.2020).

Quellen:

?        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf,

?        Caucasian Knot (30.8.2019): In 2018, the count of conflict victims in Northern Caucasus dropped by 38%, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/reduction_number_victims_2018/,

?        Caucasian Knot (9.9.2019): 21 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus in Q1 of 2019, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48385/,

?        Caucasian Knot (14.9.2019): In Quarter 2 of 2019, 10 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48465/,

?        Caucasian Knot (18.12.2019): In 3rd quarter of 2019, seven persons fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/49431/,

?        Caucasian Knot (11.3.2020): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 4 of 2019 under the data of Caucasian Knot, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/50267/,

?        ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025975/RUSS_%C3%96B_Bericht_2019_12.pdf,

?        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (10.2015): Reaktionen auf den »Islamischen Staat« (ISIS) in Russland und Nachbarländern, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2015A85_hlb.pdf,

?        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf

Tschetschenien

Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpfen Tschetschenen in zunehmender Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat – etwa in der Ostukraine sowohl aufseiten pro-russischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite, sowie in Syrien und im Irak (SWP 4.2015). In Tschetschenien konnte der Kriegszustand überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet werden. In einem Prozess der „Tschetschenisierung“ wurde die Aufstandsbekämpfung im zweiten Tschetschenienkrieg an lokale Sicherheitskräfte delegiert, die sogenannten Kadyrowzy. Diese auf den ersten Blick erfolgreiche Strategie steht aber kaum für nachhaltige Befriedung (SWP 4.2017).

Im Jahr 2018 wurden in Tschetschenien mindestens 35 Menschen Opfer des bewaffneten Konflikts, von denen mindestens 26 getötet und neun weitere verletzt wurden. Unter den Opfern befanden sich drei Zivilisten (zwei getötet, einer verletzt), elf Exekutivkräfte (drei getötet, acht verletzt) und 21 Aufständische (alle getötet). Im Vergleich zu 2017, als es 75 Opfer gab, sank die Gesamtopferzahl 2018 um 53,3% (Caucasian Knot 30.8.2019). 2019 wurden in Tschetschenien im Rahmen des bewaffneten Konflikts sechs Personen getötet und fünf verletzt [Anm.: durch Addieren aller Quartalsberichte von Caucasian Knot] (Caucasian Knot 9.9.2019, Caucasian Knot 14.9.2019, Caucasian Knot 18.12.2019, Caucasian Knot 11.3.2020).

Quellen:

?        Caucasian Knot (30.8.2019): In 2018, the count of conflict victims in Northern Caucasus dropped by 38%, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/reduction_number_victims_2018/,

?        Caucasian Knot (9.9.2019): 21 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus in Q1 of 2019, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48385/,

?        Caucasian Knot (14.9.2019): In Quarter 2 of 2019, 10 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48465/,

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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