TE Bvwg Erkenntnis 2021/8/19 W182 1261319-3

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 19.08.2021
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Entscheidungsdatum

19.08.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z4
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §7 Abs1 Z2
AsylG 2005 §7 Abs4
AsylG 2005 §8 Abs1 Z2
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z3
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs3 Z1
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W182 1261319-3/14E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. PFEILER über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen (BBU) GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 01.09.2020, Zl. 740882907 - 170991713, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß § 28 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG), BGBl. I Nr. 33/2013 (VwGVG) idgF, zu Recht erkannt:

A) Die Beschwerde wird gemäß §§ 7 Abs. 1 und Abs. 4, 8 Abs. 1, 10 Abs. 1, 57 Asylgesetz 2005, BGBl. I. Nr. 100/2005 (AsylG 2005) idgF, § 9 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl I. Nr. 87/2012 (BFA-VG) idgF, §§ 52 Abs. 2, Abs. 9, 53 Abs. 1 iVm Abs. 3, 55 Abs. 1 - 3 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I. Nr. 100/2005 (FPG) idgF, mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass dass die Dauer des Einreiseverbotes auf fünf Jahre herabgesetzt wird.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz, BGBl. Nr. 1/1930 (B-VG) idgF, nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer (BF), ein Staatsangehöriger der Russischen Föderation und Angehöriger der tschetschenischen Volksgruppe, reiste zusammen mit seiner damaligen Lebensgefährtin sowie zwei gemeinsamen minderjährigen Kindern illegal in das Bundesgebiet ein und stellte am 26.04.2004 einen Asylantrag, welcher zunächst mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 25.05.2005, Zl. 04 08.829-BAT, abgewiesen wurde.

2. Mit rechtskräftigem Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenates vom 03.06.2008, Zl. 261.319/0/17E-IX/27/05, wurde der gegen diesen Bescheid eingebrachten Berufung stattgegeben und dem BF gemäß § 7 AsylG 1997 Asyl gewährt sowie gemäß § 12 leg. cit. festgestellt, dass diesem damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der Beschwerdeführer eine seinem Herkunftsstaat zurechenbare, asylrelevante Verfolgung behauptet habe. So sei er Ende 1994 im Verlauf des ersten Krieges von russischen Soldaten durch Schüsse in die Beine verletzt worden. Im Jahr 2000 sei er wie andere Dorfbewohner bei einer Säuberungsaktion von maskierten Soldaten in ein Lager verschleppt, misshandelt und nach zwei Monaten durch Intervention von Verwandten mit einer Entlassungsbestätigung freigelassen worden. Im Jahr 2002 sei er im Zuge einer Straßenkontrolle wegen seines Aufenthaltes in dem Lager von Soldaten angehalten, jedoch nach zwei Tagen gegen Lösegeldzahlung freigelassen worden. 2003 sei er für drei Tage mit anderen Personen bei einem Besuch in XXXX festgenommen, jedoch aufgrund einer Intervention eines Schulkollegen, der für ihn gebürgt habe, freigelassen worden. Nachdem er 2004 beinahe von russischen Soldaten festgenommen worden sei, habe er das Herkunftsland verlassen. Der BF habe nie aktiv an Kampfhandlungen teilgenommen, jedoch in beiden Kriegen die tschetschenischen Kämpfer mit Lebensmittel und Medikamenten unterstützt. Im Ermittlungsverfahren sei hervorgekommen, dass dieses Vorbringen glaubwürdig und im Hinblick auf die Länderfeststellungen plausibel sei.

3. Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen XXXX vom XXXX zu Zahl XXXX , rechtskräftig am XXXX , wurde der BF wegen des Verbrechens nach § 169 Abs. 1 StGB (Brandstiftung), des Vergehens gemäß § 105 Abs. 1 StGB (Nötigung), sowie des Vergehens gemäß §§ 15, 12 dritter Fall iVm 146 und 147 Abs. 2 StGB (schwerer Betrug) zu einer unbedingten Freiheitsstrafe im Ausmaß von vier Jahren verurteilt.

4. Aufgrund eben genannter rechtskräftiger Verurteilung des Beschwerdeführers leitete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 21.01.2020 ein Aberkennungsverfahren gegen diesen ein.

5. Der BF wurde am 08.08.2020 niederschriftlich vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl einvernommen; im Zuge dessen wurde selbiger zu den Gründen für die Asylgewährung im Jahr 2008 ebenso wie auch zu seinen persönlichen Verhältnissen in der Russischen Föderation sowie in Österreich befragt. Dazu erklärte der Beschwerdeführer zusammengefasst, aus XXXX zu stammen und dort neun Jahre lang die Grund- sowie die Hauptschule besucht zu haben. Anschließend hätte er eine Schlosserlehre erfolgreich abgeschlossen und mit der Ausübung dieses Berufs auch seinen Lebensunterhalt finanziert. Im Bundesgebiet habe der BF immer wieder diverse Berufe ausgeübt und auch im Gefängnis gearbeitet. Aktuell bestreite er seit seiner bedingten Entlassung aus der Strafhaft am XXXX 2020 seinen Lebensunterhalt aus Leistungen des AMS.

Mit der traditionell nach muslimischen Ritus geehelichten Mutter seiner vier Söhne lebe er aktuell nicht zusammen. Sie hätten eine „Beziehungspause“. Bei ihm würde lediglich sein ältester Sohn XXXX leben, gegen den ebenfalls ein separates Asylaberkennungsverfahren laufe; alle anderen Söhne würden aktuell bei deren Mutter wohnen. Zweimal in der Woche hätte der Beschwerdeführer aber in Form von Telefonaten und Spaziergängen Kontakt zu diesen. Davon abgesehen verfüge er in Österreich ansonsten über keinerlei verwandtschaftliche Anknüpfungspunkte. Demgegenüber würden in seinem Heimatland nach wie vor seine Mutter, sein Bruder, seine Schwester sowie diverse Onkeln und Tanten leben, mit welchen er auch regelmäßig telefoniere. Wenngleich er keinerlei Sprachzertifikate präsentieren könne, so hätte der BF doch immer wieder Deutschkurse besucht und sei daher auch in der Lage, sein Alltagsleben ohne Zuhilfenahme eines Dolmetschers zu meistern. An Sozialkontakten zur ansässigen Bevölkerung könne er auf einige Bekannte und Nachbarn verweisen, denen der Beschwerdeführer freundschaftlich verbunden sei. Zu seinen strafrechtlichen Verurteilungen sei es durch Stress mit seiner Familie und Schulden gekommen. Der BF habe sich im Strafprozess geständig gezeigt. Zu jenen Personen, welche mit ihm durch Brandstiftung einen Versicherungsbetrug begehen hätten wollen, halte er mittlerweile keinerlei Kontakt mehr.

Zu den Gründen für die Zuerkennung des Asylstatus befragt, gab der BF an, von russischen Soldaten gefangen gehalten und geschlagen worden zu sein. Nach seiner Haftentlassung sei er weiterhin von KADYROWs Leuten gesucht worden. Weshalb er überhaupt inhaftiert worden sei, könne der BF nicht sagen, zumal er nie an Kampfhandlungen beteiligt gewesen wäre. Dennoch befürchte er, noch immer von KADYROWs Leuten gesucht zu werden, zumal sich diese angeblich vor ungefähr zwei Jahren bei seinen Geschwistern nach seinem Verbleib erkundigt haben. Auf den Vorhalt, dass er in seinem ursprünglichen Asylverfahren angegeben habe, tschetschenische Kämpfer mit Medikamenten beliefert zu haben, entgegnete der Beschwerdeführer, sich nicht daran erinnern zu können und erklärte, „damals keine Widerstandskämpfer unterstützt, weder mit Medikamenten noch mit Verpflegung oder Waffen“ zu haben. Generell sei es ihm völlig unerklärlich, weshalb er jemals ins Visier der russischen Streitkräfte respektive KADYROW geraten habe können. Was ihn im Falle seiner Rückkehr in sein Herkunftsland erwarten würde, könne der BF nicht sagen. Generell beunruhige ihn aber die Präsenz von den Gefolgsleuten KADYROWs, welche sogar im Bundesgebiet präsent wären. In der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens verfüge der Beschwerdeführer über keinerlei Verwandte, weshalb er sich dort auch kein Leben vorstellen könne oder wolle.

6. Mit dem im Spruch genannten Bescheid vom 01.09.2020 erkannte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl dem BF den ihm mit Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenates vom 03.06.2008 zuerkannten Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100/2005, ab und stellte gemäß § 7 Abs. 4 AsylG 2005 fest, dass dem Beschwerdeführer die Flüchtlingseigenschaft nicht mehr zukomme (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 wurde dem BF der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG), BGBl. I Nr. 87/2012, wurde gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 3 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG), BGBl. I Nr. 100/2005, erlassen (Spruchpunkt IV.) sowie gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 5 FPG wurde gegen den Beschwerdeführer ein unbefristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VI.). Für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers wurde gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG eine Frist von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt VII.).

Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass die Umstände, aufgrund derer der BF als Flüchtling anerkannt worden sei, weggefallen wären und sich die Verhältnisse im Heimatland des Beschwerdeführers zwischenzeitlich grundlegend geändert hätten. Es sei vor diesem Hintergrund nicht davon auszugehen, dass der BF im Falle seiner Rückkehr in sein Herkunftsland in eine ausweglose Situation geraten werde. Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegen den Beschwerdeführer sei trotz dessen Anknüpfungspunkte in Österreich angesichts seiner massiven Straffälligkeit verhältnismäßig. Aufgrund der vom BF im Hinblick auf seine strafrechtlichen Verurteilungen ausgehenden Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit sei trotz seiner privaten und familiären Anknüpfungspunkte in Österreich ein unbefristetes Einreiseverbot zu erlassen.

7. Gegen diesen Bescheid erhob der BF fristgerecht Beschwerde in vollem Umfang.

8. Am 05.05.2021 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung im Beisein einer Dolmetscherin für die russische Sprache statt, in welcher neben dem BF auch dessen Sohn einvernommen wurde.

Befragt nach seinen familiären Verhältnissen gab der Beschwerdeführer an, im Bundesgebiet nur über seine vier Kinder und seine Gattin zu verfügen. Zwar hätte er sich von Letztgenannter zwischenzeitlich scheiden lassen, aber wäre bei ihm während seiner Strafhaft ein Gesinnungswandel eingetreten, sodass er bereits wenige Monate nach seiner Haftentlassung wieder bei ihr eingezogen sei. Nunmehr würde der BF wieder zusammen mit all seinen vier Söhnen und deren Mutter wohnen. Es sei eine neuerliche Eheschließung geplant, wobei noch kein Termin feststehe. Zu seinen Verwandten und Freunden in Tschetschenien halte er über WhatsApp regelmäßigen Kontakt; aktuell würden noch seine Mutter, sein Bruder und seine Schwester im Heimatland leben. Er selbst hätte vor seiner Ausreise seinen Lebensunterhalt als gelernter Schlosser verdient. Der BF habe einen Deutschkurs auf Niveau A1 positiv abgeschlossen, sich in der Praxis aber darüberhinausgehende Sprachfertigkeiten angeeignet. Sein Bruder bewohne mit seiner Frau und seinen vier Kindern eine Mietwohnung, seine geschiedene Schwester lebe mit ihrem Sohn bei seiner Mutter in deren Wohnung. Abgesehen von wirtschaftlichen Einschränkungen gebe es keine Probleme. Im Bundesgebiet habe der BF zwar in der Vergangenheit Kleidung für das Rote Kreuz gesammelt; aktuell wäre es ihm aber aus zeitlichen Gründen nicht möglich, sich in einer gemeinnützigen Organisation oder bei ehrenamtlichen Projekten persönlich zu engagieren. Seine von ihm begangenen Straftaten bereue er sehr. Er wolle sich in Hinkunft rechtskonform verhalten. So habe er bereits drei bis vier Monate nach seiner bedingten Entlassung begonnen, sich um eine Arbeit umzusehen. Zunächst in einer Reinigungsfirma tätig, würde er seit einem Monat bei einem anderen Unternehmen sein Geld verdienen.

Im Falle seiner Rückkehr nach Tschetschenien befürchte der Beschwerdeführer Probleme aufgrund seiner aktiven Unterstützung von Landsleuten mit Nahrung, Kleidung und Medikamenten während des ersten Kriegs. Eines Morgens wären russische Soldaten aufgetaucht, hätten sein Dorf umstellt und anschließend die männlichen Bewohner in ein Gefangenenlager gebracht. Nach zwei Monaten Haft sei der BF auf den Vorschlag des Befehlshabers eingegangen, der ihm freies Geleit im Gegenzug für ein Geständnis, als aktiver Kämpfer an den Kampfhandlungen beteiligt gewesen zu sein, angeboten habe. Im Falle seiner Weigerung wäre dem Beschwerdeführer eine dauerhafte Inhaftierung in Aussicht gestellt worden. „Der Kommandeur hat mir gesagt, dass er weiß, dass ich nicht gekämpft habe, aber er muss Erfolge nachweisen für die Statistik (Seite 13 der Niederschrift vom 05.05.2021).“ Nach der Leistung seiner Unterschrift sei der BF auch tatsächlich freigelassen und amnestiert worden. Ungefähr zwei Jahre später hätten ihn aber Gefolgsleute KADYROWs festgenommen und ihm sein handschriftlich unterfertigtes Geständnis vorgeworfen. Seinen Beteuerungen, unschuldig zu sein, wäre ebensowenig Glauben geschenkt worden, wie seinen Schilderungen hinsichtlich des seinerzeitigen Zustandekommens der Unterschrift. Nur aufgrund einer Lösegeldzahlung sei der Beschwerdeführer wieder auf freien Fuß gesetzt worden. Im Jahre 2003 wäre es ihm nur mit viel Glück gelungen, einer abermaligen Verhaftung zu entgehen und ein weiteres Jahr später habe der BF dann schließlich sein Herkunftsland verlassen. Aufgrund dieser Erlebnisse befürchte er nunmehr im Falle seiner Rückkehr neuerlich in Schwierigkeiten zu geraten. Dies nicht zuletzt angesichts der Nachfrage von fremden Unbekannten bei seiner Mutter hinsichtlich seines aktuellen Aufenthaltsorts. Zudem würde KADYROW selbst in Österreich Auftragsmorde veranlassen, wie etwa zuletzt in Gerasdorf, wo ein Landsmann getötet worden sei. In anderen Landesteilen der Russischen Föderation, außerhalb Tschetscheniens, könne sich der Beschwerdeführer ebenfalls kein Leben vorstellen, zumal Tschetschenen dort unbeliebt wären.

Als Beweismittel brachte der Beschwerdeführer u.a. folgende Dokumente in Vorlage:

-        Sprachzertifikat Deutsch-A1, datiert vom 24.03.2017;

-        Dienstzeugnis eines XXXX , datiert vom 05.05.2021.

9. Am 19.05.2021 übermittelte der BF über seine rechtsfreundliche Vertretung eine schriftliche Stellungnahme. Inhaltlich wurde darin primär darauf verwiesen, dass sich die Umstände im Herkunftsland des Beschwerdeführers nicht dergestalt verändert hätten, dass diese die Aberkennung des Asylstatus rechtfertigen würden. Dazu wurde selektiv aus einer ACCORD-Anfragebeantwortung [a-11165] vom 31.01.2020 zitiert und insbesondere ein namentlich genannter „Analyst, dessen Fokus Russland, der Kaukasus und Syrien“ sei, zitiert, demzufolge ehemalige Widerstandskämpfer primär dann problemlos in ihrem Herkunftsland leben könnten, wenn diese die Regierungsamnestie akzeptiert hätten. Für alle anderen würde die Lage grundsätzlich gefährlich sein, auch wenn diese Personengruppe in sonstigen Regionen der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens leben würde. In Tschetschenien würden generell regelmäßige willkürliche Festnahmen, Folter und Hinrichtungen stattfinden. Laut Caucasian Knot würden noch immer Prozesse gegen Teilnehmer des ersten Tschetschenienkriegs geführt werden, wobei auf ein Verfahren in Tschetschenien im Jänner 2019 verwiesen wurde. Weiters wurde ein Bericht eines in Lettland ansässigen Onlinemediums über Misshandlungen in Tschetschenien zitiert, der sich auf Angaben tschetschenischer Flüchtlinge stützte, die lediglich mit Vornamen genannt wurden. In Bezug auf die strafrechtlichen Verurteilungen des Beschwerdeführers wurde angemerkt, dass dieser seine Tat aufrichtig bereuen würde, nach Verbüßung des Großteils seiner Haftstrafe bedingt vorzeitig entlassen worden sei und sich seither – für die Dauer eines Jahres – wohlverhalten habe. Insgesamt würde sein Interesse am Verbleib im Bundesgebiet jenem der Öffentlichkeit an seiner Außerlandesschaffung überwiegen. Zumindest aber müsse eine Rückkehrentscheidung auf Dauer für unzulässig erklärt werden, da der Genannte seinen einmaligen Fehltritt aufrichtig bereuen würde und alles vermeide, was ihn allenfalls neuerlich auf falsche Wege führen könnte.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation, Angehöriger der tschetschenischen Volksgruppe und Sunnit. Seine Identität steht fest.

Der Beschwerdeführer ist in Tschetschenien geboren, wo er bis zu seiner Ausreise im Jahr 2004 (im Alter von knapp XXXX Jahren) aufhältig war. Er hat dort im Familienverband mit seinen Eltern und seinen beiden Geschwistern sowie zuletzt mit seiner traditionell nach muslimischen Ritus geehelichten Gattin, und zwei gemeinsamen Söhnen gelebt. Er besuchte neun Jahre lang die Schule und absolvierte in weiterer Folge erfolgreich die Ausbildung zum Maler und Schlosser – eine Tätigkeit, die er in den Folgejahren bis zu seiner Ausreise gewerbsmäßig ausübte. Der BF beherrscht Tschetschenisch und Russisch. In Tschetschenien leben an nahen Familienmitgliedern seine Mutter, sein Bruder und seine Schwester sowie die Kinder der Geschwister; es besteht regelmäßiger Kontakt zu diesen über diverse elektronische Kommunikationsmittel. Daneben existieren noch diverse entfernte Verwandte sowie Freunde, zu denen Kontakt besteht.

In Österreich lebt der Beschwerdeführer durchgehend seit seiner Einreise im Jahr 2004. Er hat in Österreich einen Deutschkurs auf A1-Niveau erfolgreich absolviert. Zusatzprüfungen, zur Anerkennung seiner Maler- und Schlosserausbildung, oder sonstige Ausbildungen hat der BF nicht abgeschlossen. Der BF konnte seit Anfang 2010 in Summe knapp dreieinhalb Jahre an Beschäftigungszeiten in Österreich nachweisen, wobei er zuletzt seit April 2021 wieder durchgehend erwerbstätig war. Allfällige gemeinnützige Tätigkeiten werden seinerseits nicht ausgeübt und sind im Verfahren auch keinerlei integrationsverfestigende Elemente hervorgetreten, solche wurden auch nicht in substantiierter Form behauptet.

Der Beschwerdeführer ließ sich vor seiner strafrechtlichen Verurteilung von der zwischenzeitlich standesamtlich geehelichten Mutter seiner insgesamt vier Söhne scheiden und lebte nach seiner bedingten Entlassung aus der Strafhaft die ersten Monate mit seinem erwachsenen Sohn XXXX im selben Haushalt. Der BF und seine Ex-Frau leben aktuell wieder mit ihren vier gemeinsamen Söhnen im Alter von XXXX Jahren zusammen.

Drei Söhnen wie auch deren Mutter kommt in Österreich nach wie vor der Status von Asylberechtigten in Bezug auf die Russische Föderation zu. Gegen den ältesten Sohn, XXXX , wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom heutigem Tag, Zl. W182 2227202-2, rechtskräftig eine Rückkehrentscheidung hinsichtlich des Herkunftsstaates Russische Föderation sowie ein Einreiseverbot rechtskräftig bestätigt. Ausschlaggebend dafür waren u.a. zahlreiche rechtskräftige Verurteilungen wegen Vergehen und Verbrechen.

Der Beschwerdeführer ist in der Lage, sich auf alltagstauglichem Niveau auf Deutsch zu verständigen. Abgesehen von seinen Familienangehörigen verfügt er über keine engeren sozialen Bindungen in Österreich.

Der BF ist gesund und arbeitsfähig.

1.2. Zur Straffälligkeit des BF:

Der Beschwerdeführer wurde in Österreich mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen XXXX vom XXXX zur Zahl XXXX wegen des Verbrechens der Brandstiftung nach § 169 Abs. 1 Strafgesetzbuch (StGB), BGBl. Nr. 60/1974, sowie der Vergehen des schweren Betruges nach §§ 15, 12, dritter Fall, 146, 147 Abs. 2 StGB und der Nötigung nach § 105 Abs. 1 StGB zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von vier Jahren rechtskräftig verurteilt.

Dem Urteil liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Dem Beschwerdeführer wurde von einem XXXX bei einem persönlichen Treffen mitgeteilt, dass sie aufgrund finanzieller Probleme jemanden suchen, der XXXX in Brand setze, um in weiterer Folge aufgrund der dadurch entstandenen Schäden eine Versicherungsleistung zu lukrieren. Der BF, der selbst finanzielle Probleme gehabt habe, erklärte sich bereit, den Auftrag anzunehmen, wobei ihm als Gegenleistung eine Summe von zumindest € 3.000,- zugesagt wurde. Zum vereinbarten Tatzeitpunkt am XXXX war seitens des XXXX im Vorfeld in XXXX eine als ausreichend erachtete Menge an Benzin als Brandbeschleuniger deponiert und der Genannte mit einem Schlüssel sowie einer Anzahlung von € 2.000,- versehen worden. Nach der erfolgreichen Auszahlung der erwarteten Versicherungsleistung sollten der Beschwerdeführer sowie ein weiterer Mittäter anteilsmäßig beteiligt werden. Mit dem übergebenen Schlüssel öffneten der BF und sein Komplize zunächst XXXX und verschüttete dort der Genannte den bereitgestellten Brandbeschleuniger, während sein Mittäter die Umgebung beobachtete. Anschließend verließen die beiden Männer XXXX , versperrten die Türe und schlugen sodann von außen ein Loch ins Fenster, um in weiterer Folge ein zuvor entzündetes Papiertuch in den mit Benzin getränkten Innenraum zu werfen. Als Resultat dieser Vorgangsweise kam es um XXXX zu einer explosionsartigen Brandausweitung, in deren Folge nicht nur das Portal der XXXX und des benachbarten XXXX aus der Verankerung gerissen, sondern auch in der Nähe parkende Fahrzeuge beschädigt und die auf der gegenüberliegenden Straßenseite befindlichen Hausfassaden von einem Glassplitterregen überzogen wurden. Darüber hinaus wurden durch die Explosion der Beschwerdeführer leicht und sein Mittäter schwer verletzt. Der Sachschaden beläuft sich demgegenüber insgesamt auf ungefähr XXXX . Der Genannte und sein Mittäter beabsichtigten durch die festgestellten Handlungen an XXXX ohne Einwilligung des Eigentümers ein ausgedehntes Schadensfeuer zu verursachen, welches der Mensch nicht mehr ohne weiters in seiner Gewalt hat und das mit gewöhnlichen Mitteln nicht mehr unter Kontrolle zu bringen ist. Sowohl der Beschwerdeführer als auch sein Mittäter wussten von der Absicht der Auftraggeber, einer Versicherung wahrheitswidrige Angaben zum Brand zu machen und von der Versicherung betrügerisch eine Versicherungssumme von mindestens € 5.000,- bis maximal € 190.000,- herauszulocken. Beide unterstützten den Drahtzieher in seinem von ihm geplanten groß angelegten Versicherungsbetrug. Glücklicherweise konnten alle Bewohner des Hauses rechtzeitig ihre Wohnungen verlassen, sie wurden teilweise in Notquartieren untergebracht. Insgesamt waren XXXX Feuerwehrleute mit der Brandbekämpfung und Menschenrettung beschäftigt.

Am 04.05.2017 hat der BF mit einem Mittäter XXXX aufgefordert, sich in ein bereitgestelltes Fahrzeug zu setzen, mit welchem sie dann in ein Waldstück gefahren sind, wo sich mehrere Tschetschenen, teilweise mit eingesteckten Schusswaffen in sichtbarer Nähe des Fahrzeuges befanden. Der BF hat mit einem Mittäter im Wagen den XXXX eindringlich aufgefordert, ein gemeinsames Treffen mit dem XXXX zu organisieren. Um dieser Forderung Nachdruck zu verleihen, zeigte der Mittäter im Beisein und im Einverständnis mit dem BF dem XXXX diverse Fotos von verletzten Personen auf seinem Mobiltelefon und meinte, wenn es nicht bald zu einem Treffen käme, dann würde so etwas auch ihm passieren. Dem BF und dem Mittäter kam es jeweils darauf an, durch diese Worte im Zusammenhang mit dem Zeigen der Bilder dem Opfer begründete Besorgnis einzuflößen, indem diesem zumindest mit einer Verletzung am Körper oder einer auffallenden Verunstaltung gedroht wurde. Diese Tathandlungen zeigten Wirkung und fand bald danach in einem Kaffeehaus ein Treffen zwischen dem XXXX mit mehreren Tschetschenen statt, wobei es bei dieser Zusammenkunft um die Gelforderungen der Ausführer des Brandanschlages an die Auftraggeber des Brandes ging.

Bei der Strafbemessung wurden mildernd der bisher ordentliche Lebenswandel des Beschwerdeführers und dass es teilweise beim Versuch geblieben ist, erschwerend das Zusammentreffen von einem Verbrechen mit zwei Vergehen gewertet.

Der Beschwerdeführer befand sich vom XXXX 2017 bis zum XXXX 2020 in Strafhaft und wurde vorzeitig auf Bewährung auf eine Probezeit von drei Jahren entlassen. Er zeigt sich schuldeinsichtig und bereut seine Straftaten. Aktuell konsumiert der BF nach eigenen Angaben weder Alkohol oder Drogen noch Glücksspiel. Stattdessen plant der Genannte dauerhaft einer Erwerbstätigkeit nachzugehen und sich auf das Familienleben mit seiner Ex-Frau, die er neuerlich zu heiraten beabsichtigt und den vier gemeinsamen – größtenteils bereits erwachsenen - Söhnen zu konzentrieren.

1.3. Zu den Gründen für die Aberkennung des Status des Asylberechtigten, einer allfälligen Verfolgungsgefahr des BF in der Russischen Föderation zum Entscheidungszeitpunkt und einer möglichen Rückkehr dorthin:

Die Umstände, auf Grund derer dem Beschwerdeführer der Status des Asylberechtigten zuerkannt wurde, bestehen aufgrund einer dauerhaften und grundlegenden Änderung der Lage in der Russischen Föderation nicht mehr. Der Genannte unterliegt somit keiner asylrelevanten Gefährdungssituation.

Der Beschwerdeführer ist aktuell in Tschetschenien bzw. der Russischen Föderation nicht aus Gründen der Volksgruppenzugehörigkeit, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Ansichten bedroht.

Ebensowenig besteht eine maßgebliche Wahrscheinlichkeit, dass er im Fall der Rückkehr in die Russische Föderation bzw. nach Tschetschenien dort der Folter oder einer unmenschlichen bzw. erniedrigenden Strafe oder Behandlung unterworfen oder von der Todesstrafe bedroht wird. Er würde auch nicht in eine existenzgefährdende Notlage geraten.

1.4. Im Übrigen wird der unter Punkt I. wiedergegebene Verfahrensgang der Entscheidung zugrundgelegt.

1.5. Zur Situation im Herkunftsland wird von den vom Bundesverwaltungsgericht ins Verfahren eingeführten Länderinformationen zur Russischen Föderation bzw. Tschetschenien ausgegangen:

Sicherheitslage

Letzte Änderung: 09.04.2020

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen (AA 19.3.2020a, vgl. BMeiA 19.3.2020, GIZ 2.2020d, EDA 19.3.2020). Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 19.3.2020a, vgl. BMeiA 19.3.2020, EDA 19.3.2020). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 19.3.2020).

Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Die gewaltsamen Zwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem ägyptischen Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).

Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sog. IS kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).

Quellen:

?        AA – Auswärtiges Amt (19.3.2020a): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/russischefoederationsicherheit/201536#content_0, Zugriff 19.3.2020

?        BMeiA (19.3.2020): Reiseinformation Russische Föderation, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/russische-foederation/, Zugriff 19.3.2020

?        Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden, https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russische-methoden.724.de.html?dram:article_id=389824, Zugriff 19.3.2020

?        EDA – Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (19.3.2020): Reisehinweise für Russland, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/russland/reisehinweise-fuerrussland.html, Zugriff 19.3.2020

?        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (2.2020d): Russland, Alltag, https://www.liportal.de/russland/alltag/#c18170, Zugriff 19.3.2020

?        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 19.3.2020

Nordkaukasus

Letzte Änderung: 09.04.2020

Die Menschenrechtsorganisation Memorial beschreibt in ihrem Bericht über den Nordkaukasus vom Sommer 2016 eindrücklich, dass die Sicherheitslage für gewöhnliche Bürger zwar stabil ist, Aufständische einerseits und Kritiker der bestehenden Systeme sowie Meinungs- und Menschenrechtsaktivisten andererseits weiterhin repressiven Maßnahmen und Gewalt bis hin zum Tod ausgesetzt sind (AA 13.2.2019). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff „low level insurgency“ umschrieben (SWP 4.2017).

Das Kaukasus-Emirat, das seit 2007 den islamistischen Untergrundkampf im Nordkaukasus koordiniert, ist seit Ende 2014 durch das Überlaufen einiger Feldkommandeure zum sog. IS von Spaltungstendenzen erschüttert und geschwächt (SWP 10.2015, vgl. ÖB Moskau 12.2019). Der IS verstärkte 2015 seine russischsprachige Propaganda in Internet-Foren wie Furat Media, ohne dass die Behörden laut Nowaja Gazeta diesem Treiben große Aufmerksamkeit widmeten. Am 23. Juni 2015 rief der IS-Sprecher Muhammad al-Adnani ein „Wilajat Kavkaz“, eine „Provinz Kaukasus“, als Teil des IS-Kalifats aus. Es war ein propagandistischer Akt, der nicht bedeutet, dass der IS in dieser Region militärisch präsent ist oder sie gar kontrolliert, der aber den zunehmenden Einfluss dieser Terrormiliz auf die islamistische Szene im Nordkaukasus symbolisiert. Zuvor hatten mehr und mehr ideologische und militärische Führer des Kaukasus-Emirats dem „Kalifen“ Abu Bakr al-Baghdadi die Treue geschworen und sich von al-Qaida abgewandt. Damit bestätigte sich im islamistischen Untergrund im Nordkaukasus ein Trend, dem zuvor schon Dschihad-Netzwerke in Nordafrika, Jemen, Pakistan und Afghanistan gefolgt waren (SWP 10.2015).

Ein Risikomoment für die Stabilität in der Region ist die Verbreitung des radikalen Islamismus. Innerhalb der extremistischen Gruppierungen verschoben sich etwa ab 2014 die Sympathien zur regionalen Zweigstelle des sog. IS, die mittlerweile das Kaukasus-Emirat praktisch vollständig verdrängt haben soll. Dabei sorgt nicht nur Propaganda und Rekrutierung des IS im Nordkaukasus für Besorgnis der Sicherheitskräfte. So wurden Mitte Dezember 2017 im Nordkaukasus mehrere Kämpfer getötet, die laut Angaben des Anti-Terrorismuskomitees dem IS zuzurechnen waren. Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak, haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist (ÖB Moskau 12.2019). 2018 erzielten die Strafverfolgungsbehörden maßgebliche Erfolge, die Anzahl terroristisch motivierter Verbrechen wurde mehr als halbiert. Sechs Terroranschläge wurden verhindert und insgesamt 50 Terroristen getötet. In der ersten Hälfte des Jahres 2019 nahm die Anzahl bewaffneter Vorfälle im Vergleich zum Vorjahr weiter ab. Der größte Anteil an Gewalt im Nordkaukasus entfällt weiterhin auf Dagestan und Tschetschenien (ÖB Moskau 12.2019).

Im Jahr 2018 sank die Gesamtzahl der Opfer des bewaffneten Konflikts im Nordkaukasus gegenüber 2017 um 38,3%, und zwar von 175 auf 108 Personen. Von allen Regionen des Föderationskreis Nordkaukasus hatte Dagestan die größte Zahl der Toten und Verwundeten zu verzeichnen; Tschetschenien belegte den zweiten Platz (Caucasian Knot 30.8.2019).

Im Jahr 2019 liegt die Gesamtopferzahl des Konfliktes im Nordkaukasus [Anm.: durch Addieren aller Quartalsberichte von Caucasian Knot] bei 44 Personen, davon wurden 31 getötet (Caucasian Knot 9.9.2019, Caucasian Knot 14.9.2019, Caucasian Knot 18.12.2019, Caucasian Knot 11.3.2020).

Quellen:

?        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 19.3.2020

?        Caucasian Knot (30.8.2019): In 2018, the count of conflict victims in Northern Caucasus dropped by 38%, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/reduction_number_victims_2018/, Zugriff 19.3.2020

?        Caucasian Knot (9.9.2019): 21 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus in Q1 of 2019, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48385/, Zugriff 19.3.2020

?        Caucasian Knot (14.9.2019): In Quarter 2 of 2019, 10 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48465/, Zugriff 19.3.2020

?        Caucasian Knot (18.12.2019): In 3rd quarter of 2019, seven persons fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/49431/, Zugriff 19.3.2020

?        Caucasian Knot (11.3.2020): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 4 of 2019 under the data of Caucasian Knot, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/50267/, Zugriff 19.3.2020

?        ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025975/RUSS_%C3%96B_Bericht_2019_12.pdf, Zugriff 19.3.2020

?        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (10.2015): Reaktionen auf den »Islamischen Staat« (ISIS) in Russland und Nachbarländern, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2015A85_hlb.pdf, Zugriff 19.3.2020

?        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 19.3.2020

Tschetschenien

Letzte Änderung: 09.04.2020

Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpfen Tschetschenen in zunehmender Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat – etwa in der Ostukraine sowohl auf Seiten pro-russischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite, sowie in Syrien und im Irak (SWP 4.2015). In Tschetschenien konnte der Kriegszustand überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet werden. In einem Prozess der „Tschetschenisierung“ wurde die Aufstandsbekämpfung im zweiten Tschetschenienkrieg an lokale Sicherheitskräfte delegiert, die sogenannten Kadyrowzy. Diese auf den ersten Blick erfolgreiche Strategie steht aber kaum für nachhaltige Befriedung (SWP 4.2017).

Im Jahr 2018 wurden in Tschetschenien mindestens 35 Menschen Opfer des bewaffneten Konflikts, von denen mindestens 26 getötet und neun weitere verletzt wurden. Unter den Opfern befanden sich drei Zivilisten (zwei getötet, einer verletzt), elf Exekutivkräfte (drei getötet, acht verletzt) und 21 Aufständische (alle getötet). Im Vergleich zu 2017, als es 75 Opfer gab, sank die Gesamtopferzahl 2018 um 53,3% (Caucasian Knot 30.8.2019). 2019 wurden in Tschetschenien im Rahmen des bewaffneten Konflikts sechs Personen getötet und fünf verletzt [Anm.: durch Addieren aller Quartalsberichte von Caucasian Knot] (Caucasian Knot 9.9.2019, Caucasian Knot 14.9.2019, Caucasian Knot 18.12.2019, Caucasian Knot 11.3.2020).

Quellen:

?        Caucasian Knot (30.8.2019): In 2018, the count of conflict victims in Northern Caucasus dropped by 38%, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/reduction_number_victims_2018/, Zugriff 19.3.2020

?        Caucasian Knot (9.9.2019): 21 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus in Q1 of 2019, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48385/, Zugriff 19.3.2020

?        Caucasian Knot (14.9.2019): In Quarter 2 of 2019, 10 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48465/, Zugriff 19.3.2020

?        Caucasian Knot (18.12.2019): In 3rd quarter of 2019, seven persons fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/49431/, Zugriff 19.3.2020

?        Caucasian Knot (11.3.2020): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 4 of 2019 under the data of Caucasian Knot, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/50267/, Zugriff 19.3.2020

?        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan: Russlands schwierigste Teilrepublik, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 19.3.2020

?        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 19.3.2020

Sicherheitsbehörden

Letzte Änderung: 09.04.2020

Das Innenministerium (MVD), der Föderale Sicherheitsdienst (FSB), das Untersuchungskomitee und die Generalstaatsanwaltschaft sind auf allen Regierungsebenen für den Gesetzesvollzug zuständig. Der FSB ist mit Fragen der Sicherheit, Gegenspionage und der Terrorismusbekämpfung betraut, aber auch mit Verbrechens- und Korruptionsbekämpfung. Die nationale Polizei untersteht dem Innenministerium und bekämpft Kriminalität. Die Aufgaben der Föderalen Nationalgarde sind die Sicherung der Grenzen gemeinsam mit der Grenzwache und dem FSB, die Administrierung von Waffenbesitz, der Kampf gegen Terrorismus und organisierte Kriminalität, der Schutz der öffentlichen Sicherheit und der Schutz von wichtigen staatlichen Einrichtungen. Weiters nimmt die Nationalgarde an der bewaffneten Verteidigung des Landes gemeinsam mit dem Verteidigungsministerium teil. Zivile Behörden halten eine wirksame Kontrolle über die Sicherheitskräfte aufrecht. Obwohl das Gesetz Mechanismen für Einzelpersonen vorsieht, um Klagen gegen Behörden wegen Menschenrechtsverletzungen einzureichen, funktionieren diese Mechanismen oft nicht gut. Gegen Beamten, die Missbräuche begangen haben, werden nur selten strafrechtliche Schritte unternommen, um sie zu verfolgen oder zu bestrafen, was zu einem Klima der Straflosigkeit führte (US DOS 11.3.2020), Ebenso wendet die Polizei häufig übermäßige Gewalt an (FH 4.3.2020).

Nach dem Gesetz können Personen bis zu 48 Stunden ohne gerichtliche Zustimmung inhaftiert werden, vorausgesetzt es gibt Beweise oder Zeugen. Ansonsten ist ein Haftbefehl notwendig. Verhaftete müssen von der Polizei über ihre Rechte aufgeklärt werden, und die Polizei muss die Gründe für die Festnahme dokumentieren. Der Verhaftete muss innerhalb von 24 Stunden einvernommen werden, davor hat er das Recht, für zwei Stunden einen Anwalt zu treffen. Spätestens 12 Stunden nach der Inhaftierung muss die Polizei den Staatsanwalt benachrichtigen. Die Behörden müssen dem Inhaftierten auch die Möglichkeit geben, seine Angehörigen telefonisch zu benachrichtigen, es sei denn, ein Staatsanwalt stellt einen Haftbefehl aus, um die Inhaftierung geheim zu halten. Die Polizei ist verpflichtet, einen Häftling nach 48 Stunden unter Kaution freizulassen, es sei denn, ein Gericht beschließt in einer Anhörung, den von der Polizei eingereichten Antrag mindestens acht Stunden vor Ablauf der 48-Stunden-Haft zu verlängern. Der Angeklagte und sein Anwalt müssen bei der Gerichtsverhandlung entweder persönlich oder über einen Videolink anwesend sein. Im Allgemeinen werden die rechtlichen Einschränkungen betreffend Inhaftierungen eingehalten, mit Ausnahme des Nordkaukasus (US DOS 11.3.2020).

Nach überzeugenden Angaben von Menschenrechtsorganisationen werden insbesondere sozial Schwache und Obdachlose, Betrunkene, Ausländer und Personen „fremdländischen“ Aussehens Opfer von Misshandlungen durch die Polizei und Untersuchungsbehörden. Nur ein geringer Teil der Täter wird disziplinarisch oder strafrechtlich verfolgt. Die im Februar 2011 in Kraft getretene Polizeireform hat bislang nicht zu spürbaren Verbesserungen in diesem Bereich geführt (AA 13.2.2019).

Die zivilen Behörden auf nationaler Ebene haben bestenfalls eine begrenzte Kontrolle über die Sicherheitskräfte in der Republik Tschetschenien, die nur dem Republiksoberhaupt, Kadyrow, unterstellt sind (US DOS 11.3.2020). Kadyrows Macht wiederum gründet sich hauptsächlich auf die ihm loyalen „Kadyrowzy“. Diese wurden von Kadyrows Familie in der Kriegszeit gegründet; ihre Mitglieder bestehen hauptsächlich aus früheren Kämpfern der Rebellen (EASO 3.2017). Vor allem tschetschenische Sicherheitsbehörden können Menschenrechtsverletzungen straffrei begehen (HRW 7.2018, vgl. AI 22.2.2018). Die Angaben zur zahlenmäßigen Stärke tschetschenischer Sicherheitskräfte fallen unterschiedlich aus. Auf Seiten des tschetschenischen Innenministeriums sollen in der Tschetschenischen Republik rund 17.000 Mitarbeiter tätig sein. Diese Zahl dürfte jedoch nach der Einrichtung der Nationalgarde der Föderation im Oktober 2016 auf 11.000 gesunken sein. Die Polizei hat angeblich 9.000 Angehörige. Die überwiegende Mehrheit von ihnen sind ethnische Tschetschenen. Nach Angaben des Carnegie Moscow Center wurden die Reihen von Polizei und anderen Sicherheitskräften mit ehemaligen tschetschenischen Separatisten aufgefüllt, die nach der Machtübernahme von Ramzan Kadyrow und dem Ende des Krieges in die Sicherheitskräfte integriert wurden. Bei der tschetschenischen Polizei grassieren Korruption und Missbrauch, weshalb die Menschen bei ihr nicht um Schutz ansuchen. Die Mitarbeiter des Untersuchungskomitees (SK) sind auch überwiegend Tschetschenen und stammen aus einem Pool von Bewerbern, die höher gebildet sind als die der Polizei. Einige Angehörige des Untersuchungskomitees versuchen, Beschwerden über tschetschenische Strafverfolgungsbeamte zu untersuchen, sind jedoch „ohnmächtig, wenn sie es mit der tschetschenischen OMON [Spezialeinheit der Polizei] oder anderen, Kadyrow nahestehenden ‚unantastbaren Polizeieinheiten‘ zu tun haben“ (EASO 3.2017).

Die regionalen Strafverfolgungsbehörden können Menschen auf der Grundlage von in ihrer Heimatregion erlassenen Rechtsakten auch in anderen Gebieten der Russischen Föderation in Gewahrsam nehmen und in ihre Heimatregion verbringen. Kritiker, die Tschetschenien aus Sorge um ihre Sicherheit verlassen mussten, fühlen sich häufig auch in russischen Großstädten vor Ramzan Kadyrow nicht sicher. Sicherheitskräfte, die Kadyrow zuzurechnen sind, sind auch in Moskau präsent (AA 13.2.2019).

Quellen:

?        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 10.3.2020

?        AI – Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 10.3.2020

?        EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 10.3.2020

?        FH – Freedom House (4.3.2020): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2019 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025879.html, Zugriff 5.3.2020

?        HRW – Human Rights Watch (7.2018): Human Rights Watch Submission to the United Nations Committee Against Torture on Russia, https://www.ecoi.net/en/file/local/1439255/1930_1532600687_int-cat-css-rus-31648-e.docx, Zugriff 7.8.2019

?        US DOS – United States Department of State (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026343.html, Zugriff 12.3.2020

Folter und unmenschliche Behandlung

Letzte Änderung: 04.09.2020

Im Einklang mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) sind Folter sowie unmenschliche oder erniedrigende Behandlung und Strafen in Russland auf Basis von Artikel 21.2 der Verfassung und Art. 117 des Strafgesetzbuchs verboten. Die dort festgeschriebene Definition von Folter entspricht jener des Übereinkommens der Vereinten Nationen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe. Russland ist Teil dieser Konvention, hat jedoch das Zusatzprotokoll (CAT-OP) nicht unterzeichnet. Trotz des gesetzlichen Rahmens werden immer wieder Vorwürfe über polizeiliche Gewalt bzw. Willkür gegenüber Verdächtigen laut. Verlässliche öffentliche Statistiken über das Ausmaß der Übergriffe durch Polizeibeamte gibt es nicht. Innerhalb des Innenministeriums gibt es eine Generalverwaltung der internen Sicherheit, die eine interne und externe Hotline für Beschwerden bzw. Vorwürfe gegen Polizeibeamte betreibt. Der Umstand, dass russische Gerichte ihre Verurteilungen in Strafverfahren häufig nur auf Geständnisse der Beschuldigten stützen, scheint in vielen Fällen Grund für Misshandlungen im Rahmen von Ermittlungsverfahren oder in Untersuchungsgefängnissen zu sein. Foltervorwürfe gegen Polizei- und Justizvollzugbeamte werden laut russischen NGO-Vertretern häufig nur unzureichend untersucht (ÖB Moskau 12.2019; vgl. EASO 3.2017).

Immer wieder gibt es Berichte über Folter und andere Misshandlungen in Gefängnissen und Hafteinrichtungen im gesamten Land (AI 16.4.2020; vgl. HRW 14.1.2020). Laut Amnesty International und dem russischen 'Komitee gegen Folter' kommt es vor allem in Polizeigewahrsam und in den Strafkolonien zu Folter und grausamer oder erniedrigender Behandlung (AA 13.2.2019). Momentan etabliert sich eine Tendenz, Betroffene, die vor Gericht Foltervorwürfe erheben, unter Druck zu setzen, z.B. durch Verleumdungsvorwürfe. Die Dauer von Gerichtsverfahren zur Überprüfung von Foltervorwürfen ist zwar kürzer (früher fünf bis sechs Jahre) geworden, Qualität und Aufklärungsquote sind jedoch nach wie vor niedrig (AA 13.2.2019). Untersuchungen von Foltervorwürfen bleiben häufig folgenlos (AA 13.2.2019; vgl. USDOS 11.3.2020). Unter Folter erzwungene 'Geständnisse' werden vor Gericht als Beweismittel anerkannt (AA 13.2.2019). Physische Misshandlung von Verdächtigen durch Polizisten geschieht für gewöhnlich in den ersten Tagen nach der Inhaftierung (USDOS 11.3.2020). Im August 2018 publizierte das unabhängige Online-Medienportal Meduza Daten über mehr als 50 öffentlich gemeldete Folterfälle im Jahr 2018. Zu den mutmaßlichen Tätern gehörten Polizei, Ermittler, Sicherheitsbeamte und Strafvollzugsbeamte. Die Behörden haben nur wenige strafrechtliche Ermittlungen zu den Vorwürfen eingeleitet, und nur ein Fall wurde vor Gericht gebracht (HRW 17.1.2019). Vor allem der Nordkaukasus ist von Gewalt betroffen, wie z.B. außergerichtlichen Tötungen, Folter und anderen Menschenrechtsverletzungen (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).

Ab 2017 wurden Hunderte von homosexuellen Männern von tschetschenischen Behörden entführt und gefoltert, einige wurden getötet. Viele flohen aus der Republik und dem Land. In einem im Dezember 2018 veröffentlichten OSZE-Bericht wurde festgestellt, dass in Tschetschenien schwere Menschenrechtsverletzungen, einschließlich des scharfen Vorgehens gegen LGBTI-Personen, begangen wurden, und Russland wurde aufgefordert, eine umfassende Untersuchung durchzuführen [vgl. hierzu Kapitel 19.4 Homosexuelle] (FH 4.2.2019; vgl. Standard.at 3.11.2017).

Ein zehnminütiges Video der Körperkamera eines Wächters in der Strafkolonie Nr. 1 in Jaroslawl zeigt einen Insassen, wie er von Wächtern gefoltert wird. Das Video vom Juni 2017 wurde am 20.7.2018 von der unabhängigen russischen Zeitung Nowaja Gazeta veröffentlicht. Das Ermittlungskomitee leitete ein Strafverfahren wegen Amtsmissbrauch mit Gewaltanwendung ein (NZZ 23.7.2018). Als Reaktion auf die öffentliche Empörung verhaftete die russische Kriminalpolizei bis November 2018 15 Verdächtige. Ein Verdächtiger sagte aus, dass die Mitarbeiter das Video aufgezeichnet haben, um zu zeigen, dass sie einen Befehl von hohen Beamten ausgeführt haben, den Gefangenen zu bestrafen. Die schnelle und effektive Untersuchung war beispiellos in Russland, wo die Behörden typischerweise die Beschwerden von Gefangenen über Misshandlungen ablehnen (HRW 17.1.2019). Das Gerichtsverfahren gegen das Gefängnispersonal ist noch anhängig (HRW 14.1.2020).

Quellen:

?        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 10.3.2020

?        AI – Amnesty International (16.4.2020): Bericht zur Menschenrechtslage (Berichtszeitraum 2019), https://www.ecoi.net/de/dokument/2028170.html, Zugriff 16.7.2020

?        EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 10.3.2020

?        FH – Freedom House (4.2.2019): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2018 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002603.html, Zugriff 10.3.2020

?        FH – Freedom House (4.3.2020): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2019 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025879.html, Zugriff 5.3.2020

?        HRW – Human Rights Watch (17.1.2019): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2018 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002220.html, Zugriff 10.3.2020

?        HRW – Human Rights Watch (14.1.2012): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2022681.html, Zugriff 2.3.2020

?        ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025975/RUSS_%C3%96B_Bericht_2019_12.pdf, Zugriff 10.3.2020

?        NZZ – Neue Zürcher Zeitung (23.7.2018): Ein Foltervideo setzt Ermittlungen gegen Russlands Strafvollzug in Gang, https://www.nzz.ch/international/foltervideo-setzt-ermittlungen-gegen-russlands-strafvollzug-in-gang-ld.1405939, Zugriff 10.3.2020

?        Standard.at (3.11.2017): Putins Beauftragte will Folter in Tschetschenien aufklären, https://derstandard.at/2000067068023/Putins-Beauftragte-will-Folter-in-Tschetschenien-aufklaeren, Zugriff 10.3.2020

?        USDOS – United States Department of State (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026343.html, Zugriff 12.3.2020

Wehrdienst und Rekrutierungen

Letzte Änderung: 09.04.2020

Alle männlichen russischen Staatsangehörigen zwischen 18 und 27 Jahre werden zur Stellung für den Pflichtdienst in der russischen Armee einberufen. Die Pflichtdienstzeit beträgt ein Jahr (ÖB Moskau 12.2019, vgl. AA 13.2.2019). Der Präsident legt jährlich fest, wie viele der Stellungspflichtigen tatsächlich zum Wehrdienst eingezogen werden. In der Regel liegt die Quote bei etwa einem Drittel bzw. rund 300.000 Rekruten (ÖB Moskau 12.2019). Es gibt in Russland zweimal im Jahr eine Stellung – eine im Frühling, eine im Herbst (Global Security 31.5.2019). Über die regionale Aufteilung der Wehrpflichtigen entscheidet das Verteidigungsministerium, wobei die Anzahl der Wehrpflichtigen aus den jeweiligen Regionen stark variiert (ÖB Moskau 12.2019). Im Jahr 2019 wurden russlandweit 267.000 Wehrpflichtige zum Militärdienst eingezogen (Global Security 2.10.2019).

Neben dem Grundwehrdienst gibt es auch die Möglichkeit, freiwillig auf Basis eines Vertrags in der Armee zu dienen (dies steht auch weiblichen Staatsangehörigen offen). Nachdem vermehrt vertraglich verpflichtete Soldaten herangezogen werden (ÖB Moskau 12.2019), sinkt die Bedeutung der allgemeinen Wehrpflicht für die russischen Streitkräfte (ÖB Moskau 12.2019, vgl. Jamestown 10.4.2018), bzw. weisen die derzeitigen Kohorten extrem niedrige Geburtenraten auf (Jamestown 10.4.2018). Mitte April 2019 sagte Präsident Putin, dass die Wehrpflicht in Russland allmählich der Vergangenheit angehört. Ende 2018 verlautbarte der Generalstab, dass 384.000 Kontraktniki (Vertragssoldaten) in den russischen Streitkräften dienen. Der Rest sind Wehrpflichtige und Offiziere. Der Verteidigungsminister stellte die Aufgabe, die Zahl der Vertragssoldaten bis 2025 auf 475.000 zu erhöhen (RBTH 22.4.2019).

Staatsangehörige, die aus gesundheitlichen Gründen nicht zum Wehrdienst geeignet sind, werden von der Dienstpflicht befreit. Darüber hinaus kann ein Antrag auf Aufschub des Wehrdienstes gestellt werden, etwa durch Personen, die ein Studium absolvieren oder die einen nahen Verwandten pflegen müssen, oder durch Väter mehrerer Kinder. Versuche, sich dem Wehrdienst zu entziehen, sind verbreitet, aber rückläufig. Diese Versuche konzentrieren sich vor allem auf das Stadium vor der Einberufung, da nur ein Drittel der jungen Männer, die jährlich das wehrfähige Alter erreichen, tatsächlich eingezogen werden. Etwa ein Drittel ist untauglich, ein Drittel erhält keine Aufforderung bei der Einberufungskommission vorstellig zu werden. Grundsätzlich gibt es aber keine Rekrutierungsprobleme, da genug junge Männer Grundwehrdienst leisten wollen. Neben einer patriotischen Gesinnung ist ein Grund dafür auch die Tatsache, dass die Ableistung des Grundwehrdienstes Voraussetzung für bestimmte (v.a. staatliche) berufliche Laufbahnen ist. Nichtsdestotrotz gibt es jedes Jahr einige Hundert junge Männer, denen der Stellungsbefehl zugestellt wurde, die Stellungskommission durchlaufen, die Entscheidung der Stellungskommission zur Einberufung auch nicht beeinspruchen, aber dann dem Einberufungsbefehl nicht Folge geleistet haben. In diesen Fällen gibt es jährlich einige hundert strafrechtliche Verfahren bzw. Verurteilungen wegen Wehrdienstverweigerung (ÖB Moskau 12.2019).

Wehrpflichtige erhalten zurzeit 2.000 Rubel [ca. 27€] Monatssold plus Gefahrenzulagen sowie einen Zuschuss für die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel. Die im Jahr 2013 eingeleiteten Maßnahmen zur „Humanisierung“ und Attraktivitätssteigerung des Wehrdienstes wurden weiter umgesetzt. Diese Maßnahmen umfassen u.a. die Möglichkeit der heimatnahen Einberufung für Verheiratete und Wehrpflichtige mit Kindern oder Eltern im Rentenalter. Verbesserungen bei der Verpflegung, längere Ruhezeiten sowie die Erlaubnis zur Benutzung privater Mobiltelefone wurden ebenfalls eingeführt (AA 13.2.2019). 2017 gab es keine offiziellen Verlautbarungen zu Menschenrechtsverletzungen in den Streitkräften der Russischen Föderation (AA 21.5.2018). Dies gilt auch für das Jahr 2018 (AA 13.2.2019). Die NGOs „Komitee der Soldatenmütt

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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