Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.-Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätin Dr. Fichtenau und den Hofrat Mag. Ziegelbauer sowie die fachkundigen Laienrichter Helmut Purker (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Werner Pletzenauer (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei M*, vertreten durch Mag. Armin Windhager, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr. Anton Ehm und Mag. Thomas Mödlagl, Rechtsanwälte in Wien, wegen Ausgleichszulage, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 25. Jänner 2021, GZ 10 Rs 85/20y-40, mit dem infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichts Wien vom 4. Juni 2020, GZ 21 Cgs 37/18m-37, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 209,39 EUR bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin enthalten 34,90 EUR USt) binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
[1] Gegenstand des Verfahrens ist der vom Kläger behauptete Anspruch auf Ausgleichszulage ab 1. 8. 2014.
[2] Der 1955 geborene Kläger ist polnischer Staatsangehöriger. Er reiste im April 2011 als Pensionist nach Österreich ein und lebt seither in Österreich. Der Kläger war in Österreich nie erwerbstätig. Seit 2011 bezieht der Kläger österreichisches Pflegegeld, und zwar spätestens seit September 2014 in Höhe der Stufe 2 und seit 1. 4. 2015 in Höhe der Stufe 4.
[3] An Einkünften bezieht der Kläger eine polnische Pension (Dauerrente wegen Arbeitsunfähigkeit), deren Höhe ab 1. 8. 2014 monatlich umgerechnet ca 200 EUR bis 250 EUR betrug (brutto, 12 x jährlich). Zuzüglich erhält er ein polnisches „Pflegegeld“ in Höhe von monatlich umgerechnet ca 40 EUR. Seit einem nicht feststellbaren Zeitpunkt wird die polnische Pflegegeldleistung auf das österreichische Pflegegeld angerechnet. Sonst hat der Kläger weder Einkommen noch Vermögen. An Ausgaben hat der Kläger monatlich rund 650 EUR für die von ihm gemietete Wohnung zu zahlen, hinzu kommen monatlich 80 EUR für Strom, 100 EUR für Fernwärme, 20 EUR für Internetkosten und 10 EUR Fixkosten für ein Wertkartenhandy.
[4] In Polen leben der Vater des Klägers und eine Schwester. In Österreich leben die Tochter und drei Söhne des Klägers. Die Tochter des Klägers lebt zumindest seit 2003 in Österreich. Sie holte den Kläger aufgrund seiner Pflegebedürftigkeit und weil die in Polen lebenden Verwandten sich nicht um ihn kümmern konnten im Jahr 2011 nach Österreich. Die Tochter pflegte den Kläger selbst. Damals war die Tochter Mieterin der nunmehr vom Kläger gemieteten Wohnung. Der Kläger hatte ein eigenes Zimmer in der Wohnung der Tochter und musste keine Miete zahlen. Im Juli 2014 mietete die Tochter eine andere Gemeindewohnung in derselben Wohnhausanlage und zog aus. Ab 1. 12. 2014 trat der Kläger in die Mietrechte der bisher von der Tochter gemieteten Wohnung ein. Seit dem Auszug aus der gemeinsamen Wohnung ist die Tochter des Klägers als Pflegemutter tätig und lebt davon. Auch nach ihrem Auszug verwaltete die Tochter weiterhin das Geld des Klägers.
[5] Die Tochter des Klägers und zwei seiner Söhne unterstützten den Kläger finanziell (bzw beteiligten sich an den Wohnungskosten) in den vom Erstgericht im Einzelnen festgestellten Ausmaßen. Keines der Kinder des Klägers leistete diesem jedoch Unterhalt. Das Geld reichte nicht aus, um die Fixkosten des Klägers zu decken. Seine Tochter konnte teilweise auch die Miete für ihre eigene Wohnung nicht zahlen. Demzufolge entstanden mehrfache, vom Erstgericht im Einzelnen festgestellte Mietzinsrückstände des Klägers. Zur Abwendung der Räumung seiner Wohnung erhielt der Kläger Hilfen in besonderen Lebenslagen gemäß § 39 Wiener Mindestsicherungsgesetz. Eine Rückzahlungsvereinbarung für die erste dieser Hilfen hielt der Kläger nicht ein, eine Ratenvereinbarung erfüllte er nur teilweise.
[6] Mit Bescheid vom 12. 12. 2017 lehnte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt den Antrag des Klägers vom 23. 9. 2014 auf Zuerkennung einer Ausgleichszulage ab, weil die für die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts erforderlichen Existenzmittel fehlten.
[7] Mit seiner Klage begehrt der Kläger die Zuerkennung einer Ausgleichszulage in gesetzlicher Höhe. Er habe ein Aufenthaltsrecht gemäß § 52 Abs 1 Z 5 lit c des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes, BGBl I 2005/100 (NAG). Er sei schwer krank und bettlägrig, wiege mehr als 100 kg und leide seit 30 Jahren an multipler Sklerose. Er sei auf die persönliche Pflege durch seine Kinder in Österreich angewiesen, in Polen habe er niemand körperlich dafür Geeigneten mehr. Es liege keine Armutszuwanderung vor. Seit April 2016 sei er auch zum Daueraufenthalt in Österreich berechtigt.
[8] Die Beklagte wandte dagegen ein, dass es für die Gewährung einer Ausgleichszulage an den Kläger an der Anspruchsvoraussetzung eines rechtmäßigen Aufenthalts im Inland fehle.
[9] Das Erstgericht wies das Klagebegehren auf Zuerkennung einer Ausgleichszulage ab 1. 8. 2014 ab. Der Kläger habe mangels ausreichender Existenzmittel im Sinn des § 51 Abs 1 Z 2 NAG seit dem Jahr 2011 keinen rechtmäßigen Aufenthalt in Österreich gehabt, sodass ihm kein Daueraufenthaltsrecht im Sinn des § 53a NAG zukomme. Als Verwandter seiner nach Österreich gezogenen Kinder in gerader aufsteigender Linie unterfalle der Kläger dem Tatbestand des § 52 Abs 1 Z 3 NAG. Da ihm die Kinder jedoch tatsächlich keinen Unterhalt gewähren, sei dieser Tatbestand nicht erfüllt. Da der Kläger dem Tatbestand des § 52 Abs 1 Z 3 NAG unterfalle, könne er nicht sonstiger Angehöriger im Sinn des § 52 Abs 1 Z 5 lit c NAG sein.
[10] Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge. Es billigte die Rechtsansicht des Erstgerichts, dass dem Kläger mangels ausreichender Existenzmittel kein Daueraufenthaltsrecht zukomme. Da Anhaltspunkte für eine zwingende Notwendigkeit der Pflege des Klägers durch seine Kinder fehlten, komme dem Kläger auch kein Aufenthaltsrecht im Sinn des § 52 Abs 1 Z 5 lit c NAG zu. Die Revision sei mangels Vorliegens einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig.
[11] Gegen dieses Urteil richtet sich die außerordentliche Revision des Klägers, mit der er die Stattgebung der Klage anstrebt.
[12] Die Beklagte beantragt in der ihr vom Obersten Gerichtshof freigestellten Revisionsbeantwortung die Zurück-, hilfsweise die Abweisung der Revision.
[13] Die Revision ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig. Sie ist jedoch nicht berechtigt.
Rechtliche Beurteilung
[14] 1. Voranzustellen ist, dass der Nichtigkeitsgrund des § 477 Abs 1 Z 9 ZPO nur dann hergestellt wird, wenn a) die Fassung eines Urteils so mangelhaft ist, dass dessen Überprüfung nicht mit Sicherheit vorgenommen werden kann; b) das Urteil mit sich selbst in Widerspruch steht; c) für die Entscheidung keine Gründe angegeben sind. Nach ständiger Rechtsprechung wird der Nichtigkeitsgrund nur durch den völligen Mangel der Gründe (Fall c), nicht jedoch durch eine mangelhafte Begründung gebildet. Ein völliger Mangel an Begründung liegt nur dann vor, wenn die Entscheidung gar nicht oder so unzureichend begründet ist, dass sie sich nicht überprüfen lässt (6 Ob 122/07w; vgl RIS-Justiz RS0042921). Davon kann hier keine Rede sein, hat doch das Berufungsgericht ausgeführt, dass das Tatbestandsmerkmal einer zwingenden Erforderlichkeit der persönlichen Pflege seiner Ansicht nach nicht vorliegt. Da die Frage, ob der Kläger ein Aufenthaltsrecht gemäß § 52 Abs 1 Z 5 lit c NAG hat, bereits Gegenstand des Verfahrens erster Instanz war, liegt auch der in diesem Zusammenhang behauptete Mangel des Berufungsverfahrens („Überraschungsentscheidung“) nicht vor.
[15] 2.1 Gemäß § 292 Abs 1 ASVG hat der Pensionsberechtigte Anspruch auf Ausgleichszulage, solange er seinen rechtmäßigen gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich hat. Durch das Abstellen auf den „rechtmäßigen Aufenthalt“ soll ein Gleichklang der Ausgleichszulagenregelung mit dem europäischen und österreichischen Aufenthaltsrecht hergestellt werden (10 ObS 159/20k mwH).
[16] 2.2 Der Gerichtshof der Europäischen Union hat ausgesprochen, dass die Einstufung einer Leistung (wie der österreichischen Ausgleichszulage) als „beitragsunabhängige Sonderleistung“ im Sinn des Art 70 Abs 2 lit c der VO (EG) 883/2004 nicht ausschließt, dass die Leistung gleichzeitig auch unter den Begriff der Sozialhilfeleistungen im Sinn der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (in der Folge: RL 2004/38/EG) fallen kann (EuGH C-140/12, Brey, Rn 33–36, 62; C-333/13, Dano, ECLI:EU:C:2014:2358, Rn 63; C-67/14, Alimanovic, ECLI:EU:C:2015:597, Rn 44–46; C-299/14, Garcia-Nieto, ECLI:EU:C:2016:114, Rn 37). Die RL 2004/38/EG erlaubt es dem Aufnahmemitgliedstaat, wirtschaftlich nicht aktiven Unionsbürgern Beschränkungen in Bezug auf die Gewährung von Sozialleistungen aufzuerlegen, damit diese die Sozialhilfeleistungen dieses Staats nicht unangemessen in Anspruch nehmen. Diese Möglichkeit zur Einschränkung gilt auch für die österreichische Ausgleichszulage (EuGH C-140/12, Brey, Rn 62).
[17] 2.3 Nach Art 7 Abs 1 RL 2004/38/EG steht das Recht auf Aufenthalt wirtschaftlich nicht aktiven Personen zu, die sich länger als drei Monate im Aufenthaltsmitgliedstaat aufhalten und die Voraussetzungen des Art 7 Abs 1 lit b RL 2004/38/EG erfüllen, also über ausreichende Existenzmittel und einen Krankenversicherungsschutz verfügen, sodass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen (RS0130764). Nur unter diesen Voraussetzungen steht einem Unionsbürger hinsichtlich des Zugangs zur Ausgleichszulage eine Gleichbehandlung mit Inländern zu.
[18] 2.4 § 292 Abs 1 ASVG verlangt seit dem BBG 2011, BGBl I 2010/111, als Voraussetzung für den Anspruch auf Ausgleichszulage das Vorliegen eines rechtmäßigen gewöhnlichen Aufenthalts im Inland. Ebenfalls mit dem BBG 2011 wurde in § 51 Abs 1 Z 2 NAG die Wendung „keine Sozialhilfeleistungen“ durch die Wendung „weder Sozialhilfeleistungen noch die Ausgleichszulage“ ersetzt. § 51 NAG regelt das unionsrechtliche Aufenthaltsrecht von EWR-Bürgern für mehr als drei Monate. Gemäß § 51 Abs 1 Z 2 NAG sind EWR-Bürger aufgrund der RL 2004/38/EG zum Aufenthalt für mehr als drei Monate berechtigt, wenn sie „für sich und ihre Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel und einen umfassenden Krankenversicherungsschutz verfügen, so dass sie während ihres Aufenthalts weder Sozialhilfeleistungen noch die Ausgleichszulage in Anspruch nehmen müssen, …“. In den Gesetzesmaterialien heißt es dazu (981 BlgNR 24. GP 160): „Mit dieser Bestimmung wird das Ziel des europäischen Aufenthaltsrechtes verfolgt, zu vermeiden, dass dieser Personenkreis übermäßig das Budget des jeweiligen Aufenthaltstaates belastet, unabhängig von der nationalen Systematik sämtlicher sozialer Hilfeleistungen.“
[19] 2.5 Diese Grundsätze gelten nicht nur für Unionsbürger, die ein originäres unionsrechtliches Aufenthaltsrecht im Sinn des § 51 NAG geltend machen, sondern auch für EWR-Bürger, die sich auf ein (abgeleitetes) Aufenthaltsrecht als Angehöriger von EWR-Bürgern im Sinn des § 52 Abs 1 Z 3 NAG berufen. Diese Bestimmung macht das Aufenthaltsrecht bestimmter, näher genannter Angehöriger eines EWR-Bürgers davon abhängig, dass diesen tatsächlich familienintern Unterhalt gewährt wird, was wiederum staatliche Versorgungsleistungen entbehrlich macht. Dass die von den Unterhaltszuwendungen abgeleitete Rechtmäßigkeit des Aufenthalts nach § 52 Abs 1 Z 3 NAG zu einem Ausgleichszulagenanspruch führt, wurde unter Hinweis darauf verneint, dass es ansonsten zu dem „Unionsbürgerschaft als Münchhausen-Effekt“ (Rebhahn, Der Einfluss der Unionsbürgerschaft auf den Zugang zu Sozialleistungen – insb zur Ausgleichszulage [EuGH-Urteil Brey], wbl 2013, 605 [610]) käme: Die innerfamiliären Zuwendungen, die staatliche Unterstützung entbehrlich machen, machen den Aufenthalt rechtmäßig, woraus sich dann der Anspruch auf eben diese staatliche Unterstützungsleistung ergäbe. Daher führt der durch § 52 Abs 1 Z 3 NAG rechtmäßige Aufenthalt nicht zu einem Anspruch auf Ausgleichszulage, weil die Kosten des Aufenthalts in Österreich nicht durch die Ausgleichszulage, sondern über den familieninternen Unterhalt finanziert werden sollen (10 ObS 31/16f SSV-NF 30/45).
[20] 2.6 Die von § 51 Abs 1 Z 2 NAG geforderten ausreichenden Existenzmittel sollen es möglich machen, dass der die Freizügigkeit ausübende EWR-Bürger unter den in Österreich gegebenen Lebensverhältnissen seine wesentlichen Unterhaltsbedürfnisse bestreiten kann, ohne staatliche Unterstützungsleistungen in Anspruch nehmen zu müssen.
[21] 2.7 Mit einem abgeleiteten Aufenthaltsrecht für Angehörige von EWR-Bürgern nach den Z 4 und 5 in § 52 Abs 1 NAG hatte sich der Oberste Gerichtshof bisher noch nicht abschließend auseinanderzusetzen, da die Tatbestände dieser Bestimmungen jeweils nicht erfüllt waren (vgl 10 ObS 107/18k SSV-NF 33/9; 10 ObS 73/19m).
[22] 2.8 Zusammengefasst setzt der Anspruch auf Ausgleichszulage zwar gemäß § 292 Abs 1 ASVG einen rechtmäßigen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland voraus. Ein unions- oder völkervertragsrechtlich rechtmäßiger gewöhnlicher Aufenthalt im Inland vermittelt aber nach den in der dargestellten Rechtsprechung behandelten Fällen insbesondere dann keinen Anspruch auf Ausgleichszulage, wenn ausreichende Existenzmittel fehlen.
[23] 3.1 Der Kläger, selbst Unionsbürger, verfügt zwar über eine Anmeldebescheinigung nach § 51 Abs 1 Z 2 NAG vom 13. 10. 2015 (Blg ./E). Er beruft sich in der Revision jedoch nicht auf ein originäres Aufenthaltsrecht aufgrund der RL 2004/38/EG nach dieser Bestimmung. Ausreichende Existenzmittel im Sinn dieser Bestimmung sind nach den den Obersten Gerichtshof bindenden Feststellungen nicht vorhanden.
[24] 3.2 Der Kläger macht in seiner Revision vielmehr geltend, dass ihm zumindest ab 11. 4. 2016 – zu diesem Zeitpunkt sei er fünf Jahre in Österreich aufhältig gewesen – ein Aufenthaltsrecht gemäß § 53a NAG zukomme. Nur in den ersten fünf Jahren des Aufenthalts komme es auf das Vorhandensein existenzsichernder Mittel an. Das Daueraufenthaltsrecht des § 53a NAG bestehe hingegen auch dann, wenn die Bedingungen für ein anderes unionsrechtliches Aufenthaltsrecht nicht mehr vorliegen.
[25] 3.3 Dem kommt schon nach dem Wortlaut des § 53a Abs 1 NAG keine Berechtigung zu: Nach dieser Bestimmung erwerben EWR-Bürger, denen das unionsrechtliche Aufenthaltsrecht zukommt (§§ 51 und 52 NAG), unabhängig vom weiteren Vorliegen der Voraussetzungen gemäß §§ 51 oder 52 NAG nach fünf Jahren rechtmäßigen und ununterbrochenen Aufenthalts im Bundesgebiet das Recht auf Daueraufenthalt. Jeder Unionsbürger, der sich rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat, hat gemäß Art 16 Abs 1 RL 2004/38/EG das Recht, sich dort auf Dauer aufzuhalten. Die RL 2004/38/EG sieht hinsichtlich des Aufenthaltsrechts im Aufnahmemitgliedstaat ein abgestuftes System vor, das unter Übernahme im Wesentlichen der Stufen und Bedingungen, die in den vor dem Erlass dieser Richtlinie bestehenden einzelnen Instrumenten des Unionsrechts vorgesehen waren, sowie der zuvor ergangenen Rechtsprechung im Recht auf Daueraufenthalt mündet. Bei einem Aufenthalt von mehr als drei Monaten ist die Ausübung des Aufenthaltsrechts von den Voraussetzungen des Art 7 Abs 1 der RL 2004/38/EG abhängig. Dieses Recht steht nach Art 14 Abs 2 RL 2004/38/EG Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen nur so lange zu, wie sie diese Voraussetzungen erfüllen. Unter einem rechtmäßigen Aufenthalt im Sinn des Art 16 Abs 1 RL 2004/38/EG ist daher ein Aufenthalt zu verstehen, der im Einklang mit den in dieser Richtlinie vorgesehenen Voraussetzungen, insbesondere denjenigen, die in deren Art 7 Abs 1 RL 2004/38 angeführt sind (EuGH C-316/16, 424/16, B, ECLI:EU:C:2018:256, Rn 51, 53 und 59).
[26] 3.4 Der Erwerb eines Rechts auf Daueraufenthalt setzt somit einen fünf Jahre langen ununterbrochenen rechtmäßigen Aufenthalt im Sinn der in der RL 2004/38/EG festgelegten Bedingungen im Aufnahmemitgliedstaat voraus. Ein im Einklang mit dem Recht eines Mitgliedstaats stehender Aufenthalt, der jedoch nicht die Voraussetzungen des Art 7 Abs 1 RL 2004/38/EG erfüllt, kann nicht als „rechtmäßiger“ Aufenthalt im Sinn von Art 16 Abs 1 dieser Richtlinie angesehen werden (VwGH Ra 2020/22/0252 mwH); auch ein bloß faktischer Aufenthalt im Ausmaß von fünf Jahren reicht nicht aus (vgl auch ErwGr 17 der RL 2004/38/EG und dazu EuGH C-32/19, Pensionsversicherungsanstalt, ECLI:EU:C:2020:25, Rn 41, 42; 10 ObS 169/19d SSV-NF 34/3 = DRdA 2021/4, 43 [zust Haider 45 f]). Dies gilt auch für den Erwerb des unionsrechtlichen Rechts auf einen Daueraufenthalt durch einen Familienangehörigen eines Unionsbürgers (VwGH Ra 2020/22/0252 mH auf EuGH C-244/13, Ogieriakhi, ECLI:EU:C:2014:2068, Rn 31).
[27] 3.5 Dass der Kläger diese Voraussetzungen nicht erfüllt, stellt er in der Revision nicht mehr in Frage. Der bloße Umstand, dass sich der Kläger allein mehr als fünf Jahre in Österreich aufgehalten hat, hat nicht zur Folge, dass er ein (unionsrechtliches) Recht auf Daueraufenthalt im Sinn des Art 16 Abs 1 RL 2004/38/EG erworben hat (EuGH C-331/16, 366/16, K., ECLI:EU:C:2018:296, Rn 74). Die Vorinstanzen sind daher zutreffend zu dem Ergebnis gelangt, dass der Kläger kein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht im Sinn des Art 16 Abs 1 RL 2004/38/EG (§ 53a Abs 1 NAG) als Anspruchsvoraussetzung im Sinn des § 292 Abs 1 ASVG geltend machen kann.
[28] 4.1 Der Kläger, dem kein originäres unionsrechtliches Aufenthaltsrecht zukommt, macht weiters geltend, dass er seinen Kindern nach Österreich nachgezogen sei, weil nur diese ihn pflegen könnten, sodass er ein – vom Vorhandensein existenzsichernder Mittel bzw von Unterhaltsleistungen unabhängiges – Aufenthaltsrecht im Sinn des § 52 Abs 1 Z 5 lit c NAG erworben habe.
[29] 4.2 § 52 NAG regelt die Familienzusammenführung von EWR-Bürgern (Abermann in Abermann/Czech/Kind/Peyrl, Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz² § 52 Rz 1; vgl ErwGr 6 der RL 2004/38/EG). Nach § 52 Abs 1 Z 5 lit c NAG sind aufgrund der RL 2004/38/EG EWR-Bürger, die Angehörige von unionsrechtlich aufenthaltsberechtigten EWR-Bürgern (§§ 51 und 53a NAG) sind, zum Aufenthalt für mehr als drei Monate berechtigt, wenn sie sonstige Angehörige des EWR-Bürgers sind, bei denen schwerwiegende gesundheitliche Gründe die persönliche Pflege zwingend erforderlich machen.
[30] 4.3 Das Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz unterscheidet rechtsbegründende (konstitutive) Aufenthaltstitel für Fremde, die sich länger als sechs Monate im Bundesgebiet aufhalten oder aufhalten wollen (vgl die Aufzählung in § 8 NAG) von der lediglich deklaratorischen Dokumentation bereits bestehender unionsrechtlicher Aufenthalts- und Niederlassungsrechte (so genannte Freizügigkeitssachverhalte, ErläutRV 952 BlgNR 22. GP 114; vgl § 9 NAG). EWR-Bürgern und ihren Angehörigen kommt das Aufenthaltsrecht gemäß §§ 51, 52, 53 und 54 NAG zu, solange die dort genannten Voraussetzungen erfüllt sind (§ 55 Abs 1 NAG). Eine Anmeldebescheinigung gemäß § 53 NAG für EWR-Bürger, die sich ua auf ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht gemäß § 52 NAG berufen, gehört gemäß § 9 Abs 1 Z 1 NAG zu den Dokumentationen des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts. In diesen Fällen ergibt sich das Aufenthalts- und Niederlassungsrecht daher nicht aus einer nationalen gesetzlichen Berechtigung, sondern kraft unmittelbar anwendbaren Unionsrechts. Die Bescheinigung hat bloß deklaratorische Wirkung; ein das Aufenthaltsrecht konstitutiv begründender Aufenthaltstitel liegt damit nicht vor (VwGH Ro 2020/09/0011 mwN zur Aufenthaltskarte nach §§ 54, 9 Abs 1 Z 2 NAG; VwGH 2020/22/0252).
[31] 4.4 Ein darüber hinausgehendes (innerstaatliches) Aufenthaltsrecht kann § 52 NAG schon nach seinem Wortlaut nicht vermitteln, weil diese Bestimmung – wie ausgeführt – nur unionsrechtliche Aufenthaltsrechte bestimmter, in Art 2 Z 2 RL 2004/38/EG genannter Familienangehöriger dokumentiert. Dies ergibt sich auch aus der historischen Entwicklung dieser Bestimmung.
[32] 4.4.1 § 52 NAG gewährte in der Stammfassung BGBl I 2005/100 nur ein Niederlassungsrecht (§ 2 Abs 2 NAG) für Angehörige von freizügigkeitsberechtigten EWR-Bürgern, die selbst EWR-Bürger sind. In den Gesetzesmaterialien hieß es zu dieser Bestimmung (ErläutRV 952 BlgNR 22. GP 141 f; Hervorhebungen durch den Senat): „Diese Bestimmung regelt das Recht auf Niederlassung von über drei Monaten in Österreich von Angehörigen eines EWR-Bürgers, die selbst EWR-Bürger sind und diesen begleiten oder ihm nachziehen. Damit wird Art. 7 Abs. 1 lit. d der Richtlinie 2004/38/EG umgesetzt. Der in Z 1 bis 5 definierte Kreis der begünstigten Angehörigen des freizügigkeitsberechtigten EWR-Bürgers entspricht den in Art. 2 Z 2 und auch in Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie vorgesehenen Angehörigen. Die Angehörigen nach Z 1 bis 3 bilden entsprechend Art. 2 Z 2 lit. a, c und d den obligatorischen Kreis der Angehörigen des EWR-Bürgers. Die Lebenspartner nach Art. 2 Z 2 lit. b der Richtlinie sind nur dann vom obligatorischen Kreis der Angehörigen eingeschlossen, wenn eine eingetragene Partnerschaft im Aufnahmemitgliedstaat der Ehe gleichgestellt ist und die in den einschlägigen Rechtsvorschriften des Aufnahmemitgliedstaats vorgesehenen Bedingungen erfüllt sind. Nach Z 4 und 5 umfasst der Kreis der begünstigten Angehörigen unter den dort genannten Voraussetzungen aber auch die Lebenspartner und sonstige Angehörigen des EWR-Bürgers. Insofern wird im Einklang mit Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG auch der Aufenthalt der dort erwähnten Angehörigen und Lebenspartner nach Maßgabe des innerstaatlichen Rechts erleichtert. Dadurch wird über den obligatorischen Kreis der Angehörigen hinaus innerstaatlich der Kreis der begünstigten Angehörigen erweitert. Allerdings gilt dies nur, wenn der Angehörige selbst auch EWR-Bürger ist.“ Sowohl nach dem Wortlaut der Bestimmung als auch nach den Gesetzesmaterialien ergibt sich eindeutig der Wille des Gesetzgebers, kein über die unionsrechtlichen Vorgaben hinausgehendes Aufenthaltsrecht für Angehörige von EWR-Bürgern, die selbst EWR-Bürger sind, zu regeln.
[33] 4.4.2 Daran hat sich mit der Novelle BGBl I 2009/122, mit der § 52 NAG seine im Wesentlichen auch heute noch geltende Gestalt erhielt, nichts geändert. In den Gesetzesmaterialien heißt es dazu auszugsweise (ErläutRV 330 BlgNR 24. GP 51): „§ 52 Abs. 1 wird terminologisch angepasst und durch Bezugnahme auf die Freizügigkeitsrichtlinie insofern präzisiert, als es sich um ein direkt aus dem Gemeinschaftsrecht abgeleitetes Aufenthaltsrecht handelt.“
[34] 4.5 Zwischenergebnis: Der Kläger kann sich als Voraussetzung für den von ihm geltend gemachten Anspruch auf Ausgleichszulage nur dann auf ein Aufenthaltsrecht im Sinn des § 52 NAG berufen, wenn ihm dieses aufgrund der Freizügigkeitsrichtlinie, also unionsrechtlich zusteht.
[35] 5.1 Nach der – für die Auslegung des Fremdenrechts maßgeblichen – Judikatur des Verwaltungsgerichtshofs sind die verschiedenen „Kategorien“ von Familienangehörigen – einerseits nach § 52 Abs 1 Z 1 bis 3 NAG und andererseits nach § 52 Abs 1 Z 4 und Z 5 NAG – zu unterscheiden (vgl VwGH Ra 2015/22/0161 zu drittstaatsangehörigen Angehörigen von EWR-Bürgern, §§ 54, 56 NAG, mwH auf EuGH C-83/11, Rahman ua, ECLI:EU:C:2012:519, Rn 19 ff). Ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht räumt die RL 2004/38/EG gemäß ihrem Art 2 Z 2 nur den in § 52 Abs 1 Z 1 bis 3 NAG genannten Familienangehörigen ein. Hingegen sind die in § 52 Abs 1 Z 5 lit c NAG genannten Angehörigen eines EWR-Bürgers „Berechtigte“ gemäß Art 3 Abs 2 RL 2004/38/EG. Diese Bestimmung verpflichtet die Mitgliedstaaten nicht dazu, den dort genannten Personen (Familienangehörigen im weiteren Sinn) ein Aufenthaltsrecht zuzuerkennen, sondern lediglich, Einreise und Aufenthalt zu erleichtern (EuGH C-83/11, Rn 23). Ob einem sonstigen, nicht eingetragenen Lebenspartner (Berechtigter im Sinn des Art 3 Abs 2 lit b RL 2004/38/EG) ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht gemäß § 52 Abs 1 Z 4 NAG zukommen kann, musste der Verwaltungsgerichtshof in der Entscheidung Ra 2020/22/0252 nicht abschließend entscheiden, weil die Mitbeteiligte in jenem Verfahren nicht EWR-Bürgerin war.
[36] 5.2 Ausgehend davon könnte sich der Kläger allenfalls als Verwandter in gerader aufsteigender Linie auf ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht als Angehöriger im Sinn des § 52 Abs 1 Z 3 NAG zur Begründung seines Anspruchs auf Ausgleichszulage berufen, weil diese Personengruppe in Art 2 Z 2 lit d RL 2004/38/EG genannt ist. Der Kläger beruft sich jedoch nicht auf ein solches unionsrechtliches Aufenthaltsrecht, weil ihm von seinen Kindern tatsächlich kein Unterhalt gewährt wird, sodass er kein Angehöriger nach dieser Bestimmung ist.
[37] 5.3 Dies schließt zwar nicht aus, dass sich der Kläger dessen ungeachtet auf eine Angehörigeneigenschaft im Sinn des § 52 Abs 1 Z 5 lit c NAG berufen kann (vgl EuGH C-129/18, SM, ECLI:EU:C:2019:248, Rn 57, Kind nach der algerischen Regelung der „Kafala“). Dem Kläger käme jedoch als Angehöriger nach dieser (deklaratorischen) Bestimmung, weil er danach (lediglich) als „Berechtigter“ im Sinn des Art 3 Abs 2 lit a RL 2004/38/EG anzusehen wäre, kein im Unionsrecht begründetes Aufenthaltsrecht zu, auf das allein er sich nach § 52 Abs 1 Z 5 lit c NAG zur Begründung seines Anspruchs auf Ausgleichszulage berufen könnte.
[38] 5.4 Ergebnis: Ein EWR-Bürger, der Angehöriger eines unionsrechtlich aufenthaltsberechtigten EWR-Bürgers (§§ 51, 53a NAG) ist, kann sich nicht auf ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht als sonstiger Angehöriger im Sinn des § 52 Abs 1 Z 5 lit c NAG aufgrund der RL 2004/38/EG (Freizügigkeitsrichtlinie) zur Begründung eines Anspruchs auf Ausgleichszulage berufen.
[39] 6. Ein Anspruch auf Ausgleichszulage kann sich aus dem innerstaatlichen Recht ergeben (10 ObS 31/16f SSV-NF 30/45; 10 ObS 107/18k SSV-NF 33/9). Einem aus dem innerstaatlichen Recht abgeleiteten Aufenthaltsrecht steht die RL 2004/38/EG nicht entgegen (Art 37 RL 2004/38/EG). Auf ein innerstaatliches Aufenthaltsrecht, etwa beruhend auf einem der in § 8 NAG genannten Aufenthaltstitel, hat sich der Kläger jedoch im Verfahren nicht berufen.
[40] Der Revision ist daher nicht Folge zu geben.
[41] Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Da die Entscheidung von der Lösung einer Rechtsfrage im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO abhängt, entspricht es der Billigkeit, dem unterlegenen Kläger angesichts seiner aktenkundigen Einkommensverhältnisse die Hälfte der Kosten des Revisionsverfahrens zuzusprechen (RS0085871).
Textnummer
E132971European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2021:E132971Im RIS seit
03.11.2021Zuletzt aktualisiert am
16.02.2022